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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Corona-Politik: Eine einzige Misere

    Corona-Politik: Eine einzige Misere

    Die frühe Zulassung des russischen Impfstoffs Sputnik V hatte im vergangenen Jahr wegen der Missachtung der üblichen Standards hohe Wellen geschlagen – nun prüft die Europäische Arzneimittelbehörde EMA, ob er nicht bald auch in Europa eingesetzt werden könnte. Eine wissenschaftliche Studie hatte eine Wirksamkeit von über 90 Prozent belegt.
    Ein solcher Erfolg auf wissenschaftlicher Ebene bringt die heftige Kritik an der Corona-Politik des russischen Staates, wie sie etwa Sergej Schelin in seinem Beitrag auf Rosbalt äußert, jedoch nicht zum Verstummen: Intransparenz, inkonsequente Maßnahmen und das In-Kauf-Nehmen vieler Todesopfer – eine Abrechnung.

    Die offizielle Haltung Wladimir Putins und seiner Agitatoren zur Covid-19-Situation ist trotz aller Schwankungen vor allem eins: absolut selbstgefällig. Als die russischen Behörden vom Beginn der Pandemie erfuhren, konnten sie das Auftauchen des Coronavirus angeblich sofort bremsen, trafen gewissenhafte Vorkehrungen, schützten dann das Volk mit Social Distancing – und die Katastrophe war angeblich quasi besiegt. Und jetzt, wo sie doch wieder da ist, wehren sie mit sicherer Hand ihren neuerlichen Angriff ab. Von Anfang an und bis zum heutigen Tag läuft in Russland alles besser als „bei unseren Partnern“. 

    In diesen schönen Worten steckt kein Körnchen Wahrheit. 

    Ende 2020 gehört Russland zu den am schlimmsten betroffenen Ländern der Welt, abgesehen von ein paar lateinamerikanischen Staaten, in denen die Zahl der Todesopfer [je Tausend Einwohner – dek] aufgrund der Pandemie noch höher ist. 

    Die offizielle Statistik der Covid-Opfer ist fast überall unzuverlässig. Daher ist ihr realer Messwert die sogenannte Übersterblichkeit. Für Russland, wo die Sterberate bis zum ersten Quartal 2020 stetig zurückging, ist dieser Messwert als Anstieg der allgemeinen Sterblichkeit von April bis Dezember 2020 im Vergleich zu demselben Zeitraum 2019 definiert.
         

    „Die Übersterblichkeit zeigt das wahre Ausmaß der Covid-Pandemie in Russland“ Quelle

    Rosstat gibt die Berichte mit extremer Verzögerung heraus, vor allem jetzt. Daher kann die Übersterblichkeit in den neun Covid-Monaten 2020 vorerst nur näherungsweise angegeben werden. Nach Einschätzung des Demografen Alexej Rakscha beträgt sie rund 300.000. Den fragmentarischen Daten nach, die uns trotz der Hindernisse aus den Regionen erreichen, sind fast alle Fälle von Übersterblichkeit auf Covid zurückzuführen.      

    Pandemie und Politik

    Wie sieht das im Vergleich zu anderen Ländern aus? Schlecht, beziehungsweise sehr schlecht. Auf 1000 Einwohner ist die Übersterblichkeit in Russland 2020 doppelt so hoch wie in den besonders stark betroffenen USA; zweieinhalbmal so hoch wie in Schweden, das sich eine Zeit lang seiner Verharmlosung der Infektion rühmte; siebenmal höher als in Deutschland (für alle diese Länder sind das ebenfalls nur ungefähre Schätzungen).      

    300.000 Tote bedeuten, dass im Zeitraum von April bis Dezember 2020 die Sterblichkeit in Russland im Vergleich zum Vorjahreszeitraum auf das 1,23-Fache gestiegen ist. Und im November, mit 75.000 bis 80.000 zusätzlichen Todesfällen der schlimmste dieser Monate, auf das 1,55-Fache. Das sind die Durchschnittswerte. In manchen Gegenden des Landes ist es wesentlich ärger. 

    Abgesehen davon ist die Pandemie noch lange nicht vorbei. Bezeichnet man ihre Bekämpfung durch unseren Staat als unzureichend, so nennt man einfach eine offensichtliche Tatsache beim Namen. Diese Misere besteht aus mehreren Punkten:

    1. Selbstbetrug auf allen Ebenen

    Um eine Pandemie zu bekämpfen, muss man zumindest wissen, was passiert. Doch die Chefetage hat bis heute nicht wirklich den Dreh raus, wie man Daten sammelt, nicht einmal für sich selbst. 

    Die täglichen Berichte des Rospotrebnadsor mit den Zahlen der Neuinfektionen haben mit der Wirklichkeit meistens überhaupt nichts zu tun. Und die von derselben Behörde auf der Website стопкоронавирус.рф veröffentlichte Sterbestatistik [derzeitiger Stand: rund 77.000 – dek] tut nicht mal so, als wäre sie vertrauenswürdig. So berichtet Rosstat mit mehrmonatiger Verspätung von einer doppelt so hohen Zahl jener, die an oder mit Covid gestorben sind. Doch auch diesen Informationen sollte man nicht mehr Glauben schenken als sonstigen Berichten von Rosstat über Todesursachen in Russland, die seit 2012 an die Vorgaben der Mai-Dekrete angepasst werden.    

    Was die Führungsebene angeht, so bezieht sie ihre Informationen aus einem der Öffentlichkeit unzugänglichen, speziell an sie adressierten Monitoring des Gesundheitsministeriums. Diese Zahlen übersteigen die des Rospotrebnadsor um ein Vielfaches, bleiben dabei aber eindeutig unvollständig: Es sind nämlich nur die Zahlen der nach stationärer Behandlung Verstorbenen erfasst, die aus den Regionen gemeldet werden, die diese Zahlen zum Teil bewusst fälschen. 

    Innerhalb der Machtvertikale belügt man sich gegenseitig nicht weniger als man die Untergebenen belügt. Über verlässliche Daten verfügt niemand, nicht einmal der Führer.     

    2. Das Versagen des Polizeistaatеs

    Unser Regime kokettiert damit, dass es angeblich alle Bereiche des Lebens durchdringt und hundertprozentige Kontrolle über die Staatsbürger ausübt.  

    In der Politik ist das möglicherweise gar nicht so frei erfunden, obwohl es auch da in letzter Zeit ständig Fehler gibt. Aber als es darum ging, Coronainfizierte und ihre Kontaktpersonen ausfindig zu machen, zu isolieren und ihre Aufenthaltsorte zu tracken, da erlitten die Bespitzelungsverfahren des Regimes sofort Schiffbruch – und das im März, als die Behörden angeblich so gut auf die Abwehr der Pandemie vorbereitet waren.  

    Und versucht haben sie es ja. Nur leider erfolglos. Das, was irgendwo in Taiwan wie am Schnürchen läuft, überfordert den russischen Polizeistaat mit seiner millionenschweren Überwachungsmaschinerie offenbar …

    3. Die Selbstenthebung des Führers

    Fast die gesamte Anti-Covid-Aktivität von Wladimir Putin fand im Frühling statt. Von Ende März bis Mitte Mai hat er sogar ein paarmal in den sauren Apfel gebissen – und sich durchgerungen, kurze Reden an die Nation zu halten. 

    Dann wurde verkündet, die Krankheit sei besiegt, und diese These ist bis heute in Kraft.

    Als die Herbstwelle der Pandemie begann, die viel heftiger war als die im Frühjahr, hatte sich Putin schon eine andere Rolle ausgesucht: Die Verantwortung wurde entgegen aller unserem System zugrundeliegenden Prinzipien auf Regionalverwaltungsleiter, medizinische Bürokraten und Gesundheitsbehörden abgeschoben.   

    Gelegentlich sah das Publikum auf den Bildschirmen, wie der Führer diensteifrigen Berichten lauscht und seinen Untergebenen weise Ratschläge gibt, ihren Vortragsstil verbessert, ohne auch nur für irgendetwas die Verantwortung zu übernehmen oder Fehler zuzugeben. Sogar ein so wirksames PR-Instrument wie die Bestrafung, wenn sich jemand etwas hatte zu Schulden kommen lassen, wurde sehr selektiv und höchstens auf Ebene regionaler Gesundheitsbehörden angewandt. 

    Der Mobilisierungsgrad der Behörden war daher viel niedriger, als möglich gewesen wäre. Ganz zu schweigen von verwirrenden Signalen an die Bürokratie, die darauf hindeuten, dass das Staatsoberhaupt in die Angelegenheiten rund um die Pandemie kaum involviert ist: So mussten sich die Sankt Petersburger Beamten, die versuchten, den Tourismus zum Jahreswechsel einzudämmen, Appelle des Führers an die Russen anhören, öfter mal nach Sankt Petersburg zu fahren. Und die Normalbürger, die zum Tragen von Masken verdonnert werden, sehen, dass ihr Führer immer ohne herumläuft.     

    4. Das Rätsel des Frühlings-Lockdowns

    Aus heutiger Sicht scheinen die „arbeitsfreien Tage“ (so etwas Ähnliches wie ein Lockdown), die bei uns im Frühling eineinhalb Monate lang galten, irgendwie unlogisch. Für unsere Führung stehen seit Urzeiten wirtschaftliche Fragen an erster Stelle, und nicht die Sorge um die Gesundheit des einfachen Volks. 

    Möglicherweise waren da einfach ein paar Zufälle zusammengekommen – Putins Besuch in einem Covid-Krankenhaus (bis heute der einzige), die Erkrankung von einigen seiner Untergebenen und Bekannten, das Vorbild europäischer Länder und die damalige allgemeine Atmosphäre von Ratlosigkeit, die in Panik umschlug.  

    Jedenfalls bekamen die durch den Arbeitsstopp Geschädigten um ein Vielfaches weniger finanzielle Unterstützung, als sie hätten kriegen können. Fast alle Verluste wurden dem Volk aufgebürdet. Die strenge Einhaltung dieses Prinzips machte es unmöglich, Betriebe abermals flächendeckend stillzulegen – weder Personal noch Besitzer könnten es sich leisten, ein weiteres Mal auf ihre Einnahmen zu verzichten. 

    5. Das Paradox des ausgebliebenen Lockdowns im Herbst

    Die zweite Covid-Welle erwies sich als tödlicher als die erste. Während die (anhand der Übersterblichkeit bestimmte) Zahl der Todesopfer im Frühling und in der ersten Sommerhälfte rund 70.000 betrug, waren es von September bis Dezember rund 220.000.  

    Ein Lockdown ist, auch wenn regional beschränkt, eine Holzhammermethode, die wahllos verschiedene Interessen trifft. Doch die Praxis europäischer Länder zeigte, dass man auf diese Art Infektionsausbrüche in den Griff bekommen kann. Auch in Russland gab es inzwischen weitaus mehr Gründe für die teilweise Schließung von Unternehmen und Betrieben als im Frühling. 

    Allerdings wurde bis mindestens Mitte November fast gar nichts unternommen. Abgesehen von ein paar formalen Gesten, die kaum jemand ernstnahm. 

    Für unsere Führung stehen wirtschaftliche Fragen an erster Stelle, und nicht die Sorge um die Gesundheit des einfachen Volks

    Die Covid-Leugner, die im Nachhinein das „schwedische Modell“ bejubeln, vergessen seltsamerweise, auch vom Vorgehen unseres Regimes begeistert zu sein. Die Hälfte des Herbstes ging es nämlich durchaus „schwedisch“ vor, und die Signale, die es an seine Untertanen sandte, erweckten den Eindruck, dass bei uns lauter Covid-Dissidenten an der Macht sind.     

    In Russland überlagerten sich die Passivität und Gier der oberen Etagen mit der Misswirtschaft der unteren, und das aus der Not entstandene „schwedische“ Szenario hatte bei uns weitaus fatalere Folgen. Die waren so offensichtlich, dass im Spätherbst ein Teil der russischen Regionen doch noch wirkliche Einschränkungen beschloss – in der Regel schlecht durchdachte Maßnahmen, die vor allem Branchen ohne starke Lobby schwer trafen und die eigenen Leute verschonten. Zudem wurde das irrwitzige Prinzip, für entstehende Einbußen nicht aufzukommen, auch jetzt nicht revidiert.  

    Trotz der beachtlichen Zahl von Todesopfern in den eigenen Reihen zieht Russlands Führungselite nicht an einem Strang und ist auch kein bisschen von dem Wunsch erfüllt, dem Volk im Kampf gegen die Katastrophe den Weg zu weisen. Dasselbe muss auch über den Herrscher gesagt werden, dessen berühmt-berüchtigte Coolness und Abgebrühtheit in der Stunde der Gefahr plötzlich irgendwohin verschwunden sind.   

    Dem Volk bleibt nichts anderes übrig, als auf seine Überlebenskünste zurückzugreifen und auf die Hilfe jenes Teils der medizinischen Versorgungsstrukturen zu hoffen, die das Regime noch nicht „optimiert“, entprofessionalisiert und korrumpiert hat.

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  • Oktoberrevolution: Erbe ohne Erben

    Oktoberrevolution: Erbe ohne Erben

    100 Jahre Revolution: In Deutschland widmen sich dieser Tage und Wochen Zeitungen, Radio, TV und Kulturinstitute dem Jahrestag – das Jubiläum der Oktoberrevolution findet einen adäquaten Programm-Platz. Und in Russland? Wird die Oktoberrevolution behandelt wie ein „Stiefkind“.

    Auf Republic zeigt Sergej Schelin den komplexen gesellschaftlichen Hintergrund dieser Leerstelle auf.

    Der Oktober dieses Jahres wird uns nicht als kollektives Besinnen auf die große Revolution in Erinnerung bleiben, die vor 100 Jahren die Geschichte des Landes umgewälzt hat. Einverstanden? In Erinnerung bleiben wird der Skandal um das Melodrama Matilda. Der kostümierte Schwank aus dem Leben des Thronfolgers und der Ballerina interessiert Russland im 21. Jahrhundert offenbar weit mehr als das Schicksal der eigenen Vorfahren.

    Die Revolution wird, einer intellektuellen Pflicht Gehorsam leistend, von der Intelligenz diskutiert, obwohl die sich eigentlich mehr um das Heute sorgt. Die russisch-orthodoxe Kirche verflucht die Revolution, denn nicht erst der Mord, sondern schon die Entthronung des heiliggesprochenen Zaren war ein Sakrileg. Die Staatsführung gemahnt unterschwellig boshaft, dass das Jubiläum ein hervorragender Anlass zur nationalen Versöhnung sei – und fügt auf jeden Fall hinzu, dass einem nicht sanktionierten Machtwechsel stets eine Verschwörung äußerer und innerer Feinde vorausgeht.

    Ein Kostümschwank interessiert Russland weit mehr als das Schicksal der eigenen Vorfahren

    Doch in den Köpfen der normalen Menschen hat die Revolution von 1917 keinen Platz. Und das liegt nicht nur daran, dass sie lang her ist und keine Augenzeugen mehr am Leben sind.

    Parteien, die auf jene zurückgehen, die einander 1917 oder im Vorfeld bekämpften, gibt es bei uns nicht. Lebendige Parteien gibt es bei uns heute eigentlich sowieso nicht. Aber auch in den 1990er Jahren, als es sie gab – war etwa damals auch nur eine Partei von Konstitutionellen Demokraten wie Miljukow und Nabokow inspiriert, oder meinetwegen von Sozialrevolutionären wie Tschernow oder Spiridonowa? Die postsowjetischen Politiker hatten mit den präsowjetischen absolut nichts zu tun. Dieses Erbe wollte keiner, nicht mal geschenkt. Und das war kein Zufall.  

    Sagen Sie, haben Sie oder Ihre Freunde Vorfahren, die Sozialrevolutionäre waren?

    Sagen Sie, haben Sie oder Ihre Freunde Vorfahren, die Sozialrevolutionäre waren? Ich vermute, wenige würden diese Frage bejahen. Dabei war die Partei der Sozialrevolutionäre 1917 die stimmenstärkste Partei. Mit ihrer legendären Vergangenheit in der Narodnaja Wolja, mit einer Million Aktivisten (ein Vielfaches der Bolschewiki) und mit massenhafter Unterstützung der bäuerlichen Wählerschaft erhielten die Sozialrevolutionäre die Mehrheit in der Verfassunggebenden Versammlung und hätten rein rechtlich das Land regieren müssen. Doch die Verfassunggebende Versammlung wurde zunächst von den Bolschewiki gesprengt, ihre Überreste ein Jahr später von General Koltschak.

    Die ersten zwei Jahrzehnte wurden die Sozialrevolutionäre von der Sowjetmacht systematisch verfolgt – zuerst die im Untergrund, dann die, die sich aus der Politik zurückgezogen hatten, und schließlich die, die sich zu den Bolschewiki gesellt hatten.

    Ebenso gründlich wurden ehemalige Weiße, ehemalige vorrevolutionäre und revolutionäre Bürgeraktivisten jeglicher nicht-bolschewistischer Couleur und überhaupt alle beseitigt, die nicht beweisen konnten, dass sie mit Leib und Seele auf die Seite der Sieger gewechselt waren.

    Der Terror tötete. In der ihn begleitenden Revolution qua Lebenslauf der 1920er und 1930er Jahre wurden massenhaft Biografien umgeschrieben. Eltern verbargen ihre Vergangenheit vor den eigenen Kindern, lebendiges Familiengedenken, das die Menschen mit der Geschichte viel stärker verbindet als jedes Lehrbuch, wurde fast gänzlich ausgelöscht.  

    Da ist schon lange niemand mehr, mit dem wir uns versöhnen könnten

    Seit Ende der 1980er Jahre bis zum heutigen Tag erklären sich findige Leute gern zu Adeligen, die kühnsten gar zu titelgeschmückten Aristokraten. Tatsächlich besteht das heutige Russland fast zu hundert Prozent aus Nachfahren von Roten und solchen, denen es gelang, mit ihnen zu verschmelzen. Echte Nachfahren von Weißen dagegen oder einfach Antibolschewiki, die sich die Erinnerung an ihr Weißsein und den Antibolschewismus über Generationen hinweg bewahrt haben, gibt es sehr wenige.

    Die „Versöhnung“, von dem die staatlichen Stimmen sprechen, ist eine fade und geistlose Show, die von zwei Mannschaften aus Clowns derselben Herkunft gespielt wird – die eine trägt rote, die andere weiße Kostüme. Natürlich gewinnt da die entzückende Matilda den Kampf ums Publikum. Die ist wenigstens unterhaltsam.      

    Zum echten Versöhnen gibt es also schon lange niemanden mehr. Aber das ist nur einer der Gründe, warum das Jahr 1917 dem Russland des 21. Jahrhunderts so unverständlich und so egal ist.

    Geschätzt werden bei uns vor allem siegreiche Regime und die Bedrohung durch Feinde von außen

    Auf der Champs-Élysées findet am Morgen des 14. Juli immer eine Parade statt, danach löst ein Vergnügen das andere ab, und am Abend werden die vom Feiern erschöpften Besucher mit einem Feuerwerk beglückt. Der Tag des Sturms auf die Bastille wurde erst Ende der 1870er Jahre, 90 Jahre nach dem historischen Ereignis, endgültig zum großen Feiertag gemacht – als die Dritte Republik ausgerufen wurde und sich ihres Ursprungs besann, wobei sie vieles darin korrigierte und umschrieb.

    Der Kult der Französischen Revolution lebt, weil man darin zu Recht ein Ereignis sieht, das die Welt verändert hat, und zudem einen überwältigenden Ausdruck des französischen Nationalbewusstseins. Den halbverrückten Text der Marseillaise muss man ja nicht unbedingt ergründen. Das Wichtige ist, sie gemeinsam anzustimmen.

    In ähnlichem Stil unsere Revolution und die daraus erwachsene frühbolschewistische Ordnung darzustellen, das ist weitaus schwieriger. Zuviel Vernichtung und zweifelhafte Siege über die Mitbürger hat es von 1917 bis Anfang der 1920er Jahre gegeben. 

    Ganz zu schweigen davon, dass fast alle bolschewistischen Helden, Kommandanten und Heerführer aus der Geschichte gelöscht wurden, zuerst als Trotzkisten, dann als Volksfeinde aller Art. Die nachträgliche Rehabilitation hat sie nicht zurück in Schlüsselpositionen gebracht.

    Was die Weißen angeht, waren Denikin, Koltschak und Wrangel von Anfang an nicht beliebt beim Volk und werden das auch nie sein. Das sind Vertreter fremder Klassen, die ihren Krieg verloren haben, dessen Ziele die einfachen Leute gar nicht verstanden haben. 

    Die Revolution von 1917 ist zu unserem historischen Stiefkind geworden

    Eine kohärente Vorstellung von den Geschehnissen 1917 hat der heutige Bürger Russlands nicht, und er hat auch kein Verlangen, sich eine zuzulegen. Das war sieben Jahrzehnte lang anders. Ein Volksfest zum 7. November im französischen Stil – nicht nur als Tag der Grundlegung von Regime und Staat, sondern auch als Ereignis, das die Welt veränderte – fand bis zum Jahr 1990 statt. Damals marschierte die letzte Revolutionsparade über den Roten Platz. Das Tempo, mit dem die Menschen diesen Feiertag vergaßen, sobald er kein offizieller mehr war, zeugt davon, dass er in ihren Köpfen längst nicht mehr verankert war. Der Zauber der Russischen Revolution entpuppte sich als bei weitem nicht so stabil wie jener der Französischen, obwohl eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den beiden nicht zu leugnen ist.

    Noch in den 1990er Jahren wurde zunehmend der 9. Mai als Tag der Staatsgründung begriffen, und dementsprechend Stalin als Gründervater. Das siegreiche Jahr 1945 wird in der Ära Putin zudem präsentiert als fortwährender Triumph des gegenwärtigen Regimes, das sich als Sieger eines Krieges darstellt, den es ja gar nicht gewonnen hat.

    Doch die grandiose Revolution, die von den ersten Monaten 1917 bis zum Ende des Bürgerkriegs dauerte, ist quasi aus dem willkommenen Lauf der Dinge gestrichen und zu unserem historischen Stiefkind geworden.

    Heute reicht dem Revolutionsjahr 1917 wohl nur die systemkritische linke Jugend die Hand

    Die Schwierigkeit besteht allein darin, dass gigantische Massen derer, die 1917 und in den Folgejahren sozial begünstigt waren, in den 1930er Jahren Opfer des Regimes wurden. Bauern, die sich im Sommer 1917 die Ländereien der Gutsherren teilen durften, wurden kollektiviert, entkulakisiert und tödlichen Hungersnöten ausgesetzt. Die revolutionäre Beamtenschaft, die hunderttausende frei gewordene Führungspositionen eingenommen hatte, wurde niedergemetzelt. In Beschuss geriet damals auch eine beachtliche Menge an Fachleuten, die ihre Spezialisierung dem Zugang zu Bildung verdankte, den die Revolution für die Massen ermöglicht hatte.

    Gegen Ende der Sowjetzeit gab es bei uns in verschiedenen Schichten relativ viele Menschen, die mit ihrer Lebenssituation durchaus zufrieden waren. Doch führten sie ihr Wohlergehen keineswegs auf die Taten ihrer Vorfahren im Revolutionsjahr 1917 zurück.

    Heute reicht dem Revolutionsjahr 1917 wohl nur die systemkritische linke Jugend die Hand. Von der gibt es wenige, aber es werden mehr. Und weil unser aktuelles Regime absolut alle seine ideologischen Ressourcen in die Konterrevolution steckt, wird die Zahl der 1917-Sympathisanten nicht nur von Trotzki-Sympathisanten aufgestockt werden, sondern noch von vielen anderen, die gegen dieses Regime sind.  

    Eine längst vergangene, komplett verschimmelte Geschichte kann plötzlich neue Mythen für die aktuelle Politik liefern

    Eine längst vergangene, man sollte meinen, komplett verschimmelte Geschichte kann plötzlich neue Mythen für die aktuelle Politik liefern. Das haben wir kürzlich in den USA beim Konflikt um die Denkmäler für Südstaaten-Generäle beobachtet. Derzeit befindet sich die Russische Revolution sozusagen im Alter ihrer geringsten ideellen Attraktivität. Doch nach historisch kurzer Zeit kann sie wieder Teil des nationalen Mythos werden. 

    Wo die Revolution nun Jubiläum hat, sollten wir über ihre Lehren sprechen. Das ist so üblich, auch wenn man aus der Geschichte bekanntlich keine Lehren ziehen kann. Trotzdem ist es ein netter Brauch.

    Man kann zum Beispiel daran erinnern, dass der Zarismus als Regime verurteilt war, und es ist klar, warum. In seinem letzten Jahrzehnt hatte er keine Chance mehr. An einer linken Revolution führte in Russland kein Weg mehr vorbei. Aber sie hätte nicht unbedingt so sein müssen, wie sie war. Das bei allen revolutionären Umschwüngen siegende Prinzip The Winner takes it all führte innerhalb weniger Jahre, schon gegen Ende 1918, zu einer totalitären Diktatur. Und der rückhaltlose Glaube der Sieger, dass die Geschichte auf ihrer Seite steht und bleiben würde, lockte sie in die historische Falle.

    In der Geschichte Russlands, die jetzt neu geschrieben und immer wieder umgeschrieben wird, gesteht man diesen Ereignissen einfach keinen Platz zu. In unserem heutigen Klima ist das logisch und nachvollziehbar. Morgen oder übermorgen wird man sich sehr darüber wundern.  

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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