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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Krieg im Osten der Ukraine

    Krieg im Osten der Ukraine

    Bei dem bewaffneten Konflikt im Osten der Ukraine beziehungsweise im Donbass handelt es sich um einen Krieg, der von seit April 2014 zwischen ukrainischen Streitkräften und Freiwilligenbataillonen auf der einen Seite sowie separatistischen Milizen der selbsternannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk (DNR und LNR) und russischen Soldaten auf der anderen Seite geführt wurde. Am 24. Februar 2022 befahl Putin den Angriff auf das Nachbarland – aus dem verdeckten ist ein offener Krieg geworden.

    Die zentralen Vorgänge, die den Krieg in der Ostukraine bis dahin geprägt hatten: Vorgeblich ging es dabei um die Gebietshoheit der beiden ostukrainischen Verwaltungsbezirke Donezk und Luhansk – dem sogenannten Donbass, der zu etwa einem Drittel nicht unter Kontrolle der ukrainischen Regierung ist. In der Ukraine sowie in der Europäischen Union ist man bis heute überzeugt, dass Russland die Separatisten immer finanziell, personell und logistisch unterstützt hat. Demnach hat Russland den Donbass vor allem als Instrument genutzt, um die Ukraine langfristig zu destabilisieren und somit gleichzeitig kontrollieren zu können. Russland hatte eine militärische Einflussnahme und Destabilisierungsabsichten stets bestritten.

    Die Entstehung des Krieges und wie die EU und die USA mit Sanktionen darauf in dem jahrelangen Konflikt reagiert hatten – ein Überblick. 

    Nachdem Ende Februar 2014 der ukrainische Präsident Janukowytsch im Zuge der Maidan-Proteste gestürzt wurde, russische Truppen kurze Zeit später die Krim okkupierten und die Annexion der Halbinsel auf den Weg brachten, ist die Situation im Donbass schrittweise eskaliert.

    Zunächst hatten pro-russische Aktivisten im April 2014 Verwaltungsgebäude in mehreren ostukrainischen Städten besetzt. Forderungen, die hier artikuliert wurden, waren diffus und reichten von mehr regionaler Selbstbestimmung bis hin zur Unabhängigkeit von der Ukraine und einem Anschluss an Russland.

    Während sich in Charkiw die Situation nach der polizeilichen Räumung der besetzten Gebietsverwaltung rasch entspannte, kam es in Donezk und Luhansk zur Proklamation eigener Republiken. Parallel wurden Polizeistationen und Gebäude des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes gestürmt sowie dortige Waffenarsenale gekapert. Wenige Tage später traten in der Stadt Slowjansk (Donezker Verwaltungsbezirk) unter dem Kommando des russischen Geheimdienstoberst Igor Girkin erste bewaffnete „Rebellen“ in Erscheinung. Girkin, der bereits zuvor an Russlands Okkupation der Krim beteiligt gewesen war und zwischen Mai 2014 und August 2014 als Verteidigungsminister der DNR fungierte, behauptete später, dass der Krieg im Donbass mitnichten aus einem Aufstand russischsprachiger Bewohner der Region resultierte. Er betonte indes, dass dieser „Aufruhr“ ohne das Eingreifen seiner Einheit schnell zum Erliegen gekommen wäre.1

    Eskalation

    Tatsächlich begannen die bewaffneten Kampfhandlungen in dem von Girkins Einheit besetzten Slowjansk. Um die Stadt zurückzugewinnen, startete die ukrainische Regierung eine „Anti-Terror-Operation“ mit Beteiligung der Armee. Während die Separatisten in den von ihnen kontrollierten Orten des Donbass im Mai 2014 sogenannte Unabhängigkeitsreferenden durchführen ließen, weiteten sich in der Folgezeit die Gefechte zwischen ukrainischen Streitkräften und Freiwilligenverbänden auf der einen und den Separatisten auf der anderen Seite stetig aus.

    In deutschsprachigen Medien und in der internationalen Diplomatie wurde seither häufig von einer „Krise“ oder einem „Konflikt“ gesprochen. Tatsächlich erreichte die militärische Eskalation unter quantitativen Aspekten, die sich auf eine bestimmte Anzahl von zivilen und nicht-zivilen Opfern pro Jahr beziehen, bereits 2014 den Zustand eines Krieges.2 Auch unter qualitativen Gesichtspunkten erfüllte der bewaffnete Konflikt ab 2014 sämtliche Merkmale eines Krieges, wie ihn beispielsweise die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg definiert3.

    Neben der Involvierung russischer Freischärler und Söldner4 mehrten sich im Verlauf der kriegerischen Auseinandersetzungen Berichte über großkalibrige Kriegsgeräte, die den von den Separatisten kontrollierten Abschnitt der russisch-ukrainischen Grenze passiert haben sollen.5 Hierzu soll auch das Flugabwehrraketensystem BUK gehören, mit dem nach Auffassung des internationalen Ermittlungsteams das Passagierflugzeug MH17 im Juli 2014 über Separatistengebiet abgeschossen wurde.6 Reguläre russische Streitkräfte sollen indes ab August 2014 erstmalig in das Geschehen eingegriffen haben, nachdem die ukrainische Seite zuvor stetige Gebietsgewinne verbuchen und Städte wie Kramatorsk, Slowjansk, Mariupol und Awdijiwka zurückerobern konnte.7

    Die EU verhängte im Sommer 2014 aufgrund der „vorsätzlichen Destabilisierung“8 der Ukraine weitreichende wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland. Russland stritt eine Kriegsbeteiligung eigener regulärer Soldaten jedoch stets ab: So hätten sich beispielsweise Soldaten einer russischen Luftlandlandedivision, die in ukrainische Gefangenschaft geraten waren, nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums verlaufen und die Grenze zur Ukraine nur  aus Versehen überquert.9 Die russische Menschenrechtsorganisation Komitee der Soldatenmütter Russlands indes beziffert die Zahl russischer Soldaten, die im Spätsommer 2014 auf ukrainischem Territorium im Einsatz gewesen seien, mit rund 10.000.10

    Einen Wendepunkt des Kriegsverlaufs stellte schließlich die Schlacht um die ukrainische Kleinstadt Ilowajsk dar, bei der die ukrainische Seite im September 2014 eine herbe Niederlage erfuhr und mehrere hundert gefallene Soldaten zu beklagen hatte.11

    Die ukrainische Regierung hat die NATO mehrfach vergeblich um Waffenhilfe gebeten. Allerdings legte die NATO spezielle Fonds an, die zu einer Modernisierung der ukrainischen Streitkräfte beitragen sollen. Diese Fonds dienen unter anderem der Ausbildung ukrainischer Soldaten, der Verbesserung von Kommunikationsstrukturen, der Stärkung von Verteidigungskapazitäten im Bereich der Cyberkriegsführung sowie der medizinischen Versorgung von Soldaten.12 Darüber hinaus erhält die Ukraine Unterstützung in Form von sogenannter nichttödlicher Militärausrüstung wie Helmen und Schutzwesten, Funkgeräten und gepanzerten Geländewagen, unter anderem von den USA.13 

    Verhandlungen

    Die zunehmende Eskalation des Krieges brachte eine Intensivierung internationaler Vermittlungsbemühungen mit sich. Bereits im März 2014 hatte der Ständige Rat der OSZE eine zivile Sonderbeobachtermission für die Ukraine beauftragt und wenig später eine trilaterale Kontaktgruppe zwischen der Ukraine, Russland und der OSZE ins Leben gerufen. Auf Ebene der Staats- und Regierungschefs etablierte sich das sogenannte Normandie-Format zwischen der Ukraine, Russland, Deutschland und Frankreich. Im September 2014 machte es die Unterzeichnung des sogenannten Minsker Protokolls durch die OSZE-Kontaktgruppe möglich.

    Nach anhaltenden Kämpfen, vor allem um den Flughafen von Donezk sowie die Stadt Debalzewe, kam es im Februar 2015 zu einem erneuten Zusammentreffen des Normandie-Formats in Minsk. Im Minsker Maßnahmenpaket (Minsk II) konkretisierten die Parteien sowohl einen Plan zur Entmilitarisierung als auch politische Schritte, die zur  Lösung des Konflikts beitragen sollten.

    Das Maßnahmenpaket umfasst dreizehn Punkte, die schrittweise unter Beobachtung der OSZE umgesetzt werden sollen. Hierzu gehört der Waffenstillstand sowie der Abzug schwerer Kriegsgeräte und sogenannter „ausländischer bewaffneter Formationen“. Außerdem soll in der ukrainischen Verfassung ein Sonderstatus für die Separatistengebiete verankert werden. Nicht zuletzt sieht das Maßnahmenpaket vor, dass Kommunalwahlen in diesen Gebieten abgehalten werden. Außerdem soll die ukrainisch-russische Grenze wieder durch die ukrainische Regierung kontrolliert werden.14

    Entwicklung seit Minsk II

    Auch unmittelbar nach der Unterzeichnung des Minsker Abkommens hielten jedoch vor allem in Debalzewe heftige Gefechte an, bis die Stadt schließlich wenige Tage später unter die Kontrolle der Separatisten fiel. Auch hier soll – wie bereits zuvor in Ilowajsk – reguläres russisches Militär massiv in das Kriegsgeschehen eingegriffen haben.15 Erst nach dem Fall von Debalzewe nahmen die Kampfhandlungen ab. Zu Verletzungen der Waffenruhe, Toten und Verletzten entlang der Frontlinie kam es seither dennoch beinahe täglich.16 Dies macht eine Umsetzung des Minsker Maßnahmenpakets bis heute unmöglich.

    Schwere Gefechte mit dutzenden Toten brachen zuletzt rund um die Stadt Awdijiwka aus. Awdijiwka, das im Sommer 2014 von ukrainischer Seite zurückerobert wurde und dem Minsker Protokoll entsprechend unter Kontrolle der ukrainischen Regierung steht, hat als Verkehrsknotenpunkt sowie aufgrund der dort ansässigen Kokerei eine besondere strategische und ökonomische Bedeutung. Die Stadt ist in der Vergangenheit immer wieder unter Beschuss geraten.17 Im Januar 2017 kam es dort auch zur Zerstörung kritischer Infrastruktur: Dabei fielen in der Stadt bei Temperaturen von unter minus 20 Grad mehrere Tage die Strom-, Wasser- und Wärmeversorgung aus. Allein am 31. Januar 2017 berichtete die Sonderbeobachtermission der OSZE von mehr als 10.000 registrierten Explosionen – die höchste von der Mission bisher registrierte Anzahl an Waffenstillstandsverletzungen.18

    Laut Schätzungen der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2019 sind seit Beginn des Krieges im Donbass rund 13.000 Menschen gestorben. Die Anzahl der Verletzten beziffern die Vereinten Nationen mit über 24.000. Bei mehr als 2000 Todesopfern sowie etwa 6000 bis 7000 Verletzten handelt es sich um Zivilisten.19 Menschenrechtsorganisationen geben zudem an, etliche Fälle von Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen dokumentiert zu haben.20 Im November 2016 erklärte die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) in Den Haag, dass Anzeichen für einen internationalen bewaffneten Konflikt zwischen Russland und der Ukraine vorliegen.21 Die russische Regierung zog daraufhin ihre Unterschrift unter dem Statut des ICC zurück. 

    Neben tausenden Toten und Verletzten hat der Krieg auch zu enormen Flüchtlingsbewegungen geführt. Das ukrainische Ministerium für Sozialpolitik registrierte bis Mitte 2016 über 1,6 Millionen Binnenflüchtlinge; das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen geht in seinen eigenen Berechnungen derweil von 800.000 bis einer Million Binnenflüchtlingen aus.22 Daneben haben knapp 1,5 Millionen Ukrainer seit Ausbruch des Krieges Asyl oder andere Formen des legalen Aufenthalts in Nachbarstaaten der Ukraine gesucht. Nach Angaben russischer Behörden sollen sich rund eine Million Ukrainer in der Russischen Föderation registriert haben.23


    1. vgl.: Zavtra.ru: «Kto ty, «Strelok»?» und Süddeutsche Zeitung: „Den Auslöser zum Krieg habe ich gedrückt“ ↩︎
    2. vgl. University of Uppsala: Uppsala Conflict Data Program ↩︎
    3. vgl. Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg: Laufende Kriege ↩︎
    4. Neue Zürcher Zeitung: Nordkaukasier im Kampf gegen Kiew ↩︎
    5. The Guardian: Aid convoy stops short of border as Russian military vehicles enter Ukraine sowie Die Zeit: Russische Panzer sollen Grenze überquert haben ↩︎
    6. vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Minutiös rekonstruiert ↩︎
    7. Für eine detaillierte Auflistung der im Krieg in der Ukraine involvierten regulären russischen Streitkräfte siehe Royal United Services Institute: Russian Forces in Ukraine ↩︎
    8. vgl. europa.eu: EU-Sanktionen gegen Russland aufgrund der Krise in der Ukraine ↩︎
    9. vgl. tass.ru: Minoborony: voennoslzužaščie RF slučajno peresekli učastok rossijsko-ukrainskoj granicy ↩︎
    10. vgl. TAZ: Es gibt schon Verweigerungen ↩︎
    11. vgl.Frankfurter Allgemeine Zeitung: Ein nicht erklärter Krieg ↩︎
    12. vgl. nato.int: NATO’s support to Ukraine ↩︎
    13. vgl. Die Zeit: US-Militärfahrzeuge in Ukraine angekommen ↩︎
    14. vgl. osce.org: Kompleks mer po vypolneniju Minskich soglašenij ↩︎
    15. vgl. ViceNews: Selfie Soldiers: Russia Checks in to Ukraine ↩︎
    16. vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Wer bricht den Waffenstillstand? ↩︎
    17. vgl. Die Zeit: Wo Kohlen und Geschosse glühen ↩︎
    18. osce.org: Latest from the OSCE Special Monitoring Mission to Ukraine (SMM), based on information received as of 19:30, 31 January 2017 ↩︎
    19. vgl.: Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights: Report on the human rights situation in Ukraine: 16 August to 15 November 2016 ↩︎
    20. vgl. Helsinki Foundation for Human Rights/Justice for Peace in Donbas: Surviving hell – testimonies of victims on places of illegal detention in Donbas ↩︎
    21. vgl. International Criminal Court/The Office of the Prosecutor: Report on Preliminary Examination Activities 2016 ↩︎
    22. vgl. unhcr.org: Ukraine ↩︎
    23. vgl. unhcr.org: UNHCR Ukraine Operational Update ↩︎

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  • Oligarchen

    Oligarchen

    Als Oligarchen werden Großunternehmer bezeichnet, die starken Einfluss auf die Politik nehmen. In Russland, aber auch in anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion, in denen Wirtschaft und Politik sehr eng verwoben sind, stellen sie ein zentrales Charakteristikum des politischen Systems dar.

    Der Begriff „Oligarchen“ (vom griech. oligoi = weniger und archon = Herrscher, Führer) bezieht sich in der Regel auf einen kleinen Kreis von Personen, die Herrschaft zu ihren eignen Gunsten ausüben. Um Oligarchen von politischen Eliten abzugrenzen, sind ihre materiellen Machtgrundlagen hervorzuheben.1 Der Wirtschaftswissenschaftler Anders Åslund verweist daher auf den Terminus „Plutokraten“2 (griech. Reichtumsherrscher) als die eigentlich treffendere Bezeichnung. Heute findet der Begriff Verwendung mit Blick auf Südamerika, Südostasien sowie insbesondere den postsowjetischen Raum. Dort hat sich die Bezeichnung „Oligarchen“ Mitte der 1990er Jahre zunächst in der Politik und Öffentlichkeit Russlands durchgesetzt3

    Die Karrieren der ersten Oligarchen in Russland setzten Anfang der 1990er Jahre im Zuge der Reformpolitik unter Präsident Jelzin ein. Den aufstrebenden Oligarchen gelang es zu dieser Zeit, Privatbanken zu gründen, die vor allem auf den Finanzmärkten Geld verdienten. Dieses Startkapital nutzten sie, um im Zuge der Voucher-Privatisierungen erste Unternehmensbeteiligungen zu erlangen. Aus den Banken entwickelten sich Holdinggesellschaften, die in der zweiten Privatisierungsphase ab 1995 im Rahmen des von den Oligarchen selbst initiierten und maßgeblich beeinflussten Aktien-für-Kredite-Programms weitere Staatsunternehmen – vor allem im Energiesektor und der Metallurgie – weit unter Wert unter ihre Kontrolle bringen konnten. Der klamme Staat erhoffte sich, durch das Kapital der Oligarchen seine leeren Kassen zu füllen. Die Oligarchen nahmen nicht nur auf die Privatisierungen starken informellen Einfluss, um bei Verkäufen von Staatsbetrieben die Auktionen für sich zu entscheiden, sondern erzielten über Korruption und Netzwerke in Ministerien auch enorme Vorteile im Finanz- und Steuerwesen.4

    Im Präsidentschaftswahlkampf 1996 stellten sich die Oligarchen hinter Jelzin, der viele von ihnen schon vorher begünstigt hatte, und förderten dessen Wiederwahl durch Wahlkampfspenden sowie durch von ihnen kontrollierte Massenmedien. Nach dem Amtsantritt Putins 2000 wurde ihr politischer Einfluss dann nachhaltig beschränkt, nachdem sie bereits geschwächt aus der Rubelkrise von 1998 hervorgegangen waren. Insbesondere jene Oligarchen, die sich als illoyal gegenüber der Putin-Administration erwiesen, sahen sich nun der Verfolgung durch die Justizorgane ausgesetzt.5 Mit Boris Beresowski und Wladimir Gusinski traten zwei Oligarchen mit starkem Einfluss in den Massenmedien die Flucht ins Exil an. Das Exempel des neuen Verhältnisses zwischen Politik und Wirtschaft wurde einstweilen jedoch in der sogenannten Jukos-Affäre mit Michail Chodorkowski statuiert.6 Chodorkowski, damals der reichste russische Oligarch, übte öffentlich Kritik an Putin, agierte politisch und unterstützte offen oppositionelle Kräfte. 2003 wurde er wegen Betrugs und Steuerhinterziehung verhaftet und später zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Der von ihm geführte Erdölkonzern Jukos wurde kurze Zeit später für bankrott erklärt, die lukrativsten Unternehmensanteile gingen in das Staatsunternehmen Rosneft über. Der Prozess gegen ihn wurde international als politisch motiviert aufgefasst.7

    Zwar wurden die Oligarchen unter Putin in den Hintergrund gedrängt. Verschwunden sind sie jedoch nicht – bis heute gibt es eine Reihe von Oligarchen, darunter beispielsweise Wladimir Potanin und Michail Fridman, die mit einem geschätzten Vermögen von jeweils rund 15 Mrd. US-Dollar die gegenwärtig reichsten Personen in Russland sind.8 Besonders enge Beziehungen zu Putin soll unter anderem Gennadi Timtschenko haben. Аuch hat sich unter Putin eine eigene Oligarchen-Generation herausgebildet. Hierzu gehören etwa die Brüder Boris und Arkadi Rotenberg, Juri Kowaltschuk und Alischer Usmanow.  Die Rolle und der politische Einfluss der heutigen Oligarchen sind jedoch umstritten. Unklar ist insbesondere, ob sie neben den Silowiki zentrale Träger des Regimes sind oder jeweils eigene, untereinander konkurrierende Akteure darstellen, zwischen denen der Präsident als Moderator fungiert.


    1. vgl.: Winters, Jeffrey (2011): Oligarchy, Cambridge ↩︎
    2. Åslund, Anders (2005): Comparative Oligarchy: Russia, Ukraine and the United States, CASE – Center for Social and Economic Research, Studies & Analyses, 2005 (296), Warschau, S. 6 ↩︎
    3. zur Begriffsrekonstruktion in Russland siehe auch: Schröder, Hans-Henning (1998): Jelzin und die „Oligarchen“: Über die Rolle von russischen Kapitalgruppen in der russischen Politik (1993 – Juli 1998), in: Berichte des BIOst, Nr. 40, S. 5 ↩︎
    4. vgl.: Pleines, Heiko (2004): Aufstieg und Fall: Oligarchen in Rußland, in: Osteuropa, 2004 (3), Berlin, S. 71-81 ↩︎
    5. siehe hierzu auch: Goldman, Marshall I. (2004): Putin and the Oligarchs, in: Foreign Affairs, Vol. 83, No. 6, S. 33-44 ↩︎
    6. vgl. hierzu: Schröder, Hans-Henning (2003): Die Jukos-Affäre, in: Russland-Analysen 2003 (6), S. 2-4 ↩︎
    7. Amnesty International: Russland weit entfernt von Menschenrechtsstandards in Europa: Amnesty kritisiert Moskauer Urteil gegen Chodorkowski ↩︎
    8. Insgesamt führt die sogenannte Forbesliste für das Jahr 2015 88 russische Dollar-Milliardäre auf. Weltweit gibt es lediglich in Indien mit 90 Personen mehr Milliardäre, vgl. hierzu: Russland-Analysen: Russische Milliardäre in der Forbesliste 2015 ↩︎

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  • Krym-Annexion

    Krym-Annexion

    Als Krym-Annexion wird die einseitige Eingliederung der sich über die gleichnamige Halbinsel erstreckenden ukrainischen Gebietskörperschaft der Autonomen Republik Krym in die Russische Föderation bezeichnet. Seit der im Frühjahr 2014 erfolgten Annexion der Krym ist die Halbinsel de facto Teil Russlands, de jure jedoch ukrainisches Staatsgebiet und somit Gegenstand eines ungelösten Konfliktes zwischen der Ukraine und Russland.

    Nur wenige Tage nach dem Sturz des ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowytsch als Resultat der Proteste auf dem Maidan setzten auf der Krym mehrere richtungsweisende Ereignisse ein: Am 27. Februar besetzten bewaffnete Personen, die sich als „Selbstverteidigungskräfte der russischsprachigen Bevölkerung der Krym“ bezeichneten, das Parlament sowie das Regierungsgebäude der Autonomen Republik Krym in Simferopol. Parallel okkupierten russische Spezialeinheiten, die aufgrund ihrer fehlenden Hoheitszeichen in der Ukraine sarkastisch als grüne Männchen bezeichnet wurden, ukrainische Verwaltungs- und Militärstandorte sowie sämtliche Verkehrswege der Halbinsel. Moskau leugnete dies zunächst vehement, später brüstete sich Putin jedoch damit, dass reguläre russische Soldaten im Einsatz gewesen sind.1

    In einer höchst umstrittenen Sondersitzung des Parlaments der Autonomen Republik, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand, wurde Sergej Axjonow, Vorsitzender der Splitterpartei Russische Einheit, zum Ministerpräsidenten der Krym ernannt. Zeitgleich stimmte das Parlament der Abhaltung eines Referendums über die Unabhängigkeit der Krym zu. Igor Girkin, ein russischer FSB-Offizier, der später unter dem Kampfnamen Strelkow (dt. „Schütze“) als Separatistenführer im Donbas in Erscheinung trat und nicht nur maßgeblich an den ersten bewaffneten Kampfhandlungen des dortigen Krieges beteiligt war, sondern auch an der Okkupation der Krym, räumte Monate später ein, dass die Abgeordneten von der Volksmiliz zur Abstimmung getrieben wurden.2

    Das Referendum wurde nach mehrfacher Vorverlegung am 16. März 2014 abgehalten. Knapp 97 Prozent der Abstimmenden sollen sich bei einer angeblichen Wahlbeteiligung von rund 83 Prozent für den auf den Stimmzetteln als „Wiedervereinigung“ bezeichneten Beitritt der Krym zur Russischen Föderation ausgesprochen haben. Das Krym-Parlament hatte zuvor bereits für eine Unabhängigkeitserklärung der Krym gestimmt. Die offizielle Aufnahme der Krym in die Russische Föderation erfolgte wenige Tage später. Das Referendum sowie sämtliche von Parlament und Regierung der Krym beschlossene Maßnahmen zur Herauslösung der Krym stehen im eindeutigen Widerspruch zum Staats- und Verfassungsrecht der Ukraine und wurden von Kyjiw nicht anerkannt.3

     

    Auch die internationale Staatengemeinschaft erkennt die Eingliederung der Krym in die Russische Föderation nicht an und sieht in ihr eine Verletzung der territorialen Unversehrtheit der Ukraine sowie mehrerer internationaler Verpflichtungen durch Russland.4 Die EU, die USA sowie weitere Staaten reagierten mit Sanktionen gegen Russland. Moskau betrachtet indes unter Verweis auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker die Eingliederung der Krym als rechtmäßig. Abgesehen von der Illegalität des Referendums nach ukrainischer Gesetzgebung und unabhängig von der völkerrechtlich umstrittenen Frage, ob das Selbstbestimmungsrecht der Völker ein Recht auf Sezession umfasst, ist das Referendum jedoch auch deshalb als nichtig zu werten, weil erst die völkerrechtswidrige militärische Intervention, das heißt die Anwendung von Gewalt, das Referendum ermöglichte.

    Umstritten ist, welche Zustimmung eine Sezession in der Bevölkerung der Krym tatsächlich genossen hat. Politische Kräfte, die eine Loslösung der Krym von der Ukraine anstrebten, waren in den letzten Jahren marginalisiert. Der Historiker Jan Zofka verweist allerdings auch darauf, dass das russische Militär in einer politisch feindlichen Umgebung nicht derart ungestört hätte agieren können. Die Russland-Orientierung breiter Teile der Krym-Bevölkerung, Institutionen der Autonomie und Überreste der Unabhängigkeitsbewegung der 1990er Jahre sieht er als begünstigende Faktoren der Annexion als Folge der militärischen Intervention.5  Die massive russische Propaganda im Zuge der Ereignisse auf dem Maidan hat zudem Ängste und Unsicherheit bei Teilen der Bevölkerung der Krym geschürt. In Opposition zur Angliederung an Russland stehen indes große Teile der etwa 300.000 Krymtataren, die das Referendum boykottierten.6


    1. Frankfurter allgemeine Zeitung: Putin rechtfertigt Annexion. „Krim-Operation war Reaktion auf Nationalismus“ ↩︎
    2. Neue Zürcher Zeitung: Wie die Krim annektiert wurde. «Wir haben sie zur Abstimmung getrieben» ↩︎
    3. Luchterhandt, Otto (2014). Die Krim-Krise von 2014: Staats- und völkerrechtliche Aspekte, in: Osteuropa, 2014 (5-6), S. 61-86 ↩︎
    4. United Nations: Resolution adopted by the General Assembly on 27 March 2014, 68/262. Territorial integrity of Ukraine ↩︎
    5. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Ukraine. Zurück zum Mutterland ↩︎
    6. Mejlis of the Crimean Tatar People: Statement of Mejlis of the Crimean Tatar People as Regard to Announcement of “Crimean Referendum” by Verkhovna Rada of Autonomous Republic of Crimea ↩︎

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