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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Der Fall Schaninka: „Es ist eine Farce“

    Der Fall Schaninka: „Es ist eine Farce“

    Die Nachricht erschüttert die Wissenschaftsszene: An der Moscow School of Social and Economic Sciences, einer der renommiertesten Hochschulen in Russland, dürfen keine staatlichen Diploma mehr erworben werden. Das gab das Rosobrnadsor, die staatliche Aufsichtsstelle für Bildung und Wissenschaft, Ende Juni bekannt. Zuvor hatte die Aufsichtsbehörde an der Schaninka, so wird die Hochschule nach ihrem britischen Gründer Teodor Shanin genannt, eine Überprüfung durchgeführt, die notwendig ist für die sogenannte Akkreditierung der Hochschule. 
    Den Vorwurf des Rosobrnadsor, dass an der renommierten Schaninka bestimmte Bildungsstandards nicht eingehalten würden, halten viele für einen Vorwand. Unabhängige Beobachter werten die Entscheidung vielmehr als politisch motiviert. Die Schaninka pflegt enge Verbindungen nach Großbritannien. So können Studenten der Schaninka ihr Studium auch mit einem Diplom an der University of Manchester abschließen. Die Beziehungen zwischen Russland und Großbritannien jedoch gelten seit dem Fall Skripal als stark belastet.

    Auch ohne staatliche Diplome können Studierende ihr Studium an der Schaninka abschließen und haben als Alumni dieser renommierten Hochschule hervorragende Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Was derzeit vielen Sorgen bereitet, ist vielmehr die Frage, wie frei Lehre und Forschung in Russland sind.
    Erst im September vergangenen Jahres hatte eine andere renommierte unabhängige Privathochschule – die Europäische Universität Sankt Petersburg – sogar ihre Lehr-Lizenz verloren. Inzwischen wird dort nur noch geforscht.

    Die Schaninka erfährt derzeit viel Solidarität, mehr als 200 russische und internationale Wissenschaftler protestierten in einem offenen Brief gegen die Entscheidung des Rosobrnadsor.

    Meduza hat mit dem Dekan der Soziologischen Fakultät Viktor Wachstein gesprochen. Auf Snob kommentiert Boris Grosowski den Fall.

    Viktor Wachstein: „Noch nie habe ich eine so unglaubliche Solidarität erlebt wie jetzt.“ / Foto © Viktor Wachstein/vk.com
    Viktor Wachstein: „Noch nie habe ich eine so unglaubliche Solidarität erlebt wie jetzt.“ / Foto © Viktor Wachstein/vk.com

    Taissija Bekbulatow: Wie kann es sein, dass an einer Hochschule, die in diversen Rankings an der Spitze steht, so viele Verstöße [gegen die staatlichen Bildungsstandards – dek] gefunden werden?

    Viktor Wachstein: Lassen Sie uns diese Verstöße einmal genauer ansehen. Zum Beispiel gilt es als Verstoß, wenn ich mit meinen Studenten für ein Praxisseminar die Stadt verlasse. Das sind Studenten der Soziologie – Feldforscher.
    Ein weiterer Kritikpunkt sind die fehlenden Laborpraktika in Geschichte der Politik-  und Rechtswissenschaften. Ich finde, diese ganze Farce mit der Akkreditierung an sich ist schon ein ziemlich gutes Laborpraktikum in der neuesten Geschichte der Politikwissenschaft.
    Zu den anderen Verstößen äußere ich mich nicht. Nicht einer davon hat etwas mit der Qualität der Lehre zu tun.

    Wie bewerten Sie die Vorwürfe insgesamt?

    Als bürokratischen Versuch, eine unvoreingenommene Beurteilung der Qualität von Lehre und Forschung zu imitieren.

    Zu welchem Zeitpunkt wurde Ihnen klar, dass es Probleme geben könnte?

    Den Verdacht hatte ich schon sehr früh. Als sie [die Inspektoren – dek] in die Hochschule kamen, haben sie zunächst wirklich gearbeitet – haben dagesessen und Berge von Papier durchwühlt: Die Unterlagen meines Fachbereichs passen nicht alle in mein Büro, ich musste sie im Büro des Hochschulpräsidenten stapeln. Aber dann plötzlich haben sie alles stehen und liegen gelassen und sind weggefahren. Und dann natürlich die Gespräche hinter verschlossenen Türen. Auch mit den Experten.

    Eine Frage, die sich aufdrängt: Warum das alles?

    Das weiß niemand. Nur eines ist klar – die Qualität der Lehre und Forschung ist nicht der Grund für die Entziehung der Akkreditierung.

    Wenn die Entscheidung nicht vom Rosobrnadsor kommt, von wem dann?

    Ich habe nicht die geringste Ahnung.

    Inwiefern könnte die Situation mit den zunehmend schlechten Beziehungen zum Vereinigten Königreich zusammenhängen, wegen denen schon der British Council seine Arbeit einstellen musste?

    Wir verlieren uns hier gerade in Mutmaßungen. Das ist einfach nur eine mögliche Variante. Ich persönlich denke, dass das vielleicht auch ein Grund war. Aber wohl kaum der Hauptgrund.
     
    Glauben Sie, dass der FSB etwas mit den Vorwürfen zu tun haben könnte?
     

    Aktuell habe ich keinen Anlass, das zu glauben. Aber ich verfolge die Entwicklungen aufmerksam.
     
    Wie schätzen Sie die realen Folgen ein, welchen Schaden könnte die Entscheidung der Hochschule zufügen? Und auch den Studierenden?
     

    Es wird sich natürlich auf die Bewerberzahlen niederschlagen. Aber vermutlich nicht zu stark. Unsere Studenten kommen nicht wegen der staatlichen Diplome.
    Die Schaninka hatte die längste Zeit ihrer Geschichte keine [staatliche – dek] russische Akkreditierung. Und sie ist bestens ohne sie ausgekommen.
     
    Wie ist die Stimmung an der Schaninka?
     

    Ganz ehrlich, egal, was für Motive diejenigen haben, die uns damit zeigen wollten: „Für euch ist hier kein Platz“ – sie haben das genaue Gegenteil erreicht. Ich bin schon mein halbes Leben mit der Schaninka verbunden, aber noch nie habe ich eine so unglaubliche Solidarität unter Studenten, Professoren und Ehemaligen erlebt wie jetzt.


    „Es gibt nur noch wenig Freiheit für Forschung und Lehre“

    Der Fall Schaninka ist Ausdruck einer fatalen Entwicklung in der russischen Hochschullandschaft, kommentiert Boris Grosowski auf Snob.

    Noch setzt die „Schaninka“ ihre Arbeit fort –  staatlich anerkannte Diplome ausstellen darf sie jedoch nicht. Foto © Moscow School of Social and Economic Sciences
    Noch setzt die „Schaninka“ ihre Arbeit fort – staatlich anerkannte Diplome ausstellen darf sie jedoch nicht. Foto © Moscow School of Social and Economic Sciences

    Die Schaninka ist die führende Universität in Soziologie, Politikwissenschaft und Philosophie, in der Erinnerungsforschung und Geschichte der sowjetischen Zivilisation und in vielen anderen Bereichen. In einem Vierteljahrhundert wird man sich an die Angriffe gegen sie und an die Geschichte der Europäischen Universität in etwa so erinnern wie heute an die Zerschlagung der Genforschung und an die Schließung des Meyerhold-Theaters und an den Philosophen-Dampfer, der 1922 vom russischen Ufer ablegte. 

    Außerdem ist mittlerweile die seit Jahren laufende Zertrümmerung der RGGU vollbracht, und die Europäische Universität in Sankt Petersburg hat ihre Lehre eingestellt.

    Bürokratisches Aufsichtssystem

    Aber das Wichtigste ist: Es wurde ein bürokratisches Aufsichtssystem für Hochschulen geschaffen, das es ermöglicht, jede Uni wegen Verstößen gegen tausende kleiner formaler Anforderungen zu schließen. Es trägt den nicht allzu wohlklingenden Namen: Föderale Aufsichtsstelle im Bereich Bildung und Wissenschaft.

    Die gesamte Arbeit einer Hochschule ist nun der Bürokratie untergeordnet: Der Wust an Dokumenten, die der Föderalen Aufsichtsstelle vorzulegen sind, übersteigt alle Grenzen der Vernunft. Die Dozenten, Institute, Fakultäten, Bachelor- und Master-Programme produzieren tonnenweise vollkommen sinnlose Berichte.

    Über die Qualität der Lehre und Forschung sagen diese allerdings nichts aus. Die Föderale Aufsichtsstelle hat ein Aufsichtssystem geschaffen, das den Dozenten, Forschern und Universitätsmanagern das Leben unmöglich macht und das die besten Universitäten des Landes planmäßig vernichtet. Diese Aufsichtsstelle Rosobrnadsor sollte mitsamt ihrem Kontrollsystem dringend abgeschafft werden. Aber die Regierung hat andere Pläne. Sie will diese Aufsichtsstelle nicht abschaffen, sondern ihr sogar noch das Recht erteilen, wissenschaftliche Einrichtungen zu prüfen.

    Ein System, das besten Universitäten das Leben unmöglich macht und sie planmäßig vernichtet

    Die Autonomie der Universitäten und der Wissenschaft im weiteren Sinne ist eine der wichtigsten Errungenschaften in der Geistesgeschichte. In Russland ist es damit nun vorbei. Dabei ist die Bildungsaufsicht nur ein kleiner Schritt auf Russlands Weg in eine noch härtere Form des Autoritarismus. 
    Die Geheimdienste brauchen keine Universitäten oder Forschungseinrichtungen, diese Brutstätten des freien Denkens. Wozu braucht es schon die sozial- und geisteswissenschaftliche Expertise der Schaninka? Wir haben eine ganz andere Art von Expertise: Ein vom Geheimdienst beauftragter Experte meldet, der Historiker Juri Dmitrijew beschäftige sich mit Kinderpornografie.

    Es ist an der Zeit, offen zuzugeben, dass die Geheimdienste hinter der Zerstörung der Hochschulen stehen. Gleichsam als Vermächtnis der Väter träumen sie von jener Macht, über die die Tschekisten in der Sowjetunion verfügten, als sie der Genetik und der Molekularbiologie einen Riegel vorschoben.

    Gigantische Liste von Minimalverstößen

    Noch setzt die Schaninka ihre Arbeit fort, sie darf „nur“ keine staatlich anerkannten Diplome mehr ausstellen (so festgelegt für zwei Studienjahre). Aber bedenkt man die gigantische Liste von Minimalverstößen, die die Inspektoren bei der Schaninka festgestellt haben, fürchte ich, dass der Entzug der Lizenz nur eine Frage der Zeit ist. Oder eine Frage der „Kompromissfähigkeit“ der Leitung dieser Bildungseinrichtung und ihrer Fürsprecher bei der RANCHiGS (allein die Kooperation dieser staatlichen Akademie mit der nicht-staatlichen Schaninka lässt die für die Bildung zuständigen Geheimdienstler wohl wütend mit den Zähnen knirschen).

    Eine gute Prognose lässt sich hier leider nicht machen. Die Freiheit der Forschung und Lehre wird zunehmend aus den Unis verjagt. Entweder weil Lizenzen entzogen oder weil fähige Forscher und Dozenten ersetzt werden.

    Die 2010er haben sich als äußerst schwere Zeit für die russische Wissenschaft und Bildung erwiesen. Und es wird eher schlimmer als besser.

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  • Das Himmelfahrts-Kommando

    Das Himmelfahrts-Kommando

    „Willkommen in Asgardia – die allererste Weltraumnation, die allen offensteht!“ Mit diesem Grußwort ruft der russische Unternehmer Igor Aschurbejli auf seiner Website alle Erdenbürger dazu auf, sich den 170.000 Asgardianern anzuschließen. Der kosmische Staat soll die Erde vor Weltraumschrott, -strahlung und Sonnenstürmen schützen. Alle Grenzen werden überwunden, alle Konflikte beigelegt, verspricht Aschurbejli.  

    Alles Spinnerei? Taissija Bekbulatowa hat Aschurbejli für Meduza getroffen.

    Kolonie im Kosmos ©Личный сайт И.Р. Ашурбейли

    Igor Aschurbejli, 54, hat ein rundes gutmütiges Gesicht, Brille, einen grauen Schnauzer und war früher Chef eines Rüstungskonzerns. Man würde bei ihm als Letztes darauf kommen, dass er der Regierungschef eines Staates im Weltraum ist. 

    Während des Interviews benimmt er sich wie ein ungezogenes Kind: Unangenehme Fragen beantwortet er gar nicht erst, sondern kehrt mir den Rücken zu und fragt seine Assistentin mit gespielter Empörung: „Wen hast du mir denn da angeschleppt? Ich weiß nicht, was das hier soll?“ Dann dreht er sich wieder zu mir und sagt: „Ich habe irgendwie vergessen, was Sie gefragt haben.“ Nach einer meiner Fragen schaut er erstaunt auf die Uhr im Büro: „Die Uhr ist stehengeblieben. Irgendwas stimmt mit Ihnen nicht. Sogar die Uhr bleibt stehen.“ 

    Ein ganzes Jahrzehnt leitete Aschurbejli Almaz-Antei, einen der wichtigsten russischen Rüstungsbetriebe. Sein Büro befindet sich bis heute in demselben Gebäude am Leningrader Prospekt wie Almaz-Antei. Dort sind auch die Räume seiner Holding Sozium, die sich ebenfalls mit Rüstungsaufträgen beschäftigt. 

    Wie es sich für einen respektablen Geschäftsmann gehört, ist Aschurbejlis Arbeitszimmer mit dunklem Holz getäfelt, außerdem wird der Besucher zwischen Innen- und Außentür unerwartet von einem Skelett begrüßt. Die Assistentin erklärt, dass ihr Chef seine Leichen nicht im Keller verstecke, sondern dass er Offenheit demonstriere, „den Zustand der künftigen Welt”. Aschurbejli hat das Weltraum-Königreich Asgardia kurz nach seiner Kündigung bei Almaz-Antei gegründet. 

    Kolonie im Kosmos

    Asgardia hat schon 170.000 Bürger aus der ganzen Welt, und Aschurbejli hat die feste Absicht, eine Kolonie im Kosmos zu begründen. „Ich will zu meinen Lebzeiten eine ständige Kolonie auf dem Mond gründen und dort hinfliegen. Alles andere ist Abenteurerei.“

    Igor Aschurbejli wurde in Baku geboren, wuchs dort auf und studierte am Aserbaidschanischen Institut für Erdöl und Chemie. 1990 zog er nach Moskau und fing an Geschäfte zu machen, so organisierte er einige Kooperativen, die sich mit Softwareentwicklung und Computertechnik beschäftigten. Nach seinen eigenen Worten, fing er von Null an, „ohne jegliche Unterstützung, ohne Protektion“. „Die 1990er waren eine schwere Zeit, ich habe sie in all ihren Feinheiten am eigenen Leibe erfahren: Bei Schlägereien war ich dabei und reden konnte ich, dass ich als Gauner durchging.“
    „Was sollte man tun? Irgendwie musste man ja da durchkommen und den Überblick behalten“, erinnert er sich an einer anderen Stelle. 

    Aschurbejli gründete eine Firma, die ab 1991 mit dem Rüstungsbetrieb Almaz zusammenarbeitete, wo man ihm 1994 vorschlug, stellvertretender Generaldirektor zu werden. Sechs Jahre später wurde Aschurbejli Generaldirektor und blieb es bis 2011. Unter seiner Leitung entwickelten die Ingenieure von Almaz Flugabwehrraketensysteme, die im Ausland sehr beliebt waren und die Almaz-Antei einen stabilen Umsatz und einen Platz ganz vorne im Ranking der Rüstungsunternehmen sicherten. 
    2011 beschloss der Aufsichtsrat, Aschurbejli zu entlassen, verpackte die Nachricht allerdings in eine Danksagung. „Ich muss zugeben, der bittere Nachgeschmack, dass sie mich abgesägt haben, ist geblieben. Und die Staatsgeschäfte, mit denen ich mich in meinem vorherigen Lebensabschnitt erfolgreich befasst habe, war von ganz anderer Dimension als die privaten Aufgaben, denen ich mich heute widme.“ 

    Kirchenbau als Labsal für die Seele

    Laut Aschurbejli war es schwer, mit dem Stress nach der Kündigung klarzukommen: „Ich brauchte einen Ausgleich.“ Deswegen begann er „Kirchen zu bauen“ – das war eine Labsal „für die Seele“ des ehemaligen Waffenbauers. 
    Auch wenn er seine Kritik am aktuellen russischen Staat nicht näher benennen will, ist Aschurbejli ein politisch aktiver Mensch. Er ist Vorsitzender der Partei Wiedergeburt Russlands, die ihm 2015 nach dem Tod seines alten Freundes Gennadi Selesnjow, Parteigründer und Ex-Sprecher der Duma, zufiel.

    Eine der Initiativen der Partei war beispielsweise, die öffentlichen Toiletten zur „nationalen Idee“ Moskaus zu erklären. Aschurbejli behauptet, dass er kein Anhänger Wladimir Putins sei, aber ihm pünktlich zum Geburtstag zu gratulieren hat er nicht vergessen.

    Im Übrigen sind seine wahren politischen Ansichten monarchistisch. Er sagte mehrmals, dass Russland eine konstitutionelle Monarchie brauche und zwar „mit einem jungen, etwa 40-jährigen Zaren an der Spitze. Der neue Herrscher Russlands wird seine Thronbesteigung mit dem Segen des Patriarchen der ganzen Rus in der Alexander-Newski-Kirche in Jerusalem verkünden, und zwar … hoffentlich im Jahr … 2017, aber spätestens 2018“, so äußerte er sich im Sommer 2016. 

    Der Monarchist Aschurbejli wird aber auch nostalgisch, wenn es um die sozialistische Vergangenheit geht: „Ein Fläschen Wodka und eine Tafel Schokolade und, na ja, ein bisschen Kleingeld, das waren einmal die russisch-sowjetischen Kommunikationsmittel. Jetzt zählt nur noch der schnöde Dollar.“ Die heutige Gesellschaft missfällt ihm und er deutet an, dass das Volk „unprofessionellen Intriganten“, ja „Scharlatanen“, wenn nicht gar „Banditen“ zur Macht verholfen habe und erklärt, dass die gegenwärtigen Staaten „ausgelaugt und zu Vasallenburgen der räuberischen Mammonelite verkommen sind“. 

    Nach der Internetseite des Geschäftsmanns zu urteilen, sind es seine Überlegungen zum traurigen Zustand der heutigen Zivilisation und zur glücklosen demographischen Entwicklung Russlands, die ihn auf die Idee gebracht haben, einen eigenen, zunächst panslawischen Staat zu gründen – der dann aber auch Menschen aus der ganzen Welt aufnehmen soll. 
    Aufbauen will er ihn allerdings nicht auf diesem Planeten. „Auf der Erde kommt die Menschheit mit ihren Problemen nicht klar, das konnte sie noch nie und wird sie nie können“, erklärt Aschurbejli. 

    Auf der Erde kommt die Menschheit mit ihren Problemen nicht klar, das konnte sie noch nie und wird sie nie können
     

    Am 12. November 2017 startete vom Weltraumbahnhof Wallops im US-amerikanischen Bundesstaat Virginia die Trägerrakete Antares. Sie brachte den Raumtransporter Cygnus auf die Umlaufbahn. Neben einer Ladung für die Internationale Raumstation transportierte sie einen äußerst kleinen, 2,8 kg schweren Satelliten von der CubeSat-Größe eines Weißbrots mit dem Namen Asgardia-1. Auf dem Satelliten waren 512 Gigabyte Daten von „Bürgern“ Asgardias gespeichert, die, wenn sie sich auf der Asgardia-Homepage registriert hatten, eine Datei, zum Beispiel ein Foto, in den Weltraum schicken konnten. 

    „Ich habe den Verdacht, dass das die erste Erwähnung von Rap-Musik draußen im Weltraum ist, deswegen bin ich wahrscheinlich so eine Art Gagarin des russischen Raps“, scherzt der Musiker Leonid Popow. Als er von der Asgardia erfuhr, registrierte er sich einfach so zum Spaß auf der Website und beschloss, „ein Zeichen seines Daseins“ ins All zu schicken. „Damals habe ich gerade, meine Single Interstellar fertig gemacht und dachte, es wäre doch symbolisch, den Track in den Weltraum zu schicken”, erzählt er. „So sehr ich auch versucht habe, die Datei zu komprimieren, es ist mir leider nicht gelungen, diesen Track in den Weltraum zu senden. Die erlaubte Dateigröße war einfach zu klein. Letztlich konnte ich dann doch nur das Cover der Single hochladen.“

    Die eigentliche Aufgabe des Satelliten war es aber, ein wenn auch kleines, jedoch souveränes Territorium für den Staat Asgardia zu markieren. Eine Fahne, eine Hymne, ein Wappen und eine „Bevölkerung“ hatte er damals schon. Eine Mindestfläche, die ein Staat haben muss, ist nirgends festgeschrieben, sodass Asgardia jetzt formal über alle Merkmale eines Staates verfügt.

    Sobald es Staatsorgane gibt, will sich Aschurbejli außerdem an die UNO wenden, damit Asgardia Mitglied der Organisation wird. „Eher wird die UNO aufgelöst, als dass sie Asgardia nicht als Staat anerkennt“, ist Aschurbejli zuversichtlich. Hauptsache sei, dass andere Staaten Asgardia durch Unterzeichnung gegenseitiger Verträge anerkennen, sagt er weiter: „Und seien es nur fünf Staaten der Erde – und die kann ich schon nennen –, die Asgardia als Staat anerkennen, dann kommen wir einfach nach New York und sagen: ,Hallo, wagen Sie es nur, uns nicht aufzunehmen!’“ Nach den Worten eines Informanten aus der Umgebung Aschurbejlis rechnet er sicher mit der Unterstützung von Monaco und Lichtenstein.

    Monarchie statt Demokratie in Asgardia

    Im neuen Staat haben schon öffentliche Debatten angefangen. Am meisten kränkte die Asgardianer die Art, wie die Verfassung des neuen Staats erstellt wurde. Eine Gruppe von Juristen aus verschiedenen Ländern hatte die Verfassung ohne Mitwirken der Asgardianer selbst ausgearbeitet. 

    Obwohl Aschurbejli mehrmals mitgeteilt hat, dass die neue Staatsordnung von den Bürgern selbst bestimmt wird, erklärt die Verfassung Asgardia zum Königreich. In der Verfassung steht, dass Aschurbejli der Gründungsvater und der erste Staatschef sei. In der ersten Variante des Dokuments wurde ihm sogar das Recht zugestanden, sich Monarch, Präsident und König zu nennen, gleichfalls garantierte es ihm lebenslange Immunität. Zwar sind diese Punkte aus der letzten Variante der Verfassung verschwunden, dennoch hat er laut Verfassung weiterhin das Recht, den höchsten Richter und den Generalstaatsanwalt einzusetzen und zu entlassen. Außerdem kann Aschurbejli gegen Premierminister, Staatsbankleiter und Richter ein Veto einlegen, das Parlament auflösen und jedes beliebige Gesetz blockieren. Aschurbejli ist nicht der Meinung, dass er zu viel verlangt: „Das ist ein lächerliches Amt. Wo ist meine Krone und wer zahlt mir meinen Lohn?“ An Demokratie glaubt der Geschäftsmann nicht: „Mein Gott! Wo haben Sie Demokratie gesehen? Hören Sie damit auf! Das gibt es nicht. Das ist einfach eine Erfindung, mit der man die Menschen hinters Licht führt.“ 

    Die Asgardianer werden auch nur Affen im Kosmos sein

    Viele Asgardianer haben keine Lust mehr, weiter an dem Projekt teilzunehmen. „Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass auch die Bürger Asgardias bei allen hehren Idealen Menschen bleiben“, schreibt ein Asgardianer. „Die Asgardianer werden auch nur Affen im Kosmos sein, die sich gegenseitig die gleiche hässliche egoistische Scheiße antun, wie wir das schon hier auf der Erde machen.“

    Aschurbejli selbst behauptet, dass er sich nicht an das Amt des Staatsoberhaupts klammern werde. „Meine Amtszeit ist durch die Verfassung auf fünf Jahre beschränkt“, stellt er klar. „Ich will nämlich, wie auch Wladimir Putin, noch am Strand der französischen Riviera spazieren gehen.“ 

    Die Mitarbeiter des Projekts, mit denen Meduza sprach, sind der Meinung, dass sich die laufenden Kosten Asgardias auf etwa 200.000 Euro pro Monat belaufen. Aschurbejli spart nicht, so richtet er beispielsweise auf der ganzen Welt die Pressekonferenzen zu Asgardia in Ritz-Hotels aus.
    Der Gründer von Asgardia will, dass der Staat sich in Zukunft selbst trägt, aber es bleibt unklar, wie das funktionieren soll: Mal will er das mit Hilfe des Blockchain-Verfahrens und der eigenen Kryptowährung Solar erreichen (deren Absicherung der Mond selbst sein soll, also das Ziel zukünftiger Besiedelung), mal mit Hilfe von Startups der Bewohner Asgardias, mal mit Hilfe freiwilliger Steuern. 

    Laut einem Gesprächspartner von Meduza ist die größte Herausforderung für das Projekt, dass „die Anforderungen sich schnell ändern: Heute soll es auf die eine Weise gemacht werden, morgen auf eine ganz andere und was gestern gemacht wurde, ist dann plötzlich sinnlos“. „Asgardia ist ein Startup, das Leute leiten, die ihre Berufserfahrungen quasi noch in sowjetischer Zeit gemacht haben“, erklärt er. 

    Ein anderer ehemaliger Mitarbeiter des Projekts drückt sich gegenüber Meduza noch härter aus: „Von innen funktioniert das, als wäre es ein Spielzeug, das einem stinkreichen Kerl gehört. Totales Chaos, alles wird alle Nase lang verändert und dazu die absolute Tyrannei.“ Das Problem sei, dass „die Initiatoren des Projekts in ihrer Borniertheit überhaupt keinen Business-Plan haben. Ihre Ziele und Handlungen stimmen absolut nicht überein“. 

    Die Chefs hätten dem neuen Staat „so eine tyrannische Verfassung“ gegeben, dass ihnen „die Leute einfach davonlaufen“. Der ganze Weltraum-Staat ist also nichts mehr als der Zeitvertreib einer einzigen Person, so der ehemalige Mitarbeiter von Asgardia. „Obwohl sie sich das nie eingestehen werden. Selbst mit einer Sekte lässt sich das nicht vergleichen, denn da achtet man wirklich bei jedem einzelnen darauf, dass er sich nicht aus dem Staub macht“, sagt er noch. „Wenn kein Geld mehr da ist, dann ist auch das Projekt tot.“ 

    Von solchen Kleinigkeiten lässt sich Igor Aschurbejli nicht aus der Ruhe bringen. Er hat in Asgardia einen Sinn gefunden. „Irgendwie muss ich doch bis zum Tod noch leben“, sagt er, „und muss dabei doch auch was tun. Sonst wär’s doch langweilig.“

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  • Politik aus der Trickkiste

    Politik aus der Trickkiste

    „Irgendwo zwischen Soziologe und Erpresser“, so beschreibt ein Polittechnologe sein Berufsbild auf Meduza. Russland ist das Geburtsland der Polittechnologie. Was wie eine Wissenschaft klingt, meint ein Arsenal von Manipulationstechniken, die den politischen Prozess maßgeblich beeinflussen können. Vor allem bei Wahlen kommen diese Instrumente zum Einsatz. 

    Der Begriff Polittechnologie ging während des russischen Präsidentschaftswahlkampfs 1996 in den allgemeinen Sprachgebrauch ein. Mit zweifelhaften Methoden versuchen Polittechnologen, den Wählerwillen und die öffentliche Meinung zu beeinflussen, um ihrem Kandidaten zum Sieg zu verhelfen. Sie berufen sich auf Machiavelli: Jedes Mittel zur Machterlangung und zu deren Erhalt ist ihnen recht. Am Geburtstag des politischen Philosophen feiern sie den Tag des Polittechnologen.

    Taissija Bekbulatowa hat sich in der Branche umgehört. 

    1999 fanden in der chakassischen Stadt Sajanogorsk Bürgermeisterwahlen statt. Der junge Unternehmer Oleg Deripaska versuchte, anstelle des ihm nicht freundlich gesonnenen Stadtoberhaupts „seinen“ Kandidaten unterzubringen. In der Zeit vor den Wahlen wurde Sajanogorsk in ein merkwürdiges Spiel hineingezogen – die Wähler wurden aufgefordert, an einer Verlosung teilzunehmen: Um zu gewinnen, musste man den Ausgang der Wahlen voraussagen. Im Fernsehen wurden dann täglich die Umfragewerte gezeigt. Die Bewohner der Stadt setzten auf den führenden Kandidaten – und stimmten schließlich auch für den, auf den sie gesetzt hatten. Deripaskas Kandidat siegte mit großem Abstand. Er hatte das Ranking angeführt, das ständig im Fernsehen lief und mit der Realität nichts zu tun hatte.

    Das war das „Smirnowsche Hütchenspiel“. Dessen Erfinder, der Polittechnologe Wjatscheslaw Smirnow, nennt es bescheiden eine „primitive Technik, die auf Gier setzt“: „Die Leute sahen sich  Clips an, die ich schon aufgenommen hatte, bevor sie ihre Stimmzettel ausfüllten, und sie sahen, dass unser Kandidat führt. Den Wahlkampfstab leitete Deripaska persönlich. Er saß mit Stift und einem Notizheft für fünf Kopeken da und schrieb irgendwas auf.“

    Mit Methoden wie dieser haben sie Bekanntheit erlangt, die Vertreter eines für Russland neuen Berufsstandes. Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre, als echte Wahlen eingeführt wurden, war der Beruf des Polittechnologen entstanden, und zwar in enger Nachbarschaft zum Geld: bei den Großunternehmen, die in den Regionen „ihre“ Gouverneure und Bürgermeister einsetzen wollten. Die Finanz- und Industriegruppen hatten in den Regionen ihre spezifischen Interessen. Und bei den für sie wichtigen Fragen hingen die Entscheidungen von den Stadt- und Regionalregierungen ab.

    „Der Beruf [des Polittechnologen] ist ein Grenzgänger, irgendwo zwischen Soziologe und Erpresser“, erklärt Smirnow. „Einerseits gibt es bestimmte Methoden, wissenschaftliche Gesetze. Andererseits musst du schon Geld zur Arbeit mitbringen, weil du ein halbes Jahr deines Lebens in irgendeiner Region herumhängen musst, um irgendeinem Bürgermeister oder Gouverneur zur Wahl zu verhelfen.“

    Bald war in diesem Bereich viel Geld im Spiel. Teilweise stürzten sich für die Platzierung eines Wunschkandidaten zwei, drei Firmen mit vergleichbaren Ressourcen ins Rennen. Diese Firmen stellten dann die ersten Technologenteams auf. Denn die Sponsoren zogen es vor, den Spitzenkandidaten nicht direkt Geld zu geben. Sie konnten ja nicht wissen, wofür es ausgegeben wird. Stattdessen schickte man firmeneigene Leute, die dann das Wahlkampfbudget verwalteten.

    NAMENSVETTER UND GEFÄLSCHTE ANZEIGEN

    Recht bald wurde mit „Polittechnologie“ der Begriff „schwarze PR“ assoziiert. Wahlen in Russland waren ein sehr spezifisches Phänomen und unterschieden sich deutlich von Wahlen in westlichen Ländern. Daher reichte es nicht, die Instrumente der europäischen und amerikanischen Kollegen zu übertragen – die Technologen in Russland mussten selbst kreativ werden: Bei den Wahlen tauchten plötzlich Namensvetter auf, gefälschte Anzeigen in Zeitungen, die die Opponenten diskreditieren sollten, und vieles mehr. Technologien, die sich in einer Region bewährt hatten, fanden sofort in anderen Regionen Anwendung. Viele von ihnen werden bis heute eingesetzt.

    Der ehemalige Präsidentschaftskandidat Andrej Bogdanow gilt als Erfinder vieler Wahltechniken. „Das [mit den Namensvettern] hat sich Bogdanow ausgedacht“, behauptet Smirnow. „Später dann, bei den Wahlen zur Moskauer Stadtduma, hat man ihm deswegen den Kopf eingeschlagen, einfach, weil er erklärt hatte, dass er einen Namensvetter gegen einen mit uns befreundeten Kandidaten aufstellen wird. Der hat daraufhin zwei Kerle mit Schlageisen bei ihm vorbeigeschickt.“ In den Medien wurde schließlich nur erwähnt, dass Bogdanow während des Wahlkampfes 1997 von Unbekannten angegriffen worden war.

    Bogdanow hat Smirnows Aussage bestätigt. Auch heute noch werden Polittechnologen bedroht. Einer von ihnen meint im Scherz „Ein Technologe im Feldeinsatz, der noch nie in einem Kofferraum irgendwo in den Wald gefahren wurde, ist kein Technologe.“

    Folge der „schwarzen“ Innovationen war, dass als Polittechnologien vor allem die bunten Tricks  wahrgenommen wurden – zum Beispiel der aus Krasnojarsk 1998: Um den Gouverneursposten kämpften damals Alexander Lebed und Waleri Subow. Zur Unterstützung des ersten trat Alain Delon auf, für den zweiten Alla Pugatschowa. Gewinnen sollte Lebed, doch wollten die Sponsoren der Kampagne auf keinen Fall, dass der General schon im ersten Durchgang siegt, weil sie befürchteten, dass er dann nicht mehr kompromissbereit wäre. Also finanzierten sie eine Kampagne für und eine gegen ihn.

    Zur Unterstützung des einen trat Alain Delon auf, für den anderen Alla Pugatschowa

    Höhepunkt der Kampagne war der Marsch der Penner. „Wir heuerten Obdachlose an, gaben ihnen Topfdeckel und Schöpflöffel, hängten ihnen Schilder um, mit Portraits von Lebed und Parolen wie Lebed ist unsere Wahl auf Leben und Tod“, erzählt Smirnow. „Alle Fernsehsender warteten darauf, das auf dem zentralen Platz der Stadt filmen zu können.“

    Gleichzeitig erschienen „Leute von Lebeds Wahlkampfstab“ in der Stadt, die die Höfe abklapperten und fragten, wieviel Schweine und Hühner es da gebe, angeblich für den Entwurf einer Sondersteuer auf landwirtschaftliche Selbstversorger­wirtschaft; auch davon wurden Berichte im Fernsehen gezeigt. Lebed siegte, wie geplant, erst im zweiten Durchgang.

    KREATIVE TECHNIKEN

    Kreative Techniken gefallen den Politikern gewöhnlich sehr, funktionieren aber nicht immer. „Nehmen wir mal an, ein Kandidat ist reich, und er will gegen den Konkurrenten gleich fünf Namensvettern ins Rennen schicken. Du erklärst ihm dann, dass das nicht besonders hilfreich sein wird. Der aber meint: ‚Der soll ruhig nervös werden, ich will ihm eine verpassen‘ “, erklärt Smirnow.

    Das Gleiche gilt auch für gröbere Methoden wie Wählerbestechung: „Unsere Wähler sind bereit, jemandem gegen Geld ihre Stimme zu geben. Sie sagen: ‚Komm und bau uns eine Haustür aus Metall ein, dann können wir miteinander reden.‘ In vielen Regionen ist das durchweg so. Die Rentner sagen: ‚Schaut, Pupkin hat mir einen Lebensmittelkorb gebracht, ich bin für ihn.‘ Allerdings sind unsere Rentner auch nicht blöd – nach einer gewissen Zeit holen sie sich von allen Kandidaten die Geschenkkörbe ab, und zur Wahl gehen sie dann nicht.“

    Unsere Rentner sind auch nicht blöd: Sie holen sich von allen Kandidaten die Geschenkkörbe ab, und zur Wahl gehen sie dann nicht

    Die Technologen, die schon in den 1990er Jahren tätig waren, haben jene Zeit als unerreichbare, goldene Ära in Erinnerung: Das Geld floss in Strömen, es gab viele Wahlen, und Auftraggeber auch. Die Ära endete abrupt.

    „Ungefähr seit der Verhaftung Chodorkowskis hörte die Wahlfinanzierung durch große Unternehmen auf. Es wurde ihnen einfach verboten“, erinnert sich Smirnow. „Jetzt ist es nicht mehr möglich, dass jemand ‚seine‘ Gouverneure installiert. Jetzt entscheidet die Regierung, wer ernannt wird.“

    Im Endeffekt wurde nicht nur von den Politikern verlangt, systemkonform zu werden, sondern auch von den Technologen, die für sie arbeiten. Für die besteht laut Branchenmitgliedern eine Erfolgsgarantie vielfach darin, gute Kontakte zur Machtpartei und zur Präsidialadministration zu unterhalten.

    Oppositionsparteien bringen nichts ein

    „Jetzt sehen die Spielregeln so aus: Sucht euch Aufträge bei Einiges Russland. Die anderen Parteien dienen nur als Deko. Das sind nur Krümelreste. Die haben ihre Haustechnologen“, sagt Bogdanow. „Der größte Arbeitgeber, das ist die Staatsmacht. Über 90 Prozent der normalen, guten Aufträge kommen von dort“, bestätigt der Polittechnologe Wladimir Perewostschikow.

    Mit der Systemopposition arbeiten die Technologen nur wenig zusammen und reißen sich auch nicht darum – es bringt wenig Geld, und die Chancen auf einen Sieg sind klein. „Die LDPR hat überhaupt keine Technologen nötig“, merkt Jewgeni Malkin an, einer der erfahrensten Polittechnologen im Land. „Shirinowski ist selbst Technologe genug.“

    „Das größte Problem der [System-]Opposition ist, dass sie nicht so richtig gewinnen will. Größeren Anspruch zu erheben, ist gefährlich, sie wollen ihre Opponenten nicht allzu sehr angehen. Sie sind mit allem zufrieden, so wie es ist“, fährt Malkin fort. „Wir können aber keine halbherzige Kampagne entwerfen.“ Das Elend der demokratischen Parteien sieht Malkin in deren „ineffektiver und kaum fokussierter Botschaft“: „Würden sie mit der Parole Putin muss weg! antreten, kämen sie auf sechs Prozent.“

    Würde die Opposition mit der Parole Putin muss weg! antreten, käme sie auf 6 Prozent

    „Unsere Gesellschaft ist in Wirklichkeit ziemlich auf Protest aus. Sie sieht alles, was vor sich geht, durchschaut es, duldet es einfach“, ergänzt Perewostschikow. „Fast in jeder Gegend Russlands ließe sich innerhalb weniger Monate ein Protest lostreten.“

    Der Polittechnologe Abbas Galljamow erinnert sich, dass sie bei einer der Kampagnen vor der Hälfte der Wohnungstüren „schon nach dem Satz ‚Guten Tag, wir sind von Einiges Russland‘ sofort eine Abfuhr erlebt haben“.

    Für eine erfolgreiche Protestkampagne der Opposition reichen die Ressourcen aber nur selten – die Anzahl der Leute, die sowohl das Geld haben, um die Administrativen Ressourcen zu übertrumpfen als auch Kampfeswillen, liegt dem Politberater Valentin Bianki zufolge bei „ungefähr null.“ Gewöhnlich sieht die Auseinandersetzung der Regierung mit der Opposition aus wie „ein Panzer, der einen Frosch niederwalzt“, wie es Perewostschikow ausdrückt.

    DIE ARBEIT IM FELD

    Ein Teil der Polittechnologen ist mit der ständigen Begleitung der Kandidaten in einer Region befasst. Früher konnte es passieren, dass ein ganzes Team von bis zu 120 Personen angeflogen kam, das dann auch den Wahlkampfstab bildete. Doch diese Zeiten sind vorbei, jetzt erlauben es die Wahlkampfbudgets nur selten, derart große Teams von extern anzuheuern. „In jeder Region haben sich eigene Medienleute, feste Wahlkampfhelfer bei den Parteien und eigene Technologen etabliert“, erklärt der Politikberater Dimitri Gussew. Es hat sich ein Format entwickelt, bei dem zwei, drei erfahrene Polittechnologen zum Einsatzort fliegen und dann Technologen vor Ort einweisen.

    Unter den Polittechnologen gibt es die gesonderte Gruppe der Politikberater, die in der Regel die Kampagnen vor Ort nicht selbst führen.  Zu ihnen gehören die bekanntesten Markt-Akteure. „Wenn man sich die Top-20 [der Polittechnologen in Russland] anschaut, ist dort außer Parfjonow niemand Polittechnologe im Sinne des Handwerkes; der also in der Lage wäre, alles von der Pike auf selbst zu machen, der hinfährt, eine klare Strategie entwirft, ein Konzept, der die Mobilisierung organisiert, der selbst Fokusgruppen durchführen kann und auch Meinungs­umfragen“, meint ein Gesprächspartner von Einiges Russland. „Alle diese Leute delegieren bis zu einem gewissen Maße die Aufträge nur weiter. Sie fahren rum, holen Aufträge ein, indem sie ihr Gesicht zeigen. Dann kommen sie zu irgendeiner Sitzung in der Präsidialadministration und erzählen: ‚Ich komme gerade aus der Region X, der Dreck an meinen Stiefeln ist noch nicht trocken.‘ Und zur gleichen Zeit befindet sich das Team in der Region – und am Steuer sitzt ein ganz anderer.“

    Es gibt die Bürosklaven und den Chefredakteur, der die Sache verkauft

    „Politikberatung ist, wenn zum Gouverneur ein kluger Herr in feinem Anzug kommt, der in der Regel die Sitzungen bei SurkowWolodinKirijenko besucht und zu den Top-Polittechnologen Russlands gehört“, erzählt Wjatscheslaw Smirnow. „Er schreibt dann ein Konzept, auf welche Weise die Wahl zu gewinnen ist, mit welcher Ideologie und so weiter. Genauer gesagt: Die Bürosklaven schreiben alles auf, und er ist der Chefredakteur, der die Sache verkauft. Der Preis liegt zwischen 50.000 und 150.000 Dollar pro Konzept.“

    Bogdanow und Smirnow haben ihre eigene Nische: Sie „halten sich Parteien“, die von Interessenten gegen eine bestimmte Summe für ihre Zwecke gepachtet werden können. (Aufgrund der „Liberalisierung“ der Parteiengesetze nach den Protesten von 2011/2012 ist es Bogdanow gelungen, mehrere Parteien mit unterschiedlichen Namen beim Justizministerium registrieren zu lassen.) „Wenn Sie mal Vorsitzender einer Partei waren, und sei es nur für drei Monate, für die Zeit der Wahlen, dann kommen Sie in Ihrer Stadt mächtig voran“, erklärt Smirnow.

    Bogdanow fügt hinzu, dass man nicht nur mit Parteien Geld verdienen könne, sondern auch mit gesellschaftlichen Organisationen (von denen er auch einige im Angebot hat). In der Vorwahlzeit zum Beispiel würden sich sehr gut Beschäftigungs­nachweise in NGOs verkaufen, die man in den Wahlunterlagen angeben kann.

    Bogdanow fasst es so zusammen: „Auf dem Markt gewinnt derjenige, der über die nötigen Instrumente verfügt.“

    DER MARKT WANDELT SICH

    Auf dem schrumpfenden Markt der Wahlen in Russland versuchen die Akteure mittlerweile, andere Verdienstmöglichkeiten zu finden. Ihre eigentlichen Fertigkeiten bringen Polittechnologen aus Russland oft in den Ländern der GUS an den Mann, wo es bis heute riesige Budgets gibt (besonders gute Honorare werden, so ein Gesprächspartner von Meduza, in den nicht anerkannten Republiken gezahlt, etwa in Südossetien). Einige machen ihre Erfahrung zu Geld, indem sie Schulungen anbieten und Vorträge halten.

    „Mein Eindruck ist, dass der Markt nicht kleiner wird, sondern sich wandelt“, meint Alexej Kurtow, Gründer der Agentur InterMediaKom. „Politikberatung betrifft nicht nur Wahlen, sie ist ein ständiger Prozess.“

    Es gewinnt derjenige, der über die nötigen Instrumente verfügt

    Die Präsidialadministration wurde in der Ära Putin zum wichtigsten politischen Entscheidungszentrum des Landes – also auch zum Anziehungspunkt für Polittechnologen. Jeder Leiter erneuert in den ersten sechs bis zwölf Monaten nach seiner Ernennung das System.

    Eine der wichtigsten Aufgaben ist es, für die Staatsmacht erfolgreich Wahlen zu bestreiten: Die Präsidialadministration und das zentrale Exekutivkomitee von Einiges Russland widmen sich den Wahlen auf föderaler Ebene, ist von einer Quelle in der Partei zu erfahren.

    Andrej Koljadin, früher Leiter der Abteilung Regionalpolitik des Referats für Innenpolitik in der Präsidialadministration, berichtet, dass er sich unter Surkow auch mit dem FSB auseinandersetzen musste. Denn der war seinerzeit entschlossen, anderthalb Monate vor den Wahlen das Oberhaupt einer Region zu verhaften. „Ich habe mit denen vom FSB total gestritten, weil die Festnahme eines Gouverneurs vor den Wahlen eindeutig die Wahlergebnisse verdirbt. Er wurde verhaftet, aber erst nach den Wahlen.“

    Sie haben tatsächlich geglaubt, dass die Umfragewerte für Nawalny bei drei bis fünf Prozent liegen, und sie haben sich zutiefst getäuscht

    Unter Wjatscheslaw Wolodin, der Surkow im Dezember 2011 [in der Präsidialadministration – dek] abgelöst  hatte, änderte sich das System ein wenig. „Es gab weniger Einmischung in die regionalen Wahlkämpfe, so nach dem Motto: Ihr sollt ruhig eure eigene lokale Agenda haben“, berichtet ein Gesprächspartner von Meduza, der Einiges Russland nahesteht. Ihm zufolge nahm das neue Team [im Kreml] die regionalen Wahlen nicht mehr als Gefahr wahr, nachdem die Proteste von 2011/2012 abgeklungen waren. Und nach der Angliederung der Krim haben sie sich auch hinsichtlich der föderalen Wahlen beruhigt.

    „Der einzige große Fehler war die Bürgermeisterwahl [2013] in Moskau“, so der Informant. „Warum haben sie damals Nawalny zugelassen? Sie wollten ihn wunderschön ausspielen! Sie haben tatsächlich geglaubt, dass die Umfragewerte für Nawalny bei drei bis fünf Prozent liegen, und sie haben sich zutiefst getäuscht“ (Nawalny hatte später mit 27 Prozent der Stimmen den zweiten Platz errungen – Anm. Meduza).

    Jetzt, da in der Präsidialadministration Sergej Kirijenko für die Innenpolitik verantwortlich ist, ändere sich das Gefüge allmählich, berichten Marktakteure. Insgesamt arbeite Kirijenko sehr viel weniger intensiv mit Experten als seine Vorgänger. Er verschickt keine Themen-Memos, hat es nicht eilig, Geld zu verteilen, und vielen ist daher nicht klar, was weiter zu tun ist.

    „Wo will man als Politologe unterkommen? Der wichtigste Auftraggeber für diese Sparte sind in Russland die Regierungsstrukturen. Es gibt zwar noch die großen Unternehmen, aber auch da ist es besser, systemkonform zu sein. Und die Opposition ist keine ernstzunehmende Geldquelle“, erläutert Nikolaj Mironow.

    Ökonomie der Politik

    „Die teuerste Kampagne, die gibt es nicht“, meint Jewgeni Malkin. Marktakteure räumen allerdings ein, dass die für Polittechnologen vorgesehenen Budgetposten geschrumpft sind, sodass Kampagnen wie die Gouverneurswahlen 2002 in der Region Krasnojarsk, als der Wahlkampf von Alexander Chloponin noch um die 30 Millionen Dollar kostete, sind heute  kaum noch möglich. „Ich kenne Menschen, die sich einander gegenüber gesetzt und geübt haben, folgenden Satz ruhig auszu­sprechen: ‚Das kostet eine Million Dollar‘“, erzählt einer der Gesprächs­partner von Meduza. „Aber die Zeiten sind jetzt natürlich andere.“

    Ein großer Teil der Wahlkampfgelder fließt „inoffiziell“. Nach Einschätzung von Valentin Bianki bekommen rund zehn Prozent der Technologen eine offizielle Entlohnung. Ein Gesprächspartner von Einiges Russland sagte Meduza, die Zunft sei nicht sonderlich an einer Legalisierung ihrer Budgets interessiert. „Mindestens jeder zweite Technologe fährt nicht wegen der Honorare zu einem Wahlkampf, sondern um vor Ort Kohle abzuzwacken“, meint der Informant.

    „Man braucht sehr viel Cash“, meint einer der Marktakteure. „Nehmen wir an, du schickst Kiezagitatoren los, um den Wahlkampf der Opposition zu sabotieren, wie bezahlst du die, aus dem Budget? Man muss den Journalisten was zahlen, den Wahlkommissionen, den Wahlbeobachtern. Man muss irgendjemandes Wahlkampf stören, Provokateure zu fremden Veranstaltungen schicken … Schließlich kann man wohl schlecht in einen Vertrag reinschreiben: ‚Provokationen – 5 Stück à 1 Stunde‘. Man muss Bots oder echte Menschen ranholen, die die Kommentare zumüllen. Und dann muss man manchmal jemanden mit Füßen treten. Was in den Regionen oft vorkommt.“

    Wettbewerb der politischen Instrumente

    Weithin bekannt ist beispielsweise der Fall Nikolaj Sandakow. Der ehemalige Vizegouverneur des Gebietes Tscheljabinsk, der seit April 2016 in Haft ist, wird beschuldigt, Bestechungsgelder angenommen zu haben. Auch Nikita Belych, seinerzeit Gouverneur des Gebietes Kirow, der im Juli 2016 bei der Entgegennahme von 400.000 Euro in bar festgenommen wurde, soll nach Angaben der Agentur Reuters von örtlichen Unternehmern Geld „für die Wahlen“ eingesammelt haben.

    „Die verschiedenen politischen Player wollen den Markt umschichten“, meint Jewgeni Mintschenko. „Die einen sagen: Warten Sie mal, wozu brauchen wir einen Wahlkampfmarkt, wenn man alles administrativ regeln kann? Andere wiederum sagen: Wozu alles administrativ entscheiden, wenn wir alles mit Hilfe eines Strafverfahrens oder einer Durchsuchung regeln können? Das ist der Wettbewerb der politischen Instrumente …“

    Andrej Koljadin fasst zusammen: „Ein Polittechnologe, das ist unter anderem auch jemand, der weiß, wie man einen Wahlkampf führt, ohne dass jemand ins Gefängnis wandert.“

    Der Beruf des Polittechnologen weist heute in Russland eine eindeutige Spezifik auf: Da die Wahlen meist von oben kontrolliert werden, ist der Sinn von Wahlkämpfen nicht immer klar. Die Wahlkampfstäbe von Einiges Russland in den Regionen arbeiten stets im Verbund mit der Regierung vor Ort, in deren Händen sich in der Regel die wichtigsten Ressourcen befinden, unter anderem die Medien.

    Es gibt auch direktere Methoden, um auf den Ausgang von Wahlen Einfluss zu nehmen. „Je mehr Einmischung bei den Wahlkommissionen, desto weniger Polittechnologien werden benötigt“, erklärt Smirnow. „Der Traum eines jeden reichen Kandidaten ist es, dass er zum Vorsitzenden der Wahlkommission geht, diesem Geld zahlt – und dass dieser ihm ein Protokoll gibt, das den Sieg feststellt. Möglichst schon vor den Wahlen.“

    Je mehr Einmischung bei den Wahlkommissionen, desto weniger Polittechnologien werden benötigt

    Andrej Bogdanow zufolge „werden Technologen jetzt in Wirklichkeit nicht mehr gebraucht“, weil Wahlkämpfe oft einfach nur Blendwerk seien, das verdecken soll, dass alles schon durch Abmachungen und Scheinkandidaten entschieden ist.

    „Alle unerwünschten Kandidaten werden vor den Wahlen aus dem Rennen genommen. Der Polittechnologe ist jetzt eher ein Unterhändler, ein Bindeglied zwischen Präsidialadministration und den lokalen Eliten“, erklärt Bogdanow.

    Die Technologen sind überzeugt, dass ihr Beruf gefragter sein wird, sobald es mehr echte Urnengänge und Referenden gibt.

    „Man sagt: Diese Politberater, das sind Leute, die der Gesellschaft schaden … Wir gehören aber zu denen, die der Demokratie weltweit am meisten nützen!“, erklärte Jewgeni Malkin jüngst bei einem Briefing zum Tag des Politikberaters. „Wir sind auf dem Feld des realen elektoralen Wettbewerbs präsent, wir erklären den Politikern, was die Leute wirklich von ihnen wollen, wir helfen Koalitionen zu schmieden und Übereinkommen zu erreichen, um die Spannungen zwischen verschiedenen Gruppen der Elite zu minimieren. Solch hervorragende Leute wie uns sollte man nicht beschimpfen, sondern sie auf Händen tragen und jeden Tag ‚Danke‘ sagen.“

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