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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Alla Pugatschowa positioniert sich gegen den Krieg – Reaktionen

    Alla Pugatschowa positioniert sich gegen den Krieg – Reaktionen

    Mit nur einem Post auf Instagram löste sie ein kleines Erdbeben aus: Alla Pugatschowa, die Grande Dame der sowjetisch-russischen Popmusik, verurteilt darin erstmals öffentlich den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und bittet das Justizministerium, sie in die Liste der sogenannten „ausländischen Agenten“ aufzunehmen – aus Solidarität mit ihrem Ehemann, dem berühmten Comedian Maxim Galkin, der seit Freitag in dem Register geführt wird. Galkin hatte sich schon früher gegen den Krieg geäußert und daraufhin seine Sendung im staatlichen Ersten Kanal verloren. Nun beschuldigt ihn das Justizministerium, angeblich von der Ukraine finanziert zu werden.

    „Er ist ein ehrlicher, ordentlicher und aufrichtiger Mensch, ein wahrer und unbestechlicher Patriot Russlands, der seiner Heimat ein Aufblühen und ein friedliches Leben wünscht, Meinungsfreiheit und ein Ende des Sterbens unserer Jungs für illusorische Ziele, die unser Land zu einem Geächteten machen und das Leben der Bürger erschweren“, schreibt Pugatschowa über ihren Mann. Der Post wurde hunderttausendfach gelikt und geteilt.

    In russischen Staatsmedien wurde meist nur der vordere Teil zitiert – und die Distanzierung vom Krieg ignoriert. In den Sozialen Medien und unter den Kommentatoren unabhängiger Medien erhielt Pugatschowa dagegen viel Beifall mit ihrer öffentlichen Positionierung. dekoder zeigt ausgewählte Reaktionen.

    Foto © Alexander Miridonow/Kommersant
    Foto © Alexander Miridonow/Kommersant

    Kirill Martynow: „Der Selensky für das patriarchale Russland“

    Pugatschowa wird in breiten Teilen der Gesellschaft geschätzt – für Kirill Martynow, Chefredakteur der Novaya Gazeta Europe, wäre sie daher eine geeignete Kandidatin für die nächste Präsidentschaftswahl:

    [bilingbox]Die Präsidentschaftskampagne „Pugatschowa 2024” mit dem Symbol der roten Rose und dem Slogan „Eine Million rote Rosen für den Frieden” ist so einfach, dass Sie sich nichts anderes mehr ausdenken müssen. Alla Borissowna, Sie sind der Selensky für das patriarchale Russland.~~~Президентская кампания Пугачевой-2024 с символикой алой розы и слоганом „миллион алых роз за мир“ это так просто, что даже придумывать ничего не нужно. Алла Борисовна, вы Зеленский патриархальной России.[/bilingbox]

    erschienen am 18.09.2022, Original

     
    Eine Million Rosen von Alla Pugatschowa (1982)

    The New Times: Putin ist eine unbedeutende politische Figur aus der Ära von Alla Pugatschowa

    Alla Pugatschowa ist unbezweifelt eine Autorität von epochaler Bedeutsamkeit. Dazu gibt es sogar einen Witz aus Sowjetzeiten, an den Andrej Kolesnikow in seiner Kolumne für The New Times erinnert:

    [bilingbox]Einer der bekanntesten Witze aus der Zeit der Stagnation: „Frage: Wer ist Leonid Iljitsch Breshnew?“ Antwort: „Eine unbedeutende politische Figur aus der Ära von Alla Borissowna Pugatschowa.“ Alla Borissowna hat als Frau der Epoche sowohl Breshnew als auch Andropow, als auch Tschernenko überlebt. […] Und nun gibt es einen Neuzugang in der Truppe der unbedeutenden politischen Figuren aus der Ära von Alla Borissowna Pugatschowa – diesen hohen Status hat sich Wladimir Wladimirowitsch Putin verdient.~~~Один из самых известных анекдотов времен застоя: «Вопрос: Кто такой Леонид Ильич Брежнев. Ответ: Мелкий политический деятель эпохи Аллы Борисовны Пугачевой». Алла Борисовна в статусе женщины-эпохи пережила и Брежнева, и Андропова, и Черненко, […] И вот отряду мелких политических деятелей эпохи А.Б. Пугачевой прибыло — этого высокого статуса удостоился Путин В.В.[/bilingbox]

    erschienen am 19.09.2022, Original

    Sergej Medwedew: Warum kann sie nicht die Ukraine nennen?

    Bei aller Zustimmung ist der Politologe Sergej Medwedew über den Wortlaut gestolpert – und glaubt, dass sich Pugatschowa hätte noch mehr erlauben können:

    [bilingbox]Wie alle freue ich mich über die Geste der Primadonna, doch wundere ich mich über ihre Motivation. Besteht das Problem etwa im „Tod unserer Jungs” und in der „Erschwerung des Lebens der russischen Bürger”? Sie kann sich ja alles Mögliche erlauben, auch den Gebrauch der Wörter „Krieg” und „Ukraine”. Tja, wahrscheinlich reicht das für das Publikum. Politisch ist das eine wichtige Äußerung, staatsbürgerlich eine wahrhafte Tat, und menschlich bin ich nicht ihr Richter und Redakteur, es stieß mir bloß auf. ~~~Я, как и все, рад жесту примадонны, но ее мотивация меня удивляет. Разве проблема в „гибели наших ребят“ и в „утяжелении жизни российских граждан“? Уж она-то может позволить себе, что угодно, включая слова „война“ и „Украина“. Впрочем, наверное, для аудитории хватит и этого. Политически это важное высказывание, граждански это поступок, а человечески я ей не судья и не редактор, просто резануло слух.[/bilingbox]

    erschienen am 18.09.2022, Original

     
    Alla Pugatschowa mit ihrem Song Primadonna im Finale des Eurovision-Songcontest 1997

    Ekaterina Schulmann: Wer nicht alles für die Ukraine arbeitet …

    Die nach Deutschland emigrierte Politologin Ekaterina Schulmann witzelt auf Telegram über den Vorwurf des Justizministeriums, dass Pugatschowas Mann Galkin und andere „ausländische Agenten“ angeblich von der Ukraine finanziert werden:

    [bilingbox]Wo hat die Ukraine denn das Geld her, um all diese Einzelpersonen zu finanzieren, die zu ausländischen Agenten erklärt wurden? Das ist ja kein Land, das ist ein Eldorado. Gordejewa arbeitet für sie, Galkin, Morgenshtern, Chodorkowski, Tschitschwarkin, Makarewitsch, Simin und sogar Belonika – die alle werden von der Ukraine bezahlt. Und das auch noch in Kriegszeiten, wo es ja noch so viele andere Ausgaben gibt. Wäre jetzt Frieden, dann könnte die Ukraine da wohl den ganzen Kreml aufkaufen.~~~Слушайте, а откуда у Украины денег столько на финансирование всех этих физлиц-иностранных агентов? Не страна, а какое-то Эльдорадо. И Гордеева на них работает, и Галкин, и Моргенштерн, и Ходорковского с Чичваркиным, и Макаревича, и Зимина и целую Белонику – всех Украина содержит. И это в военное-то время, когда других расходов полно. В мирное, наверное, вообще Кремль целиком скупит. [/bilingbox]

    erschienen am 16.09.2022, Original

    Alexander Baunow: „Heimat sind nicht die Mitglieder des Politbüros“

    „Heimat ist nicht der Arsch des Präsidenten, den man ständig bespeicheln und küssen muss“, rief Rocklegende Juri Schewtschuk bei einem Konzert im Mai. Alexander Baunow, ehemals Chefredakteur von Carnegie.ru, beschreibt auf seiner Facebook-Seite, was für ihn Heimat bedeutet:

    [bilingbox]In den 1980er Jahren stellte ich mir nicht die Frage, was Heimat war: Pugatschowa, Grebenschtschikow, Makarewitsch, Zoi oder die Mitglieder des Politbüros? Warum sollte es jetzt eine Frage sein? Verwundert sehe ich, wie bei einigen, darunter ganz jungen Menschen, diese Frage aufkommt. Quält euch nicht, die Antwort ist längst da, obwohl man sie natürlich noch einmal geben kann, wenn man sich nicht das Vergnügen nehmen lassen will, die Frage selbst zu beantworten. Die Heimat sind nicht die Mitglieder des Politbüros.~~~В 80-е у меня же не было вопроса родина – это Пугачева, Гребенщиков, Макаревич, Цой, или это члены политбюро? А сейчас почему он должен быть? С удивлением вижу, как у некоторых, в том числе младше годом рождения, этот вопрос возникает. Не надо мучиться, ответ давно дан, хотя можно дать его еще раз, не отказывая себе в удовольствии отвечать на этот вопрос самостоятельно. Родина это не члены политбюро.[/bilingbox]

    erschienen am 18.09.2022, Original

     
    Alla Pugatschowa und Udo Lindenberg singen gemeinsam Wozu sind Kriege da? (1987)

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    Viktor Zoi

    Musik der Perestroika

  • Entfesselte Gewalt als Norm

    Entfesselte Gewalt als Norm

    Irpin, Butscha, Mariupol … Die beispiellose Gewalt, die die russische Armee auf dem Gebiet der Ukraine sät, so schreibt der Historiker Sergej Medwedew auf Holod, hat ihre Wurzeln in der russischen Gesellschaftsstruktur.

    Nach hundert Tagen Krieg stumpft die Fähigkeit ab, entsetzt und schockiert zu sein. Doch dann tauchen neue Beweise für die Gräueltaten der russischen Armee auf, und man stürzt wieder in den Abgrund.

    Anfang April holten russische Soldaten im Dorf Termachiwka bei Kyjiw fünf junge Männer von der Straße, fesselten sie, legten sie im Kreis auf ein Feld, ließen sie zwei Wochen lang so liegen, ein Gewehr auf sie gerichtet. Nachts fielen die Temperaturen auf -10 ° C, es schneite. Einem der Männer schossen sie ins Bein. Neun Tage lag er mit der offenen Wunde da. Dann schleppten die Soldaten die Leiche eines Dorfbewohners an und warfen sie in die Mitte des Kreises: „Damit ihr gut schlafen könnt.“ 

    Diese Soldaten haben wohl kaum den Film Grus 200 von Alexej Balabanow gesehen – dem prophetischen Regisseur, der unter anderem das Phänomen des russischen Faschismus vorausgesagt hatte –, doch von ihren perversen Fantasien hätte selbst der verstorbene Filmemacher noch etwas lernen können.

    Orgie epischer, entgrenzter Gewalt

    Was seit Februar 2022 in der Ukraine passiert, ist eine Orgie epischer, entgrenzter Gewalt. Mit Massenerschießungen und bestialischer Folter, der Ermordung von Zivilisten, einfach so, aus Langeweile, zum Spaß, mit Vergewaltigungen und Morden von Eltern vor den Augen ihrer Kinder und umgekehrt, mit Gewalt an Frauen und Mädchen im Alter von acht bis 80 Jahren. Diese Berichte zu lesen ist unerträglich, aber notwendig, aus einer Pflicht des Mitgefühls und der Empathie heraus, aber auch im Versuch zu verstehen, woher dieses archaische Böse kommt, das die russische Armee über das Land gebracht hat, aus welchen irdischen Abgründen, aus welchen Albträumen und Horrorfilmen? Hat in Russland eine genetische Mutation stattgefunden, die gleichgültige Sadisten hervorgebracht hat, die jetzt auf ukrainischem Boden angekommen sind? 

    Die Überlebenden, die Zeugen dieser Gräueltaten wurden, erzählen davon gar nicht so sehr voller Angst als vielmehr maßlos erstaunt: „Wpersche take batschymo“, sowas sehen wir zum ersten Mal. „Wir hatten keine Vorstellung davon, dass so etwas möglich ist.“

    Routinepraktiken der russischen Gewaltapparate

    Man muss nicht Fjodor Dostojewski, Juri Mamlejew oder Vladimir Sorokin sein, um die dunkelsten Winkel der russischen Seele zu erkunden. Man braucht sich nur die Chronik der Polizeigewalt anzusehen, die Folter auf den Polizeirevieren und in den Strafkolonien, die Verbrechen der Armee, um zu verstehen, dass die Ereignisse in Butscha, Irpin und in den ganzen anderen von den Russen okkupierten Städten und Dörfern weder Exzess noch Pathologie sind. Sie sind vielmehr ein Teil der Norm, Routinepraktiken der russischen Gewaltapparate.

    Die Journalisten von Projekt haben die Vorgeschichte der russischen Einheiten aufgedeckt, die in Butscha stationiert waren – der Name dieses Dorfes bei Kyjiw wird ab jetzt sprechend sein, wie Katyn oder Samaschki. 

    Und wie sich zeigt, handelt es sich um Einheiten, die auch in Friedenszeiten für ihre Brutalität bekannt waren. So ist zum Beispiel die 64. motorisierte Schützenbrigade der 35. Armee aus Chabarowsk daheim berühmt-berüchtigt. Ihren Rufnamen Mletschnik benutzt man sogar, um Kindern einen Schrecken einzujagen. Immer wieder kommt es dort zu Selbstmorden, Wehrdienstleistende und Vertragssoldaten fliehen aus der Einheit; allein im Februar 2014 gab es in der Truppeneinheit 51460, die in Knjas-Wolkonskoje stationiert ist, sieben Todesfälle innerhalb von drei Wochen. Es ist bezeichnend, dass Wladimir Putin gerade dieser Einheit nach dem Abzug aus dem Gebiet um Kyjiw den Ehrentitel einer Gardeeinheit verliehen hat – als würde er sie für die Kriegsverbrechen auszeichnen, die sie begangen hat. 

    Einheiten, die auch in Friedenszeiten für ihre Brutalität bekannt waren

    Eine ähnliche Spur zieht die 127. motorisierte Schützendivision der 5. Armee hinter sich her, ebenfalls im Fernen Osten stationiert: Sie taucht regelmäßig in den Verbrechensberichten auf, und in ihrem Umkreis findet man Leichen von Soldaten ohne Kopf.

    In Butscha waren nicht irgendwelche Fanatiker am Werk (es gab Gerüchte über Spezialeinheiten der Rosgwardija und von tschetschenischen Truppen – wobei offenbar auch die an den brutalen Massakern beteiligt waren), sondern reguläre Einheiten der russischen Armee, die allen Reformen von Anatoli Serdjukow und großangelegten Imagekampagnen zum Trotz nach wie vor auf Brutalität als einzigem Mittel der Führung setzt. 

    Kriegsverbrechen blieben ungestraft

    Jeffrey Hawn von der London School of Economics and Political Science hat die gewalttätigen Praktiken der russischen Armee erforscht. Er kommt zu dem Schluss, dass die Kriegsverbrechen der russischen Armee im 21. Jahrhundert – von Tschetschenien und Georgien über Syrien und den Donbass bis hin zum Beginn der aktuellen Phase des Kriegs – ungestraft geblieben sind. Die russischen Streitkräfte haben im Unterschied zu den westlichen Armeen keine institutionelle Kultur entwickelt, die die Verluste unter der Zivilbevölkerung minimieren würde: In der russischen Armee existieren keinerlei Schutzmechanismen gegen ungerechtfertigte, willkürliche Gewalt.

    „Die heutigen Gräueltaten der russischen Armee resultieren aus der latenten Unfähigkeit, das Erbe ihres sowjetischen Vorgängers zu überwinden“, sagt Hawn. „Letalität und Sieg um jeden Preis bleiben die obersten Prioritäten der russischen Armee.“

    In der russischen Armee existieren keinerlei Schutzmechanismen gegen ungerechtfertigte, willkürliche Gewalt

    Das Gleiche gilt auch für die anderen Institutionen des russischen Machtapparats: die Polizei, die OMON-Einheiten an die Front schickt, die Russische Garde, das Strafvollzugssystem. In den vergangenen Jahren sind dank der Verbreitung von mobilen Endgeräten in den Strafvollzugsanstalten und dem Zugang zu sozialen Netzwerken Terabytes von schockierenden Beweisen für Folter, Missbrauch und Vergewaltigungen an die Öffentlichkeit gedrungen, die seit Jahrzehnten zur gängigen Praxis in den russischen Gefängnissen gehören und zur Norm im Umgang der Verwaltung mit den Häftlingen und der Häftlinge untereinander geworden sind. 

    Die russische Gefängniswillkür ist über die Grenzen des Landes gedrungen

    In der Ukraine kämpfen heute Soldaten, die aus den depressivsten und kriminellsten russischen Regionen kommen, wo die Gefängnissubkultur die männliche Bevölkerung maßgeblich prägt: Die meisten Männer haben entweder selbst gesessen oder haben enge Freunde und Verwandte, die gesessen haben, die Jugendlichen dort sind in die Netzwerke der AUE involviert – und jetzt ist diese Ordnung mit ihren „Sitten“ und Praktiken der extremen physischen und sexualisierten Gewalt auf die okkupierten Gebiete der Ukraine übergeschwappt: Die russische Gefängniswillkür ist über die Mauern der Lager und über die Grenzen des Landes gedrungen.

    Dabei beschränkt sich die Gewalt nicht auf staatliche Institutionen, sie herrscht auch in den Familien, in den Beziehungen zwischen Mann und Frau, Eltern und Kindern, Jüngeren und Älteren, Vorgesetzten und Untergebenen. Sie dringt aus den abgefangenen Telefongesprächen zwischen russischen Soldaten und ihren Kommandeuren, in denen Mat, Drohungen und Demütigungen grassieren. Aus den Telefonaten und Chatnachrichten der Soldaten mit ihren Familien, in denen sich rührselige Sentimentalität mit Grausamkeit und Zynismus vermischt, in denen Ehefrauen ihren Männern sagen, was sie in den Häusern der Ukrainer essen und welche Schuhgröße sie mitnehmen sollen, und andere sie ermahnen: „Beim Vergewaltigen der ukrainischen Weiber nimm ein Kondom.“

    Diese Gewalt ist der russischen Gesellschaft in Fleisch und Blut übergegangen, sie ist zum Erkennungscode für das Sozium geworden, das auf Hierarchie und Unterwerfung gründet, auf dem Wegnehmen und Aufteilen von Ressourcen, in dem die rohe Gewalt über der Moral steht und die Macht über dem Gesetz. 
    Diese Ordnung wird abgesegnet durch das Verhalten der regierenden Schicht, die das einfache Volk mit ihren Blaulicht-Limousinen zu Tode fährt, die immer ungestraft davonkommt; sie wird abgesegnet durch die Reden von Präsident Putin, der lehrt, dass man „die Schwachen haut“ und man „als Erster zuschlagen muss“, und dafür tosenden Applaus erntet.

    Staatlich sanktionierte und ideologisch begründete Gewalt

    Normalerweise ist diese Gewalt, die die soziale und politische Ordnung im Land aufrechterhält und legitimiert, für den inneren Gebrauch reserviert, aber jetzt ist sie zum ersten Mal – mit einer zweihunderttausendköpfigen Invasionsarmee – massenhaft über die russischen Grenzen geschwappt, staatlich sanktioniert und ideologisch begründet. Putins Äußerungen zu den „Nazis und Drogenabhängigen“, die er aus den Propagandafakes aufgeschnappt hat (die ihm offensichtlich als Hauptinformationsquelle über die Lage in der Welt außerhalb seines Bunkers dienen), nehmen die Besatzer wörtlich und fragen die überraschten Ukrainer, in deren Häuser sie einbrechen: „Wo sind denn hier die Nazis?“. 

    Wenn wir versuchen zu verstehen, was hinter der Bestialität der russischen Besatzer in der Ukraine steckt, sehen wir, dass das Problem nicht einzelne Sadisten und Marodeure sind, sondern das russische System selbst.

     

    Ein Anwohner in Odesa vor einem zerstörten Wohnhaus. / Foto © Nina Lyashonok/imago-images

    Um bei der Militärmetapher zu bleiben: Russland ist genäht wie ein Soldatenmantel. Nicht wie der von Akaki Akakijewitsch, aus dem die ganze russische Literatur hervorgegangen ist, sondern wie die Uniform eines einfachen Soldaten, eines der grundlegenden Archetypen einer ewig kämpfenden Nation. Der Mantel hat eine Außen- und eine Innenseite. Auf der Außenseite – rau, grob und durchgescheuert von den Jahrhunderten – ist das Land, das Imperium, die Weite, der Krieg, die Panzer und Flugzeuge, die Atombombe, das All, die Kultur, Moskau und Petersburg, Kirchen und Schlösser. Auf der Innenseite, für die Außenwelt unsichtbar, aber eng am Körper anliegend, sind Sklaverei, Pöbel, Kriminalität, Lüge, Tyrannei und die unentrinnbare Grausamkeit des russischen Lebens. 

    Wir haben uns daran gewöhnt und tragen sie, uns ständig juckend und kratzend; vereinzelte Patrioten sind sogar der Ansicht, dass das der Preis für unsere Größe sei und sind heimlich stolz auf diese Ordnung des russischen Lebens: Unser Garten mag nicht gejätet sein, und unsere Notdurft verrichten wir im Freien, aber dafür haben wir das Ballett, die Literatur, eine rätselhafte Seele und ein riesiges Imperium.

    Russland hat sich der Welt so präsentiert, wie es wirklich ist

    Aber jetzt ist etwas durcheinandergeraten: Russland hat sich „entblößt“, den Soldatenmantel umgekrempelt und seine ganze innere Schäbigkeit in Form der „Invasionsarmee“ enthüllt. Es hat der ganzen Welt die sinnlose russische Wut, die finstere Barbarei, seine Verbrechermentalität, Grausamkeit, Gewalt und die Verachtung gegenüber der menschlichen Würde und dem menschlichen Leben präsentiert, sowohl dem der Ukrainer als auch dem der eigenen Soldaten. 

    All die nationalen Merkmale, mit denen wir gelernt haben zu leben, sind plötzlich sichtbar geworden: Die ungeflickten Löcher, die Schwachstellen, schiefen Nähte, der halbverrottete Stoff des russischen Soldatenmantels sind ans Tageslicht getreten, und das ist nicht mehr eine Katastrophe für die Reputation, sondern für die Zivilisation. Sie zerstört die Macht der Inszenierung, auf der Russland die letzten paar Jahrhunderte gegründet war: Die äußere Form des Landes, die sich in diesem obszönen Krieg offenbart hat, entspricht nun seinem Inhalt – Russland hat sich der Welt so präsentiert, wie es wirklich ist. 

    Man kann schockiert sein angesichts des abgrundtiefen Bösen, das sich in Butscha und Mariupol aufgetan hat, aber man sollte sich nicht darüber wundern: Ganz Russland ist unser Butscha.

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  • Krieg im Namen des Sieges von 1945

    Krieg im Namen des Sieges von 1945

    Der „Tag des Sieges“ am 9. Mai erinnert an den Sieg der Sowjetunion über das nationalsozialistische Deutschland. Seit einigen Jahren ist der inzwischen wichtigste Nationalfeiertag Russlands auch Gegenstand von Kritik: In der zunehmend monopolisierten Erinnerungskultur des Landes diene er, so der Tenor, immer weniger dem Gedenken, sondern vielmehr der Legitimation politischer Herrschaft. Andere Kritiker wie der orthodoxe Publizist Sergej Tschapnin bemerkten schon 2011, dass der 9. Mai Züge einer „Zivilreligion“ trage, die Feindbilder pflegt, Kriege glorifiziert und den Stalinismus rechtfertigt. 

    Der Begriff „Zivilreligion“ geht auf Jean-Jacques Rousseau zurück: Der Philosoph glaubte, dass Aufklärung zu Chaos führt und dass man eine säkulare Ersatzreligion schaffen müsse, um die politische Herrschaft und damit auch die politische Ordnung zu legitimieren. 

    Der 9. Mai gilt heute unter zahlreichen Wissenschaftlern als der zentrale Ankerpunkt der offiziellen russischen Geschichtspolitik: Der Kampf gegen den Faschismus will nicht nur dem politischen Regime Legitimität verleihen, sondern auch dem russischen Krieg gegen die Ukraine. Doch wie funktioniert eine solche Zivilreligion? Diese Frage stellt der Politikwissenschaftler Sergej Medwedew im Vorfeld des 9. Mai auf Holod.

    Ich habe mich bei einem seltsamen Gefühl ertappt: Seit ungefähr zehn Jahren habe ich Angst vor staatlichen Feiertagen und sonstigen offiziellen Daten, weil ich weiß, dass die Staatsmacht diese zeitlich gerne mit gründlichen Säuberungen verbindet. 

    Nun warte ich voller Angst auf den 9. Mai, an dem Putin womöglich eine Parade zum Sieg über den imaginären Nazismus veranstalten will, wohl gar mit einer Vorführung gefangener Banderowzy auf dem Roten Platz – sie haben ja bereits im August 2014 in Donezk ukrainische Kriegsgefangene vorgeführt. Hinter ihnen schrubbte eine Straßenreinigungsmaschine ihre Spuren weg, genau wie 1944 in Moskau. Heute blickt die ganze Welt voller Angst auf den 9. Mai, weil alle wissen, dass Putin seinem blutrünstigen Publikum einen „Sieg“ vorweisen muss, und wenn es im Feuerschein einer Atomexplosion ist.       

    Der „Feiertag mit Tränen in den Augen“ ist nun eine militärisch-patriotische Show geworden 

    Der Tag des Sieges hat in Putins Russland eine schwindelerregende Entwicklung erlebt. Aus dem „Feiertag mit Tränen in den Augen“, der er Anfang des Jahrhunderts noch war, wurde eine militärisch-patriotische Show – eine gigantische symbolische Maschine, der das Land unterworfen wurde.

    Im Grunde hat Putins Staat im 9. Mai seinen wichtigsten Bezugspunkt gefunden, seine Gründungsgeschichte. Die beginnt weder 1917, noch 1991 noch 1999 (obwohl, wieso erklärt man eigentlich nicht die Sprengung von Wohnhäusern im September 1999 zum Anfangspunkt?), sondern 1945 in Jalta und Potsdam, als Stalin mit einem Bleistift in der Hand über der Weltkarte stand. Putin fühlt sich wahrscheinlich am ehesten wie der Generalissimus auf dem Bild von Fjodor Reschetnikow – obwohl er in Wirklichkeit eher dem großen Diktator aus dem gleichnamigen Film von Charlie Chaplin in der berühmten Szene gleicht, in der dieser in seinem Größenwahn den Globus aus dem Ständer nimmt und ihn auf dem Finger wirbelt.     

    Der 9. Mai wurde gleichzeitig Gedenkkult und Zukunftsentwurf

    Ab Mitte der 2000er Jahre begann der 9. Mai, sich auf die gesamte historische Zeit auszudehnen, wurde gleichzeitig Gedenkkult und Zukunftsentwurf. Nicht zufällig tauchten damals an den Autos die ersten Sticker mit dem großkotzigen Spruch „Wir können das wiederholen“ auf, mit geschmacklosen Bildern, wie Hammer und Sichel ein Hakenkreuz vergewaltigen. (Muss man erwähnen, was in Butscha und Irpin aus diesem Vergewaltigungskult geworden ist?)

    Der Tag des Sieges wurde zur Linse, durch die Russland auf die Welt blickt und ihr seine Gekränktheit, Komplexe, Wünsche, Aggressionen und Ressentiments präsentiert. Der Feiertag ist zu einer konstanten Liturgie geworden, zu einem ekstatischen und mystischen Wiedererleben einer Vergangenheit, die den Menschen die nicht sehr beglückende Gegenwart ersetzt hat.   

    Die Siegeskathedrale in Kubinka: finster, bedrohlich, auf freiem Feld inmitten eines beängstigend symmetrischen Rasens

    In den letzten zwanzig Jahren hat der Tag des Sieges alle Züge eines religiösen Kults angenommen. Im Zentrum dieses symbolischen Universums erhebt sich die monströse Siegeskathedrale in Kubinka, die aussieht, als wäre sie von der Filmkulisse aus Star Wars abgemalt oder einem Gothic-Comic entnommen. Da steht sie finster, bedrohlich, auf freiem Feld mitten auf einem beängstigend symmetrischen Rasen, durchdrungen von Zahlenmagie wie ein Freimaurersaal: Durchmesser des Sockels der Hauptkuppel – 19,45 m, größter Durchmesser der Hauptkuppel – 22,43 m (um 22:43 Uhr am 8. Mai wurde Deutschlands Kapitulation unterzeichnet), die Mosaike im Inneren nehmen eine Fläche von 2644 m² ein, was der Anzahl der Träger des Ruhmesordens I. Klasse entspricht, et cetera. Die Metallstufen sind aus erbeuteten deutschen Waffen aus dem Museum der Streitkräfte gegossen, und eine der „Reliquien“ in der Kathedrale ist Hitlers Schirmmütze: In ihrem Feuereifer, den Sieg über den Faschismus darzustellen, verfällt diese militaristische Version der Orthodoxie in Pathos, Komik und Kitsch.        

    Das Unsterbliche Regiment ist zu einer bürokratischen Demonstration des staatlichen Patriotismus pervertiert

    Zu Ehren des Siegeskults finden Prozessionen des Unsterblichen Regiments statt, die an Kreuzzüge erinnern. Ursprünglich eine zivilgesellschaftliche Grassroots-Initiative von Mitarbeitern des Tomsker Fernsehsenders TV2, hat sich bald die Propaganda dieses Ritual angeeignet, hat es verzerrt und zu einer bürokratischen Demonstration des staatlich verwalteten Patriotismus pervertiert, bei der Staatsbedienstete angewiesen werden, mit Fertig-Porträts unbekannter Helden aufzumarschieren. Vereinzelte Privatpersonen mit Porträts ihrer Vorfahren gehen unter in den Lügen und Performances unverhohlener Freaks: Stalinisten tragen Bilder ihres Götzen, und bei einer solchen Prozession marschierte Natalja Poklonskaja mit einer Ikone von Nikolaus II.     

    Tatsächlich nehmen die Heldenporträts Züge von Ikonen an. Vor ein paar Jahren kursierte im Netz ein Propaganda-Trickfilm, den eine Anti-Abtreibungsbewegung in Auftrag gegeben hatte: Eine junge Frau teilt ihrem Freund am Telefon mit, dass sie schwanger sei, woraufhin er sagt, sie solle abtreiben. Die Frau denkt nach, und da beginnt, ganz im Stil einer „sprechenden Ikone“, eine Kriegskrankenschwester aus dem Unsterblichen Regiment aus dem Porträt an der Wand zu ihr zu sprechen: „Treib nicht ab, du bekommst einen Sohn, einen Soldaten!“ Danach verschwindet, durchaus typisch, der Mann aus der Handlung, die Frau wird alleinerziehende Mutter und geht Jahre später mit ihrem Sohn zur Siegesparade.     

    Beim Heldenmythos des Siegs sind historische Fakten unwichtig

    Der Heldenmythos des Siegs muss nicht einmal der Realität entsprechen – er ist Gegenstand eines blinden Glaubens, seine Funktion ist es zu überzeugen. Allgemein bekannt ist der Fall gewisser sowjetischen Märtyrer: der 28 Panfilow-Helden. Die Garde-Infanteristen sollen bei Dubosekowo vor Moskau eine Division deutscher Panzer aufgehalten haben. Die Charkower Militärprokuratur fand jedoch im November 1947 heraus, dass sich einer der „gefallenen“ Helden im Frühling 1942 in Kriegsgefangenschaft ergeben und den Deutschen gedient hatte. Woraufhin Ermittlungen ergaben, dass die ganze Geschichte erfunden worden war von einem Korrespondenten des Krasnaja Swesda (dt. Roter Stern) namens Alexander Kriwizki auf der Grundlage tatsächlicher Kämpfe in dieser Region. Trotz allem entwickelte die Legende eine eigene Logik, hielt Einzug in den sowjetischen Patriotismus-Kanon, und als der Direktor des staatlichen Archivs, Sergej Mironenko, 2015 von dieser Fälschung erzählte, wurde er sofort der Russophobie bezichtigt, der damalige Kulturminister Wladimir Medinski erklärte, ein Mythos, der Generationen von Sowjetbürgern inspiriere, sei wichtiger als historische Fakten, und Mironenko war seinen Posten bald los.            

    Der Kult erfasst die Massen und wird mit siegeswahnsinnigen Ritualen ausstaffiert – geschmückte Autos und Schaufenster, historische Reenactments, Cosplays aus Kriegszeiten und Travestien, Kinder in Militäruniformen, Buggies und Kinderbetten in Panzer-Design. Völlig offensichtlich kommt Kindern hier eine besondere Rolle zu, um Opfer zu legitimieren und Gewalt und Tod durch eine höhere Moral abzusegnen.

    Frühlingsriten nach einem langen Winter

    Gleichzeitig wird so der Siegeskult in die Frühlingsriten eingeschrieben, bei dem junges Grün auf toter, verbrannter Erde wächst. Hier kann man von der Biopolitik des Sieges sprechen, von der Herstellung neuer Menschenmasse: Die Kinder sind die „neuen Soldaten, die die Weiber gebären“, um den apokryphen Satz zu zitieren, der Georgi Shukow zugeschrieben wird. Es ist ja kein Zufall, dass das vor der Abtreibung gerettete Kind in dem Pro-Life-Video zur Siegesparade geht und auf einem Werbeplakat der Bewegung Für das Leben ein Embryo aus dem Mutterleib appelliert: „Schütze du mich heute, dann schütze ich dich morgen!“ An anderer Stelle sieht man ihn als Fünfjährigen mit Helm und Maschinengewehr.   

    Siegeskult als vollwertige Staatsideologie 

    Der Sieg ist zu einem sakralen Objekt geworden, zu einem Raum, in dem es unmöglich ist, die Sowjetunion, das „Siegervolk“, Stalin und Shukow zu kritisieren, in dem das Recht des Stärkeren gesegnet ist und sich ein isolationistisches Bewusstsein à la „Wir allein gegen den Rest der Welt“ herausgebildet hat. Der Siegeskult ist eine vollwertige Staatsideologie geworden, die theoretisch laut Artikel 13 der Verfassung der Russischen Föderation verboten wäre – aber wen kümmert in Russland heute schon die Verfassung? 

    Russland ist dazu übergegangen, den Krieg zu rühmen   

    Im Namen des Sieges werden auch Gesetze beschlossen, die das historische Gedächtnis reglementieren, und es kommt zu Repressionen: Alexej Nawalny stand 2021 in einer fingierten Anklage wegen „Beleidigung eines Veteranen“ vor Gericht. 

    Und jetzt hat Russland im Namen des Sieges auch noch einen aggressiven Eroberungskrieg begonnen.     

    Der Bannspruch der Nachkriegsgenerationen hieß: Bloß keinen Krieg. Jetzt heißt es: Wir können das wiederholen

    Das ist der wichtigste und schrecklichste Output der militaristischen 9.-Mai-Religion: Anstelle einer Würdigung des Sieges, eines Festakts zum Kriegsende, anstelle einer Feier des Friedens ist Russland dazu übergegangen, den Krieg zu rühmen. Der Sieg wurde ersetzt durch eine permanente Schlacht. Anstelle eines Aufatmens – nie wieder, never again, нiколи знову –, anstelle des Bannspruchs Bloß keinen Krieg, den die Nachkriegsgenerationen beschworen, hat Russland die revanchistische Losung Wir können das wiederholen geprägt, die es wie eine Beschwörung wiederholt. Aus der Idee des Friedens wurde ein blutrünstiger Kriegskult, der Menschenleben kostet.   

    Genau das ist am 24. Februar 2022 passiert: Unter dem Deckmantel der „Entnazifizierung“ der Ukraine, abgeschrieben aus Geschichtsbüchern und von Propagandaklischees, hat Russland in Europa den größten Krieg seit dem Zweiten Weltkrieg entfacht. Man wollte 1945 wiederholen, doch Russland hat in dieser blutigen Geschichtsrekonstruktion seine Rolle falsch eingeschätzt: Die Ironie des Schicksals will, dass es nicht die sowjetischen Befreier spielt, sondern die deutsch-faschistischen Eroberer.  

    Russland spielt nicht die sowjetischen Befreier, sondern die deutsch-faschistischen Eroberer

    Die Geschichte hat einen weiten Kreis gezogen und ihn geschlossen. Die Schlange beißt sich in den eigenen Schwanz, die Sieger über die Nazis wurden selbst zu ihrem jämmerlichen Abbild. Die tatsächlichen Erben von 1945 sind heute die Ukrainer, die tapfer ihre Heimat verteidigen, und nicht die russischen Besatzer, die in ein fremdes Land gekommen sind, um zu vergewaltigen, zu rauben und zu brandschatzen. 

    Wer das Gedenken des großen Siegs ehrt, der kann nicht anders, als Russland in diesem sträflichen, schändlichen, sinnlosen Krieg eine Niederlage zu wünschen.  
     

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  • ZITAT #11: „Es gibt keinen Tiefpunkt, es ist der freie Fall ins Bodenlose“

    ZITAT #11: „Es gibt keinen Tiefpunkt, es ist der freie Fall ins Bodenlose“

    Putins große Jahrespressekonferenz fand am gestrigen Donnerstag, 17. Dezember 2020, online statt, mit nur wenigen Journalisten vor Ort – wegen Corona. Aus seiner Residenz in Nowo-Ogarjowo heraus sprach der Präsident zu unterschiedlichen Themen, lobte etwa die Corona-Strategie der russischen Regierung und zeigte sich verhalten erwartungsvoll, was die russisch-amerikanischen Beziehungen unter Biden betrifft. 
    Mit besonderer Spannung war jedoch erwartet worden, was der russische Präsident zur Vergiftung Nawalnys sagen würde. Erst kurz vorher hatte ein internationales Recherchenetzwerk, unter anderem mit The Insider und Bellingcat, berichtet, dass es acht FSB-Mitarbeiter gewesen seien, die Nawalny vergiftet und außerdem bereits jahrelang beschattet hätten. Das Video, das Nawalny daraufhin ins Netz stellte, hat bereits rund 15 Millionen Aufrufe.

    Putin wies alle Anschuldigungen zurück: „Wer ist er schon?“, sagte er über Russlands bekanntesten Oppositionspolitiker. „Wenn man das [Nawalny ermorden – dek] gewollt hätte, dann hätte man es auch zu Ende geführt.“ Die Informationen der Journalisten stammten eindeutig von US-amerikanischen Geheimdiensten, so Putin weiter, es gehe darum, Russland damit anzugreifen.

    Beweis für die Unschuld des Kreml? Oder einfach erwartbare Strategie? Der renommierte Politologe Sergej Medwedew jedenfalls hat eine ähnliche Reaktion vorausgesagt – und beschreibt, warum sich nichts ändern wird:

    [bilingbox]Fürs Protokoll: Die Vergiftung von Nawalny ist scheußlich. Die Recherche einfach ein Traum – Respekt vor allen Mitwirkenden, und doppelt Respekt für den Mut von Roman Dobrochotow, der zudem noch in Russland geblieben ist. Der FSB ist urkomisch (wie auch all seine früheren Inkarnationen) – am liebsten würde man die Coen-Brüder einen Film über ihn drehen lassen. 
    Und trotzdem möchte man fragen: So what? Was haben wir denn Neues erfahren? Dass sie Nawalny auslöschen wollten? Dass der FSB dahinter stand? Dass aus der bedrohlichen Organisation von einst eine kriminellen Bude geworden ist? Mich wundert, dass meine Kollegen und lieben Freunde schon zwei Tage lang schreiben, dass „ein neuer Tiefpunkt erreicht ist“ und „die Welt nicht mehr so sein wird wie vorher“, dass das mehr ist, als die Skripals und die Boeing und dass der Kreml sich von diesen Enthüllungen nicht erholen wird. Really? Da kommt einem plötzlich der freundliche Captain Renault aus Casablanca in den Sinn, wie er im Restaurant Rika wütend ruft: „I'm shocked, shocked to find that gambling is going on in here!“
     
    Die traurige Wahrheit ist, dass diese Recherche – so exzellent sie auch ist – nichts ändern wird: nicht in Russland und erst recht nicht im Westen. Die, die den Machthabern nicht glauben, fühlen sich in diesem Unglauben bestätigt – auch wenn diese Recherchen nicht nur das traditionelle Nawalny-Publikum betreffen. Für die meisten Russen wird es eine „undurchsichtige Sache“ bleiben und einе „Attacke im Informationskrieg“ – sie sind zu apathisch, gleichgültig und konformistisch und werden im Neujahrstrubel nicht darauf reagieren. So, wie sie auch schon auf die Vergiftung selbst nicht reagiert haben oder auf die Selbstverbrennung der Journalistin Irina Slawina.

    Die Menschen sterben bei uns zu Tausenden an Covid still vor sich hin, was ist da schon eine Vergiftung. Für den Westen ist es eine innere russische Angelegenheit – anders als bei der Boeing, wo 298 ausländische Staatsbürger gestorben sind, und anders als bei den Skripals, wo Russland chemische Waffen auf dem Territorium eines NATO-Mitglieds einsetzte. Neue Sanktionen wird es nicht geben, denn der Kreml hat längst alle roten Linien überschritten und praktisch einen Freibrief bekommen, innerhalb der Grenzen der ehemaligen UdSSR (außer anscheinend dem Baltikum) alles zu tun, was er will. Bei Russland winkt man nur noch ab, man hat ja auch genug eigene Probleme. Und so wird der Kreml weiterhin mantraartig „Provokation“ und „Ihr-lügt-doch-alle“ herunterspulen und einen dabei weiter mit starren Fischaugen anglotzen.

    Was den Tiefpunkt angeht: Hier gibt es keinen Tiefpunkt, es ist der freie Fall ins Bodenlose. Wer wird Russland aufhalten, wer traut sich überhaupt, einem Land mit Atomwaffen etwas zu sagen?

    Also noch einmal: Riesenrespekt an die Kollegen, volle Unterstützung für Alexej – doch die Welt bleibt dieselbe, und Russland wird seinen freien Fall ins Bodenlose fortsetzen.~~~For the record. Отравление Навального чудовищно. Расследование феерично — респект всем, кто его проводил, и дважды респект за смелость Роман Доброхотов, который остается при этом в России. ФСБ комична (как и все их предыдущие инкарнации, Бошировы и Луговые) — больше всего хочется, чтобы про них сняли кино братья Коэны. […]
    И все же хочется спросить: but so what? Что нового мы узнали? Что Навального хотели уничтожить? Что за этим стояла ФСБ? Что некогда грозная организация превратилась в криминальный балаган? И меня удивляют коллеги и добрые друзья, которые уже вторые сутки пишут, что "пробито новое дно" и "мир никогда не будет прежним", что это больше, чем Скрипали и Боинг и Кремль не оправится от этого разоблачения. Really? Вспоминается милейший капитан Рено из "Касабланки", гневно восклицающий в ресторане Рика: I'm shocked, shocked to find that gambling is going on in here!
    Печальный факт состоит в том, что это расследование, сколько бы блестящим оно ни было, ничего не поменяет — ни в России, ни тем более на Западе. Те, кто не верит власти, укрепятся в своем неверии, даже если это расследование выйдет за пределы традиционной аудитории Навального. Для большинства россиян это будет "мутное дело" и "атака в информационной войне" — они слишком апатичны, безразличны и конформны и не отреагируют на это в новогодней суете, как не отреагировали на само отравление Алексея или на самосожжение Славиной. У нас люди молча тысячами умирают от ковида, какое там отравление. Для Запада это внутреннее дело России — в отличие от Боинга, где погибли 298 иностранных граждан, и от Скрипалей, где Россия применила химоружие на территории члена НАТО. Ни к каким новым санкциям это не приведет, Кремль уже давно перешел все красные линии и практически получил карт-бланш на любые действия в границах бывшего СССР (кроме, видимо, Балтии), на Россию махнули рукой, своих проблем хватает. И власть будет все так же привычно талдычить "провокация" и "всевыврети", глядя немигающими рыбьими глазами.
    А дно — дна здесь нет в принципе, это свободное падение в пустоте, […] кто посмеет что-либо сказать стране с ядерным оружием?
    Так что еще раз: огромный респект коллегам, лучи поддержки Алексею — но мир останется прежним, […] и Россия продолжит свой полет в пустоту.[/bilingbox]

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    „Wir müssen das Triumphale aus der Geschichte tilgen“

    Imperium, das waren immer die anderen, vor allem die USA: Der Begriff war in der Sowjetunion stets dem „kapitalistischen Westen“ vorbehalten. Unter anderem durch zahlreiche Marketingmaßnahmen russischer Unternehmen bekam der Ausdruck nach dem Zerfall der Sowjetunion eine andere Färbung. So konnte man schon Mitte der 1990er Jahre in der Zeitschrift Imperium des Geschmacks blättern, eine Schönheitssalon-Kette verpasste sich den Namen Imperium des Stils, es gab einen Imperium-Vodka und die Reisebüro-Kette Imperium des Tourismus

    Auf diesen fruchtbaren Boden fiel in den frühen 2000er Jahren auch die Idee von der Wiederherstellung des Imperiums. Nach dem Ende des Kalten Krieges, so hieß es darin, hat sich der Westen als arroganter Sieger aufgeführt: In seinem eitlen Stolz habe er alles darangesetzt, Russland zu demütigen. Russland sei jedoch „von den Knien auferstanden“ und zum alten Glanz des Sowjetimperiums zurückgekehrt.

    Der Politikwissenschaftler Sergej Medwedew ist überzeugt, dass diese Erzählung den Menschen in Russland von oben aufgesetzt worden ist. Der Ökonom Sergej Gurijew hat den Preisträger des diesjährigen Pushkin House Prize in seiner Interview-Reihe auf Doshd-TV befragt, die einer der ewigen russischen Fragen gewidmet ist: „Was (soll man denn) tun?“ Was muss man tun, um ein freies und wohlhabendes Russland aufzubauen, und was muss man als Erstes tun, wenn sich eine Gelegenheit für den Wandel bietet? VTimes hat das Interview verschriftlicht, darin erklärt Medwedew, warum er davon überzeugt ist, dass der Aufbau eines normalen und modernen Nationalstaates zum Greifen nahe ist. Und das Rezept dafür, so der Politologe, ist denkbar einfach.

    Politologe Sergej Medwedew (links) im Gespräch mit Sergej Gurijew darüber, warum er glaubt, dass der Aufbau eines modernen Nationalstaates zum Greifen nahe ist / Foto © vtimes
    Politologe Sergej Medwedew (links) im Gespräch mit Sergej Gurijew darüber, warum er glaubt, dass der Aufbau eines modernen Nationalstaates zum Greifen nahe ist / Foto © vtimes

    Sergej Gurijew: Sergej, heute wird überall auf der Welt von der Verschiebung globaler Werte hin zu nationalen Identitäten gesprochen. Hat Russland eine besondere Identität, einen Sonderweg?

    Sergej Medwedew: Ich bin Konstruktivist, und ich glaube, dass jede soziale Wirklichkeit erfunden ist. Jede nationale Idee, jede Ideologie ist vollständig konstruiert, von einer Elite erdacht und über die Massenmedien verbreitet – und sie lässt sich innerhalb von ein paar, sagen wir zehn, Jahren durchaus verändern. 

    Sicher, einige Mythen inspirieren die Menschen. Doch das sind keine ewigen Werte, kein Sonderweg – es sind durchsichtige Folien, die Medienleute, PR-Manager, Polittechnologen und Leute aus der Präsidialadministration vor uns drapieren. Bis dieses Tableau wieder abgenommen und durch ein anderes ersetzt wird. 

    Das Tableau lässt sich also innerhalb von zwei oder zehn Jahren vollständig austauschen? Werden denn die Werte und Identitäten von der Präsidialadministration und von Medienleuten gezielt entworfen? Oder geschieht das als Reaktion auf eine Nachfrage der Gesellschaft?

    Das geht von beiden Seiten aus. Sehen Sie sich an, wie sich das Tableau in den letzten 30 Jahren verändert hat: Das Ende der 1980er und der Anfang der 1990er waren geprägt von einer Ideologie der Normalität: „Hinter uns liegen 70 Jahre kommunistischer Finsternis, doch jetzt tritt Russland in die Gesellschaft der zivilisierten Nationen ein, öffnet sich der Welt.“ Das war eine natürliche Reaktion der Gesellschaft, in Kombination mit der wirkmächtigen Publizistik der Perestroika.

    Es ist kein Sonderweg – es sind durchsichtige Folien, die Medienleute, PR-Manager, Polittechnologen vor uns drapieren

    Auch Putin war ein Produkt dieser Ideologie. Ich kann Putins Worte bei einem Treffen mit Vertrauten nur unterschreiben: Er wurde gefragt, ob Russland eine nationale Idee haben solle. Woraufhin er gereizt erwiderte, offenbar konnte er diese Frage nicht mehr hören, Russlands einzige nationale Idee sei die Wettbewerbsfähigkeit. Das war damals das vorherrschende Paradigma der gesamten Elite und der Bevölkerung.

    Später wurden uns allmählich neue Folien drübergelegt: die Idee der Autarkie, der Souveränität, einer souveränen Demokratie. Und dann fällt endgültig der Vorhang – 2014, mit der Annexion der Krim: „Russland muss die imperiale Vergangenheit wiederherstellen, Russland geht einen Sonderweg“, hieß es dann. Das alles geschah innerhalb von 15 Jahren.

    2014 zeigte, dass einige Veränderungen im Narrativ auf sehr große Zustimmung in der Gesellschaft stießen. Durchaus möglich, dass nicht einmal Putin mit so einer positiven Reaktion auf die Ereignisse mit der Krim gerechnet hatte. 
    Womit hängt das zusammen? Gibt es gewisse Stereotype im russischen kollektiven Bewusstsein, die vielleicht mit nostalgischen Gefühlen für das Imperium, das Russische Reich, mit den Schulbüchern im Geschichtsunterricht zusammenhängen? 

    Ich würde das [mit Nietzsche – dek] als Ressentiment bezeichnen, als ein postimperiales Trauma. Alle postimperialen Nationen mussten es durchleben – Großbritannien, Frankreich. Auch Russland hat es während des Ersten und des Zweiten Tschetschenienkrieges durchlebt; bis heute prägt das postkoloniale Erbe das gesamte Denkschema in Bezug auf Tschetschenien

    Die Krim hat unerwartet einen wunden Punkt des kollektiven Bewusstseins berührt und die fortdauernde imperiale Gestalt aufgezeigt. 

    Gab es ein solches Kränkungsgefühl in den 1990ern? Ich erinnere mich nicht daran

    Ich hatte ja gesagt, jede Ideologie sei konstruiert, doch es gibt einige langwährende Modelle, die mindestens zwei, wenn nicht drei Jahrhunderte halten: Nämlich das imperiale Selbstbewusstsein, die imperiale Selbstwahrnehmung: Die Elite und die Massen betrachten sich als Teil eines riesigen territorialen Projekts.

    In dieser Hinsicht hinkt Russland furchtbar hinterher. Alle haben sich mehr oder weniger an die postimperiale Weltordnung angepasst, doch Russland will zurück ins 19. Jahrhundert, zurück zum „europäischen Konzert der Großmächte“, zu Gortschakow und zu den großen Erzählungen, als Stalin sich in seiner weißen Jacke mit Churchill und Roosevelt über die Karte beugte, um Europa und die Welt aufzuteilen

    Dieses Gefühl des Ressentiments und der Kränkung wurde von der politischen Elite kreiert. Gab es ein solches Kränkungsgefühl in den 1990ern? Ich erinnere mich nicht daran. Aber nachdem Putin an die Macht kam, etwa Mitte der 2000er Jahre, begann man uns zu erzählen, Russland sei zu kurz gekommen. Die Elite erklärte die Russen zu armen Leuten: „Ihr Lieben seid zu kurz gekommen, die ganze Welt hat euch gelinkt. Wir schotten uns ab und rächen uns an der Welt, die uns missverstanden und nicht akzeptiert hat.“ Das ist eine Ideologie, die von Null auf konstruiert wurde und aus der das Verhältnis zur Krim und dem Rest der Welt erwächst. 

    Aber das postimperiale Ressentiment ist nicht nur ein russisches Problem. Wie Sie richtig gesagt haben, mussten es viele europäische Länder überwinden, als sie den Nationalstaat errichtet haben. Es gibt auch weniger moderne Staaten wie den Iran, der ein Imperium in seiner Region sein will. Oder die Türkei, deren Präsident die hundertjährige Geschichte leugnet, in der eine säkulare Republik geschaffen wurde, und der eine Variante des Osmanischen Reichs wiedererrichten möchte. 

    Als Konstruktivist denken Sie sicher darüber nach, wie sich dieses Ressentiment überwinden ließe, wie sich die Debatte hinlenken ließe zum Aufbau eines Nationalstaates ohne imperiale Ambitionen?

    Ich denke, der Lauf der Geschichte wird das Ressentiment aufheben. Ein harter Schlag, ein Schlag in die Magengrube, war der Verlust der Ukraine. Diesen Schlag wird Russland wohl nicht so schnell verkraften – vielleicht auch nie. Brzeziński hatte Recht, als er sagte, dass der russische Imperialismus in der Ukraine beginnt und endet, dass Russland aufhört ein Imperium zu sein, sobald es die Ukraine verliert.

    Die russische Politik hat zwei Referenzpunkte. Der erste ist Washington, alles, was gesagt oder getan wird, die gesamte Ideologie und alle Auftritte von Sacharowa sind vor allem auf Washington ausgerichtet. Russland misst sich an Amerika. 

    Die russische Politik hat zwei Referenzpunkte. Der erste ist Washington, der zweite die Ukraine

    Der zweite Referenzpunkt ist die Ukraine. Ich sehe das als eine Art Exorzismus, wenn die Dämonen heulend hervorkommen, jedes Mal, wenn die Rede auf die Ukraine, den Donbass oder die Krim kommt. Das sind die Krämpfe eines postimperialen Ressentiments. Dieses Ressentiment wird von den Wellen der Geschichte weggespült. Aber um den hohen Preis des Blutvergießens in der Ukraine, unzähliger vertriebener Menschen, der Bombenangriffe in Aleppo – alles Dinge, die zweifellos als Kriegsverbrechen eingestuft werden müssen.

    Gibt es eine zweite Krim? Würden sich die Russen genauso über eine nicht nur symbolische, sondern tatsächliche Angliederung von Belarus freuen? Gibt es noch mehr Hebel wie damals 2014, an denen die russischen Eliten ansetzen könnten?

    Ich hoffe nicht. Der Krimsekt ist schal geworden. Belarus ist noch ein Joker, den man aus dem Ärmel ziehen könnte, aber der Effekt wäre deutlich kleiner als nach der Krim.

    Heute scheint mir die Geschichte das wesentliche Schlachtfeld zu sein. Nicht nur in Russland, sondern auch im Ausland. 

    Belarus ist noch ein Joker, den man aus dem Ärmel ziehen könnte, aber der Effekt wäre deutlich kleiner als nach der Krim

    Putin hat sich plötzlich zum Historiker Nummer eins erklärt, veröffentlicht Fachartikel und das russische kollektive Bewusstsein empört sich wöchentlich über irgendein Denkmal.

    Der Präsident veröffentlicht Fachartikel mit unverkennbaren imperialen Tendenzen, propagiert einen stalinistischen Blick auf die Welt. Das Fernsehen trieft vor Propaganda. Unsere Schulbücher widersprechen dem, was man in den Nachbarstaaten in Geschichte lernt.

    Es gibt also zwei Felder. Das erste ist das Fernsehen. Wir konnten wunderbar beobachten, wie die Hass- und Propaganda-Maschine vorübergehend gestoppt wurde, um die Fußballweltmeisterschaft abzuhalten. Plötzlich verwandelten sich die Russen in freundliche Gastgeber. 

    Das zweite ist eher ein lang angelegtes Projekt: die Geschichtsbücher. Was müsste dort stehen, damit sich die Schüler von heute zivilisiert verhalten, wenn sie in zehn, 20 oder 30 Jahren die Elite der russischen Gesellschaft bilden?  

    Bei der Fußballweltmeisterschaft haben Sie Recht. Sogar die Russen haben es geglaubt. Viele meiner Freunde schrieben auf Facebook: „Sieh einer an, wir sind normale Menschen, die Polizisten lächeln.“ Doch dann kam der heiße Sommer von 2019.  

    Geschichte kann nicht aus einem einzigen Narrativ bestehen. Wir sollten uns auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen und die Tatsache anerkennen, dass Russland viele Geschichten hat. Jede Ethnie innerhalb der Russischen Föderation hat ihre eigene Geschichte. 

    Wir sollten uns auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen und die Tatsache anerkennen, dass Russland viele Geschichten hat

    Damit werden wir immer wieder konfrontiert. Wenn beispielsweise die Tataren gegen die Verherrlichung von Iwan dem Schrecklichen protestieren. Für sie ist er ein Aggressor, der den tatarischen Staat zerstört hat. 

    Ich denke, wir sollten uns darauf einigen, dass mehrere Perspektiven auf die Geschichte im Unterricht behandelt werden müssen.

    Es gibt ein Ensemble, eine Sinfonie verschiedener historischer Stimmen, unsere Vergangenheit ist diese hochkomplexe, polyphone Partitur

    Geschichte muss in Russland auch die Geschichten der kleinen Völker einschließen, die Geschichten der besiegten Völker, beispielsweise die Geschichte aus Sicht der Tschetschenen. In russischen Schulen muss über die Deportation der Tschetschenen gesprochen werden, über den 200-jährigen Tschetschenienkrieg, über den Imam Schamil

    Die eine Geschichte gibt es nicht – es gibt ein Ensemble, ein Orchester, eine Sinfonie verschiedener historischer Stimmen, unsere Vergangenheit ist diese hochkomplexe, polyphone Partitur. 

    Wir haben die jahrhundertelange Erfahrung einer erfolgreichen Koexistenz verschiedener Ethnien und Religionen

    Außerdem müssen wir das Triumphale aus der Geschichte tilgen, uns von der Idee verabschieden, dass da einst das große Russische Reich war, dessen Nachfolger wir sind. Wir leben in der Vergangenheit, wir gehen vorwärts, doch unser Blick ist nach hinten gewandt. Wir werden ständig stolpern, weil niemand vorwärts gehen kann, wenn er nicht nach vorn schaut. Aber wir schielen auf das Russische Reich und begreifen nicht, dass Russland ein schon fast zerfallenes Imperium ist.   

    Das Russische Reich erlebte seinen Zerfall in zwei Akten: 1917 und 1991, und jetzt befinden wir uns in der Mitte des komödiantischen dritten Aktes. Im Gegensatz zu anderen großen Imperien ist das Russische Reich immer noch nicht ganz zerfallen. Russland begreift sich bis heute im großen territorialen Paradigma der letzten Jahrhunderte. Ich glaube, Witte sagte einmal: „Ich weiß nicht, was Russland ist, aber ich weiß, was das Russische Reich ist.“ Wir meinen auch heute noch dieses Imperium, wenn wir „Russland“ sagen. Wir schaffen es nicht, Russland als einen Nationalstaat zu denken. 

    Gerade deswegen ist ein kleinster gemeinsamer Nenner notwendig. Aber welcher könnte das sein? Ist Russland ein europäisches Land? Sind die klassische russische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, das Streben nach Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und Wertschätzung der Bildung ein gemeinsames Fundament, um Russland als einen Teil der europäischen Kultur betrachten zu können? Oder wird auch das von einem Teil der Gesellschaft angenommen und von einem anderen abgelehnt werden? 

    Letzteres, denke ich. Ich würde mir natürlich wünschen, dass die Bewohner des Fernen Ostens und alle Völker des Kaukasus sagen: Russland ist eine europäische Kultur. Aber ich möchte diese Position niemandem als die einzig richtige aufdrängen. Für mich ist die Multikulturalität der kleinste gemeinsame Nenner – der Dialog der Kulturen, der Ethnien, der Religionen und der gegenseitige Respekt. Wir respektieren die Geschichte des tschetschenischen Volkes und das tschetschenische Volk respektiert die russische Geschichte. 

    Genau das ist nämlich Russlands Stärke, weil wir die jahrhundertelange Erfahrung einer erfolgreichen Koexistenz verschiedener Ethnien und Religionen haben, die beispielsweise Frankreich fehlt. Wir sehen ja, was in den Banlieues passiert. In russischen Großstädten sind die Vertreter des Islam integriert und bilden keine ethnischen Enklaven. Das ist eine einzigartige Erfahrung, die Russland kultivieren, fördern und in den Rest der Welt tragen sollte. 

    In russischen Großstädten sind die Vertreter des Islam integriert und bilden keine ethnischen Enklaven. Das ist eine einzigartige Erfahrung, die Russland kultivieren, fördern und in den Rest der Welt tragen sollte

    Außerdem braucht die russische Nation für ihren Aufbau ein antistaatliches Pathos. Denn der starke Staat, der Leviathan, war immer Russlands Rettung und Russlands Verhängnis zugleich. Russland war nicht nur ein Imperium, Russland war auch ein riesiger halbmilitaristischer Staat, der während der Putin-Ära in all seiner mittelalterlichen Pracht wieder zum Leben erwacht ist.

    Es gibt zwei Hürden, die Russland den Weg in die Moderne versperren: das Imperium und der Staat. Und gerade das sind die beiden wesentlichen Klammern des Putinismus.

    Wir haben Angst vor dem Staat, vor diesem ehernen Reiter, der über die gefluteten Weiten unserer Heimatstadt galoppiert. Überall wittern wir staatliche Interessen und fühlen uns ihnen unterworfen.  

    Sie haben Recht, wir haben Angst vor dem Staat. Wir vertrauen ihm nicht. Auch unsere Lust, gegen das Gesetz zu verstoßen, rührt daher, dass der russische Bürger im letzten Jahrhundert eines mit Sicherheit wusste: Das Gesetz ist nicht gerecht. Weil es von oben kommt und nicht aus einem demokratischen Konsens hervorgeht. Aber es kann keine moderne Gesellschaft ohne Rechtsstaatlichkeit, ohne Vertrauen in die staatlichen Institutionen geben. Wie können wir dieses Vertrauen schaffen?

    Dieses Vertrauen entsteht über funktionierende Institutionen. Die gab es in Russland bereits. Wir haben gesehen, wie Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre allmählich eine Infrastruktur des Rechts entstand und auch funktionierte, bis die Rechtsinstitute von der administrativen Vertikale und all der politischen Bürokratie entmachtet wurden.

    Ich würde gern über Vertrauen sprechen, nicht nur das Vertrauen zum Staat, sondern auch zueinander. Das fehlende Vertrauen, so scheint mir, versperrt der russischen Gesellschaft den Weg in eine erfolgreiche Zukunft. Zynismus ist heute ein wesentliches Instrument, mit dem die russische Elite das Volk manipuliert. Deswegen sagen die Menschen Dinge wie: „In unserem Land wird es nie etwas Gutes geben, weil wir schlechte Menschen sind und einander nicht vertrauen. Die Hoffnung, dass wir eine erfolgreiche, prosperierende Gesellschaft werden, können wir gleich vergessen.“ Was kann man diesem Zynismus entgegensetzen? Wie bringt man die Menschen dazu, einander zu vertrauen?

    Sie haben Recht … In seinem Buch Trust bezeichnet Francis Fukuyama das Vertrauen als Grundlage des Humankapitals. Die Kapitalisierung eines Landes bemisst sich nicht am Bruttosozialprodukt, sondern am Vertrauen, das einen viel größeren Wert hat als die Wirtschaftsgüter. Auch der amerikanische Kapitalismus basiert, wie auch jedes erfolgreiche Unternehmen, auf Vertrauen, wie es das zum Beispiel zwischen den Protestanten oder den russischen Altgläubigen gab. 

    Dass bei uns das Vertrauen fehlt, beweisen die Zäune: Russland ist kein Land der gemeinschaftlichen Sobornost, sondern ein Land der massiven Sabornost, ein Land der Zäune [Sabornost]. Eine Fahrt über die Rubljowka ist eine Fahrt durch einen Tunnel aus massiven Zäunen.     

    Dass bei uns das Vertrauen fehlt, beweisen die Zäune: Russland ist ein Land der Zäune

    Vertrauen beginnt mit den Institutionen, genauer gesagt mit der Transparenz von gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen, mit ihrer Auskunftsbereitschaft, Rechenschaft und Verantwortung. Mit einer fairen, unbestechlichen, transparenten Justiz, mit Rechtsinstituten. Damit, dass der FSB seine Archive öffnet, dass Finanzströme transparent gemacht werden, die derzeit alle unter Verschluss sind. Damit beginnt Vertrauen – es geht nicht darum, dass wir einander lächelnd in der Metro grüßen, obwohl das natürlich auch schön wäre. Die Institutionen schaffen oder vernichten das Vertrauen, sie erzeugen diese Muster des Zynismus, des Misstrauens und des Hobbschen Kampfes aller gegen alle.

    Wir haben viel über das Imperium gesprochen, vielleicht wäre es noch wichtig, über die Dekolonisation zu sprechen. Was müssen wir tun, damit Russland aufhört, Teile seines Landes oder die Nachbarstaaten als Kolonien zu betrachten?

    Lernen und die Welt mit offenen Augen betrachten, das müssen wir tun. Es ist doch befremdlich, wenn Leute, die deine Ansichten zur Ukraine und der Krim teilen, plötzlich explodieren, wenn es um Black lives matter, Greta Thunberg oder um Me too geht. Ich möchte das alles auf einen Nenner bringen, denn das alles sind Anzeichen der Dekolonisation. 

    Es ist doch befremdlich, wenn Leute deine Ansichten zur Krim teilen, aber explodieren, wenn es um Black lives matter, Greta Thunberg oder um Me too geht

    Wir leben in einem durch und durch kolonialen Diskurs. Er besteht nicht nur darin, dass Russland den Kaukasus erobert und Sibirien kolonisiert hat. Sondern auch darin, dass die Macht in den letzten Jahrhunderten bei den Männern, den Weißen, den Bewaffneten, den Erwachsenen lag. Diese Machtverhältnisse geraten jetzt ins Wanken. Und das passt vielen nicht.

    Die Lösung wäre also eine Anerkennung der Pluralität und die Dekolonisation. Die moderne Demokratie ist genau das Instrument, das den Menschen dabei hilft, sich zu einigen. Wenn wir vernünftige, moderne, politische Institutionen schaffen, schaffen wir auch die Grundlage dafür, dass Russland ein normaler Nationalstaat wird und von seinen imperialen Eskapaden Abstand nimmt. Es gibt keine besondere Politik der Dekolonisation, es braucht nur den Aufbau eines normalen, modernen Staates.    

    Genauso ist es. Dafür müssen die Institutionen gut funktionieren. Sobald sie es tun, lösen sich die Probleme zwischen Russland und Tschetschenien, zwischen Männern und Frauen, die Frage nach dem tatarischen Sprachunterricht in den Schulen und vieles mehr.

    Die Dekolonisation ist kein Import aus dem Westen, der der eigenständigen russischen Kultur aufgedrängt wird, sondern ein weltumspannender Prozess des 21. Jahrhunderts, bei dem Russland, wie so oft, hinterherhinkt. 

    Die Dekolonisation ist kein Import aus dem Westen, der der eigenständigen russischen Kultur aufgedrängt wird, sondern ein weltumspannender Prozess

    Gaidar sprach in seinen Büchern von einer 40- bis 50-jährigen Verspätung, mit der Russland bei den wesentlichen kulturellen Errungenschaften ankommt. So ist es auch jetzt: Russland steht jetzt da, wo der Westen in den 1960ern war, und versucht nun mit denselben Herausforderungen fertigzuwerden. 

    Bleibt nur zu hoffen, dass Russland aus der Erfahrung der anderen Länder lernt und diesen Weg schneller zurücklegt. 

    Ja, die Normalität ist viel näher, als wir glauben, wir müssen nur das Denken in Stereotypen ablegen und die Hand nach der Normalität ausstrecken – und nach den Menschen, mit denen wir leben.

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Nawalny vergiftet – wo bleibt der Protest?

    Nawalny vergiftet – wo bleibt der Protest?

    Stell dir vor, der wichtigste russische Oppositionspolitiker wurde vergiftet – und in Russland geht kein Mensch deswegen auf die Straße. Kaum ein anderer konnte die Massen so mobilisieren wie Alexej Nawalny, der in seinen Recherchen Korruptionsfälle auf höchster Ebene aufdeckte. Doch wo bleibt nun, da nachgewiesen ist, dass Nawalny mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet wurde, der Protest – den es nach der Ermordung etwa von Boris Nemzow durchaus gab? „Es ist eine wichtige Nachricht, was die internationalen Beziehungen betrifft, aber keine, die die Gefühle der breiten Masse erregt”, meint etwa die Politologin Ekaterina Schulmann gegenüber The Bell, und weiter: „Es gibt die, die auch ohne Erklärung der deutschen Bundesregierung wussten, was passiert ist. Und es gibt die, die denken, dass das eine Provokation des Westens ist.”

    Unterdessen gehen einige oppositionelle und liberale Stimmen davon aus, dass Nawalny die Vergiftung eher „aus Versehen” überlebte, etwa, weil der Pilot eine Notlandung wagte – und dabei eine Bombendrohung ignorierte, die überraschenderweise kurz nach der Anfrage der Piloten im Flughafen Omsk eingegangen war. Darüber berichtete das Medium Znak.

    Wo bleiben die Massen, die Nawalny einst mobilisieren konnte, die im vergangenen Jahr gegen die Festnahme des Journalisten Iwan Golunow oder die Wahlfälschungen in Moskau demonstriert haben?
    Der Moskauer Politologe und Historiker Sergej Medwedew macht seiner Empörung Luft auf seinem Facebook-Account, den rund 32.000 Abonnenten wie einen Blog lesen.


    Update, 07.09.2020, 15:45 Uhr: Wie die Charité in einer Pressemeldung bekannt gibt, liegt Nawalny unterdessen nicht mehr im künstlichen Koma und reagiert auf Ansprache.

    Das Überraschendste an der Reaktion auf die Vergiftung Nawalnys ist, dass es keine Reaktion gibt. Naja, ein paar schwache Reflexe gibt es durchaus: Ist ja verständlich, dass der Kreml in tumbem Weiß-von-Nichts verharrt, wie auch schon bei MH17 („beweist das erst mal”), das Außenministerium scheppert mit Töpfen, in die Arena geschickt werden die Altmeister der Narretei Roschal und Posner – der Propagandakessel braut, blubbert, schmatzt wie immer. Doch die Gesellschaft, die Opposition, der Westen sind wundersam ruhig. Nichts Besonderes: Ein Mordanschlag auf den führenden Oppositionspolitiker, das ist doch das Normalste von der Welt, er war ja selbst schuld, hat es ja quasi herausgefordert, also business as usual, weiter im Text. 

    Eindeutige Diagnose – und alle schweigen

    Der Mord an Nemzow vor fünf Jahren glich der Explosion einer Vakuumbombe. Der Kreml erstarrte, Putin verschwand für zwei Wochen, Zehntausende gingen auf die Straße, jetzt dagegen: Stille. Wobei Nawalny am heutigen Tag – bei aller Verehrung für Nemzow und aller Anerkennung seiner Persönlichkeit – eine sehr viel gewichtigere politische Figur ist: Er ist ein Medium, Kopf einer regional gut organisierten Institution, er ist die Politik, der einzige Mann in Russland, der es mit Putin aufnehmen kann, und dessen Name auszusprechen das Regime scheut wie der Teufel das Weihwasser.

    Für viele war die Existenz eines Nawalny der Indikator dafür, dass man trotz des Regimes in Russland leben kann, nach der Logik: Nicht ermordet, nicht im Knast – das heißt, man kann es hier noch irgendwie aushalten. Und jetzt ist er nur zufällig, aus Blödheit der Vollstrecker nicht tot, schon drei Wochen im Koma, unklar, in welchem Zustand er ins Leben zurückfindet, ob er zurückkehren wird nach Russland und in die Politik, die Diagnose ist eindeutig – und alle schweigen.
     
    Aber was heißt hier Nemzow – 2015 liegt lange zurück, noch vor etwa einem Jahr gingen doch alle für den Journalisten Iwan Golunow auf die Straße, und auch gegen die Fälschungen (es klingt fast lächerlich) bei den Wahlen zum Moskauer Stadtparlament. Stellt euch das mal vor: Die Menschen lieferten sich wegen des Moskauer Stadtparlaments den Gummiknüppeln der OMON-Kräfte und der Rosgwardija aus. Und dieselben Menschen akzeptieren ein Jahr später schweigend die Nullsetzung in der Verfassung, den unabsetzbaren Präsidenten, die Wahllokale auf Baumstümpfen – und jetzt den Mordanschlag und die Ausschaltung von Nawalny.

    Die Normalisierung des politisches Terrors

    Innerhalb dieses einen Jahres hat eine schleichende und dadurch umso beängstigerende Normalisierung des politischen Terrors stattgefunden. Soll heißen: Es gab ihn schon immer, aber er hat zumindest einen gewissen Protest hervorgerufen. Doch jetzt wird alles schweigend hingenommen, das ist eben die neue Norm: Folter, Mord, Vergiftung, fabrizierte Verfahren. „Selbst schuld“, „Man soll sich nicht so weit aus dem Fenster lehnen“. Ich weißt nicht, was überwiegt: Gleichgültigkeit, Angst, Kraftlosigkeit, Lähmung … Lesen Sie gern die Geschichte aller totalitären Regime des 20. Jahrhunderts, wir leben wie im Lehrbuch.
     
    Unter ferner liefen steht in den Nachrichten an fünfter Position: In Krasnojarsk wurde eine terroristische Organisation 14- und 15-jähriger Schüler aufgedeckt. Sie hätten Explosionen in Schulen und die Ermordung von Mitschülern geplant und seien schon geständig. Nach Delo Seti und dem Fall Nowoje Welitschije ist das die neue Norm, die Routine des Jahres 2020. 
     
    Wie jetzt weiter? Ein Strafverfahren wegen der Untertunnelung des Kreml? Gegen die Schädlinge des Produktionsbetriebs? Gegen Mörder im Arztkittel? Gegen die Agenten des japanischen und finnischen Geheimdienstes? Ach ja, einen tschechischen Spion haben wir ja schon, die Haft wurde eben erst um drei Monate verlängert …

    Nicht Nawalny liegt im Koma, sondern wir alle.

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  • Corona: „Die Rettung ist Sache der Ertrinkenden“

    Corona: „Die Rettung ist Sache der Ertrinkenden“

    Trotz Corona läuft in Russland immer noch vieles nach dem Prinzip Business as usual: Einzelne Stimmen kritisieren in Sozialen Netzwerken, dass die Regierung zwar über ein Maßnahmenpaket zur Stützung der russischen Wirtschaft nachdenkt, bei durchgreifenden Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit aber zaghaft bleibt. Sie glauben, dass die seit vergangenem Freitag verhängten Einreisesperren für Menschen aus Westeuropa die Pandemie nicht eindämmen werden und fordern drastischere Schritte: unter anderem die Vertagung der Volksabstimmung am 22. April und die Absage öffentlicher Siegesfeiern am 9. Mai

    Währenddessen empfiehlt das russische Bildungsministerium, selbst zu entscheiden, ob man in die Schule oder Uni geht oder zu Hause bleibt. All dies ist für den russischen Politikwissenschaftler Sergej Medwedew Anlass für einen Kommentar auf Facebook, den 2000 Menschen geteilt haben.

    Die feige „Empfehlung“ von Sobjanin und dem Bildungsministerium, dass Schulen und Hochschulen „freiwillig“ besucht werden, statt sie komplett zu schließen, ist ein sehr schlechtes Zeichen. Es bedeutet, dass die Behörden mehr Angst vor Panik haben als vor dem Virus selbst – und dass sie eine feige unentschiedene Strategie gewählt haben, um sich der Verantwortung zu entziehen. „Die Eltern spielen in diesem Fall eine größere Rolle“, sagt Sobjanin in seinem Dekret. Also, Stopp mal. Das heißt, nicht die Ärzte, nicht der Epidemie-Stab, sondern die Eltern dürfen entscheiden, ob ihre Kinder potentielle Träger des Virus werden. Das ist nicht nur absurd, das ist kriminell. Man kann nicht ein bisschen schwanger sein, und man kann keine partielle, optionale Quarantäne einführen – entweder Quarantäne oder keine Quarantäne. Schon eine Person, die ausschert, bringt das ganze System zum Einsturz.

    Die Behörden scheinen hin und herzuschwanken zwischen der immer dringlicheren Notwendigkeit einer Quarantäne (da die Lawine ausländischer Nachrichten nicht mehr zu verbergen ist) und der Unmöglichkeit, solche Maßnahmen zu ergreifen. 

    Die Unmöglichkeit ist meines Erachtens rein technischer Natur – wir haben einfach nicht das Niveau an staatlicher und gesellschaftlicher Organisation, an Screenings, Tests, Ausrüstung, Disziplin und strikter Durchsetzung von Gesetzen, wie wir es in China und zum Teil auch in Italien gesehen haben. 

    Der 9. Mai im postapokalyptischen Bühnenbild à la Wuhan?!

    Wie stellen Sie sich den Shutdown der Moskauer Metro vor? Das wäre eine Katastrophe, keine städtische, sondern eine nationale. Das Anhalten der 20-Millionen-Metropole käme einem Herzstillstand des Landes gleich. Außerdem ist es aus rein politischen Gründen nicht möglich, vor dem 22. April und dem 9. Mai den Notstand auszurufen – das alles sollte in der herrlichen Atmosphäre eines Nationalfeiertags stattfinden, nicht in einem postapokalyptischen Bühnenbild à la Wuhan, in Schutzanzügen, unter einer Chlorhexidin-Dusche.

    Daher wird es keine Quarantäne geben, stattdessen feige, halbherzige Maßnahmen wie den freiwilligen Schulbesuch, die „Empfehlungen“, öffentliche Veranstaltungen zu reduzieren (übrigens wenn eine Kundgebung verboten wird, wird das nicht empfohlen, sondern verboten, da gibt es keine Zwischentöne), einen teilweise eingeschränkten Flugverkehr (man nehme nur dieses anekdotische Flugverbot nach Europa, ausgenommen sind die Flüge ins süße Herz der Oligarchen und Abgeordneten nach Großbritannien – da sind doch Kinder, Familien, Häuser!) und so weiter. 

    Die Mächtigen waschen sich die Hände in Unschuld (entschuldigen Sie den Schenkelklopfer) und sagen der Bevölkerung: Die Rettung der Ertrinkenden ist Sache der Ertrinkenden – entscheiden Sie selbst, wie Sie sich schützen wollen! Sollte was sein – wir haben Ihnen eine Empfehlung gegeben und damit sind wir raus.

    „Die Rettung der Ertrinkenden ist Sache der Ertrinkenden“

    Stattdessen kauft die Bevölkerung brav die Mär von „viralen Atemwegserkrankungen“ ab, postet Sprüche, dass jedes Jahr mehr Menschen an Mückenstichen sterben als jetzt an Corona, schimpft auf Panikmacher und Hysteriker und lebt weiter in vollem Genuss und Saus und Braus. Das ist die typische, infantile Reaktion einer unfreien, patriarchalischen, geschlossenen Gesellschaft: Bedrohung wird verleugnet, Angst verdrängt und man verhält sich ostentativ nachlässig.

    Währenddessen ist das Virus hier schon längst angekommen, und nur wenige glauben den lächerlichen Zahlen von 59 erkrankten Menschen [Stand: 15. März 2020] in einem Land mit 146 Millionen Einwohnern, das in alle Richtungen offen ist: Die Chinesen sind ungehindert über den Amur eingereist, ehe im Fernen Osten die Quarantäne verhängt wurde. Und was den europäischen Teil Russlands angeht: Zehntausende sind im Februar und März in die am stärksten verseuchten Regionen Europas gereist und wieder nach Russland zurückgekehrt. 

    Und je länger es geht, desto lächerlicher werden die offiziellen Zahlen sein, die realen Zahlen werden aber in der allgemeinen Sterbestatistik alter Menschen verborgen sein, unter den saisonalen viralen Atemwegserkrankungen und ambulant erworbenen Lungenentzündungen. In den Sterbeurkunden wird wie immer „akute Herzinsuffizienz“ stehen, wie auch beim Tod durch Folter geschrieben wird. Und das alles bestreite mal einer im Nachhinein – eine Insuffizienz hat ja schlussendlich wirklich eingesetzt, alles saubere Fakten. 

    Erinnerung an den schrecklichen Sommer 2010

    Ich erinnere mich an den schrecklichen Sommer 2010, Hitze überall, die Wälder brannten, und Moskau war vom glühenden Smog umhüllt. Damals starben laut inoffiziellen Schätzungen bis zu 40.000 ältere Menschen. Unter ihnen war auch mein 83-jähriger Vater, und als der Polizist schweißgebadet ein Protokoll zur Feststellung der Todesursache verfasste und dann seine Stimme senkte, erzählte er mir, dass allein ihre Abteilung jeden Tag hunderte Todesfälle aufnimmt, in der ganzen Stadt seien es Zehntausende. Dessen ungeachtet gab es jedoch keine Statistik über die hitzebedingte Sterblichkeit, alles löste sich in den üblichen Diagnosen auf, die älteren Menschen gestellt werden.

    Wir sind das freieste Land der Welt!

    Deshalb befürchte ich, dass wir im Modus des freien Schulbesuchs, der freien Quarantäne und des freien Sterbens verbleiben werden. Dabei wird der Mensch sogar frei sein von einer Diagnose – wir sind das freieste Land der Welt! Die Politik hat sich aus der Verantwortung gestohlen und mächtige Nebelkerzen gezündet, die das wahre Ausmaß der Epidemie verbergen. Hinzu kommt noch die normale Nachlässigkeit der Bevölkerung, und dann ist der Punkt erreicht, an dem unsere Atomisierung, unser geringes Sozialkapital, das Fehlen von Vertrauen, Disziplin und sozialer Solidarität und das Lagerprinzip „Stirb du heute und ich sterbe morgen“ zu uns zurückkommen wird wie ein Bumerang. 

    Amtszeiten, Verfassungen, Leben – alles wird annulliert

    Ja, die Epidemie wird bis zum Sommer ihre natürliche Grenze erreichen, und Merkel hat wohl Recht, dass 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung sich anstecken werden, von denen viele nicht einmal ahnen, dass sie krank sind. Doch gleichzeitig werden nicht nur die Verfassung und Putins Amtszeiten annulliert, sondern auch viele Leben, die man hätte retten können, wenn das oben Beschriebene nicht wäre. Doch wann und wer hat in dem Land der großen Errungenschaften je Menschenleben gezählt?

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  • Wer hat Angst vor Greta Thunberg?

    Wer hat Angst vor Greta Thunberg?

    Umweltstreiks sind in Russland eher eine Privatangelegenheit. Das liegt auch an den Gesetzen. So verboten die Moskauer Behörden einen Massenprotest fürs Klima, zu dem die Umweltbewegung Fridays for Future am 20. September weltweit aufgerufen hatte. Während beispielsweise in Berlin laut Polizeiangaben rund 100.000 Menschen fürs Klima auf die Straße gingen, konnte der Protest in Moskau höchstens in Form von Einzel-Pikets stattfinden.

    Und während sich die Debattenbeiträge in westlichen Blättern häuften, war Greta vor allem in sozialen Netzwerken, kaum aber in russischen Medien Thema. Bis Wladimir Putin sich Anfang Oktober auf einem Energieforum in Moskau zu der prominenten Klimaaktivistin äußerte und sagte, es sei bedauerlich, wenn jemand „Kinder und Jugendliche in seinem Interesse nutzt“.

    Große Klimaproteste gibt es in Russland nicht, die Umweltbewegung insgesamt ist eher marginal. Wohl aber gibt es lokale Umweltproteste, etwa gegen die Abholzung eines Waldes oder eine Mülldeponie vor Ort
    Auf Republic kommentiert der Politologe Sergej Medwedew das russische Verhältnis zu Natur und Umwelt sowie den Argwohn, ja Hass, den Greta Thunberg in Russland auf sich zieht – und sieht eine russische Spezifik. 

    Greta Thunberg sorgt für einen seltenen Konsens in der russischen Gesellschaft / Foto © Andreas Hellberg/Wikipedia unter CC BY-SA 4.0
    Greta Thunberg sorgt für einen seltenen Konsens in der russischen Gesellschaft / Foto © Andreas Hellberg/Wikipedia unter CC BY-SA 4.0

    Russische Verschwörungstheoretiker sind enttäuscht: Greta Thunberg hat den Friedensnobelpreis nicht bekommen. Dabei hätte er sich perfekt in die bei ihnen beliebte Theorie einer Verschwörung der Klimaforscher und Umweltaktivisten eingefügt, die alles daransetzen, die Welt zu destabilisieren, Jugendliche zu politisieren und nach der Orangenen nun eine Grüne Revolution anzuzetteln. Aber Greta Thunberg ist auch ohne Nobelpreis zu einer neuen geistigen Klammer für Russland geworden, indem sie nahezu jeden gegen sich aufgebracht und einen seltenen Konsens in der russischen Öffentlichkeit herbeigeführt hat. 

    In der Kritik an ihrer Rede beim UN-Weltklimagipfel vereinen sich die unterschiedlichsten Kräfte, angefangen bei Wladimir Putin, der erklärt, es sei „falsch, Kinder im eigenen Interesse zu nutzen“, und sei es auch für einen guten Zweck, bis hin zu aufgeklärten Liberalen, die schreiben, man solle sich erst um das eigene Land und dann um die Erderwärmung kümmern. 

    Was hat dieses Kind gesagt, dass sich das ganze Land seit Wochen nicht mehr einkriegt?

    Russland ist nicht das einzige Land, in dem sich die Gemüter über Gretas apokalyptische Predigt erhitzen, weltweit strotzen die sozialen Netzwerke vor Sarkasmus und Hasskommentaren. Doch nur bei uns scheint Greta wirklich alle Gesellschaftsschichten und politischen Strömungen gegen sich aufgebracht zu haben. Was hat dieses Kind also gesagt, dass sich ganz Russland seit Wochen nicht mehr einkriegt?

    Aber die Frage ist gar nicht, was gesagt wurde, sondern, wer etwas gesagt hat. Wie Ayman Eckford in ihrer Kolumne festgestellt hat, besteht das Problem darin, dass es sich um ein Mädchen, eine Schülerin und eine Autistin handelt. Dadurch gerät Greta ins Kreuzfeuer der vollen Bandbreite von Diskriminierungen, die für Russland typisch sind: Sexismus, Altersdiskriminierung, Ableismus (Diskriminierung von Menschen mit Behinderung) und Mentalismus (Diskriminierung von Menschen mit einer psychischen Störung). Aus diesem bunten Strauß an Triggern sticht insbesondere ihr Alter hervor – in Russlands traditionellem paternalistischen Diskurs ist ein Kind kein vollwertiges Subjekt und hat weder ein Mitsprache- noch ein Stimmrecht. 

    Politischer Generationenkonflikt

    In den Reaktionen auf Greta manifestieren sich also der politische Generationenkonflikt und die wachsende Forderung junger Menschen nach politischer Repräsentation – insbesondere bei Fragen, die sie stärker betreffen werden als die Menschen, die im vergangenen Jahrhundert geboren wurden. Denn einen Generationenkonflikt gibt es nicht nur, was Technologie, Soziologie und Anthropologie betrifft, sondern auch hinsichtlich des Wertesystems: Junge Menschen vertreten zunehmend postmaterielle Werte, Umweltschutz ist ein wesentlicher davon. In Russland ist der Generationenkonflikt zwar nicht so offenkundig wie im Westen, dennoch spüren junge Menschen immer deutlicher, dass sie von der Politik ausgeschlossen sind – daher auch das überraschende Auftauchen von „Schülerpack“ bei Nawalnys Demonstrationen im Frühling und Sommer 2017, die Protestaktionen im Sommer 2019 und die Politisierung der Moskauer Universitäten. 

    Unterminierung der Kontrollinstanzen

    Aus diesem Grund fällt auch die Reaktion der älteren Generation so scharf aus und wird oft begleitet vom Ausruf: „Warum ist die eigentlich nicht in der Schule?!“ Kurz gesagt, mit ihrem Aktivismus unterminiert Greta gleich mehrere Kontrollinstanzen der heutigen Gesellschaft: die Schule, die Universität, die Autorität von Eltern, den Expertenkult und die psychische „Norm“.

    Aber es geht natürlich nicht nur um Greta als Mensch, sondern auch um ihre umweltpolitische Botschaft. Genauer gesagt, um den globalisierungs- und kapitalismuskritischen Diskurs, der im Westen immer breitere Schichten der Gesellschaft erfasst, während er in Russland nur ein ironisches Schmunzeln hervorruft und Anlass zu provinziellen Verschwörungstheorien bietet. „Wem nutzt das?“, fragen hausbackene Analytiker, die Augen listig zusammengekniffen wie Lenin. 

    Obwohl der Klimawandel im vergangenen Jahr nach allen wissenschaftlichen Standards bewiesen wurde und keine Hypothese mehr, sondern ein wissenschaftlicher Fakt ist, halten ihn viele Russen nach wie vor für eine Verschwörung von Klimaforschern und Umweltaktivisten. 
    Überhaupt hat die Wissenschaft an Autorität eingebüßt in Russland, einem Land, wo mehr Kirchen gebaut werden als Schulen, wo in den Nachrichten das Horoskop auf einer Stufe mit dem Wetterbericht und dem Währungskurs durchgegeben wird und wo Verschwörungstheorien und der Glaube an verborgene Kräfte, die das Weltgeschehen lenken, zu einem universellen Erklärungsmodell avanciert sind. 
    Für das Massenbewusstsein steht außer Frage, dass die Welt von einem (unweigerlich bösen) Willen gesteuert wird und dass alles, was passiert, von der Erderwärmung bis hin zur Orangenen Revolution, auf einen Strippenzieher à la Soros zurückgeht. Es überrascht daher nicht, dass auch Greta zu einer „PR-Puppe von Soros“ erklärt wurde, obwohl das Bild eines Philanthropen, der sich seit 30 Jahren aktiv für die Entwicklung des Liberalismus und die Öffnung der Märkte einsetzt, nicht gerade mit Gretas kapitalismus- und globalisierungskritischer Botschaft zusammenpasst.

    In einem paranoiden Diskurs ist natürlich auch die Theorie der Erderwärmung antirussisch

    Hinzu kommt, dass alle Weltverschwörungstheorien bei uns unweigerlich eine antirussische Note haben: Russland gilt als Sand im Getriebe einer „neuen Weltordnung“ – was dieser Begriff auch immer bedeuten mag. In so einem paranoiden Diskurs ist natürlich auch die Theorie der Erderwärmung antirussisch: Weil sie den CO2-Ausstoß als Ursache benennt und auf alternative, erneuerbare Energien setzt und damit Russland seiner wesentlichen Exportgüter – Öl und Gas – beraubt und das Land vom Weltmarkt drängt. Während Greta persönlich, so die regierungsnahe Rossijskaja Gazeta, versucht die russische Jugend auf die Straßen zu bringen und zum Sturz der bestehenden Ordnung aufruft – im Grunde bereitet also auch sie den schrecklichen Maidan vor, gegen den Russland in den letzten 15 Jahren ankämpft.

    Russland ist grundsätzlich kein umweltfreundliches Land. Das liegt an der allgemeinen Unordnung und der enormen Fläche

    Allerdings geht das Problem über die Verschwörungstheorien hinaus: Russland ist grundsätzlich kein umweltbewusstes, geschweige denn ein umweltfreundliches Land. Das liegt an der allgemeinen Unordnung und der enormen Fläche – der Russe betrachtet seine Umwelt nicht als etwas, das ihm gehört, er fühlt sich nicht verantwortlich, sondern sieht sich als vorübergehenden Nutzer, während der wahre Eigentümer der Staat ist. 

    Daraus entspringen auch die Gleichgültigkeit und der Zorn im Umgang mit der Umwelt: der Vandalismus im Wald und die Brandrodungen, die zerstörerischen Ausflüge in die Natur mit Motocross-Bikes, Lagerfeuern, abgebrochenen Ästen und hinterlassenen Müllhaufen. 
    Die Umwelt gilt als etwas Äußeres, etwas Fremdes, deswegen transferiert der Russe auch alles Mögliche in die Natur: Die Couch schleppt er in den Wald, alte Reifen wirft er den Abhang herunter, Kippen schnippt er aus dem Autofenster oder leert ganze Aschenbecher an einer roten Ampel mitten auf die Straße. 
    Schon Nikolaj Berdjajew und Iwan Iljin schrieben, in Russland gebe es zu viel Raum, somit betrachte man ihn als eine grenzenlose Ressource, die „alles verkraftet“. Genauso wird übrigens auch die erneuerbare Bio-Ressource namens Bevölkerung behandelt, die man getrost für höhere Staatsziele opfert, frei nach dem Motto: „Die Weiber werden schon neue gebären“.

    Eine Marotte des reichen Westens

    Bei seinem Privateigentum (Wohnung, Datscha, Auto) legt der Mensch ein anderes Verhalten an den Tag, doch die Umwelt gilt als etwas Fremdes, das niemandem gehört: Daher kommt auch die Scheißegalhaltung sowohl zur heimischen Natur als auch zu globalen Umweltproblemen, die von unserer provinziellen Warte aus als eine Marotte des reichen Westens erscheinen. 

    Deswegen nervt Greta Thunberg auch so – die Tochter reicher Eltern, die ihr einen Törn mit der Segelyacht nach New York finanzieren. Die russische Öffentlichkeit wurmt vor allem diese unerreichbare „Yacht“. Und die Rettung des Planeten wirkt dann auch wie die Yacht und Eskapade eines verzogenen Kindes in einer überfressenen Gesellschaft in den oberen Etagen der Maslowschen Bedürfnishierarchie

    „Welcher Klimawandel?“, fragt der Durchschnittsrusse, „ich hätte lieber mal eine Gehaltserhöhung, keinen Kredit im Nacken, eine anständige Straße in die nächste Kreisstadt, effektive Terrorismusbekämpfung, keine Politgefangenen, keine Korruption und Beamtenwillkür (Zutreffendes bitte ankreuzen) – und dann können wir über die Rettung von Amur-Tigern und Eisbären reden.“ 

    Frust gegen die Welt da draußen

    In den letzten Jahren tut sich etwas, die Bürger erkennen ihr Recht auf den eigenen Lebensraum und eine saubere Umwelt: Man kämpft für Parks und Grünanlagen, gegen Mülldeponien. Aber diese Proteste sind immer nur lokal, und ich scheue mich nicht, es zu sagen: egoistisch (was sie nicht weniger wichtig macht). Die Menschen gehen nicht auf die Straße, solange niemand vor ihren Fenstern Jahrhunderte alte Bäume fällt oder eine neue Müllhalde errichtet. Diese lokalen Proteste stehen nicht im globalen Kontext, den man nur als Störfaktor sieht, als einen Medienrummel, der von „unserem“ richtigen Kampf ablenkt. 

    Alles in allem handelt es sich um ein typisches Ressentiment, einen Frust gegen die Welt da draußen und um eine Übertragung der inneren Probleme nach außen. Um die Unfähigkeit, sich in eine neue Ordnung einzufügen, in der Fliegen als unethisch gilt und Kinder, anstatt die Schulbank zu drücken, Erwachsenen die Leviten lesen. Ich sage nochmals: Das betrifft nicht nur Russland, Greta hat weltweit Millionen Menschen aufgebracht (um nicht zu sagen zu Trollen gemacht), hat die patriarchalen Stereotype auf den Kopf gestellt. Doch gerade in Russland verbindet sich das mit einem umfassenden Frust gegen die Welt, mit der postsowjetischen Identitätskrise und unserem grundsätzlichen Misstrauen gegenüber Umweltthemen. 
    Globalisierung und Globalisierungskritik, Autismus und Toleranz, Feminismus und Kinderrechte – die ganze bei uns so verhasste Losung des Liberalismus und der politischen Korrektheit verdichtet sich in einem schwedischen Mädchen mit Autismus, das zur Zielscheibe und zum Blitzableiter für das russische Ressentiment wurde. Und nun übt sich dieses Ressentiment in Ironie und Hass, ohne zu begreifen, dass es keine skandinavische Zügellosigkeit und keine Klimaverschwörung, sondern nur sich selbst entlarvt.

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  • Loveless – die verlassene Gesellschaft

    Loveless – die verlassene Gesellschaft

    Mutter und Kind in der Wohnung eines Moskauer Außenbezirks. Zwecks Verkauf wird die Wohnung von Menschen besichtigt. Der Vater kommt spät abends nach Hause. Die Eltern streiten. Eine Familie ist dabei, sich zu trennen. Und keiner will den Sohn zu sich nehmen. Alle haben Besseres zu tun. „Ich kann nicht mehr“, sagt der Sohn beim Frühstück. Dann ist er weg. Verschwunden. Andrej Swjaginzews Film Neljubow (engl. Loveless) erzählt von der Suche nach dem Jungen, einem Jungen in der Atmosphäre von Nichtliebe.

    Bei der Oscar-Verleihung am kommenden Sonntag ist der aktuelle Film des mehrfach ausgezeichneten Regisseurs Andrej Swjaginzew (Die Rückkehr, Leviathan) in der Kategorie „Bester ausländischer Film“ nominiert. Sergej Medwedew hat ihn sich für Republic angesehen – und versteht Neljubow als Diagnose für die gesamte Gesellschaft.

    Unerwünschte, verlassene Kinder sind ein Schlüsselbild für den zerfallenden Kosmos / Foto © Screenshot aus dem Trailer zum Film „Neljubow“/ YouTube
    Unerwünschte, verlassene Kinder sind ein Schlüsselbild für den zerfallenden Kosmos / Foto © Screenshot aus dem Trailer zum Film „Neljubow“/ YouTube

    Neljubow ist ein Film von Andrej Swjaginzew über ein verschwundenes Kind. Swjaginzew trifft damit einen wunden Punkt an der Schnittstelle zwischen Politik, Propaganda und kollektivem Trauma.

    Im Prinzip geht es in allen seinen Filmen auf die eine oder andere Art um das Thema verlassene Kinder. Die Rückkehr eines verlorenen Vaters zu seinen allein gelassenen Söhnen endet tragisch, im Film Die Verbannung setzt die Abtreibung eines unerwünschten Kindes eine Serie von Todesfällen in Gang, in Jelena ist der zentrale Konflikt jener zwischen Vater und Tochter, in Leviathan kommt der Sohn der Hauptfigur in eine Pflegefamilie.

    Ungeborene, unerwünschte, verlassene, entrissene Kinder sind ein Schlüsselbild und ein Symbol für den zerfallenden Kosmos, die wachsende Entropie, die moralische Katastrophe, die der Regisseur in jedem seiner Filme zeigt.   

    Schlüsselbild für den zerfallenden Kosmos

    Auch in Neljubow steht im Zentrum des Geschehens ein Kind – beziehungsweise sein Verschwinden. Im Raum des Films entsteht eine Leere, die sich ausbreitet wie ein Erdtrichter, der die Protagonisten und ihre Nächsten verschluckt – die Häuser, das Wohngebiet und den Stadtwald. Die Ästhetik der Abwesenheit – markiert durch die Spuren des verschwundenen Jungen, seine Jacke, die Vermisstenanzeigen, das Rufen der Suchtrupps im leeren Wald – steigert die Spannung, macht aus dem Familiendrama einen Psychothriller, macht die Suche nach dem Kind zu einem Leidensweg, der mehr als einmal an Stalker von Tarkowski erinnert. Die Kamera von Swjaginzews Langzeit-Kameramann Michail Kritschman verleiht einfachen Dingen schonungslose Härte und metaphysische Tiefe. Seine langen Einstellungen und matten Farben verwandeln den Moskauer Schlafbezirk in ein Totenreich, dem nur der erste Schnee vorübergehende Anmut verleiht, ihn für Sekunden in eine Bruegelsche Winterlandschaft verzaubert.

    Einen Gott gibt es hier nicht

    In diesem Raum nimmt die Entropie gemäß den Gesetzen der Thermodynamik zu: Einen Gott gibt es hier nicht (obwohl es bärtige Männer und ein pseudo-orthodoxes Büro gibt), genau so wenig wie einen Staat – der Polizeibeamte macht den Eltern sofort klar, dass man nicht nach dem Jungen suchen wird. Stattdessen taucht ein freiwilliger Such- und Rettungstrupp auf, ein direktes Zitat von Lisa Alert (die Geschichte der Retter wird insgesamt zu einem eigenen Handlungsstrang und zu dem einzigen Quell von Handlung im ganzen Film).

    Die Familien sind tot und die Schule ohnmächtig: Die Lehrerin wischt hilflos mit dem Lappen über die Tafel, lässt Kreideschlieren zurück, und draußen beginnt es langsam zu schneien. Hier gibt es nicht mal Schuldige: Alle wurden in einen lieblosen Raum hineingeboren und leben darin und reproduzieren ihn sorgfältig als einzige ihnen zugängliche Daseins- und Kommunikationsform.

    Die Leere kommt mit Macht

    Die Apotheose der Leere: ein zerstörter Kulturpalast irgendwo im Wald, der letzte Aufenthaltsort des Jungen. Das undichte Dach, Pfützen auf dem Boden, Scherben der menschlichen Zivilisation – das alles erinnert  wieder an das Zimmer und die Zone in Stalker, die für Tarkowski eine Metapher für die verwaiste, leere Seele waren.  

    Und sogar die geniale Szene im Leichenschauhaus, die in ihrer Vieldeutigkeit und Unentschiedenheit unbedingt Eingang in die Regie-Lehrbücher finden muss, ist rund um die Abwesenheit aufgebaut. Wir sehen weder Sachverhalt noch Ereignis, nur dessen Spiegelung in den Gesichtern und Reaktionen der Protagonisten.

    Doch die allerschrecklichste Leere tut sich im Epilog des Films auf, in den Augen der Protagonistin, die in einem Trainingsanzug von Bosco mit der Aufschrift RUSSIA auf dem Laufband joggt: Die Kamera versinkt gleichsam in diesem abwesenden Blick. Am einfachsten wäre es, sie als Zerrbild von Mütterchen Russland zu verstehen, das ihr eigenes Kind verloren hat und nun in der Loggia einer schicken Wohnung auf dem Laufband auf der Stelle tritt, während ihr neuer Mann geistesabwesend Nachrichten aus dem Donbass mit Dimitri Kisseljow guckt.

    Moralischer Defekt, mitten im Herzstück unserer Existenz

    Aber mit so flachen Metaphern arbeitet Swjaginzew nicht: Er entlarvt nicht, sondern stellt fest, er beschuldigt nicht, sondern stellt eine Diagnose. Er hat einen Film über eine zerbrechende Familie gedreht, und heraus kam ein Film über Russland; Kisseljow und der Donbass in den letzten Einstellungen sind kein politisches Pamphlet wie in Leviathan, sondern der Geist der Zeit, der auf dem Fernsehschirm zum Bild erstarrt ist.  

    Geht es bei Boris Godunow letztendlich um einen getöteten Jungen oder um die russische Staatsmacht? Genau so ist es bei Neljubow: Der Film deckt einen moralischen Defekt auf, einen im Stich gelassenen Jungen, mitten im Herzstück unserer Existenz. Die politischen Umstände sind jeweils nur einzelne Folgen dieser umfassenden ethischen Katastrophe.

    Das  Mistkerl-Gesetz

    Von zentraler Bedeutung ist, dass die Zeit der Handlung im Film deutlich markiert ist: Dezember 2012 (im Radio diskutiert man das Ende der Welt laut Maya-Kalender), kurz vor Verabschiedung des Dima-Jakowlew-Gesetzes, das den Spitznamen Mistkerl-Gesetz erhielt und das Dutzende kranke russische Waisenkinder, deren Adoption ins Ausland bereits kurz bevorstand, zu einem Leben im Heim, zu Krankheit und manche auch zum Tod verurteilte. Gerade in diesem Moment, der die herrschende Klasse mit dem Blut von Kindern verquickte, begann der endgültige moralische Verfall der Machthaber bei lähmender Gleichgültigkeit der Bevölkerung.

    Der Film endet 2015, im Jahr der Normalisierung, als der Schock der Krim und der Boeing vorbei war und Russland sich mit den Sanktionen abgefunden und eingesehen hat: Dieser Zustand von Regierung und Gesellschaft ist ernst und wird länger dauern. Swjaginzew dreht einen Film über eine Familie, aber die Handlung vollzieht sich unter den Bedingungen eines nie dagewesenen moralischen Verfalls.

    Und das Hauptproblem sind hier nicht Putin und Kisseljow, nicht die Krim und der Donbass und nicht mal die Korruption und Ausbeutung – das alles sind Symptome einer Krankheit, während der Regisseur von der Krankheit selbst spricht: Von einer Gesellschaft, die in Lüge, Zynismus und Misstrauen feststeckt, die die Hoffnung auf Zukunft und Veränderung verloren hat. Putin und Kisseljow gießen diese Lüge nur in die Formen von Politik und Medien, exportieren sie in die Außenwelt. 

    In der moralischen Sackgasse

    Es war absolut kein Zufall, dass 2016 im öffentlichen Diskurs Russlands das Thema Ethik aufkam: die Aktion #янебоюсьсказать (Ja ne bojus skasat – dt: „Ich habe keine Angst, es zu sagen“), der Skandal um die Schule Nr. 57, Diskussionen über häusliche Gewalt und Folter in Gefängnissen, Debatten über das historische Gedenken und die Verantwortlichkeit von Stalins Henkern (Der Fall Karagodin). Der reflektierende Teil der Gesellschaft beginnt, sich der moralischen Sackgasse bewusst zu werden, in die wir alle geraten sind, und jenes konspirativen Schweigens, das die Probleme Gewalt, Demütigung und Trauma umgibt.

    Das sind genau die Fragen, von denen Swjaginzew seit vielen Jahren spricht, mitsamt dem Problem der Stummheit, des Abreißens der Kommunikation. Unter Bedingungen, in denen es weder einen Staat mit Sozialpolitik gibt noch eine sozial verantwortliche und nahe am Menschen stehende Kirche noch eine Kultur des öffentlichen Dialogs zu Themen rund um Familie, Kindheit, Geschlechterrollen, stellen seine Filme genau die fundamentalen moralischen Fragen, über die wir lieber schweigen – oder die wir an zynische Populisten wie Milonow und Misulina verpachten. Wenn man darüber nachdenkt, ist Andrej Swjaginzew heute in Russland eigentlich der, der sich am meisten mit Klammern befasst – mit echten, nicht mit solchen, die die Propaganda sich ausdenkt, doch die Staatsmacht würde ihm diese Rolle niemals zugestehen, sondern schränkt lieber den Verleih ein und verteufelt den Film in der Presse, so wie es auch bei Leviathan war.

    Eines der durchgehenden Motive in Neljubow ist ein Absperrband. Ganz zu Beginn des Films findet es der Junge im Wald, bindet es an einen Stock und wirft es auf einen Baum. Jahre vergehen, neue Kinder werden geboren, doch das Band ist immer noch dort. Swjaginzew hat unsere Gesellschaft mit diesem Band quasi abgegrenzt, hat damit den Umkreis der humanistischen Katastrophe und des moralischen Sumpfes, in dem wir versinken, abgesteckt.

    So wie Puschkins „blutender Knabe“ kündet sein verschwundenes Kind von dem fundamentalen Verbrechen, das unserem vermeintlichen Wohlstand zugrunde liegt, von Dingen, die wir vergeblich zu vergessen versuchen. Das macht seine Filme so schonungslos, so unbequem und so absolut sehenswert.   

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  • Danila Tkachenko: Родина – Motherland

    Danila Tkachenko: Родина – Motherland

    Danila Tkachenko, geboren 1989 in Moskau, ist einer der wichtigsten russischen Fotografen seiner Generation. Seine Ausbildung machte er an der renommierten Rodchenko School of Photography and Multimedia in Moskau; schon früh gewann er internationale Preise: Escape heißt sein Projekt, für das er Einsiedler in russischen Wäldern fotografierte und 2014 mit dem World Press Photo Award ausgezeichnet wurde. 
    Seine neue Serie heißt Родина – Motherland. Sie ist wahrscheinlich seine radikalste. Tkachenko hat dafür alte Holzhäuser in Brand gesteckt. Außenrum Dunkel.
    Die Serie hat in Russland für viel Aufsehen gesorgt, und nicht nur positive Resonanz gefunden. Denkmalschützer drohen gar, den Fotografen anzuzeigen. Dabei waren die Häuser unbewohnt und verfallen. Der Politologe und Historiker Sergej Medwedew mischt sich auf Facebook in die aufgebrachte Diskussion ein. 
    In Berlin ist Danila Tkachenkos Serie Родина – Motherland noch bis zum 3. Februar 2018 in der Kehrer Galerie zu sehen.

    Fotos © Danila Tkachenko/Kehrer Galerie, Berlin
    Fotos © Danila Tkachenko/Kehrer Galerie, Berlin

    Dieser Tkachenko ist einfach genial. Seit Malewitsch hat niemand mehr so meisterhaft mit dem russischen Raum zu arbeiten vermocht. Tkachenkos Inbrandsetzung eines Dorfes ist ein enorm tiefsitzender Archetypus: von Brandrodung bis zum Brand von Moskau 1812, von Pugatschow bis Chowanski, von Nikolai Polisskis Land Art bis zu den letzten Aktionen Pjotr Pawlenskis – doch der direkte Vergleich ist für mich das Schwarze Quadrat.

    Es genügt nicht, die Leere zu erkennen, man muss sie markieren, benennen – und genau das tut Tkachenko. Es ist eine sehr drastische Aktion (und juristisch offenbar nicht lupenrein), aber sie ist nicht schmerzhafter als der langsame Tod der Dörfer, die es auf der Landkarte gar nicht mehr gibt.

    Der Sterbeprozess dauert bereits ein halbes Jahrhundert, und irgendjemand musste ihn dokumentieren – nicht als ewige Klage der Jaroslawna, von der Dorfprosa der 1960er bis zu den heutigen Rodisten und Ökodörfern, sondern in Form einer künstlerischen Geste: Das Tote tot nennen und den Teufelskreis der Nostalgie durchbrechen. Bei uns weinen sie gern aus dem Autofenster raus der russischen Welt nach (ich nehme mich da nicht aus), betrauern das verlorene Kitesh, ach was, Atlantis gar, und leben im Zustand einer unaufhörlichen Apokalypse. Tkachenko schlägt hier einen klaren postapokalyptischen Ton an: Genug geweint, wir müssen weiterleben, wie unsere Vorfahren, die Wälder niederbrannten, Steppen und Dörfer, Einsiedeleien (manchmal sich selbst gleich mit) und Gutshöfe – und weiterzogen auf das nächste Stück Land.

    Und nicht zufällig passiert das alles im Jahr des zerknitterten 100-jährigen Revolutionsjubiläums. Mitten im Zerfall des Imperiums der Kultur 2, den Auflösungserscheinungen des späten Putinismus kommt Tkachenko (wie vor ihm Pawlenski) mit der revolutionären Botschaft der Kultur 1, der Kultur des Feuers und der Selbstzerstörung, vor der die Gesellschaft instinktiv Angst hat. Bemerkenswert, wie Denkmalschützer aus Krochino die niedergebrannten Häuser kurzerhand zum „Kulturerbe“ erklärten – genauso wie die Tür der Lubjanka zum Kulturerbe erklärt wurde, weil dort Babel und Meyerhold gefoltert wurden: Anscheinend werden bei uns die Dinge genau dann zum Kulturerbe, wenn man sie anzündet.

    Fotos: Danila Tkachenko
    Text: Sergej Medwedew
    Übersetzung: Ruth Altenhofer

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