дekoder | DEKODER

Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Die Welt weiß nicht, wie sie Widerstand leisten soll gegen das Böse“

    „Die Welt weiß nicht, wie sie Widerstand leisten soll gegen das Böse“

    Für Millionen von Menschen hatte Alexej Nawalny Hoffnung verkörpert: Hoffnung auf ein „wunderbares Russland der Zukunft“, in dem Regierungen durch Wahlen abgelöst werden können, das die Würde des Einzelnen achtet und seine Nachbarn in Frieden lässt. Mit dem Tod Nawalnys ist diese Hoffnung bei vielen in ein Gefühl absoluter Hilflosigkeit umgeschlagen. 

    Schura Burtin, der als Journalist aus den Kriegsgebieten in der Ukraine berichtet hat, schreibt auf Meduza, dass Hoffnung derzeit schädlich ist. Sein aufgewühlter Kommentar hat im russischsprachigen Internet sehr starke Reaktionen hervorgerufen. Der Politologe Sergej Medwedew spricht etwa von einem „Manifest der Verzweiflung“, das vor allem emotional und nicht analytisch sei. Die Schriftstellerin Anna Starobinets dagegen sieht in Burtins Text schlicht eine „Anleitung zum Überleben“ unter den gegebenen Umständen. dekoder dokumentiert Burtins kontroverses Meinungsstück im Wortlaut auf Deutsch.

    Trauerfeier für Alexej Nawalny auf dem Moskauer Borissowskoje Friedhof am 01. März 2024 / Foto © Andrei Bok/imago-images

    Erst nach diesem Mord wurde klar, wie immens unbewusst wir davor lebten in der Hoffnung auf eine „gute“ Zukunft. Wir wollten unbedingt glauben, dass das, was da vor sich geht, ein vorübergehender Fehler ist. Ungeachtet einer inneren Stimme der Vernunft lebte in uns das nebulöse Bild einer Zukunft, die wir bevorzugen würden – und bestimmte unser Verhalten. Nawalny hat sein Leben auf dieses Bild ausgerichtet, und es dadurch quasi Realität werden lassen. Putin hat uns schlichtweg erklärt, dass es diese Zukunft nicht gibt.

    Ich denke, es ist wichtig, dass wir nicht zurückfallen in diese Illusion. Denn dieses Böse macht in der Tat mehr Angst, als wir verdauen können. Indem wir Blumen niederlegen oder ein Foto von Julia Nawalnaja posten, wird es keine solche Zukunft geben, wir beruhigen uns nur.

    Zu hoffen, dass in absehbarer Zeit in Russland etwas gut sein wird, ist gefährlich

    In dem Video Gebt nicht auf spricht Nawalny über eine Kraft in uns. Ich weiß nicht. Vielleicht hat er seine Kraft gespürt und sie auf uns alle projiziert. Ich denke, es ist wichtig, dass wir unsere Schwäche spüren. Dass wir klar sehen, dass wir keine Zukunft haben und dass wir sehr schwach sind. Dass wir sehen, wie zersplittert wir sind, wie wenig wir im Stande sind, einander zu helfen.

    Zu hoffen, dass in absehbarer Zeit in Russland etwas gut sein wird, ist gefährlich. Wir befinden uns in einem schlimmen, bösartigen Prozess, der so bald nicht zum Stillstand kommen wird. Denn Russland ist ein riesiges Land, und es strotzt nur so von Kraft.

    Ich glaube, der Mord war eine Botschaft an den Westen. Doch auch Russland hat die Botschaft vernommen. Und sie klingt hier so: „Verräter werden wir töten.“ Das hat Putin schon früher gesagt, doch als Verräter galten die, die seine Bande hintergingen. Jetzt sind es auch die Vaterlandsverräter. Dafür gibt es keine Befehle, das funktioniert anders: Auf allen Ebenen wurde jetzt klar, dass es keine Hemmungen mehr gibt. Vom Mord an Kirow bis zum Großen Terror hat es nur drei Jahre gedauert.

    Wir sitzen mit einem Psychopathen in einer Zelle, da muss man auf jeden Fall Angst haben

    Auf einer Kundgebung in Tbilissi anlässlich der Ermordung Nawalnys skandierten ein paar Mädchen: „Wir haben keine Angst!“ Ich wollte ihnen sagen: „Das solltet ihr aber.“ Wir sitzen mit einem Psychopathen in einer Zelle, da muss man auf jeden Fall Angst haben. Man muss sich ganz nüchtern bewusst werden, dass alles schlimmer wird – und nicht nur in Russland. Der Krieg wird sich aller Wahrscheinlichkeit nach ausweiten. Als ich von dem Mord hörte, dachte ich aus irgendeinem Grund sofort, dass sie jetzt in Georgien einmarschieren werden, einfach weil sie nicht aufhören können. Plötzlich wurde mir klar, dass die Litauer, Letten und Georgier, die wegen der russischen Bedrohung in Panik gerieten, völlig Recht hatten und ich nicht. Denn wir sahen es aus unserer Perspektive und subjektiv, sie aber von außen und objektiv.

    Eigentlich interessiert Putin gegenwärtig nichts außer seine Reibereien mit dem imaginierten Westen. Klar, er hat Nawalny gefürchtet und gehasst, doch in seinem Kopf trägt er im Wahn eine Auseinandersetzung mit dem Westen aus. Derzeit geht es ihm dabei blendend, an der Front läuft es bestens und in seinem Kopf sagt er zu ihnen: „Ihr Idioten glaubt also, dass es ein anderes Russland gibt und irgendeinen Nawalny? Ihr habt gehofft, mit dem werdet ihr euch dann später einigen können? Nein. Ihr werdet mit mir sprechen, kapiert?“ Für ihn ist es wichtig, dass sie ihn mal können, dass sie ihm Respekt zollen. Und er wird die Einsätze erhöhen und weiter eskalieren. Niemand kann das stoppen. Wir haben dafür keine Kraft und hatten sie im Grunde auch nie. Aber auch die Welt hat keinen Plan, wie sie Widerstand leisten soll gegen das Böse. Putins Wahn ist nur eine Manifestation des Bösen; Krieg drängt aus jeder Ritze hervor, und es kann leicht passieren, dass wir dabei draufgehen.

    Am ehesten wird sich wohl jeder einsam und allein für sich retten. Die Opposition ist verstreut und hilflos. Noch nicht einmal in Freiheit, in der Emigration versucht sie etwas gemeinsam auf die Beine zu stellen, zum Beispiel für die Interessen von Millionen aus Russland geflohener Russen einzustehen. Und mir fällt auch nichts ein, wie man das ändern könnte.

    Hoffnung auf die Zukunft – derzeit ist das schädlich. Es ist zwecklos, sich den Kopf darüber zu zerbrechen: Wir sind zu wenige, wir sind sehr, sehr schwach. Alles, was wir haben, ist das Jetzt – und uns in diesem Jetzt. Wir müssen einsehen, dass unsere Lage beschissen ist und wir nicht wissen, was wir tun sollen.

    Die Zeit ist gekommen, in den Notfall-Modus umzuschalten

    Als ich von Nawalnys Tod erfuhr, wollte ich gleich alle anrufen. Das ist erst einmal das Einzige, was mir einfiel: anderen nah zu sein. Bewusst einander nah zu sein und sich umeinander zu kümmern. Sich klarzumachen, was die Personen, die mir nahestehen, jetzt brauchen, lieber zweimal darüber nachzudenken. Ich glaube, jetzt ist die Zeit gekommen, in den Notfall-Modus umzuschalten und zu versuchen, sich anders zu verhalten. Wir sollten uns bewusst darum bemühen, Menschen zu vereinen, ganz egal wozu, und sei es einfach, um gemeinsam ein Abendessen zuzubereiten. Was jetzt zählt, ist, sich nicht zu verschließen, offen zu bleiben für Einladungen anderer, zu vertrauen.

    Als Russland die ersten Bomben auf Charkiw abwarf, zeigten die Kassiererinnen in den wenigen verbliebenen Supermärkten plötzlich eine ungewohnte Höflichkeit und Fürsorge. Sie spürten, dass es die Kunden, die bei ihnen in der Schlange standen, genau so gut hätte treffen können. So sollten auch wir handeln. Mir scheint, dass der Tod von Nawalny kein Signal ist, dass wir uns an die Schießscharten begeben sollten (wo wir uns sowieso nur die Hosen vollscheißen). Es ist eher ein Zeichen, dass wir auf unserem Weg bisher versäumt haben, etwas Wichtiges zu tun und dass wir deswegen so schwach waren. Dass wir immer so schwach sind. 

    Ich glaube nicht an wirkungsvolle Aktionen bei faschistischen Wahlen. Wobei man die Initiativen guter Leute unterstützen sollte, auch wenn sie andere Ansichten haben. Auf allerlei Zankereien sollte man bewusst Verzicht üben, das ist momentan dumm. Wir sind sehr schlecht darin, einander zu unterstützen, nicht nur in der Politik, sondern generell. Wir müssen das lernen, wenn wir nicht blöd verrecken wollen. Natürlich sind wir es gewöhnt, unser normales Leben zu leben, in dem es die Gesellschaft auf welche Art auch immer nicht zulässt, dass du draufgehst. Meines Erachtens müssen wir erkennen, dass die Situation jetzt eine andere ist.

    Ich befürchte, dass es für die meisten meiner Freunde, die nichts dergleichen tun, in den kommenden Jahren gefährlich wird, in Russland zu bleiben. Als Nawalny getötet wurde, hat mein Freund und Kollege Andrej einen verzweifelten Post geschrieben und alle, die können, aufgerufen zu fliehen. Der letzte Satz dort lautete: „Ich hatte gar nicht die Wahl, es zu wollen oder nicht zu wollen.“ Ja, Andrjucha, die wenigsten wollen es. Aber du willst es plötzlich ganz leicht, wenn dir und deinen Nächsten Gefahr droht. Es geht nicht darum, ob alle vorzeitig abhauen, sondern darum, kein Dummkopf zu sein – und den Vampiren nicht noch jemanden zum Fraß vorzuwerfen. Zu wollen ist nicht das Problem, die Frage ist bloß, wie man im Ausland leben soll. Für viele ist das sehr schwer, sie brauchen Hilfe. Darüber heißt es ernsthaft nachzudenken, solange dafür noch Zeit ist.

    Es ist schädlich auf Anführer zu setzen, das ist Selbstbetrug

    Es steht schlecht um unsere Infrastruktur, aber immerhin gibt es sie. Wir sollten uns bemühen, noch mehr den Organisationen zu helfen, die etwas tun. Egal wem, wichtig ist, sich überhaupt aktiver an gemeinsamen Sachen zu beteiligen. Und die Organisationen sollten sich nicht verschließen. Je stärker diese Infrastruktur ist, desto größer sind unsere Chancen. Es ist gut, dass Menschen wie Alexej Nawalny und Julia Nawalnaja versuchen, uns zu vereinen, aber ganz allgemein ist es schädlich, auf Anführer zu setzen, das ist Selbstbetrug. Nur eine [zivilgesellschaftliche – dek] Infrastruktur kann funktionieren.

    Solange es noch möglich ist, sollten wir Briefe an politische Häftlinge schreiben. Es ist wichtig, Kontakte mit Ukrainern wiederherzustellen. Das ist schwer, aber wir müssen es versuchen, ihnen schreiben, sie anrufen, ihnen helfen. Nach dem Mord rief mich ein nur flüchtig bekannter Kollege aus Kyjiw an, um sein Beileid auszudrücken – obwohl ich Nawalny gar nicht persönlich kannte. Er sagte, dass es in Kyjiw viel dämlichen Hate gebe, aber ihm sei es wichtig zu sagen, dass er mit uns fühlt. Und ich bin ihm unglaublich dankbar dafür. 

    Mir ist wichtig, dass ich das Gefühl des Entsetzens nicht vergesse, das im ersten Moment nach dem Mord über mich hereinbrach. Ich glaube, in diesem Moment habe ich alles ganz klar und nüchtern gesehen.

    Weitere Themen

    Totale Aufarbeitung?

    Den Teufelskreis durchbrechen

    Die Unsichtbaren

    „In jedem Haus ein Toter“

    „Die politische Gefahr wiegt schwerer als das christliche Gewissen“

    Die Leere, die Nawalny hinterlässt

  • „In jedem Haus ein Toter“

    „In jedem Haus ein Toter“

    Am 5. Oktober 2023 hat die russische Armee das Dorf Hrosa in der Oblast Charkiw angegriffen. Die Rakete traf eine Trauerfeier für einen gefallenen ukrainischen Soldaten aus dem Dorf. 59 Menschen kamen ums Leben, alle Opfer waren Zivilisten. Journalist Schura Burtin war am Ort der Tragödie und hat für Cherta eine Reportage über die Toten und Überlebenden von Hrosa geschrieben.

     
    Das ehemalige Café ist ein Haufen Schutt. / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Das ehemalige Café ist ein Haufen Schutt. / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    Frühmorgens, mein Kollege und ich gehen gerade in unser Hotel in Charkiw, da gibt es plötzlich einen lauten Knall. Dann einen zweiten, so dicht nacheinander, dass sie fast zu einem verschmelzen. Die Fensterscheiben zittern, wir stürzen nach draußen und sehen unseren Taxifahrer, der ganz benommen neben seinem Auto steht. Wir wissen noch nicht, wo es eingeschlagen hat, also unterhalten wir uns weiter mit der Dame an der Rezeption, frühstücken in Ruhe. Als wir schließlich an die Einschlagstelle kommen, ist die Straße schon mit Polizeiband abgesperrt. Wir sind mitten in Charkiw, in seiner schönen, beschaulichen Altstadt. Auf dem Bürgersteig liegen die zerborstenen Fensterscheiben der umstehenden Häuser.

    Eine ältere Frau steht umringt von Taschen auf der Straße und brabbelt vor sich hin

    Rettungskräfte räumen grad die Trümmer aus dem Loch, das die Rakete in das zweistöckige Backsteingebäude geschlagen hat. Das Gebäude und die Häuser daneben wirken ohne Fenster unbewohnt und verlassen. In Wirklichkeit wurden die Opfer bereits mit Krankenwagen weggebracht. Eine ältere Frau steht umringt von Taschen auf der Straße und brabbelt geistesabwesend vor sich hin. In den Taschen sind irgendwelche Sachen. Auf die Frage, wohin sie fahre, sagt sie schluchzend: „Nach Amerika. Sie sehen ja, hier geht es nicht. Gut, dass ich diese Tasche gekauft habe, eine gute Tasche ist das …“ Sie wird offenbar von einem Fluchtinstinkt getrieben. Wenn im Nachbarhaus eine Iskander-Rakete einschlägt, ist man nur noch Instinkt. Während wir mit ihr sprechen, ziehen die Helfer die Leiche eines zehnjährigen Kindes aus den Trümmern.

    Die zweite Rakete hat hundert Meter vom Puschkin-Park entfernt eingeschlagen. Die Autos sind schon ausgebrannt, die Opfer weggebracht, die Iskander-Splitter auf einer Plane ausgebreitet. Die Sonne der russischen Dichtung blickt von seinem Podest in einen Krater von fünf Metern Durchmesser. Von den Balkonen der umliegenden Häuser sind nurmehr Fetzen übrig, wie durch ein Wunder ist niemand ums Leben gekommen. Ein paar Dutzend Bewohner wurden im Schlaf lediglich von Glassplittern getroffen.

    Was hat das für einen Sinn, wenn sich Journalisten auf einen Berg von Leichen stürzen?

    Als mir am Vorabend ein Freund erzählte, dass in einem Dorf bei Charkiw 50 Menschen getötet wurden, wurde mir übel. Ich dachte daran, hinzufahren, aber dann fragte ich mich, wozu eigentlich. Was hat das für einen Sinn, wenn sich Journalisten wie die Aasgeier auf einen Berg von Leichen stürzen? Wenn jemand imstande ist, schockiert zu sein, dann kann er das auch ohne uns; Reportagen machen das Geschehene nur noch alltäglicher.

    Unser Fixer rast über die Autobahn – wir wollen vor den anderen Journalisten in Hrosa ankommen. Ich erinnere mich daran, wie ekelhaft man sich fühlt, wenn man jemanden mit Fragen löchert, der gerade einen nahen Menschen verloren hat. Soll man sich etwa erkundigen, was der Tote noch gestern gemacht hat? Die Soldaten beim Kontrollposten lassen uns ohne Weiteres passieren: Die Interessen des Präsidialbüros decken sich heute mit unseren.

    Als wir ankommen, sind bereits mehr Kameras als Menschen da. Der Ort ist winzig, es gibt nur drei Straßen. Grüppchen von jungen Psychologinnen in blauen Westen gehen herum und sprechen leise mit den Dorffrauen. Außerdem sieht man: Polizisten, UNO-Mitarbeiter in weißen Jeeps und ein paar Freiwilligen-Brigaden. Die Journalisten versuchen, einander nicht in die Quere zu kommen; wir scharen uns um die nächste verweinte Frau und stellen ihr ein und dieselben dummen Fragen: „Können Sie uns erzählen, was passiert ist?“, „Warum waren Sie nicht da?“, „Was denken Sie, warum die das getan haben?“ Dabei versuchen wir, uns möglichst so hinzustellen, dass wir nicht in einen fremden Bildausschnitt geraten. Was kann man einen am Boden zerstörten Menschen noch fragen, wenn man ihm aussagekräftige Details entlocken muss?

    Gestern, am Donnerstagmorgen, hatten sich Menschen hier zur Totenfeier für Andrij Kosir zusammengefunden, ein Dorfbewohner, der an der Front gefallen war. Vor den Trümmern sitzen drei alte Männer. Der eine, der am wichtigsten aussieht, hat einen schweren kantigen Kiefer und ein grobes, grimmiges Gesicht. Auf die Frage nach seinem Namen reagiert er misstrauisch: „Kolja …“ – „Und mit Nachnamen?“ – „Fomenko …“ Dann klären uns die drei über die Umstände auf.

    Es war dem Sohn wichtig, ihn in der Heimat beizusetzen, ihn würdig zu verabschieden

    „Andrij war in Polen, er war immer irgendwo zum Arbeiten. Als der Krieg ausbrach, sind er und [sein Sohn] Dennis sofort zurückgekommen und [an die Front] gegangen. Sie haben im selben Schützengraben gekämpft. Dann hat es sie erwischt – der Vater war sofort tot, er [der Sohn] hat überlebt. Er ist erwachsen, über zwanzig, hat gerade erst geheiratet. Andrij wurde in Dnipro beerdigt, sein Sohn kämpfte noch ein halbes Jahr. Als er sein Geld bekommen hat, beschloss er, den Vater herzuholen. Der Vater war also gefallen, jetzt ist auch der Sohn tot, seine Frau auch, und die Schwiegermutter, und sein Schwager Hrib auch, alle tot …“

    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    Dennis hatte den Tod seines Vaters mitangesehen. Vielleicht war es ihm deshalb so wichtig, ihn in der Heimat beizusetzen, ihn würdig zu verabschieden. Um mit der quälenden Frage abzuschließen, ob er alles getan hatte, was in seiner Macht stand. Er steckte den gesparten Kampfsold in die Feier. Die Organisation übernahm Andrijs Schwager Hrib, er kaufte ein, kümmerte sich um die Räumlichkeiten in dem Café, das seit Kriegsbeginn geschlossen war, karrte Gasflaschen heran und engagierte ein paar Frauen, die beim Kochen halfen. Die Vorbereitungen dauerten mehrere Tage, rund einhundert Gäste wurden erwartet. Offenbar sehnten sich in diesen schwierigen Zeiten viele Dorfbewohner nach einem Gefühl von Gemeinschaft, es kamen fast alle.

    „Hrib hat schon vor Wochen eingeladen“, sagt Kolja Fomenko. „Das ganze Dorf, ob Säufer oder nicht. Hrib war leitender Ingenieur hier im Büro, in der ehemaligen Kolchose. Ich hab ihn nie gemocht, diesen Schwager, er hat nie gegrüßt. Darum bin ich nicht hingegangen.“

    „Haben Sie die Explosion gehört?“

    „Was heißt gehört, ich bin plötzlich über den Boden gekugelt wie Tscheburaschka. Ich denk, was ist denn das. Ich wusste ja, dass meine Frau dort war. Ich rannte hin, aber hier lagen nur noch Leichen, Fleischfetzen, eine menschliche Leber, sowas hab ich noch nie gesehen. Die hatten da ja Gasflaschen, zum Kochen. Meine Frau wurde nicht gefunden. Das ist das Schlimmste, wenn man nicht mal was zu beerdigen hat …“ Sein grobes Gesicht wird von einem Heulkrampf verzerrt, wie bei einem kleinen Kind. Und in diesem Moment sehe ich tatsächlich das Kind in ihm, das jeder von uns ein Leben lang bleibt.

    Ich versuche, etwas über sein Leben herauszufinden. Er sagt, dass er nicht von hier stammt, sondern aus Luhansk, dass er früher einen Tanklaster gefahren ist, auch nach Russland, dann zwanzig Jahre lang Taxifahrer war (daher wohl seine grimmige Mine). Als sie in Rente gingen, beschlossen sie, in die Heimat seiner Frau zurückzukehren: „Also sind wir hergekommen, hier gibt es ja Land, man kann für sich selbst sorgen. Ich hab ein paar Schweine gehalten, meine Frau hatte den Garten, sie hat alles eingelegt, lauter Konserven, Marmelade und so, diesen ganzen Mist eben …“

    „Was hat Ihre Frau gestern gemacht?“

    „Morgens hat sie Bliny mit Quark gebraten. Ich sag zu ihr: ‚Was machst du hier für einen Wirbel?‘ Und sie: ‚Ich muss doch gleich zur Feier.‘ Also hat sie sich beeilt und ist mit den Nachbarn los. Mein Nachbar Tolik ist mit, wir wohnen Zaun an Zaun. Sie wollte mich noch überreden, aber ich hatte keine Lust. Ich kannte da keinen, warum soll ich mich da durchfüttern lassen?“

    Wladimir Kosijenko (links) und Kolja Fomenko, Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Wladimir Kosijenko (links) und Kolja Fomenko, Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    Offenbar hat diesem Mann die Tatsache das Leben gerettet, dass er sich hier immer noch wie ein Fremder fühlt.

    „Und was haben Sie vorgestern gemacht?“, bohre ich weiter.

    „Na, das Gleiche wie immer, Unkraut gejätet, Tomaten ausgerissen, Äpfel gepflückt, gegessen, ausgeruht vor der Glotze. Nach dem Mittagessen zu den Hühnern, dies und das, gerecht, Laub zusammengefegt.“

    „Und Ihre Frau?“

    „Na, auch das Gleiche wie immer: gekocht, gewaschen, geputzt.“

    „Was war sie von Beruf?“

    „Sie hat vierzig Jahre lang im Lokwerk von Luhansk geschuftet, ihre Rente verdient, jeden Groschen umgedreht. Und jetzt? Alles für’n Arsch, alles umsonst … Ich bin runter in den Keller – alles vollgestopft bis obenhin, wozu? Ich kann das doch nicht essen …“

    Kolja weint wieder. Ich versuche mir vorzustellen, wie das wohl ist für ihn, die Konserven zu sehen, die seine Frau hinterlassen hat, und beim Essen zu wissen, dass sie nie wieder etwas einmachen wird.

    Wahrscheinlich hat jemand weitergetragen, dass sie einen Soldaten beerdigen

    „Warum ist das passiert?“, fragt einer der anderen Journalisten.

    „Wahrscheinlich hat jemand weitergetragen, dass sie einen Soldaten beerdigen. Obwohl da gar keine anderen Soldaten waren.“

    Es gibt zwei Versionen. Das ist die erste, die naheliegende: Die Russen haben gehört, dass ein Militärangehöriger beigesetzt wird, und dann beschlossen, ein paar von ihnen zu töten. Die zweite Version ist, dass sie einfach auf eine Stelle gezielt haben, wo es viele Mobiltelefone gab. An ein schreckliches Versehen glaubt hier niemand. Ich habe ja erst heute Morgen mit eigenen Augen gesehen, wie die russische Armee eine Iskander-Rakete dazu benutzt, einen zehnjährigen Jungen im bunten Pyjama und seine Großmutter zu töten. Und gleich danach noch eine, um eine friedliche Straße mitten in Charkiw zu verwüsten.

    ***

    Das ehemalige Café ist ein Haufen Schutt. Ich will da nicht hin. Mein Kollege erzählt, dass unser Fixer einen Arm gefunden hat, den er uns zeigen will.

    „Das war eine Szene – schrecklich und komisch zugleich“, sagt der Kollege philosophisch. „Die Rettungskräfte sammelten die menschlichen Überreste ein und wussten nicht, wohin damit. Also legten sie alles in eine große Bratpfanne, die sie dort gefunden hatten. Und alle machten Fotos davon. Dann fiel ihnen auf, dass das ziemlich makaber aussieht, und baten: ‚Die Bilder, die sie grad gemacht haben, bitte verwenden sie die nicht. Wir legen das woanders hin, dann können Sie neue Fotos machen …‘“

    ***

    Das Gebäude, das den Trümmern des Cafés am nächsten liegt, ist das besagte Büro des Landwirtschaftsbetriebs, der ehemaligen Kolchose. Die Fenster und Türen sind bei der Explosion zerborsten, das Dach ist eingestürzt. Im Vorgarten sehe ich drei Frauen stehen, die die Ruine anstarren, als wollten sie etwas verstehen. Eine der Frauen ist Tamara. Sie ist Buchhalterin im Betrieb und hat überlebt. Ihre beiden Kolleginnen waren bei der Trauerfeier und sind tot.

    Ich und sie stehen auf unterschiedlichen Seiten des Unglücks

    „Wir waren auf der Arbeit. Ich wollte auch [zu der Feier] gehen, aber ich habe eine bettlägerige Großmutter. Ich war noch schnell bei ihr, um sie umzuziehen – und war dann spät dran“, erinnert sich Tamara.

    „Und ich hab noch die Kuh gemolken. Da fragt meine Nachbarin: ‚Was ist, Valentina, kommst du auch mit?‘ Und ich: ‚Nee, Ira, heut nicht, ich geh nicht.‘ Sie wollte unbedingt hin, das war ja ihr Kollektiv, da muss man zusammenhalten.“

    „Wir hatten eine Betriebsprüfung, ich wollte nachmittags noch was durchrechnen.“

    „Und ich sag noch zu ihr: ‚Olja, bleib doch hier und ruh dich aus!‘ Sie war immer so nervös, so verantwortungsbewusst, was soll man da sagen.“

    Plötzlich merke ich, dass die anderen beiden Frauen Mutter und Tochter sind. Die Tochter, eine füllige junge Frau, bricht in Tränen aus. Ich frage: „War jemand von Ihren Verwandten dabei?“, aber sie schüttelt den Kopf. Ich wundere mich, dass sie so bitter um fremde Menschen weint.

    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    „Die Tür geht wohl nicht mehr zu?“, fragt die ältere Frau Tamara und deutet auf das ramponierte Türschloss.

    „Nein, wir haben den halben Tag rausgeholt, was wir tragen konnten. Da ist ja die ganze Buchhaltung drin, wir sind dafür verantwortlich. Wir sammeln die Papiere ein und weinen: ‚Hrib, Hrib, was hast du nur angerichtet!‘ Einen Menschen wollten wir beerdigen und begraben jetzt das ganze Dorf. Die, die gleich tot waren, wussten zum Glück gar nicht, was da passiert. Aber die, die noch lange im Sterben lagen …“

    „Andrij ist wiedergekommen und hat alle mitgenommen …“

    Ich spüre, dass sich vor den Frauen ein Abgrund aufgetan hat. Die Todespforten haben sich geöffnet, und der zurückgekehrte Andrij Kosir hat ihre halbe Welt dorthin mitgenommen.

    Die Frauen sagen, sie hätten seit gestern nicht mehr geschlafen: „Ich habe einfach Angst zu Hause“, gesteht Tamara. „Ich fühle mich wie ein Tier in einem Käfig, ich weiß nicht, wohin mit mir. Wir werden ja immer weniger, die meisten sind in alle Himmelsrichtungen davon …“

    Deshalb kommt Tamara immer wieder zu ihrem zerstörten Büro, hält sich am Gartentor fest und starrt auf die Stelle, wo früher das Café war.

    Diese Menschen sind gestorben, ich denke, es ist wichtig, von ihnen zu erzählen

    „Wie hießen die beiden?“

    „Irina und Galina“, antwortet Tamara widerwillig.

    Ich spüre, dass sie sagen will: Was hat das jetzt noch für eine Bedeutung, wie sie hießen? Ich und sie stehen auf unterschiedlichen Seiten des Unglücks. Ich versuche, aus ihr herauszukriegen, wie die Verstorbenen gelebt, was sie gemacht haben.

    „Das waren einfach ganz normale Leute. Lebten ein ganz normales Leben. Was Buchhalterinnen eben so machen. Auf dem Feld draußen arbeiten Mechaniker, wir sammeln die Berichte ein, teilen Treibstoff zu, je nach dem, wer was braucht.“

    „Könnten Sie von einer konkreten Person erzählen?“

    „Wie, konkret? Alle lebten einfach ihr Leben. Standen am Zaun und unterhielten sich: Was gibt’s Neues, brauchst du irgendwas – so was halt. Die jungen Mädels hatten ihren Freundeskreis, wir hatten unseren. Partys gefeiert haben sie, geträumt, Reisen gemacht, fremde Länder bestaunt und uns dann davon erzählt. Auch die Besatzung haben wir friedlich durchgestanden, niemand war niemandem Feind. Und dann innerhalb einer Minute …“

    „Vielleicht könnten Sie von einer Person genauer erzählen?“

    „Twerdochleb Iryna, Chaibako Tetiana, Pantelejewa Iryna, Taran Halja, Tanja, die Frau von Andjussowytsch Mykola, ist auch dahin … Tut mir leid, ich kann das nicht.“

    „Diese Menschen sind gestorben, ich denke, es ist wichtig, von ihnen zu erzählen.“

    „Das waren einfach ganz normale Leute. Das wird sie nicht zurückbringen. Man kann nicht nur von einem konkret erzählen, man muss von allen konkret erzählen. Aber an alle zu denken, das ist schwer …“

    Offenbar versucht die Frau zu erklären, dass die Menschen nicht getrennt voneinander existieren, und das ganze verlorene Leben in fünf Minuten erzählen, das kann sie nicht.

    ***

    Wir sehen einen Mann mittleren Alters in Jogginghosen und Badelatschen. Er geht leicht wankend auf das Café zu, das es nicht mehr gibt.

    „Ich will mir mal ansehen, wie meine Frau gestorben ist“, lallt er. „Sonst nichts. Sonst einfach gar nichts. Was soll ich denn tun? Mich einfach total volllaufen lassen wie ein Russe …“, er sieht uns an, „wie ein Ukrainer – und drei Tage nicht mehr aufhören …“

    „Wie heißen Sie?“

    „Juri. Meine Frau ist tot, unser Haus ist leer. Und ich kann nichts machen! Ich weiß nicht, wie ich das aushalten soll! Ich war gerade auf der Arbeit, als mich die Jungs anriefen: ‚Hrosa hat‘s voll abgekriegt, das Café ist im Arsch.‘ Und meine Frau arbeitet dort im Büro. Ich hab sofort gespürt, das geht nicht gut aus. Als ich ankam, lag da meine Frau. Kurz dachte ich, sie ist davongekommen, ist sie aber nicht. Sie hatte ein Loch im Kopf, ihr Bauch war aufgerissen, das Bein … Ach, Jungs …“

    Der Mann umarmt meinen Kollegen und mich und weint. So stehen wir mitten auf der Straße da, zu dritt umschlungen mit einem betrunkenen Fremden. 

    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    „Ihr seid also aus Russland? Richtet diesem Putin aus, diesem Idioten, ich komm mit einer MG … Was soll ich tun? Betrink mich eben, ich hab Wodka im Haus, kommt mich besuchen.“

    Ich würde tatsächlich furchtbar gern jetzt trinken.

    „Geht nicht, sind im Dienst.“

    „Ah, ihr seid aus den USA? Richtet diesem Biden aus, diesem Idioten, er soll den Krieg beenden. Als ob wir heiß drauf wären. Also ich geh mal …“

    Der Mann geht zu dem Trümmerhaufen. Wie es aussieht, macht er seit gestern nichts anderes, als sinnlos zwischen den Ruinen und seinem leeren Zuhause hin und her zu wanken.

    ***

    Zwei Frauen stehen abseits der Bar. Eine hübsche junge Dame vom Fernsehen fragt sie:

    „Was meinen Sie, warum haben die das gemacht? Gibt es hier militärische Objekte?“

    „Das wissen wir nicht …“

    Eine von ihnen ist schüchtern, klein, ungefähr 70 Jahre alt. Auf die Frage nach ihrem Namen antwortet sie zögerlich: „Tanja … Lukaschewa.“ Bei der Trauerfeier sind ihre Tochter und ihr Schwiegersohn ums Leben gekommen. Die zweite Frau heißt Alla Sosulja, sie ist Schulbibliothekarin und um die 60. Sie erzählt mir von diesem Schwiegersohn, einem Mathematiklehrer, und was für ein guter Mensch er war. Wie er mit den Kindern wandern war und im Wald, nach Odessa fuhr und nach Swjatohirsk, was für Ausflüge er mit ihnen gemacht hat, „und die Kinder hatten ihn von Herzen gern …“.

    „Einmal ist die Katze auf seinen Schreibtisch gesprungen“, lächelt Tanja. „Er machte gerade Online-Unterricht, am Computer. Da haben die Kinder aus der zweiten Klasse alle angefangen, ihre Katzen herzuzeigen: ‚Ich hab auch eine! Ich auch …‘“ Als sie das erzählt, sieht Tanja glücklich aus, fast selig. 

    Alla sagt, ihr Mann und ihr Sohn seien im Krieg. Sie hätten den Dienst gemeinsam angetreten: Ihr Sohn wurde einberufen, ihr Mann ging mit. Solche Geschichten, wo der Vater an die Front geht, weil er den Sohn nicht alleinlassen will, höre ich oft.

    Ich frage Tanja, was sie von Beruf ist. 

    „Stukkateurin“, sagt sie stolz. „Obwohl ich eigentlich Schweißerin gelernt habe, aber in dem Beruf war ich nicht lange, sondern mein Leben lang Stukkateurin. Mein Mann ist Pflasterer und Fliesenleger, wir waren immer auf den Bahnhöfen im Einsatz. Egal wo man hinfährt – das haben wir gemacht. Meine Enkelin fragt immer: ‚Wie kann das sein, dass ihr das alles gebaut habt?‘“ Tanja lacht glücklich.

    Es wirkt, als befinde sie sich außerhalb ihres Lebens, wo das, was passiert ist, nicht real ist

    Es wirkt, als sei sie komplett aus der Situation herausgefallen, als befinde sie sich irgendwo außerhalb ihres Lebens, wo das, was passiert ist, nicht wirklich real ist. „Ich hab meine Tochter nicht tot gesehen“, sagt Tanja gedankenverloren. „Den Schwiegersohn haben sie gefunden und identifiziert, aber meine Tochter und ihre Schwiegermutter nicht. Ich kann nicht glauben, dass sie tot ist. Zu Hause liegen ihre Sachen herum, Dinge, die sie gemacht hat …“

    Tanjas Verstand kann den Tod ihrer Tochter offenbar nicht fassen. Gerade noch war sie da, und plötzlich ist sie komplett verschwunden.

    ***

    Ein Auto hält an, der Mann fragt nach Walerka. Von Walera habe ich schon gehört; er hat sechs Angehörige verloren: seinen Bruder, seine Schwester, seine Tochter, seinen Schwiegersohn und dessen Eltern.

    Der Mann nimmt uns mit zu ihm. Unterwegs erzählt er, dass heute Morgen Schewtschenkowe beschossen wurde, ein Dorf ein paar Kilometer entfernt von Hrosa. Obwohl die Front weit weg ist, fünfzig Kilometer: „Ich kam gerade aus dem Haus, als sie einschlugen, fünf Stück, Streubomben. Eine ist bei den Nachbarn auf der Pokrowskaja Straße direkt in den Hof geflogen, bei einem Ehepaar mit einer Blumenhandlung, die Frau ist verletzt.“

    Mein Schwiegersohn, der war ein echter Kracher

    Walera Kosir ist ein Mann um die 65, mit rundem Kopf, Händen wie Baggerschaufeln und, wie bei Bauern üblich, trägt er mehrere Kleidungsschichten übereinander. Er sitzt auf einer Bank vor dem Haus seiner toten Tochter und ihres toten Mannes. Als hätte er uns erwartet, beginnt er sofort aufgeregt zu erzählen und zu gestikulieren: 

    „Auf einen Schlag, meine Tochter, ihr Mann, seine Eltern, mein Bruder, meine Schwester – sechs Verwandte und die Taufpaten dazu, alle an einem Tag! Mein Schwiegersohn, Tolik Pantelejew, was der für ein Mann war! Ich sag nur eins: Wenn ich mit dem in die Stadt fahre, da grüßen ihn alle, vom Hilfsarbeiter bis zum Polizeichef. Ein einwandfreier Mensch, wenn der zum Laden kommt, um Waren zu liefern und Wodka, fangen die Jungs zu betteln an: ‚Tolja, wir verdursten.‘ Er zieht eine Flasche raus, gibt sie ihnen, geht zur Kasse und bezahlt sie: ‚Eine Flasche hab ich genommen.‘“

    Waleri und Ljubow Kosir, Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Waleri und Ljubow Kosir, Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    Walera spricht energisch und gestenreich. Er ist nüchtern, fast ungewöhnlich klar.

    „Mein Schwiegersohn, der war ein echter Kracher, hat auch den Tag der Lieferfahrer organisiert, 200 Hrywnja pro Nase hat er eingesammelt und selber 1000 draufgelegt, damit’s für alle reicht. Rund um die Uhr hat er geackert: Schweine angekauft, gekühlt, zerlegt, verkauft. Den ganzen Tag, von vier Uhr früh bis neun am Abend. 20 Schweine hat er gehalten. Sie sind nicht vom Land? Das ist schwere Arbeit, zu Silvester, zu Weihnachten – selber isst er nichts, aber die anderen versorgt er: ‚Ich mach das für die Kinder – sollen ihren Papa in guter Erinnerung behalten, dass sie nicht arbeiten mussten …‘ Wenn beim Töchterchen die Gangschaltung am Fahrrad kaputtging, da kauft er gleich am nächsten Tag eine neue. Und sein Telefon stand nicht still, ein Pfundskerl war das!“

    Waleri kann gar nicht aufhören, von seinem Schwiegersohn zu reden und zu reden. Ich habe den Eindruck, wenn er ihm ein Denkmal setzt, dann braucht er nicht über das Geschehene nachzudenken.

    „So ein schönes Paar, hoch angesehen auf dem Land wie in der Stadt. Alle nannten sie Oletschka, wirklich alle, nicht Olja und nicht Olga – das sagt doch was aus, oder? Vor einem halben Jahr hat Tolja gejammert, da war er beduselt: ‚Ich werde mal sterben, und du, schöne Olja, wirst mit nem anderen anbandeln.‘ Und sie so: ‚Nein, Tolja, sterben werden wir schön zusammen.‘ Und so ist es gekommen, in derselben Sekunde.

    Er wollte gar nicht hingehen, hatte keine Zeit. Musste mit seinem Vater nachts aufs Feld fahren, Wache schieben. Ich sag noch: ‚Geh halt nicht hin, musst ja noch fahren.‘ – ‚Ich trink ja nichts, will nur ein wenig mit den Jungs beisammen sitzen.‘ Sein Vater und ich sind zusammen groß geworden, haben als kleine Bengel unsere Schniedel verglichen. Ihr wisst ja, oft gibt es bei Schwiegereltern diese Streitereien, wessen Kind das Bessere ist oder wer spendabler ist. Wir haben alles zusammen gemacht, die Armee, dann wieder zurück, und so ist es gekommen, dass unsere Kinder geheiratet und uns Enkelchen geschenkt haben.“

    Mit seinem aufgeregten Bericht zeichnet Walera uns das Bild einer wunderbaren Familie, die jetzt nur mehr als Erinnerung existiert.

    Waleras Frau Ljuba schaut ins Leere, schüttelt den Kopf

    „Oletschka war am feinsten rausgeputzt, hatte sich die Haare gemacht. Bei uns gilt ja: Essen musst du nicht unbedingt, aber wenn du unter Leute gehst, musst du was hermachen. Nicht mal in der Stadt sind sie so angezogen wie bei uns auf dem Dorf, wenn Feiertag ist. Hrosa ist diese Art von Dorf, da wird man geboren, getauft, alle halten zusammen, klein aber fein, jeder Zaun ordentlich gestrichen. Erst die letzten zehn, fünfzehn Jahre gibt es Zuzug aus den anderen Oblasten, bis dahin war das Dorf wie fünf Finger an einer Hand. Drum sind auch alle zu der Beerdigung gekommen. Waren erst zehn Minuten drin, die meisten hatten noch nicht mal ein Gläschen, hatten grade mal das Vater Unser gebetet. Unser Kirchendiener sollte singen. Weißt du, hat Kassewitsch gesungen?“

    Waleras Frau Ljuba schaut ins Leere, schüttelt den Kopf.

    „27 Personen konnten sie noch erkennen, den Rest nicht mehr … Ich denk: Vielleicht eine Gedenktafel, ein gemeinsames Grab und ein Grabstein für alle? Na, wie sie halt wollen. Meine halben Kontakte kann ich aus dem Handy löschen, ins Jenseits gibt’s keine Verbindung. Ich wär ja auch dabei gewesen, aber ich musste zur Arbeit. Das ist schon das zweite Mal, dass mich das Schicksal rettet. Ich bin Wächter bei einer Tankerkolonne. Als unsere Gegend noch okkupiert war, habe ich mein Essen nicht mit zur Arbeit genommen, fuhr in der Mittagspause hierher, vier Kilometer. Hatte mir gerade Erbsensuppe genommen, da schlug dort eine HIMARS-Rakete ein. Dann der Anruf: ‚Von deinem Arbeitsplatz ist nichts mehr übrig.‘“

    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    Es kommen noch mehr Journalisten. Walera wiederholt seine Geschichte: „Wir waren Freunde, und dann haben unsere Kinder geheiratet“, „Wenn ich mit ihm in die Stadt fahre, hupen alle …“, „Bei meiner Tochter ging die Gangschaltung kaputt, da hat er gleich eine neue gekauft …“, „Sie waren gerade erst angekommen, noch beim ersten Glas …“ Ljuba sitzt schweigend neben ihm auf der Bank und starrt mit leerem Blick durch die Journalisten hindurch.

    „Oma und ich, wir ach egal … Wir wissen nicht, wohin mit uns, versteht ihr? Wenn es einen Ausweg gäbe …“ Walera reibt sich energisch die grauen Stoppel auf dem Kopf. „Ich weiß, es gibt keinen, ich muss da durch! Seht euch meine Hände an.“ Walera zeigt seine Handflächen her, auf einer hat er eine Narbe. „Ich hab zwanzig Jahre lang Gasflaschen geschleppt, hab in den Dörfern Flüssiggas ausgeliefert. Dann bin ich in Rente gegangen, dachte, die Kinder würden für mich da sein … Tja, wir haben keine Wahl, es geht nur noch um die Kleinen.“

    Ich merke, dass die drei Enkelkinder, die seine Obhut brauchen, für ihn eine wahre Rettung sind.

    ***

    Gegen Mittag werden die Journalisten und UNO-Mitarbeiter immer weniger, ein großer Jeep nach dem anderen rumpelt durchs Dorf Richtung Landstraße. Freiwillige verteilen von einer Ladefläche herab Hilfsgüter an die Betroffenen: Bretter, Spanplatten, Decken. Die Dorfbewohner kommen herbei und bilden eine wuselige Schlange. Viele Frauen tragen schwarze Kopftücher, drängeln, drücken, schnattern aber genauso wie alle anderen – es entsteht ein Gewusel, das nicht zur Situation passt. So eng zusammengedrängt sehen die Dorfleute hilflos und mitleiderregend aus. Wenn sie drangekommen sind und dann beim Weggehen wirken sie froh, in ihren Gummistiefeln, ein paar Gratisdecken in den Händen.  

    „Onkel Wassja! Ich hatte Sie im Geiste schon begraben …“

    „Großmutter sitzt zu Hause – drei Kinder tot, das vierte in Russland.“

    „Alinka ist jetzt auch ganz allein, vielleicht haben sie sie weggebracht. Ich wollte ihr Geld bringen, aber das Haus war zugesperrt.“

    „Ach, woher das Geld denn nehmen, und wem geben? In jedem Haus ein Toter.“

    „Halja Chodak konnte sich retten, zwischen zwei Kühlschränken. Als die Decke einbrach, war sie geschützt.“

    „Oxana kam zu sich und hatte was am Bein, am Kopf und am Kiefer. Kam zu sich und schrie immer nur ‚I! I! I ..!‘ Rief nach ihrem Igor, aber der ist tot.“

    Wir haben alle irgendwen verloren. Euch macht das neugierig, uns nicht

    „Ja, der lag da, wär er doch dort liegengeblieben, wozu ihn herbringen. Jemand hat darauf abgezielt. Die Polizei kam dann, hat die Handys kontrolliert, angeblich haben sie drei Personen mitgenommen. Vielleicht hatten die russische Nummern drauf oder was weiß ich …“

    „Die heutige Technik eben, Handykontrolle! Sie hatten sich gerade erst zu Tisch gesetzt … Als Erstes müssen die doch die kontrollieren, die nicht dort waren. Ich weiß nicht …“

    Friedhof in Hrosa. Ukrainische Flagge über Andrij Kosirs Grab. 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Friedhof in Hrosa. Ukrainische Flagge über Andrij Kosirs Grab. 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    Eine Frau mit schwarzem Kopftuch lädt mit ihren beiden Kindern Platten und Bretter auf den Anhänger eines uralten Shiguli. Ich frage sie, wen sie verloren hat, sie nennt zwei Namen, die ich mir nicht gleich merken kann. Ich bitte Sie, mir von ihnen zu erzählen, biete an, ihr dafür beim Ausladen zu helfen. Sie stimmt zu. Ich hole meinen Rucksack, aber da sehe ich den Shiguli schon wegfahren, der Alte am Steuer wirft mir einen schiefen Blick zu. Als ich ihnen entschlossen hinterher will, sehe ich an der Kreuzung drei alte Frauen auf einer Bank sitzen.

    „Lasst die Fragerei“, sagt eine, „wir haben alle irgendwen verloren. Euch macht das neugierig, uns nicht.“

    Ich gehe durchs Dorf, schaue in die Höfe. Selbst lackierte Autos stehen vor jedem dritten Haus, hinter den Zäunen blicken mir düstere Minen entgegen. Ich muss an die Reporterin von vorhin denken, die auf ihre rhetorischen Fragen brauchbare Antworten erwartete. Geh doch verfickt nochmal einfach mal durch dieses Dorf, Schnalle.

    Es fängt an zu regnen, ich setze mich zu spanischen Journalisten ins Auto und fahre mit ihnen weg. Am Abend werden alle weg sein und das Dorf sich selbst überlassen bleiben, klein, grau und menschenleer.

    ***

    Zwei Tage später meldete der SBU, der Inlandsgeheimdienst der Ukraine, er habe zwei Verdächtige ausfindig gemacht. Angeblich waren es die Mamon-Brüder, zwei Polizisten aus Schewtschenkowe, die für die Besatzer gearbeitet hatten und nach Russland gegangen waren. Aus den veröffentlichten Chats geht hervor, dass der jüngere Bruder Dmitri, gebürtig aus Hrosa, mit den Dorfbewohnern Kontakt aufgenommen und seinem Bruder dann mitgeteilt hat, dass eine Beerdigung für einen Soldaten geplant war. Wladimir, der selbst nicht im Dorf wohnte, gab die Informationen dann an die Russen weiter. Und die freuten sich, eine Ansammlung von Soldaten plattzumachen.

    „Ich hab klargestellt, dass da Zivilisten sein werden, da werden sie wohl keine Geschenke hinschicken, obwohl wahrscheinlich viele aus der ukrainischen Armee kommen werden“, schrieb Wladimir seinem Bruder. Letzterer machte sich offenbar doch ein wenig Sorgen um seine alten Nachbarn aus dem Dorf. Trotzdem gaben sie Ort und Zeitpunkt der Trauerfeier preis, und den Russen waren die Zivilisten scheißegal, sie schickten sehr wohl ihre „Geschenke“. Ich finde, dieses kleine Wörtchen sagt alles darüber, wie der Krieg die Seelen der Menschen tötet. Alle Opfer waren Zivilisten.

    Weitere Themen

    Russland und die Ukraine

    „Das unbestrafte Böse wächst“

    Die Unsichtbaren

    Bilder vom Krieg #14

    Karrieren aus dem Nichts

    Archipel Krim

  • Das Zauberding

    Das Zauberding

    Plötzlich gab es das Karussell in Moskau. Nicht irgendeins. Autor Schura Burtin ist aufgesprungen. Colta zeigt Fragmente eines durchgedrehten Sommers.
    Das Karussell war auch beim Burning Man 2019 in der Wüste Nevadas. Wann es sich in Moskau das nächste Mal dreht, erfahrt ihr hier.

    © Instagram/carouselzarya
    © Instagram/carouselzarya


    Gesehen habe ich das Karussell zum ersten Mal im Mai, obwohl ich schon lange davor von ihm gehört hatte. Siggi sagte, Sanjok und er hätten es endlich nach Moskau gebracht, zu irgendeiner Fabrik, ich könne ja kommen und ihnen helfen. Als ich ankam, war das Karussell zerlegt – die beiden Jungs hatten die Hinterachse eines Autos ausgebaut, an der eine Kurbel befestigt wurde, und da schweißten sie Metallringe dran. Von oben aus den Fenstern einer Loft-Bar sahen ihnen angeheiterte Mädchen zu. Siggi überwand seine Verlegenheit und winkte ihnen mit seiner ölverschmierten Hand zu. 

    Es dämmerte schon, als die Jungs die Kurbelwelle wieder einsetzten und die Schrauben anzogen. Im Halbdunkel holte Sanjok ein rotes Pferdchen aus der Garage, stellte es aufs Karussell und setzte sich drauf. Siggi brachte die große Kurbel in Schwung, und das Karussell begann sich zu drehen. Da war mir plötzlich alles klar – nachdem mir zwei Jahre lang verschiedene Freunde davon erzählt hatten und ich nie verstanden hatte, was auf einmal dieser Heckmeck um ein Karussell soll. Ich kletterte auch aufs Karussell, rundherum drehten sich die erleuchteten Fenster, unten schaukelte Siggis knochiges Gesicht, Sanjok lachte glücklich. Die Welt, die sich langsam um uns drehte, war bunt und verheißungsvoll. Einfach, weil Siggi die Kurbel drehte.   

    © Instagram/Carouselzarya
    © Instagram/Carouselzarya

    Es waren an die 150 Zuschauer da. Es war schon dunkel, Sanjok hatte die Girlande angeknipst. Andrej Figa, ein Petersburger Sänger, den ich noch nie gehört hatte, sang auf dem Karussell wunderschöne Lieder, zwischendurch bat er lachend um einen Richtungswechsel. Siggi und ich standen auf dem Dach der Garage und sahen, dass Sanjok ein Wunder vollbracht hatte – zu unseren Füßen wurde ein berückendes, faszinierendes, irgendwohin führendes Fest gefeiert. Die Leute wussten nicht, woher das alles kam und dass ich vor einer Stunde noch gedacht hatte, das würde alles nichts. Es war einfach schön, ihre Gefühle füllten den Raum. Dann stieg das Publikum auf das Karussell und tanzte zur Musik des DJs, der in der Mitte mit einem riesigen Sperrholz-Laptop rotierte. An der Kurbel des Karussells standen Freiwillige Schlange. „Ich glaube, ich hab noch nie was Schöneres gesehen …“, sagte mein halbwüchsiger Sohn.
    Ich dachte, wenn das Karussell elektrisch wäre, dann wäre nichts besonderes dabei: Der ganze Spaß besteht darin, dass die Leute sich gegenseitig drehen. Das ist wie eine Metapher: Hier kannst du ganz konkret, physisch spüren, dass sich ohne dich nichts bewegt. Mitten in dieser Stadt, in diesem Leben, wo alles auch ohne dich wunderbar läuft. 

    © Instagram/Carouselzarya
    © Instagram/Carouselzarya

    Am nächsten Tag hatte ich ein Mitteilungsbedürfnis. Ich schickte Nachrichten an ein Dutzend Freunde, aber hatte dasselbe Problem wie alle, die versuchten, von Sarja (dt. Abendrot) zu erzählen. Es klang so banal: In einer Toreinfahrt wird ein Karussell aufgestellt, ein Konzert findet statt, dann wird getrunken und getanzt. Ich wusste nicht, wie ich die Freude rüberbringen konnte, die ich erlebt hatte. Wenn man es sich überlegte, war auch der rotierende Mechanismus aus Metall banal. Ich rief Siggi an. 

    „Du blickst in die Welt und siehst sie als flaches Bild. Doch auf dem Karussell siehst du sie plötzlich dreidimensional“

    Siggi, dreht die Kurbel des Karussells:
    „Ich weiß auch nicht, wie man das in Worte fassen kann. Ich erinnere mich gut an den Moment, als ich es zum ersten Mal gesehen habe. Shenja Sergijenko hatte mir ein Ohr abgekaut, dass ich unbedingt hinfahren und es mir anschauen muss. So, wie er es beschrieb, hatten irgendwelche Hippies, mit denen ich ästhetisch nicht viel anfangen kann, irgendein Faschingsdingsbums gebaut. Was geht mich das an? Ich wimmelte ihn immer wieder ab, aber dann hat er mich rumgekriegt. Und dann noch dieses graue, fade Moskau, dieser Halbregen, und ich musste bis nach Tschuchlinka hinaus, und es war spät und ich war schlapp und ich fuhr, schimpfte schrecklich in mich hinein, dass ich nachgegeben hatte, und ich musste lang auf den Bus warten und hasste schon alles, dann verirrte ich mich auch noch in dieser Industriezone. Da stieß ich plötzlich hinter einer Ecke auf das Karussell und dachte: „Meine Fresse.” Weil es mit der Wirklichkeit nichts zu tun hatte, als würde es Zeit und Raum aufbrechen. Weißt du, du blickst in die Welt und siehst sie als flaches Bild. Doch auf dem Karussell siehst du sie plötzlich dreidimensional. Nur kannst du kleiner Depp dir mit deinem zweidimensionalen Bewusstsein nicht erklären, was da los ist – aber du spürst es.“ 

    „Das Karussell ist eben auch eine Insel des romantischen Kommunismus“

    Sanjok, Erfinder des Karussells:
    „In Lipezk gab es im Park ein Kino, das Sarja hieß, so eines aus der Sowjetzeit. Meine Eltern erzählten mir, wie sie da in ihrer Jugend hingingen, und ich war später mit Mama oft dort. Dahinter hat man einen wunderbaren Ausblick auf einen Bruch in der Landschaft, weil dort die mittelrussische Platte in die Oka-Don-Ebene übergeht. Der Himmel ist unendlich, der Horizont phänomenal. 
    Na, und das Karussell Sarja ist eben auch eine Insel des romantischen Kommunismus. Das Ding steht und läuft gratis. Ich bin auf die moderne Welt nicht wirklich vorbereitet, das ist einfach nicht meins. Mich zieht es immer eher in die Vergangenheit, mit mehr Analogem, mehr Kontakt, ohne Internet, Artificial Intelligence und alldem, was sich in der Welt so tut. Ich mag gern rostiges Eisen.   
    Außerdem ist mir sehr wichtig, dass es hier um Kindheit geht, um ursprüngliche Erfahrungen, Unmittelbarkeit, Artistik, kindliche Phantasie.
    Ich kann das nicht konkret formulieren. Für die ästhetischen Grundlagen ist bei uns Jurka zuständig, frag ihn.“    

    „Es ist ein gemeinnütziges Projekt, ich bekomme nichts dafür“

    Jura, DJ:
    „Ich lege auf, was sich in den letzten 30 Jahren angesammelt hat. Experimentelle elektronische Musik gab es in den 1990ern und 2000ern massenhaft, in der Zeit habe ich viel aufgestöbert. Nach 2010 dann weniger, weil ich zwei Abschlüsse hatte, Arbeit, Privatleben … Aus den 2010er Jahren hab ich leider nicht so viel Mucke, obwohl ich ab 2013 wieder mehr gesucht habe. Es ist schön, was komplett Neues zu finden, das mit nichts und niemandem in Verbindung steht.     
    Das Karussell ist ein gemeinnütziges Projekt, ich bekomme nichts dafür und nehme es längst als selbstverständlich hin. Was einem taugt, das muss man auch machen – was es kostet, ist eine andere Frage. 

    Ich frage Jura, ob er zur nächsten Party kommt.

    „Nein, ich werde da ja nicht auflegen, und meine ganze Freizeit brauche ich, um Musik aufzustöbern. Die Ausbeute ist derzeit sehr gering. Letztes Wochenende hab ich 20 Gigabyte gehört, aber nur 15 Tracks gefunden. 15 Tracks nach drei Tagen pausenlosem Hören“, seufzt Jura.
      
    Erst bei diesem Satz merke ich, was für ein völlig abgespaceter Nerd er ist.  

    Aufruf zum Hutwettbewerb und etwas Inspiration dafür auf Instagram © Instagram/Carouselzarya
    Aufruf zum Hutwettbewerb und etwas Inspiration dafür auf Instagram © Instagram/Carouselzarya

    „Ich habe zu tanzen begonnen. Vor dem Karussell habe ich nie getanzt“

    Olelis:
    „Ich hasse das Wort Publikum. Und wollte schon lange davon weg. Das Karussell weicht die Grenzen auf. Durch das Drehen kann man sich auf jeden Moment einlassen – den Musiker auf dem Karussell sorgsam, feierlich und sanft drehen. Das erzeugt geradezu einen ehrfürchtigen Schauer des Einbezogenseins. Wenn ich die Musiker drehe, fühle ich mich auf wertvolle Weise an dem Prozess beteiligt, möchte im Einklang mit der Musik kurbeln.
    Der sichtbarste Effekt: Ich habe zu tanzen begonnen. Vor dem Karussell habe ich nie getanzt. Und dann bin ich auf der Bessonniza plötzlich zu einem Lieblingstrack abgehoben – und hab gecheckt, wie das geht, mit dem ganzen Körper, ohne darauf zu achten, wie man aussieht, ob man es kann oder nicht. Es ist eine Art Trance, der Körper bewegt sich von selbst.           

    Die Miete zahlt Sanjok aus eigener Tasche – wobei er sehr auf Unterstützung von Freunden hofft. Wenn zum Beispiel jeder, der bei der Eröffnung war, einmal im Monat fünfhundert Rubel [ca. 6 Euro – dek] beisteuern würde, dann würde das Geld für die Miete und die Künstlerhonorare reichen. Und wir hätten den ganzen Sommer lang dieses Zauberding. Von Gewinn kann sowieso keine Rede sein.“

    Flugblatt-Marketing © Instagram/Carouselzarya
    Flugblatt-Marketing © Instagram/Carouselzarya

    „Das Moskauer Meer“

    „Ich muss zugeben“, schreibt Siggi, „dass wir gar nicht darauf aus sind, noch eine Konzertbühne in Moskau mit Veranstaltungen, Partys, Facebook-Events und Presseaussendungen zu machen. Wir sind für mehr gedruckte Plakate auf grobem Papier, mehr echte menschliche Stimmen, für Mundpropaganda und einfach Zufälle.

    Als Kind träumte ich davon, dass in Moskau ein Meer gebaut würde. Dann wurde ich größer und verstand, dass es hier nie ein Meer geben wird. Aber ein Karussell ist möglich – ein Stückchen romantischer Kommunismus auf einem kleinen Flecken Asphalt. Genau so muss man es sehen.“

    © Instagram/Carouselzarya
    © Instagram/Carouselzarya

    Weitere Themen

    Russische Rockmusik

    Auf die Ohren: die russische Musikwelt

    „Russland ist ein einziges großes Meme“

    Shortparis – die Band, die immer dagegen sein wird

  • Clockwork Mandarin

    Clockwork Mandarin

    Im September 2013 hat der chinesische Staatspräsident Xi Jinping seinen Plan für die Neue Seidenstraße vorgestellt: Das Megaprojekt One Belt, One Road soll eines Tages nahezu ganz Eurasien sowie Ostafrika verbinden. 

    Es war kein Zufall, dass Xi die kasachische Hauptstadt Astana (seit März 2019 Nur-Sultan) für die feierliche Präsentation wählte: Der Hauptzweig der Neuen Seidenstraße soll durch Kasachstan verlaufen, außerdem leben in der chinesischen Grenzregion Xinjiang neben Uiguren auch etwa 1,5 Millionen ethnische Kasachen.

    Seit Jahren sickern aus Xinjiang Gerüchte durch, die viele an Orwells 1984 erinnern: Totale Überwachung, Verfolgung von Minderheiten, Folter und Umerziehungslager, in denen mehr als eine Million Menschen interniert sein sollen. Ein Territorium von der dreifachen Größe Frankreichs, „verwandelt in ein Gefängnis unter freiem Himmel“. Das schreiben die russischen Journalisten Konstantin Salomatin und Schura Burtin. Für Russki Reporter haben sie in Almaty mit kasachischen Flüchtlingen und einem russischen Wissenschaftler gesprochen: darüber, warum Kasachen in Lager geworfen werden und weshalb Kasachstan und andere Länder zu der entsetzlichen Tragödie von Xinjiang schweigen. 

    Foto © Konstantin Salomatin
    Foto © Konstantin Salomatin

    „Adem jok“

    Im Jahre 1915 wurde der deutsche Offizier Armin Wegner, der die Eisenbahnlinie nach Bagdad bewachen sollte, Zeuge von Szenen der Vernichtung der armenischen Zivilbevölkerung. Er sah die Konzentrationslager in der Wüste, zehntausende Frauen und Kinder, die unter der Aufsicht türkischer Soldaten an Hunger und Durst verendeten. Wegner begann, Informationen, Zeugnisse und Dokumente zu sammeln und das Geschehen zu fotografieren. Die Aufnahmen übergab er an seine Befehlshaber. Man konfiszierte und zerstörte sie. Wegner selbst wurde verhaftet und nach Deutschland zurückgeschickt. Dennoch gelang es ihm, die Negative unter seinem Gürtel zu schmuggeln. Wegner begann die Aufnahmen in alle Welt zu versenden und die Katastrophe, die sich im Osten der Türkei vollzog, publik zu machen. Er schrieb sogar einen Brief an den amerikanischen Präsidenten Wilson. Aber wer sollte glauben, dass eine Regierung einfach so Millionen der eigenen Bürger ermordet?

    Im Jahre 1942 drang der polnische Partisan Jan Karski als deutscher Soldat verkleidet in das Warschauer Ghetto und das Konzentrationslager Belzec ein. Daraufhin entsandte ihn die Armija Krajowa mit einem Vortrag und Mikrofilm für die Regierungen Großbritanniens und der USA nach London. Karski sollte dem Westen über die Vernichtungslager der Nazis berichten. Er versuchte Politiker, Beamte und Journalisten zu treffen, um ihnen von der allumfassenden Vernichtung der Juden Osteuropas zu erzählen. Aber niemand glaubte ihm, selbst die Juden nicht, denn was er erzählte, war schlicht unglaublich. In Amerika wurde Karski von Präsident Roosevelt empfangen. Nach dem Vortrag soll dieser gefragt haben: „Und wie steht es um die Pferde in Polen?“

    Im September 2017 kehrte der Linguist Shenja Bunin aus Zentralchina nach Hause zurück, nach Xinjiang, um die Arbeit an seinem Buch über die uigurische Sprache fortzusetzen.  

    Uigurische Stadtteile in Kaxgar, September 2007. Eine Welt, die es so nicht mehr gibt / Foto © Konstantin Salomatin
    Uigurische Stadtteile in Kaxgar, September 2007. Eine Welt, die es so nicht mehr gibt / Foto © Konstantin Salomatin

    Das erste, was er bemerkte, waren die vielen geschlossenen Läden und Geschäfte. Überall leere Flächen. Den Verbliebenen hatte man aufgetragen, ihre Türen mit Eisengittern zu verbarrikadieren. Man musste nun zuerst klingeln, bevor man eintreten konnte. Auf den Straßen fuhren Polizeiwagen mit Sirenen Streife und überall war Stacheldraht: vor Schulen, Kindergärten, Krankenhäusern und Tankstellen. Die Stadt war versiegelt, alle 300 Meter eine Straßensperre mit Betonbuden, Draht, einem Haufen Polizisten, Soldaten und überall lange Schlangen von Uiguren. Man kontrollierte alles: ihre Papiere, Taschen, Telefone. Schon um lediglich auf den Markt zu gelangen, mussten jetzt ein Metalldetektor und zwei Checkpoints passiert werden. 

    „Chinesen und Ausländer liefen entspannt ohne Kontrollen durch, das sah verrückt aus“, sagt Bunin. „Den Uiguren und Kasachen nahmen sie die Pässe weg und schickten sie zu Meldestellen. Vielen hat man verboten, ihren Bezirk zu verlassen.“

    „Plötzlich verschwanden Menschen. Wohin weiß niemand. Es kann sein, dass sie einen einfach nur in sein Heimatdorf zurückgeschickt haben, vielleicht aber auch in ein Konzentrationslager. Beim Schlendern durch die Stadt sah ich immer wieder mir bekannte geschlossene Läden. Wenn ich fragte, wohin die Person verschwunden war, antworteten die Nachbarn aus Angst entweder gar nicht, oder sie sagten einfach „jok“ (dt. „weg“). ‚Dieser Mensch ist ‚jok‘, verstehst du, was ich meine?‘, sagte mir ein Bekannter über einen anderen. ‚Der hat jetzt ein anderes Haus.‘
    Manchmal sagten sie: ‚Er ist zum Studieren weggegangen.‘ Das wurde zu einem gängigen Euphemismus. Ein Koch sagte in einem Kaffee zu Shenja, dass in den Dörfern Süd-Xinjiangs beinahe niemand mehr verblieben war: ‚Adem jok.‘

    Friseure in Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin
    Friseure in Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin

    Atashjurt

    Almaty ist eine nette Stadt mit sowjetischer Architektur aus der Periode des Brutalismus. Sie befindet sich in einer Kluft zwischen den Bergen. Wer hochsteigt, kann Wasserfälle und Canyons besichtigen. Und wer hinabsteigt, hat hundert Kilometer Wüste und Sanddünen vor sich. Es ist die europäischste Stadt Zentralasiens mit Russisch als meistgesprochener Sprache, akzentfrei. Die Menschen stammen aus der Mittelschicht, sind sehr offen und entgegenkommend. 

    Ich habe den Anstecker meines Mikrofons kaputt gemacht. In einem Einkaufszentrum habe ich einen Ersatz gefunden, aber sie nehmen hier keine Karte. Ich hatte nur 500 Tenge in der Tasche. Neben mir stehen ein paar Kasachen, ein Typ und ein Mädchen: „Hier, kommen Sie, nehmen Sie die dreihundert. Es ist nicht viel, aber trotzdem.“ 

    Wir laufen sofort ins Büro von Atashjurt, einer Organisation, die Flüchtlingen aus Xinjiang hilft. Wir dachten, dass wir uns schnell mit Serikshan Bilasch bekannt machen und dann sofort ins Hotel weiterfahren, um uns vom Flug auszuruhen. Aber wie sich herausstellt, erwartet man uns. Zwei Zimmer prallvoll mit Menschen. An den Wänden hunderte Fotos ihrer in den Lagern verschwundenen Verwandten. Viele sind extra aus ihren Dörfern und aus anderen Städten hergekommen, um uns Interviews zu geben. Vier Dutzend Menschen. Mir wird klar, dass man uns als Geiseln genommen hat und erst wieder entlässt, wenn wir mit allen geredet haben. 

    Wir reden, und reden, und reden – bis es dunkel ist. Wir haben schon lange aufgehört etwas zu verstehen, verlassen uns nunmehr nur noch auf unsere Kameras. Wir notieren Namen, sagen Ja und Amen und nicken mit den Köpfen. Die Gesichter sind längst zu einer grauen Masse verschmolzen. Alles, was sie erzählen, passt überhaupt nicht zu ihrer Erscheinung. Die Mehrheit sind hundertprozentige Bauern, für die Politik ungefährlich und unnütz. Das letzte, was einem in den Sinn käme, wäre, sie mit Repressionen zu überziehen. Aber wir hören immer und immer wieder diesen unfassbaren, das Blut in den Adern gefrierenlassenden Wahnsinn:

    Im Büro von Atashjurt, November 2018 / Foto © Konstantin Salomatin
    Im Büro von Atashjurt, November 2018 / Foto © Konstantin Salomatin

    „Sie haben mich sofort in den Keller geworfen. Dort gibt es eine Kammer, die in acht Zellen unterteilt ist. In der Zelle gibt es einen kleinen Schemel und über dem Kopf eine Lampe. Du sitzt da, und einmal am Tag rufen sie dich zum Verhör. Ich war acht Tage dort.“

    „Sie haben mich in einer unangenehmen Pose an einen Stuhl gefesselt und mich zwei Tage lang verhört. Irgendwann habe ich einfach abgeschaltet und bin eingeschlafen. Plötzlich weckt mich ein Adhan (muslimischer Gebetsruf). Die Polizisten hatten ihn auf ihrem Telefon eingeschaltet. Ich bin zusammengezuckt, sie lachen. ‚Ein Muslim …‘ Und so haben sie mich ins Lager geschickt wie einen Wahhabiten.“

    „Jede Nacht hörte ich, wie jemand in seiner Zelle weinte.“

    „Wenn irgendjemand aus Gewohnheit sagt „Salam Aleikum!“ oder „Al-hamdu li-lah!“, wird er bestraft. Sie schlagen ihn mit Elektroschockern, fesseln ihn, nehmen ihm für Tage das Essen weg und so weiter.“

    „Nach drei Monaten habe ich es nicht mehr ausgehalten und meinen Kopf mit Anlauf gegen die Wand gedonnert. Ich wollte mich umbringen. Ich verlor das Bewusstsein. Als ich zu mir kam, haben sie mir gesagt: ‚Machst du das noch einmal, sitzt du für sieben Jahre.‘“

    Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin
    Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin

    Die Organisation Atashjurt wurde noch vor den Repressionen gegründet. Sie riefen die Kasachen dazu auf, nach Kasachstan zu ziehen, und halfen ihnen beim Erwerb von Boden. Es gelang ihnen, sechzig Familien herauszuholen, bevor die Grenze dicht gemacht wurde. Trotzdem ist es keine richtige Menschenrechtsorganisation mit bezahlten Mitarbeitern, sondern eher eine Freiwilligentruppe. Aber sie haben unheimlich viel getan, konnten Leute zusammentrommeln und sie westlichen Journalisten vorstellen. 

    Es ist sofort klar, dass alle Stränge hier bei Serikshan Bilasch zusammenlaufen, ihrem charismatischen Anführer. Er ist witzig, energiegeladen und trifft sich zu jeder Tages- und Nachtzeit mit irgendwelchen Leuten. Er hat viel Geld gesammelt, tausende Dollar, und sie unter den Flüchtlingen verteilt. Dem einen für Medikamente, dem anderen für Lebensmittel und wieder anderen für die Miete. Die Geldquelle ist mittlerweile versiegt. Kasachische Geschäftsleute haben Angst zu spenden. 

    Seine Frau ist sehr jung, eine Einheimische in engen Jeans und Hidschab. Wir unterhalten uns ganze zwei Wochen auf Englisch, bis sie versteht, dass ich Russe bin.

    „Ihre Muttersprache ist Russisch? Ach, meine auch.“

    Serikshan selbst ist kein Muslim, er geht nicht beten. Er sagt: „Schreib nicht, dass wir Muslime sind. Wir sind normale Leute. Man terrorisiert uns dafür, dass wir Kasachen sind.“

    Gefängnisse und Lager gibt es in Xinjiang hunderte, und jedes hat seine ihm eigenen Spezifika. In manchen fesseln sie die Beschuldigten tagelang an den Tigerstuhl, woanders werfen sie einen in eine Zelle, in der man nur sitzen kann. Anderswo wird man in einer unbequemen Haltung an den Boden gekettet, oder in einer Wanne versenkt, und wieder woanders binden sie einen mit den Händen so an die Wand, dass man nur noch auf Zehenspitzen stehen kann, oder sie packen einen direkt auf die Folterbank. Es gibt eine ungezählte Vielfalt an Varianten. Nichtsdestotrotz ist dies ein System, das auf einem allgemeinen Plan basiert. Die Mehrheit der Menschen in den Lagern sind Bauern, deren Vergehen darin besteht, dass sie keine Chinesen sind. Sie unterliegen vergleichsweise einfachen Sicherheitsmaßnahmen. Die zweite Gruppe sind Verdächtige, auf deren Handy eine App fehlte; die ohne Erlaubnis ihren Stadtteil verlassen hatten und so weiter. Über sie wurde eine erhöhte Sicherheitsstufe verhängt. Die dritte Gruppe, die unter den härtesten Bedingungen inhaftiert ist, sind Gläubige. Sie sind zu langen Haftstrafen verurteilt, bis zu 30 Jahren. Die Imame sind härterer Verfolgung ausgesetzt als alle anderen. Sie erhalten die höchsten Haftstrafen. 

    Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin
    Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin

    „Wir sind der Reihe nach vor die Klasse getreten und haben gebrüllt: ‚Ich habe an das Falsche geglaubt! Ich habe die Gefährlichkeit der Religion nicht verstanden! Ich habe nicht verstanden, dass die Kasachen ein rückständiges Volk sind! Ich habe nicht verstanden, dass die Kommunistische Partei uns befreit hat! Ich habe chinesisches Gesetz gebrochen! Jetzt verstehe ich! Ich danke der Kommunistischen Partei!‘ Dann mussten wir uns gegenseitig kritisieren.“

    „Ich bin schuldig, weil ich die Gefahr der Religion nicht erkannt habe! Ich bin schuldig, weil ich einen Hidschab trug! Ich bin schuldig, weil ich gebetet habe! Ich bin schuldig, weil ich den Koran gelesen habe! Ich bin schuldig, weil ich meinen Kindern muslimische Namen gegeben habe! Ich bin der Kommunistischen Partei dankbar dafür, dass sie mich belehrt!“

    „Vor dem Essen schrien wir: ‚Danke Partei! Danke Heimat! Danke Xi Jinping!‘“

    „Wir mussten schreien: ‚Wir stehen in der unbezahlbaren Schuld des Staates und der Partei!‘“

    „Tausende Male schrien wir: ‚Wir sind gegen Extremismus! Wir sind gegen Separatismus! Wir sind gegen Terrorismus!‘“

    „Hältst du dich an die Gesetze Chinas oder an die Sharia?“
    „An die chinesischen Gesetze!“
    „Verstehst du, dass Religion gefährlich ist?“
    „Ich verstehe, dass Religion gefährlich ist!“

    Am nächsten Morgen wählen wir diejenigen aus, mit denen wir uns genauer unterhalten wollen.

    Fotos von Gefängnis- und Lagerinsassen an der Wand im Atashjurt-Büro, März 2019 / Foto ©
    Konstantin Salomatin

    Yrgady

    Yrgady ist ein kleiner Mann um die fünfzig aus Taldyqorghan. Offenbar hat er für das Interview seinen besten Anzug angezogen. Ein komisches Festtagssakko, wie bei einer Hochzeit, ein mehrfarbiges Hemd mit langem Kragen, spitze Schuhe. Ich fotografiere ihn und weiß, dass ich das Portrait nicht benutzen kann. Er sieht aus wie ein Drogendealer oder Zuhälter aus einer mexikanischen Serie. Yrgady ist der einzige gläubige Muslim unter meinen Gesprächspartnern. Er betet stündlich und geht freitags in die Moschee. Die meisten der hier Ansässigen sind nicht nur nicht religiös. Serikshan beschwert sich berechtigterweise sogar: „Warum schreibt ihr, dass wir Muslime sind? Wir sind normale, moderne Menschen. Man verfolgt uns aufgrund unserer Nationalität.“

    „Ich habe als Straßenhändler gearbeitet, Sachen in China ge- und bei uns auf dem Markt verkauft. Im November 2017 fuhr ich, wie üblich, nach Korgas, und wurde schon an der Grenze verhaftet. Für die Einreise nach Kasachstan. Es befindet sich auf der Liste der Länder, in die die Einreise für Bewohner von Xinjiang verboten ist. Und das, obwohl ich schon lange in Kasachstan lebe. Man hat mich die ganze Nacht verhört und mich mit einem Eisenstab geschlagen. Auf meinem Telefon fanden sie einen Haufen verbotenes Zeug – Whatsapp, ein Foto meiner Frau im Hidschab und in meinem Verlauf die Website von Radio Asatlyk (der kasachische Dienst von Radio Svoboda). Für jede dieser Sachen werfen sie einen in China in den Knast.

    Zwei Wochen lang hielten sie mich in Ketten. Egal, was wir machten, ob wir schliefen, irgendwo hingingen, oder saßen, wir trugen immer Ketten, die ganze Woche. Aber ich hatte noch Glück, denn da gab es einen, der schon ein Jahr lang Ketten trug. Zweimal täglich zogen sie mir einen schwarzen Sack über den Kopf und führten mich zum Verhör: Was machst du? Warum bist du hergekommen? Einmal am Tag bekamen wir etwas zu essen. Ein Mantou (ein Stück gedämpfter Reisteig ohne Fleisch) und eine Flasche Wasser. Alles, wovon ich träumte, war wenigstens noch ein Stückchen von diesen Mantou. Sie quälten uns mit Hunger, damit wir Geständnisse machten. Nach zwei Wochen schickten sie uns ins Lager. Vor dem Lager gaben sie mir eine Spritze in die rechte Schulter, angeblich eine Impfung. Die Stelle schmerzt bis heute.

    Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin
    Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin

    In unserem Lager waren 10.000 Menschen. Allein im Bezirk Korgas gibt es drei solcher Lager. Das Lager ist in vier Zonen unterteilt. Ich war in der schlimmsten, sie war für die Gläubigen. Dort saßen ‚religiöse Extremisten‘. Viele waren zu zehn Jahren verurteilt, einer sogar zu 30. Sie wussten nicht, dass ich früher ein Imam war. Wenn sie das gewusst hätten, hätten sie mich niemals rausgelassen. Die hätten mich im Gefängnis verfaulen lassen. 

    Die Zellen sind rund zehn Meter lang und sehr eng. In jeder sitzen 18 Menschen, zwei Menschen pro Bett. Man schläft zwei Stunden, dann folgen zwei Stunden Wache, bei der man auf einem Stuhl sitzt, dann kann man sich wieder hinlegen. Tagsüber saßen wir 12 bis 14 Stunden lang auf Plastikstühlen. Bewegen durfte man sich nur mit Erlaubnis des Aufpassers. Überall sind Kameras. Auf die Toilette hat man uns in Gruppen gebracht – zwei Minuten für Klein, drei für Groß. Wer zu lange gebraucht hat, wurde mit kaltem Wasser übergossen oder mit Schockern traktiert. Von den Schlägen und der Folter starben viele Menschen. Die Chinesen haben sie sofort beerdigt und notiert, dass die Person an irgendeiner Krankheit gestorben ist.“

    „Haben Sie dort gebetet?“, frage ich den ehemaligen Mullah.

    „Das war völlig unmöglich. Jede Ecke war videoüberwacht. Im Lager gab es Muslime, die versuchten fünf Mal am Tag heimlich zu beten. Aber man kassierte sie ein, schlug und verurteilte sie. Jeden Freitag haben sie uns im Hof aufgestellt und uns diese Häftlinge vorgeführt: ‚Wer betet, sitzt zehn Jahre.‘

    Tief in meinem Herzen habe ich natürlich gebetet und geweint. Ich habe nie geglaubt, dass Allah mich verlassen hat. Jeden Abend vor dem Schlafen habe ich es wiederholt: ‚Herr, bitte, hilf mir das hier durchzustehen. Bitte, rette die Kasachen vor China.‘

    Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin
    Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin

    Als man mich ins Lager schickte, fing mein Vater in China an, die Institutionen abzuklappern und um Hilfe für mich zu bitten. Dafür haben sie ihn selbst verhaftet, er saß ein halbes Jahr im Gefängnis. Ich träumte davon, mich wenigstens irgendwie mit den Verwandten in Kasachstan in Verbindung zu setzen. Damit sie wüssten, wo ich bin, und versuchen würden, irgendwas zu tun. Ich konnte mich lange Zeit nicht dazu aufraffen, etwas zu unternehmen, ich war zu stark eingeschüchtert. Aber nach einem halben Jahr ist es mir dann gelungen: Ich riss ein Stück Stoff aus meinem Häftlingskittel, notierte darauf eine Nachricht und rollte es zusammen. Einer, der freigelassen werden sollte, nähte sie sich in die Kleidung. Dann fotografierte er die Nachricht und schickte sie meiner Frau. 

    Im Dezember 2018 kam dann irgendeine Führungspersönlichkeit ins Lager. Man hat mich zu ihm gerufen und mir gesagt, dass ich freigelassen werde, weil meine Familie noch in Kasachstan lebe. Sie warnten mich, niemandem irgendetwas zu sagen. Ich erfuhr später, dass meine Frau viel Lärm für mich gemacht hatte. Aber als ich nach Korgas kam, von dort die Grenze überquerte, da habe ich plötzlich bemerkt, dass ich meine Muttersprache vergessen habe. Ich konnte mich nicht mehr erinnern, wie man kasachisch spricht. Ich erinnerte mich fast an nichts – an all das, was ich euch jetzt erzähle. Mittlerweile kehrt meine Erinnerung wieder zurück, aber bis heute erinnere ich mich nur an wenig.“

    Ich schicke mich an, seinen Namen, Wohnort und Alter genauer zu bestimmen.

    „Fünfunddreißig Jahre …“
    „Bek, frag nochmal.“
    „Fünfunddreißig“, wiederholt der Übersetzer, der nicht weniger entgeistert dreinschaut als ich.

    Muralu Tusypjanolu mit seiner 13-jährigen Tochter Gjulden Muralkysy und dem Portrait seiner Frau, die in einem chinesischen Lager sitzt, November 2018 / Foto © Konstantin Salomatin

    Angst und Apathie

    Shenja Bunin ist ein 33-jähriger, zwei Meter großer Blondschopf mit überraschtem Gesichtsausdruck. Ich bin selbst recht lang, aber er ist noch größer als ich, und zwei Köpfe größer als alle anderen Anwesenden. Das bedeutet, dass ich endlich einmal fotografieren kann, ohne in die Hocke gehen zu müssen. Sein Englisch ist wunderbar, und er kann überhaupt gut erklären, mit prägnanten Ausführungen ohne überflüssige Informationen. Er ist Linguist, spricht fließend Chinesisch und Uigurisch. Wir treffen uns im Büro von Atashjurt.

    „Meinen ältesten Freund haben sie gleich verhaftet, schon Anfang 2017, dafür, dass er mal in Dubai gelebt hat und dort irgendwelchen Geschäften nachging. 
    Wo die Gefängnisse und Lager sind, weiß niemand. Obwohl es in Kaxgar eins direkt in der Stadt gab. Früher war dort irgendeine Hochschule. Ein harmloser Zaun, durch den man durchsehen konnte, dahinter das Hauptgebäude und der Campus. Aber nachdem ich zurückgekommen war, waren an derselben Stelle eine riesige Betonmauer und große Eisentore. Allen war klar, dass dort jetzt ein Lager ist.“

    Shenja erzählt, dass alle in der Erwartung ihrer Verhaftung leben. Die Polizei kann mitten in der Nacht kommen, das Telefon, Computer und Bücher kontrollieren. Wenn sie einen Koran finden oder Koranzitate oder einen Gebetsteppich, verhaften sie einen. Die Menschen haben aufgehört sich zu unterhalten, denn niemand weiß, ob der nächste ihn nicht denunzieren könnte. Eltern fürchten ihre Kinder. Die Kinder gehen in die Schule und ihre Lehrer fragen sie: „Beten deine Eltern?“ Wenn sie Ja sagen, kann das bedeuten, dass die Eltern verschwinden.

    Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin
    Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin

    Die Kinder der Verhafteten dürfen nicht zu Verwandten gegeben werden, sie kommen ins Kinderheim. In der ganzen Region werden eilig gigantische Internate aufgebaut, die mehr an Fabriken erinnern, aber der Platz dort reicht einfach nicht.

    Stirbt jemandes Vater und der Sohn stimmt auf der Beerdigung ein Gebet an, wird dieser sofort abgeholt, das ist gängige Praxis. Moscheen werden abgerissen, selbst die ältesten. Einige zentrale Moscheen sind für Touristen erhalten geblieben. Bärte sind verboten, ebenso wie muslimische Vornamen.

    „Anfangs verbot man sie für Neugeborene“, erzählt Shenja, „aber jetzt ist es auch für Erwachsene gefährlich sie zu tragen. Ich habe einen Freund, der Kali-Hadschim heißt. ‚Hadschim‘ bedeutet, dass die Person die Hadsch vollzogen hat. Das hat er nicht, seine Eltern haben ihn einfach so genannt. Aber er ist los, hat seinen Namen geändert und sagt jetzt: ‚Bitte, nenn mich so nicht mehr.‘

    Ein anderer Freund, er ist schon Rentner, hatte eine kleine Buchhandlung in Kaxgar. Dort gab es viele Bücher auf Uigurisch, die alle von einem Moment zum anderen verboten wurden. Man hat ihn verhaftet und ihm sieben Jahre gegeben, und seinen Sohn hat man ins Lager geworfen. In einem anderen Laden riss mir die Besitzerin ein Buch auf Uigurisch aus der Hand, tippte wie verrückt auf eben jenem Wort Hadschim herum und flüsterte mir zu: ‚Für dieses eine Wort werfen sie Leute jetzt zehn Jahre in den Knast …‘ Ich fragte einen Bekannten, ob er noch Zeit zu lesen hat. ‚Lesen ist jetzt zu gefährlich …‘, antwortete er mir.

    Wenn du Ausländer bist, dann betrifft dich das persönlich nicht, du kannst dich überall frei bewegen. Aber die Angst und Apathie spürst du überall. Du gehst aus dem Haus und läufst die Straße lang, du weißt, was hier passiert, kannst nicht aufhören, daran zu denken, aber sprechen wird darüber niemand mit dir. Die Menschen wenden beklommen die Blicke ab. Und du selbst fürchtest dich zu reden: Quatschst du ein bisschen zu lange mit einem Uiguren auf der Straße, bekommt er abends Besuch von der Polizei.“

    Jewgeni (Shenja) Bunin im Atashjurt-Büro, März 2019 / Foto © Konstantin Salomatin

    Schynar und Sharkinbek

    Am 15. November gegen Mitternacht geht das Telefon, es ist Serikshan Bilasch: „Kommt schnell zum Flughafen, sie haben Sharkinbek rausgelassen! Er kommt aus Ürümqi, wir haben schon ein Restaurant reserviert, Schynar fährt ihn abholen. Das werden wir feiern!“ Wir sammeln die Technik ein, rufen ein Taxi und rasen los. Wir sind als erste am Flughafen und laufen zur Anzeigentafel – das Flugzeug ist noch in der Luft. Dann taucht eine glückliche Schynar mit Akshol und anderen Aktivisten auf. Wieder ruft Serikshan Bilasch an: „Sie haben ihn nicht über die Grenze gelassen …“ Schynar schluchzt, man bringt sie nach Hause.

    Zwei Monate später lässt man Sharkinbek dann doch raus, still und heimlich per Bus über Korgas. Wir treffen uns kurz nach der Entlassung. Vor dem Haus stehen riesige Schaukeln, man hat sie zum Nouruz aufgestellt. Auf dem Hof drängen sich ein Haufen Kinder, überhaupt scheint das Leben hier sehr gemeinschaftlich. Akshol rennt sofort auf uns zu und schreit: „Papa ist da! Wir haben die Chinesen besiegt!“.

    Schynar und Sharkinbek sind ethnische Kasachen, er aber ist in China geboren, sie in Kasachstan. Ein großes, zweistöckiges Haus am Rande von Almaty, in zehn Wohnungen unterteilt. Schynar ist eine lebhafte, emotionale Frau von etwa 30 Jahren. Sie hat eine der Wohnungen gemietet. Ihr Mann ist ein Oralman (kasach.: „Rückkehrer“, Bezeichnung für in China geborene Kasachen). Schynar zeigt uns Fotos aus Sharkinbeks Jugend. Er ist ohne Zweifel ein klassischer Schönling, der kasachische Alain Delon.

    „Freundinnen haben mich in ein Restaurant mitgenommen, und er war dort Koch. Es war Liebe auf den ersten Blick, nach drei Tagen haben wir geheiratet. Wir haben einen Sohn bekommen.“

    Uigurische Schule in Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin
    Uigurische Schule in Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin

    2016 begannen bei Sharkinbek die Probleme mit den Behörden. Seine Anmeldung wurde annulliert, und er bekam keine Aufenthaltsgenehmigung, stattdessen forderte man eine Bescheinigung aus China, dass er dort keine Verbrechen begangen hat. Sein chinesischer Pass war beinahe abgelaufen. Sharkinbek sagte, dass er nach China reisen und binnen einer Woche zurückkehren würde.

    Beim Überschreiten der Grenze verschwand er. Er rief weder an, noch schrieb er. Schynar konnte ihn nicht finden. Einige Wochen später erhielt sie eine Nachricht: „Ich werde eine andere Frau heiraten. Wir müssen uns scheiden lassen. Ich bin hier geboren und aufgewachsen, China hat mir alles gegeben. In Kasachstan hält mich nichts, das ist ein armes Land. Du bedeutest mir nichts, such dir einen anderen Mann …“

    Sharkinbek sitzt auf einem Stuhl und gleicht einem verängstigten Kind. Er wirkt wie ein Bruchteil des Mannes auf dem Foto. Er spricht mit leiser Stimme, monoton, müde, ohne Emotion. Sie haben ihn damals direkt an der Grenze verhaftet, noch in Korgas.

    „Sie sperrten mich für eine Woche in einem Keller ein. Man kontrollierte mein Telefon, fand dort Whatsapp, das in China verboten ist, und verhörte mich. Danach lieferten sie mich an die Polizei in meiner Heimatstadt Bortala ab. Dort fing man an mich zu foltern, mit einer Stange und Elektroschockern. Sie fragten, in welchen Organisationen ich in Kasachstan aktiv sei. Wen ich in Kasachstan getroffen hätte. Sie folterten mich zehn Tage lang. Dann zogen sie mir einen schwarzen Sack über den Kopf und brachten mich ins Gefängnis. Wo das ist, weiß ich nicht. Ein großes Gebäude, vier Stockwerke, ungefähr viertausend Menschen, 15 bis 75 Jahre alt. Vor der Abfahrt ins Lager hat mir eine Krankenschwester zwei Spritzen gegeben, in jeden Arm eine. Sie sagte, das sei bloß eine Impfung.

    Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin
    Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin

    Im Lager gaben sie uns dann permanent Spritzen. Für jedes Vergehen gab es eine Injektion. In den Zellen war rund um die Uhr das Licht an, es auszuschalten war verboten. Wer das Licht ausschaltete wurde geschlagen oder bekam eine Spritze. Auch im Essen war viel Medizin, der Geschmack war sehr chemisch. Die Gesundheit hat sich permanent verschlechtert. Jeden Tag zwangen uns die Aufpasser sauberzumachen: den Boden im Gefängnis und auf dem Hof zu wischen, Wäsche zu waschen. Wir mussten Mandarin und die Geschichte Chinas lernen. Jeden Monat gab es ein großes Examen auf Chinesisch, dafür kamen extra Prüfer. Die Aufpasser warnten uns. Nicht weinen, nicht dies und nicht jenes machen: ‚Macht ja einen guten Eindruck!‘“

    Währenddessen machte Schynar Fortschritte. Einmal traf sie auf dem Markt eine alte Frau, eine Kasachin aus China, bei der sie sich über das Leben beschwerte und der sie von ihrem Mann erzählte. Die Frau erzählte ihr von den Konzentrationslagern.

    „Sie hat gesagt, dass ich mich an Atashjurt wenden soll, an Serikshan Bilasch. Er hilft Flüchtlingen und denjenigen, deren Verwandte in China verschwunden sind. Ihr Büro lag zufällig auf dem Weg. Wenn Serikshan nicht gewesen wäre, dann hätte ich nicht gewusst, was ich hätte tun sollen, wie ich Sharkinbek hätte retten können.“

    Von da an bestand ihr Leben aus offiziellen Schreiben, Videoaufrufen und Behördengängen mit der Bitte ihren Mann zurückzuholen.

    „Ich konnte nicht mehr arbeiten, jeden Tag lief ich zu irgendwelchen Organisationen. Akshol hätte schon in die Schule gemusst, aber niemand hätte ihn hinbringen können, also saß das Kind zuhause rum. Wir sind nach Astana gefahren, und vor dem Präsidentenpalast hat Akshol in die Kamera gesagt: „China, lass meinen Papa frei!“. Ich habe ihn selbst mit dem Handy aufgenommen. Durch YouTube wurde ich zu einer lokalen Berühmtheit, Taxifahrer erkennen mich. Im Außenministerium hat man mir gesagt: ‚Kalyschewa, hör bitte auf, wir wissen schon nicht mehr wohin mit deinen Anträgen.‘ Sie haben mir einen Brief geschrieben in dem stand, dass das innere Angelegenheiten Chinas sind, dass sie keine Beziehungen zu China haben und sich nicht einmischen werden.“

    Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin
    Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin

    „Als sie anfing, Petitionen zu schreiben, brachte man mich zur Leitung, wo man mich zwang, sie noch einmal anzurufen und zu sagen, dass ich sie verlassen und ein zweites Mal geheiratet hätte. Vom Lager sollte ich nichts sagen. Das habe ich getan. Sie hat nicht geantwortet, einfach nur geweint.“

    Schynar hatte bis zu diesem Moment fast zwei Jahre nichts von Sharkinbek gehört, nicht gewusst, ob er noch am Leben war. Nach dem zweiten Anruf begann sie noch hartnäckiger zu schreiben, mit Journalisten zu reden und durch die Institutionen zu marschieren.

    „Ich war sieben Monate im Lager. Dann hat man ungefähr hundert von uns ausgewählt, alle aus Kasachstan, und uns unter Hausarrest gestellt. Auf die Straße durften wir nicht mehr gehen, und täglich kam ein Polizist zu mir, verhörte mich und notierte, was ich heute gemacht, mit wem ich Kontakt hatte. Ich machte nichts, nach dem Lager hatte meine Gesundheit sich massiv verschlechtert. Mir waren die Haare ausgefallen. So verging noch ein Jahr. Einmal kam ein anderer Polizist, drückte mir ein Telefon in die Hand und wählte die Nummer meiner Frau bei WeChat. Dann sollte ich zum dritten Mal anrufen: ‚Bei mir ist alles gut, neue Familie, Arbeit, sprich in Kasachstan nicht über mich.‘

    Ich hatte sie also zum dritten Mal angerufen, wie man mir befohlen hatte. Aber sie hat nicht aufgehört über mich zu sprechen, sondern fing an noch mehr zu unternehmen. Irgendwann kamen sie zu mir, gaben mir einen Pass und sagten: ‚Es reicht, hau ab.‘ Mein Vater sitzt immer noch im Lager, mein Bruder im Gefängnis.“

    Schynar, Sharkinbek und Akshol, März 2018 / Foto © Konstantin Salomatin
    Schynar, Sharkinbek und Akshol, März 2018 / Foto © Konstantin Salomatin

    Sharkinbek hatte Glück mit seiner Frau. Diejenigen, deren Verwandte hartnäckig und laut auf den Putz hauen, haben größere Chancen freizukommen. Damit sie verstummen, bevorzugt es China, sie sich vom Leibe zu schaffen.

    Akshol zappelt herum und stellt Fragen. Er wird auf den Hof gescheucht.

    „Ich verlasse das Haus nicht. Arbeiten kann ich nicht, ich bin sehr schwach. Meine Kraft reicht nur, um nach dem Kind zu schauen. Ich sitze zuhause rum, während Schynar Nähkurse besucht. Die Nerven, nachts kann ich nicht schlafen. Panikattacken, oft Kopfschmerzen, meine Nieren schmerzen und …“ Der Übersetzer schafft es nicht, den letzten Satz zu übersetzen, bevor Schynar in Tränen ausbricht. „Er sagt, dass er seine Potenz verloren hat. Keine Liebe mehr machen kann.“

    Impotent kehren praktisch alle aus den Lagern zurück. Auch die Frauen haben von dem Verlust sexueller Begierde berichtet. Warum, das ist noch nicht geklärt. Es ist nicht auszuschließen, dass die Injektionen zu einer Art chemischer Kastration führen. Andererseits hat uns einer der ehemaligen Häftlinge unter der Bedingung von Anonymität erzählt, dass ihm und allen seinen Zellenmitinsassen einmal Spritzen verabreicht wurden, nach denen sie, im Gegenteil, eine Erektion bekamen. „Anschließend zwang man uns, uns nackt auszuziehen und brachte uns in eine Zelle zu den Frauen. Auch sie waren entblößt. Es begann eine Orgie. Und alles wurde von den Überwachungskameras gefilmt.“ Es gibt noch weitere solcher bedrückenden Zeugenaussagen.

    Sharkinbek richtet sich ungelenk auf und geht in den Hof. Ich sehe durch das Fenster zu, wie er langsam auf die Schaukeln zugeht und Akshol anschubst.

    Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin
    Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin

    Rachima

    Sie erschien ganz unerwartet. Wir waren mit ihr nicht für diese Uhrzeit verabredet, hatten andere Verpflichtungen, aber sie folgte uns einfach vier Stunden lang durch Almaty. Eine normale, abgehetzt wirkende Frau, deren Mann sie mit vier Kindern sitzengelassen hat. Sie kommt nur mit Mühe über die Runden, arbeitet irgendwas im Handel. Sie ist dürr und groß, erinnert überhaupt nicht an die typische Kasachin aus der Provinz. 

    Schließlich setzen wir uns in ein Restaurant. Ich bestelle Wein, aber niemand trinkt mit mir. Sie beginnt in gleichgültigem Tonfall zu erzählen, keinerlei Emotionen, als wäre das alles nicht ihr selbst passiert.

    „2012 bin ich mit meinem Mann und den Kindern nach Kasachstan gezogen. Ich habe eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten und arbeitete in Almaty. 2017 bekam ich einen Anruf von einer chinesischen Nummer, sie sagten mir, dass sie von der Polizei sind. Sie haben mich gebeten nach Korgas zu kommen, angeblich stimmte etwas mit meinem Smartphone nicht. Ich wusste noch nicht, was sich da zusammenbraute. Aber mir sind Zweifel gekommen, also habe ich meine Mutter angerufen. Sie sagt: ‚Du musst nicht herkommen, kauf dir einfach ein anderes Telefon.‘ Aber am nächsten Tag ruft mein Vater zurück. Er sagt mit Panik in der Stimme, dass ich sofort nach Hause kommen muss: ‚Du hast Schulden, du musst das selbst regeln.‘“

    Beim Grenzübertritt hat die Polizei Rachima sofort verhaftet. Sie ist verhört worden, und man hat sie ins Bezirksgefängnis gebracht.
    „Dort bin ich medizinisch untersucht worden, man hat mir eine Injektion in den Oberarm verabreicht und mich in Ketten gelegt. So ist der Umgang mit den Neulingen: Dem vorigen Häftling werden die Ketten abgenommen, in die dann der Nachfolger gelegt wird, bis der nächste in die Zelle kommt. Aber ich hatte Glück: Nach einer Woche hatten sie mir die Beine blutig gescheuert. Eine Uigurin hat den Aufpasser gerufen und gesagt: ‚Nehmen Sie sie ihr ab, sonst bekommt sie eine Gangrän. Sie könnte beide Beine verlieren.‘

    Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin
    Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin

    Jeden Tag lernten wir von früh morgens an Chinesisch, chinesische Geschichte und schauten Filme darüber, wie die chinesischen Kommunisten das Land aufgebaut haben. Das Essen hatte weder Fett noch Proteine und einen stark chemischen Geschmack. Man gab uns drei Mal täglich zu essen, wir durften für fünf Minuten in die Kantine. Es war unmöglich in fünf Minuten fertig zu werden. Wir waren immer hungrig. Es reichte lediglich um ein wenig runterzubekommen und dann die Teller wegzuwerfen. In die Zellen durften wir nichts mitnehmen.

    Nachdem wir um sechs gegessen hatten, brachten uns die Polizisten wieder zurück in die Zellen. Dort warteten wir bis zehn Uhr abends. Wir saßen einfach vier Stunden herum. Miteinander reden durften wir nicht. Wir durften weder lachen, noch weinen, wir saßen einfach da und schwiegen uns an. Wir waren zu jeder Zeit unter Beobachtung der Videokameras. Es war nicht nur verboten zu reden, sondern sogar, sich nacheinander umzudrehen. Wenn sich jemand umgewandt hat, tönte sofort eine Warnung durch die Lautsprecher: ‚Nummer 21, nicht umdrehen!‘. Namen hatten wir keine, nur Nummern: ‚Nummer 1, 2, 3 – austreten!‘

    Um zehn Uhr kam vom Befehlshabenden die Order: ‚Licht ausschalten und Schlafen!‘ Und wir schliefen. Jeweils zwei Stunden, dann folgten zwei Stunden ‚Wache halten‘. Jede Nacht gegen Mitternacht kamen Aufpasser in die Zellen, suchten die schönsten Mädchen im Alter zwischen 16 und 25 aus und holten sie für die ganze Nacht zu sich. Man sammelte sie ein und vergewaltigte sie in der Gruppe. Ich musste da nicht durch, aber ich kenne Mädchen, die sie jede Nacht vergewaltigt haben.

    Turan Tilejbai mit ihrem Sohn Otanbek; ihr Mann wurde in China verhaftet, November 2018 / Foto © Konstantin Salomatin
    Turan Tilejbai mit ihrem Sohn Otanbek; ihr Mann wurde in China verhaftet, November 2018 / Foto © Konstantin Salomatin

    Viele hatten Krankheiten, irgendetwas war bei jedem. Den Ärzten war das egal, sie haben keine Untersuchungen durchgeführt. Wir wurden wie Tiere behandelt. Wenn du dich beschwert hast, brüllten die Polizisten und Ärzte einfach: ‚Oooh! Du bist nicht krank, du stellst dich einfach nur an! Erzähl nicht, dass du krank bist! Glaubst du, das hilft dir hier rauszukommen?! Vergiss es!‘. Für Beschwerden schlugen sie uns, schrien uns an und drohten uns. Meine Gesundheit leidet immer noch darunter.

    Ich war ganze vier Monate im Lager. Ich gehörte zu den Glücklichen, die Verwandte im Ausland haben. Mein Ex-Mann und die Kinder hörten nicht auf zu schreiben und Videobotschaften aufzuzeichnen. Man ließ mich raus und stellte mich für zwei Monate unter Hausarrest – mit täglichem Besuch von Chinesisch-Kursen, jeden Abend zwei Stunden.“

    Bevor man Rachima ihren Pass gegeben hat, hat man sie gezwungen ein Schreiben aufzusetzen, in dem sie versichert, dass sie niemals, selbst ihren Kindern nicht, von der Existenz der Lager erzählen wird, dass sie sich nicht mit Menschenrechtlern und Journalisten treffen und die Politik der chinesischen Regierung nicht kritisieren wird. „Wenn du redest, egal wo du bist, in Kasachstan, den USA oder Europa, wir werden dich finden.“ Die erste Zeit zu Hause hielt sich Rachima auch daran.

    „Aber dann dachte ich, dass ich bald sterben werde. Ich habe schreckliche Kopfschmerzen, unaushaltbar, selbst denken kann ich nicht normal, mich auf nichts konzentrieren. Und zu Männern fühle ich mich gar nicht mehr hingezogen.“ Rachima spricht monoton, absolut emotionslos, wie viele, die von dort zurückkehren. Mir wird klar, dass sie innerlich tot ist, in Depressionen versunken. Es ist erstaunlich, dass sie überhaupt gekommen ist.

    Kaxgar, neue chinesische Stadtviertel, uigurische Kinder spielen vor einem Mao Zedong-Denkmal / Foto © Konstantin Salomatin

    Ich kenne dich nicht

    „Die Polizei kontrolliert auf den Straßen Telefone und Kontakte“, erzählt Shenja. „Finden sie dort eine Person aus dem Ausland, ist das verdächtig, und vielleicht nehmen sie dich mit. Freunde haben angefangen, mich aus ihren Handys zu löschen. Ein Freund hat mich mehrmals gelöscht und wieder hinzugefügt. Dann hat er mich endgültig gelöscht und ist aus allen Gruppenchats ausgetreten. Das war ein guter Freund, ich wollte ihn unbedingt treffen. Also habe ich ihm nicht direkt geschrieben, sondern in eine Gruppe, in der wir beide waren, dass ich alle auf eine Pizza in ein Café einlade. Er antwortete: ‚Gut, ich komme.‘

    Letztendlich sind nur wir beide gekommen. Das Mittagessen verlief sehr bedrückend. Ich sah, dass er das Gefühl hat, verfolgt zu werden. Es gab viel zu sagen, aber offen reden konnten wir nicht. Wir saßen einfach schweigend da und aßen. Ich habe ihm das Manuskript meines Buches gezeigt. Er hat es entgegengenommen, schweigend einen Blick drauf geworfen und es dann zur Seite gelegt, ohne darin zu blättern. Dann habe ich ihn nach einer gemeinsamen Bekannten gefragt, ob er nicht wüsste, wo sie jetzt sei. Er sagt: ‚Nein, ich kenne sie nicht mehr …‘ Dann hat er hinzugefügt: ‚Ich kenne jetzt selbst dich nicht mehr.‘ Es kam mir vor, als könnte er jeden Moment in Tränen ausbrechen. Wir haben uns danach nicht mehr gesehen.“

    Einige Freunde hat Shenja selbst gelöscht, damit sie keine Kommentare mehr unter seinen Posts hinterlassen, denn das ist gefährlich für sie. Uiguren und Kasachen im Ausland sagen, dass alle Freunde und sogar Verwandte aus Xinjiang sie aus ihren Kontakten gelöscht haben.

    „Aber auch die, die in der Emigration leben, haben Angst“, sagt Shenja. „Auf Facebook haben 90 Prozent der Uiguren keine Fotos, niemand benutzt seinen echten Namen.

    Wieder und wieder hört man Geschichten wie die, dass irgendein Student aus dem Ausland seine Familie angerufen hat und seine eigene Mutter ihm gesagt hat: ‚Bitte, ruf uns nicht mehr an.‘ Aber noch schlimmer ist es, wenn die Polizei zu Menschen nach Hause kommt, und sie unter Androhung einer Verhaftung zwingt, ihre Söhne und Töchter zu bitten ‚für eine Überprüfung‘ nach Hause zu kommen. Sie kommen zurück und werden sofort verhaftet.“

    Ein befreundeter Uigure hat Shenja erzählt, dass es ihm verboten ist, eine Wohnung ohne Überwachungskamera zu mieten. Wenn du auf der Straße einen Polizisten anschaust, dann fragt dieser: „Was guckst du so?“ Wenn du den Blick abwendest, fragt er: „Warum schaust du weg?“ Permanent fragen sie: „Betest du? Rauchst du? Trinkst du? Warum?“ Überall sind Kameras angebracht, Millionen, in jeder Ecke, an jeder Kreuzung, jedem Wohnungseingang – selbst bei Menschen zuhause. Das Programm, mit dem sie beobachtet werden, kann Uiguren einordnen, es reagiert auf ungewöhnliches Verhalten und leitet alles an die Polizei weiter.

    „Einmal war ich abends auf dem Nachhauseweg, als mir eine Familie entgegenkam – ein Mann, eine Frau, ein erwachsener Sohn. Der Vater war betrunken, sie stützten ihn. Plötzlich fing er an zu schreien und mit den Händen herumzufuchteln. Sie versuchten, ihn zu beruhigen, aber schon war ein Minivan herangefahren. Fünf Polizisten stiegen aus. Sie fragten nicht einmal was, sie packten den Mann sofort ein und verschwanden. Das hat keine zwei Minuten gedauert.“

    Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin

    Sharp Eyes

    Laut offiziellen Daten werden nächstes Jahr in China 626 Millionen Überwachungskameras existieren. Das Ausmaß der Überwachung ist in Xinjiang weitaus größer, als im restlichen China. Auf den Gebäuden Ürümqis, Kaxgars und anderen Städten steht ein wahrer Wald aus mechanischen Augen. Schon häufiger haben Journalisten die Frage gestellt: Wer sieht durch sie?

    In den letzten Monaten wurden mehrere Artikel veröffentlicht, die eine Vorstellung davon vermitteln, wie das Überwachungssystem von Xinjiang funktioniert. Zum Beispiel der Bericht von Human Rights Watch „Chinas Algorithmen der Repression“ und die Recherche des amerikanischen Journalisten Paul Mozur.

    Human Rights Watch berichtet, dass eine künstliche Intelligenz namens IJOP sämtliche Informationen analysiert. Das künstliche neuronale Netz ist von der Volksbefreiungsarmee Chinas im Rahmen seiner neuen digitalen Militärdoktrin C4ISR ins Leben gerufen worden und inzwischen Teil des nationalen Programms Sharp Eyes, das ganz China mit einem Netz aus Überwachungstechnologie abdecken soll. 

    Die künstliche Intelligenz operiert mit Gesichtserkennungssystemen. Paul Mozur schreibt, dass das neuronale Netz Uiguren anhand ihrer Gesichter identifizieren kann und daran in ganz China arbeitet. Weder Polizeiberichte noch Reklametexte von Firmen (beispielsweise Yitu, CloudWalk, Hikvision) machen daraus ein Geheimnis. Tibeter, Uiguren, Kasachen und andere Minderheiten gelten als verdächtige Bevölkerungsgruppen. Die Regierung hat keine Skrupel dies einzugestehen.

    Das neuronale Netz analysiert die Bewegungen von Menschen und trifft Entscheidungen darüber, wie darauf zu reagieren sei. „Wenn beispielsweise an einem Ort, wo ein Uigure lebt, plötzlich sechs erfasst werden, sendet das System sofort Polizisten dorthin.“

    Im März hat der holländische Forscher Viktor Gevers von der GDI Foundation einen ungesicherten Zugang in eines der Subsysteme von IJOP gefunden, eine Datenbank der Firma SenseNet Technology aus Shenzhen, die Online-Information über die Überwachung von 2,5 Millionen Menschen und 6,7 Millionen Adressen in Xinjiang enthielt. Die Datenbank enthielt auch Passdaten der Nutzer, ihre GPS-Koordinaten und den Schriftverkehr in allen Messengern. Jene Nachrichten, welche der Algorithmus für gefährlich befand, wurden automatisch an Polizeistellen weitergeleitet.

    Atashjurt-Büro, Flüchtlinge mit Fotos von Angehörigen, die in Lagern verschwunden sind, November 2018 / Foto © Konstantin Salomatin
    Atashjurt-Büro, Flüchtlinge mit Fotos von Angehörigen, die in Lagern verschwunden sind, November 2018 / Foto © Konstantin Salomatin

    Ein anderes Auge des neuronalen Netzes ist das Tor dreidimensionaler Porträts und integrierter Daten – eben jene Checkpoints, an denen Schlangen aus Uiguren und Kasachen stehen. Um einen beliebigen öffentlichen Raum betreten zu können – Krankenhäuser, Banken, Parks, Einkaufszentren – oder um das eigene Viertel zu verlassen, muss eine spezielle Maschine passiert werden, die mit IJOP verbunden ist. Das System durchleuchtet die Menschen, macht Fotos und scannt die Personalausweise.

    Diejenigen, die das Interface der Tore gesehen haben, sagen, dass der Polizei ein Profil der Person angezeigt wird – Name, Geschlecht, eine persönliche Nummer, Beruf, Familienstand, Vorstrafen, Einträge bei der Polizei, Stufe der Vertrauenswürdigkeit, ob die Person im Umerziehungslager war oder einen Pass für eine Reise ins Ausland erhalten hat, ob die Person im Ausland war, und wenn ja, wann, wo, wie lange und weshalb. Das System bewertet das Verdachtspotential der Person auf einer Skala von 1 bis 100. Uiguren und Kasachen erhalten automatisch 10 Punkte, Personen im Alter zwischen 15 und 55 noch einmal 10 Punkte und auch Gläubige erhalten zusätzlich 10 Punkte.

    Letztes Jahr hat man angefangen, die Checkpoints um neue Tore aufzustocken, die unter anderem Fingerabdrücke und Iris scannen und außerdem Smartphones und andere Geräte kontrollieren. Früher musste die Polizei alle Telefone manuell durchforsten, jetzt liest die Maschine deren MAC-Adresse und IMEI-Nummer und überprüft sie auf obligatorische oder verbotene Apps (Viber, WhatsApp, Telegram, VPN und so weiter) und auf Inhalte: das heißt Links, Kontakte, Downloads und Ähnliches. Sämtliche Information geht an IJOP.

    Die Leute warten in der Reihe, bis die Maschine eine Aufnahme gemacht hat und eine Erlaubnis zum Passieren erteilt. Wenn etwas nicht stimmt, ertönt ein Alarmsignal und das Tor teilt den Polizisten mit, welche Maßnahme zu ergreifen ist: befragen, für weitere Ermittlungen festhalten oder sofort verhaften. 

    Dasselbe System steht auch an allen Tankstellen. Passiert werden kann nur, wenn die Person dem System Führerschein und Fahrzeugpapiere zeigt.

    Fotos © Konstantin Salomatin
    Fotos © Konstantin Salomatin

    Anfang letzten Jahres wurden alle Muslime in Xinjiang verpflichtet, innerhalb von zehn Tagen die App Jingwang auf ihren Telefonen zu installieren – das dritte Auge von IJOP. Sie scannt und spielt dem neuronalen Netz alle Aktivitäten zu, alles, was sie lesen, schreiben, reden, alle Kontakte und den gesamten Datenverkehr. Ein Telefon ohne Jingwang zu benutzen ist verboten, ebenso das Telefon auszuschalten oder ein fremdes zu benutzen.  

    Aufgerufen zur Installation einer weiteren App waren alle Polizisten und Lokalbeamten, die Daten der Einwohner ihrer Bezirke während Hausdurchsuchungen und anderen Kontrollen sichern. Der Erzählung eines Zeugen zufolge sind uigurische Beamte und Polizisten mit Arbeit hoffnungslos überladen. „Sie haben alle rote Augen.“ Beamte, die mit den Aufgaben nicht fertig werden, schickt IJOP zur Umerziehung. 

    Polizisten müssen alles melden, was ungewöhnlich erscheint. Die App beinhaltet eine Liste mit 36 Punkten, die aus Sicht von IJOP verdächtig sind. Dazu zählt, wenn ein Mensch zu Hause viele Bücher oder große Lebensmittelvorräte hat, mehr Elektrizität als der Durchschnitt verbraucht, ohne Erlaubnis der Polizei an einer nicht gemeldeten Adresse lebt, häufig die Hintertür oder ein fremdes Telefon benutzt, die Telefonrechnung nicht bezahlt oder nicht ortbar war. 

    IJOP erstattet der Polizei über verdächtiges Verhalten Bericht. Ein Bauer, der zum Beispiel normalerweise fünf Kilogramm Dünger kauft, kauft plötzlich fünfzehn. Das System schickt Polizisten zu ihm, um die Situation zu klären. Wenn es keinen Grund zur Beunruhigung gibt, löschen sie in der App die Gefahrenanzeige. Ebenso schickt IJOP sofort Polizisten zu denen, deren Telefon, elektronischer Ausweis oder Auto die Überwachungszone verlässt, und zu denen, die fremde Telefone benutzen. 

    Chinesin auf einem Motorroller in Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin
    Chinesin auf einem Motorroller in Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin

    IJOP greift auf Unterstützungssysteme zurück. Eines scannt die gesamte Netzkommunikation auf der Suche nach verdächtigen Themen (etwa religiösen) oder „die Vermeidung der Verwendung der chinesischen Sprache“. Nach der Zusammenführung dieser Information mit dem Benutzerprofil erstellt es eine Prognose über gefährliches Verhalten. Ein anderes System übersetzt automatisch Sprachanrufe vom Uigurischen ins Chinesische. Das dritte kann einen uigurischen Text oder islamische Symbole in Bildern erkennen. 

    Das neuronale Netz führt die Informationen aus den Telefonen, Überwachungskameras, Checkpoints, Polizeiberichten, Fangzhou und anderen Ressourcen zusammen und erstellt daraus mehrdimensionale Profile. Dort werden außerdem biometrische und medizinische Daten (unter anderem über Fertilität, psychische Störungen, chronische Krankheiten) hinzugefügt sowie Hinweise auf Drogenabhängigkeit, Verkehrsvergehen, Studien- und Arbeitsdokumente, Familienverbindungen, Daten über Eigentum, gesellschaftliche Aktivität (ob sich etwa ein Mensch über staatliche Organe beschwert hat), juristische und finanzielle Vergangenheit und massenhaft weitere Quellen.

    Seit 2017 sind alle Muslime aus Xinjiang von 12 bis 65 verpflichtet, einen biometrischen und einen DNA-Test zu machen – Fotografien des Gesichts aus verschiedenen Winkeln und anderer Teile des Körpers, Blutanalysen, Fingerabdrücke, ein Netzhaut-Scan, Stimmaufnahme und Haarproben. Der Minister für Öffentliche Sicherheit Chinas, Meng Jianzhu, erklärte im Jahr 2015, dass die neuen Technologien für Datenverarbeitung in der Lage sind, die Verhaltenslogik jedes beliebigen Menschen zu erkennen.

    Die festgestellten Beziehungen zwischen Menschen erlauben es dem System, Hinweise auf andere Menschen zutage zu fördern und zu analysieren. Es erstellt Karten persönlicher, geschäftlicher, finanzieller, digitaler und anderer Formen zwischenmenschlicher Beziehungen.

    Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin
    Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin

    Im Prinzip sammelt Facebook und jeder andere Online-Dienst zu einem großen Teil dieselben Informationen. Neuronale Netze in der ganzen Welt können auf ihrer Grundlage vielfältige Rückschlüsse ziehen und verbessern sich in dieser Hinsicht kontinuierlich. Der Mensch ist in diesem System schon lange nicht mehr der Konsument, sondern der Konsumierte, aus dem Daten geerntet werden. Der Unterschied liegt lediglich darin, dass das chinesische neuronale Netz diese Daten nach Belieben gegen den Menschen verwenden kann. Li Kaifu zufolge, einem führenden Investor im Bereich Künstliche Intelligenz, dominiert China in diesem Sektor, weil es sich weder von rechtlichen noch moralischen Bedenken einschränken lässt.

    Täglich um acht Uhr morgens sendet IJOP an die Telefone der Polizisten Mitteilungen über alle verbotenen oder gefährlichen Aktivitäten in ihren Bezirken. Auf Grundlage der Analyse empfiehlt das neuronale Netz der Exekutive, ob die Verdächtigen ins Gefängnis oder ins Umerziehungslager zu schicken sind, unter Hausarrest gestellt werden sollen oder ob ein Verbot, den Meldebezirk zu verlassen oder öffentliche Orte zu betreten ergehen soll. Das System arbeitet nach dem Prinzip „Wer Verdacht erregt, muss verhaftet werden“. Die Unschuldsvermutung gilt für Mitglieder sozialer Gefahrengruppen (beispielsweise für Muslime) nicht.

    Im März veröffentlichte der deutsche Wissenschaftler Adrian Zenz einen Artikel, der einen Maßstab des Systems der Konzentrationslager von Xinjiang vermitteln soll. Er basiert auf der Auswertung von Satellitenaufnahmen und von Daten aus Staatsaufträgen und -käufen im Bausektor, dem Einsatz des Überwachungssystems, dem Budget verschiedener Branchen wie etwa Sicherheit, dem Justizvollzugssystem, Gerichten und der Berufsausbildung. Zenz kommt zu dem Schluss, dass in den Lagern der Region zur Zeit ungefähr anderthalb Millionen Menschen interniert sind.

    Nurasch Dana mit einem Foto ihrer Mutter Adia Muratkysa / Foto © Konstantin Salomatin

    Große Brüder

    Die Abkürzung „Fangzhou“ bedeutet übersetzt etwa „Teil des Volkes werden, dem Volk von Nutzen sein, die Herzen des Volkes vereinen“. Es handelt sich um ein umfängliches Programm, für das chinesische Staatsdiener aus den inneren Regionen des Landes verpflichtet werden, in uigurische Dörfer zu fahren und für zwei bis sechs Monate bei einer lokalen Familie zu leben, um ihnen das Geschenk der Zivilisation zu überbringen. In dem Programm sind mehr als eine Million Menschen eingebunden. Sie kommen zu den Uiguren nach Hause und erklären ihnen die Politik der Kommunistischen Partei. Manche Familien werden gezwungen, Gäste aufzunehmen, anderen werden einfach regelmäßig Besuche abgestattet. Die Häufigkeit der Besuche hängt von der Stufe der Vertrauenswürdigkeit und Offenheit gegenüber der chinesischen Lebensart ab. Die „großen Brüder“ sollen den Lebensalltag ihrer Schützlinge beobachten und tägliche Berichte verfassen, bei denen sie detaillierte Angaben in Online-Formularen machen. Reden die „kleinen Brüder“ miteinander auf ihrer Muttersprache oder auf Chinesisch? Beten sie? Fasten sie? Essen sie Halal? Trinken sie Alkohol? Rauchen sie? Da sich hinter einem freundlichen Lächeln eine List verstecken kann, gibt eine Anleitung den „Fangzhou“ Tipps, die dabei helfen die Wahrheit herauszufinden: „Bieten Sie einem Familienmitglied eine Zigarette an. Bieten Sie einem Familienmitglied ein Bier an. Geben Sie einem Familienmitglied des anderen Geschlechts zur Begrüßung die Hand, notieren Sie, ob es zurückgeschreckt ist. Bringen Sie Fleisch zur Zubereitung mit und beobachten Sie die Reaktionen.“ Um die Wahrheit herauszufinden, empfiehlt die Anleitung den Kontrollierenden vor allem, die Kinder zu befragen. Auf Grundlage der gesammelten Informationen empfiehlt es, welchen der Gastgeber man mit den Kindern im Dorf lassen kann, und wer Umerziehungskurse besuchen muss. Das Haus, das Familienleben, der einzige Zufluchtsort, wo Uiguren und Kasachen sich noch in Sicherheit wägen können, ist für IJOP nun ebenfalls einsehbar.

    Darren Byler, einem in China arbeitenden amerikanischen Anthropologen, ist es gelungen einige Teilnehmer des Programms zu interviewen. Es hat sich gezeigt, dass, obwohl das Programm obligatorisch ist, die Mehrheit der „Fangzhou“ tief überzeugt ist von der Güte der eigenen Mission und dass sie die Uiguren für ein unzivilisiertes Volk halten, das unter dem Joch religiösen Irrglaubens leidet und der Hilfe der „großen Brüder“ bedarf. Byler hat herausgefunden, dass die Inspekteure (hauptsächlich junge Menschen) keine Vorstellung davon haben, was in den Umerziehungslagern vor sich geht, in die sie ihre Gastgeber senden. Sie nehmen an, dass es sich einfach nur um Schulen handelt, in denen den rückständigen Muslimen die Grundlagen des modernen Lebens beigebracht werden. Manch einer denkt, dass das es eine Art Reha ist, wo Gläubige von ihrer religiösen Abhängigkeit geheilt werden.

    Orynbek ist ein Bauer, der ebenso eine Umerziehung nötig hatte. Ein stattlicher Mann um die vierzig mit rundem Kopf. Er ist ein verschlossener, schüchterner Mann, der leidenschaftslos und monoton erzählt, sehr detailliert. Manchmal fängt er an zu weinen. Sein Monolog dauert zwei Stunden und hat einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen, wahrscheinlich durch seine entwaffnende Einfachheit. Ich habe versucht seine Erzählung zu kürzen, aber dann verstanden, dass das sowohl ihren Charakter als auch Gehalt verfälscht. Deswegen schlage ich vor, sie getrennt zu lesen.

    Uigurisches Dorf zwischen Irkeschtam und Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin

    Bek

    Ich habe Bek auf einem Forum chinesischer Kasachen kennengelernt, als ich Kontakte in Almaty suchte. Der Typ schrieb, dass er als Übersetzer arbeitet und gut Englisch spricht. „Kannst du vielleicht für mich dolmetschen?“ „Na klar!“, antwortete er lebendig. „Ich helfe jedem mit Freuden, der gegen das faschistische China kämpft!“ Er schrieb, dass er viel Erfahrung hat: Kasachisch ist seine Muttersprache, ansonsten spricht er noch Chinesisch, Englisch, Arabisch (während des Krieges arbeitete er in Bagdad für eine chinesische Firma), Farsi und Russisch. Er hat ein Jahr in Kasan studiert. Ich habe mich zuerst ein wenig erschrocken. Mit fünfunddreißig Jahren schon so eine Biografie? Ich dachte, er denkt sich das aus.

    Bek stellte sich als ein kleiner, höchst lebhafter und redseliger Typ heraus. Er wollte umsonst arbeiten. Bis in die Nacht hinein übersetzte er die Erzählungen der Flüchtlinge, die uns nicht gehen lassen wollten, und morgens früh stand er wieder mit auf der Matte. Sein Russisch ist nicht besonders gut, also arbeiteten wir auf Englisch. Einmal setzen wir uns in ein Taxi, ich spreche Russisch mit dem Fahrer, Bek Kasachisch, und wir beide miteinander Englisch. Dem Taxifahrer gehen die Augen über: Jungs, was ist los mit euch?

    Nach drei Tagen langer, unbezahlter Arbeit hat sich herausgestellt, dass Bek außerhalb der Stadt wohnt und drei Stunden braucht, um zu uns zu kommen. Er hat sich ein Hotelzimmer neben uns gemietet auf eigene Kosten. „Man, komm mit in mein Hotel, ich zahle für dich“, habe ich ihm angeboten. „Nee, ich will der Sache dienen.“ Ich hatte sogar Angst, dass er ein Spion ist und für die chinesische oder kasachische Regierung arbeitet. Überhaupt verdächtigen sich hier alle gegenseitig, Spione zu sein. Aber dann habe ich seine Fotos gesehen – in Bagdad, in der Wüste, am Meer, in Ruinen. Ich habe die anderen Flüchtlinge über ihn ausgefragt und mich dann beruhigt. Bek hatte sich einfach nur in die Idee vom Kampf gegen China hineingesteigert.

    Nichtsdestotrotz war Beks eigenes Leben definitiv eine Agentengeschichte. Schon 2016 spürte er, dass in der Region Repressionen gegen die Uiguren und Kasachen begannen. Er entschied sich schon damals zu verschwinden.

    Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin
    Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin

    „Anfangs konnte ich nichts machen, meine Mutter war krank und lag im Krankenhaus. Aber sie ist kurz darauf gestorben, und ich habe entschieden, dass mich hier sonst weiter nichts hält. Einfach nach Kasachstan abzuhauen war schon nicht mehr möglich, also musste ich mir etwas ausdenken. Ich fand Arbeit in Peking, in einem großen staatlichen Unternehmen. Kasachen und Uiguren ist die Ausreise aus China praktisch verboten, aber ich war ein wertvoller Spezialist, beherrschte mehrere Sprachen und hatte bereits viel Erfahrung mit der Arbeit in arabischen Ländern. Man stellte mir offizielle Papiere aus, die die Notwendigkeit einer Auslandsreise in den Iran bestätigten. Ich reiste in die Provinz Buschehr. Dort befindet sich eine Aluminiumfabrik, ein iranisch-chinesisches Unternehmen.

    Ich arbeitete fünf Monate lang als Übersetzer. Dann wurde mir klar, dass ich mich aus dem Staub machen muss. Die Nachrichten wurden immer alarmierender, und es war offensichtlich, dass die Situation in Xinjiang sich verschlechterte. Sie hätten mich jeden Moment zurückrufen können, um mich zu verhaften.

    Ich bin zu meinen Vorgesetzten gegangen und habe um Urlaub gebeten. Ich sagte, ich hätte vor zu heiraten. Sie willigten ein und fragten, wohin ich fliegen wolle. Ich sagte, ich wolle über Almaty nach Peking. Da fing es an. Man beorderte mich zum Chef, da saßen vier Chinesen vom Sicherheitsdienst. Sie waren Mitarbeiter einer Spezialeinheit. Man hat mich verhört: Was willst du denn da? Und wer bist du überhaupt?

    Ich stellte mich dumm und sagte: ‚Geschenke für die Familie kaufen, für Freunde, ich heirate doch …‘ Sie haben mir nicht geglaubt und mir eine Liste mit 27 muslimischen Ländern gezeigt, in die Kasachen und Uiguren nicht fahren dürfen – Kasachstan gehört dazu. Ich habe gehört, wie sie miteinander tuschelten: Der Typ ist aus Xinjiang, den müssen wir schnellstmöglich wegschicken, sonst bekommen wir Probleme. Man kaufte mir Tickets nach Ürümqi und ließ mich gehen. Ich habe allem zugestimmt, mit dem Kopf genickt und gelächelt. Es war klar, dass sie mich direkt aus dem Flugzeug ins Lager bringen würden. 

    Fotos © Konstantin Salomatin
    Fotos © Konstantin Salomatin

    Via VPN habe ich ein Ticket nach Almaty gekauft, mit dem ich zwei Stunden früher fliegen würde, als mit dem Ticket nach Ürümqi. Einen Tag vor dem Flug erschienen zwei Chinesen, die mich von da an begleiteten. Ich habe gefragt, wer das ist. Man antwortete mir: ‚Was, die zwei? Die fliegen von Teheran aus nach Ürümqi, die waren für ein geschäftliches Treffen hier.‘ Ich sagte: ‚Okay.‘ Ich sah, dass die beiden nicht vorhatten, auf irgendwelche Treffen zu gehen, sondern einfach nur herumsaßen, chinesische Kartenspiele spielten und schauten, was ich tat.
    Am nächsten Morgen bin ich früher aufgestanden und habe versucht, mich leise aus meinem Zimmer davonzustehlen. Aber ein Firmenangehöriger hat es bemerkt und gefragt: ‚Wohin willst du? Dein Flug geht um 16:00 Uhr.‘ Ich sage: ‚Auf den Basar! Ihr wollt mich doch nicht nach Kasachstan lassen, also muss ich die Geschenke von woanders bekommen!‘ Im Chomeini-Flughafen habe ich mich einfach irgendwo hingestellt und eine halbe Stunde lang geschaut, ob mich auch niemand verfolgt.

    Ich hatte einen Plan B und C für den Fall, dass es nicht klappt. In Teheran habe ich ein paar turksprachige Jungs kennengelernt, Turkmenen und Aserbaidschaner. Ich habe sie gefragt: ‚Wenn ich morgen nicht fliege, könnte ich dann ein paar Nächte bei euch unterkommen?‘ Sie haben zugesagt, mir zu helfen zur iranisch-türkischen Grenze zu gelangen. Ich hätte versucht mich als afghanischer Flüchtling auszugeben, als Chasar, denn die sehen den Kasachen ähnlich. Ich habe gehört, dass sie die Grenzbeamten bestechen und leicht über die Grenze kommen. Und Plan C war einfach zu Fuß über den Berg Damawand in die Türkei zu laufen …

    Ich bin schließlich zu einem Informationsstand gegangen und habe gefragt, wann ein Flug nach Almaty geht. Bis zum Abflug waren es noch anderthalb Stunden. Ich habe nicht durchblicken lassen, dass ich innerlich vor Angst starb. Iran und China arbeiten eng zusammen. Der Grenzpolizist fragte mich genüsslich aus: Du bist aus China, warum willst du nach Kasachstan? Ich sagte, dass ich Vertreter einer chinesischen Firma bin und ein wichtiges Meeting in Almaty habe. Am Ende hat er mir den Stempel gegeben und mich durchgelassen. Aber noch in der Luft fürchtete ich, dass man das Flugzeug wegen mir zur Umkehr zwingen könnte. Erst als ich unten das Kaspische Meer sah, habe ich aufgeatmet.

    Uigurisches Dorf zwischen Irkeschtam und Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin

    Chen Quanguo

    „Wir müssen eine Antwort finden auf die neuen Methoden, mithilfe derer Terroristen und andere feindliche Kräfte ihre Taten planen. Sie besteht in der allumfassenden, permanenten, dreidimensionalen Kontrolle. Wir müssen uns vergewissern, dass nicht ein einziger blinder Fleck bestehen bleibt, keine Lücken oder unausgefüllte Spalten …“ Das ist ein Zitat der Antrittsrede Chen Quanguos, dem Architekten des Umerziehungsprogramms von Xinjiang. 

    Chen ist der erste Sekretär des Komitees der Kommunistischen Partei Chinas in Xinjiang. Dieser bescheidene Mensch mit kaltem Blick und einer unbeweglichen Maske anstelle eines Gesichts ist der unbestrittene Spezialist auf dem Gebiet des Kampfes gegen Religion und der Lösung der Nationalitätenfrage. Im Unterschied zu Xi Jinping gehört Chen nicht zu den Roten Prinzen, den Kindern der maoistischen Eliten. Er kam aus tiefer Armut und hat sich den Weg nach oben freigekämpft, indem er die Aufgaben der Partei beflissen ausführte und eiserne Loyalität demonstrierte.

    Die 2000er Jahre waren die Zeit der Führung Chen Quanguos in den Provinzen Henan und Hebei, ein Jahrzehnt des aktiven Kampfes gegen die Falun Gong Bewegung. Zu eben jener Zeit entstand in China die heutige Methodik der Bekämpfung Gläubiger, die mit Umerziehung durch Ausbildung betitelt wurde. Die ungeheuerliche Geschichte des Büros 610 ist sehr wichtig für das Verständnis dessen, was derzeit in Xinjiang passiert. Es lohnt sich, sie getrennt zu lesen.

    Der Stern Chen Quanguos stieg auf im Jahr 2011 , als er zum ersten Sekretär der Partei in Tibet ernannt wurde. Chen nahm sich der Region sofort an, die China bereits sechzig Jahre lang Kopfschmerzen bereitet hatte. Die Tibeter wollten sich einfach nicht von ihrer Ergebenheit gegenüber dem Dalai Lama befreien lassen. 2008 fand in Lhasa der letzte Aufstand statt. Hier startete Chen auch das System der Netzwerkverwaltung. Die Polizeikräfte wurden um das Fünffache aufgestockt, Lhasa in Sektoren aufgeteilt mit Absperrungen alle fünfhundert Meter, Personenüberwachung, digitale Profile, Kameras in jeder Ecke, in jedem noch so abgelegenen Kloster. Eine vollständige informationelle Isolation wurde organisiert. Einhunderttausend Fangzhou wurden in tibetische Dörfer ausgesandt, und um in den 1700 Klöstern für Ordnung zu sorgen, beauftragte man 7000 Parteisoldaten. Ein Netzwerk aus geheimen tibetischen Informanten wurde errichtet. In den lokalen Beamtenständen, die einer heimlichen Sympathie für den Dalai Lama verdächtigt wurden, fanden brutale Säuberungen statt. Um 2016 erklärte Chen Quanguo, dass das tibetische Problem gelöst, die Region „aus dem Schatten ins Licht geführt“ worden sei. Der Minister für Öffentliche Sicherheit, Meng Jianzhu, nannte dies ein „würdiges Beispiel für das ganze Land“.

    Aber Tibet war bloß ein Experiment. Richtig entfaltet hat sich Chen Quanguo erst nach seiner Versetzung nach Xinjiang, wo sieben Mal mehr Menschen leben. Dort konnte man mit dem „Kampf gegen den Terrorismus“ den Aufbau des Lagersystems rechtfertigen. 2017 wurde Chen Mitglied des Politbüros und eine der mächtigsten Personen des Landes. Xi Jinping plant bekanntermaßen, auf Lebenszeit zu regieren. Es war eben jener Chen Quanguo, der Xi erstmals „Kern der Nation“ nannte, noch einige Monate bevor diese Bezeichnung zu einem offiziellen Titel wurde. Nach Shenjas Erzählungen „drehen sich die Schrauben um ganz China immer weiter zu“, und Xinjiang wird dabei als Pilotprojekt angesehen.

    Xinjiang, Dorf an der Grenze zu Kirgisien, ein Uigure zieht einem Hammel das Fell ab, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin

    Aidana

    Eine füllige junge Frau von etwa 23 Jahren. Modern, Mittelschicht. An ihrem Arm baumelt ein für sie charakteristisches Accessoire, sehr mädchenhaft. Sie bittet uns, nicht darüber zu schreiben, damit man sie daran nicht erkennt. In Kasachstan hat sie noch keinen Status. Wird sie deportiert, erwartet sie eine unabsehbare Zeit im Lager. Sagen wir, es ist ein rosafarbenes Pelztäschchen. Aidana hat in Petropawlowsk Zahnmedizin studiert. Nach ihrem Diplom wollte sie kurz vor Beginn der Repressionen für eine Weile ihre Eltern in China besuchen. Sie entschied sich zu der Reise. Daraus konstruierte man ihr eine Anklage. Sie wurde irgendwo in Zentralchina festgenommen und wie eine kasachische Spionin in ein Lager verfrachtet. Ihr neunmonatiger Aufenthalt begann mit einem 70-stündigen Verhör:

    „Sie nahmen mir mein Handy weg.“ Aidana zeigt ihr ebenfalls rosafarbenes, mit Strass beklebtes Telefon. „Sie haben Whatsapp gefunden und sagten, ich sei eine Wahhabitin. Sie setzten mich auf einen Stuhl, der weit vom Tisch entfernt steht, fast einen Meter. Die Beine bindet man dir an den Stuhl, die Arme an den Tisch. Du sitzt, langgestreckt, völlig hilflos, und sie stellen dir Fragen. Drei Tage lang kannst du dich weder entspannen noch einschlafen.“

    Der Rest ihrer Aussage ist eine Kopie dessen, was wir schon gehört haben. Chinesisch pauken, Geschichte, Gesetze. Tagsüber sinnloses Herumsitzen oder -stehen in der Zelle. Der Schlaf wird nachts alle zwei Stunden durch Wachdienste unterbrochen. Kommunikation verboten, Strafen für jedes kasachische oder uigurische Wort.

    „Vor dem Essen zwangen sie uns, Xi Jinping wie bei einem Gebet zu danken und ihm ein langes Leben zu wünschen. Jeden Tag wiederholten wir, dass China stark ist, dass es Land Nummer eins in der Welt ist, in der Wirtschaft, dass alle anderthalb Milliarden Menschen glücklich und reich leben.

    Überall sind Kameras, vier Stück pro Zelle, in jeder Ecke. In der Toilette, den Gängen und so weiter. Aber tatsächlich fangen sie nicht alles ein, es gibt blinde Flecken. Die Aufpasser holen Mädchen und bringen sie an diese Stellen, ziehen sie aus und vergehen sich an ihnen. Mich haben sie auch dorthin gebracht.“

    Obwohl Aidanas Erzählung die gleiche ist, wie die der anderen, hinterlässt sie einen mit einem ganz anderen Gefühl. Sie ist sehr emotional, spricht schnell und wach. Sie spricht mit Wut, wie sie mit den Aufpassern stritt, sie anschrie, dass sie unschuldig ist, wofür sie umgehend bestraft wurde. Sie ist die einzige, die nicht wirkt, als wäre sie gebrochen. Vielleicht ist es der Hass, der ihr das klare Urteilsvermögen bewahrt hat.
    Aidana gibt uns eine Mappe mit ihren Zeichnungen. Nach dem Lager hat sie Alltagsszenen aus dem Gedächtnis gezeichnet.

    Fotos © Konstantin Salomatin

    Wie der Stahl gehärtet wurde

    „Das offenherzigste Gespräch hatte ich ausgerechnet mit einem Polizisten“, erzählt Shenja Bunin. „Genauer gesagt, mit einem Wachmann. Er war auf dem Nachtmarkt stationiert. Es war eine kleine Teestube, die ich häufiger aufsuchte. Nach dem Mittagessen arbeitete er nicht, weil er, wie er sagte, gerade von einer medizinischen Untersuchung zurückgekehrt war. Er fragte mich: ‚Was denkst du über die Uiguren? Was sind wir für ein Volk? Ein gutes oder ein schlechtes?‘ Diese Frage stellte man mir im Laufe der Jahre in Xinjiang mehrmals. Mir hat sie nie gefallen, weil ich nicht wusste, was ich darauf antworten sollte. Es kam mir immer so vor, als hätte sie einen politischen Unterton. Ich sage: ‚Es gibt Gute und Schlechte, so wie in jedem anderen Volk auch.‘ Aber er hat nicht locker gelassen: ‚Du sagst nicht, was du wirklich denkst. Sei ehrlich. Schau dich um, du siehst doch selbst, was hier passiert. Wir sind ein vernichtetes Volk!‘ Ich bekam das ungute Gefühl, dass er mich auf die Probe stellt. Er war ja Polizist in Uniform. Wenn ich ihm zustimme, zeigt er mich an. Das Gespräch endete abrupt. Aber jetzt verstehe ich, dass das ein wahrer Schrei der Verzweiflung war. Einige Tage später verschwand er. Ich sah ihn nie wieder auf diesem Posten. Gut möglich, dass sie ihn ins Lager gebracht haben.

    Mein Freund Karim ist im Mai 2017 verschwunden. Er war ein wunderbarer Gastronom. Sein Restaurant war ein warmer Ort, dort herrschte immer ein Gefühl des Beisammenseins. Karim konnte auf eine Weise mit seinen Besuchern umgehen, dass zwischen mehreren Tischen ein neugieriges, interessantes Gespräch entstand, und dabei oft noch über ein wichtiges Thema.“

    Als Shenja nach Guangzhou zurückkehrte, sah er, dass das Restaurant geschlossen war. Er fuhr in ein anderes uigurisches Restaurant, dessen Besitzer sagte, dass man Karim in Handschellen abgeführt habe, weil er irgendwann mal in Ägypten und der Türkei gelebt hatte. Anschließend hatte ihm irgendwer gesteckt, dass Karim im Lager „verstorben“ war.

    „Ich verließ das Lokal, und mir wurde klar, dass ich nicht länger in China bleiben konnte. Ich bekam Panikattacken. Du weißt nie, wann es losgeht. Sobald der Druck zunimmt, zittert der ganze Körper, im Herzen sticht es und der Kopf schmerzt. Es gab Tage, da konnte ich mich nicht einmal dazu durchringen, auf die Straße oder in ein Café zu gehen. 

    Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin
    Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin

    Früher gab es in Kaxgar einen geistig zurückgebliebenen Mann, der immer am selben Platz saß. Wenn ich die Straße runterlief, kam er auf mich zugerannt, mit aufgeknöpften Hosen und breit lächelnd. Einige Jahre zuvor haben sie in China eine Fernsehserie nach dem Buch Wie der Stahl gehärtet wurde produziert. Sie gefiel auch den Uiguren sehr. Er schüttelte mir immer die Hand und fragte: ‚Wie geht es Kortschagin? Lebt er noch?‘ Aber dann hat die Atmosphäre auch in ihm ihre Wirkung hinterlassen. Letzten Herbst sprang er schon nicht mehr auf, sondern hockte leise und regungslos vor einem Laden herum, wenn ich vorbeilief. Dann verschwand auch er.“

    Einmal bekam Shenja einen Anruf von der örtlichen Polizei. Sie zitierten ihn auf die Wache: „Sie gehen einer journalistischen Tätigkeit nach.“
    „Ich sagte: ‚Nein, ich schreibe nur ein Buch über die uigurische Sprache und Küche.‘ Sie sprachen drei Stunden mit mir. Danach wurden die Schikanen noch häufiger. Und dann, eines Tages, ist die Polizei einfach zu mir gekommen, in das Hostel meines alten Freundes. Sie sagten, dass das Brandschutzsystem nicht den Standards entspreche, haben das Hostel geschlossen und alle Touristen rausgeschmissen. Ich bin in ein anderes Hotel, aber dort haben sie gesagt, dass es keine freien Zimmer mehr gibt. Das war sehr merkwürdig, zumal nicht Saison war. Ich bin in ein drittes Hotel gegangen, und da war es das Gleiche. Aber sie haben mir zugeflüstert, dass sie eine schwarze Liste haben, wen sie nicht reinlassen dürfen. Und ich war drauf, oder besser gesagt, nur ich.“

    Das war’s. Die Arbeit war noch nicht beendet, aber Shenja hatte verstanden, dass es an der Zeit war zu verschwinden. 

    „Nachdem ich von Karims Tod erfahren hatte, hatte ich die ganze Zeit das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Mir war grauenhaft zumute. Jedes Mal, wenn ich mit der Polizei zu tun hatte, wurde ich aggressiv. Ich hatte Angst, dass das jeden Moment in eine Schlägerei ausarten könnte, denn das wäre schlecht für mich ausgegangen.“

    Kaxgar, Schule für uigurische Kinder, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin
    Kaxgar, Schule für uigurische Kinder, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin

    Die Straße des Schweigens

    Beim Versuch, das Geschehen in Xinjiang zu erklären, kommen Experten häufig auf die Neue Seidenstraße zu sprechen, das gigantische Megaprojekt der chinesischen Regierung. Das Projekt soll beinahe ganz Eurasien und Ostafrika abdecken. Kurz gesagt handelt es sich um eine den gesamten Kontinent umfassende Transport- und Handelsinfrastruktur – Autobahnen, Schienennetze, Häfen, Logistikzentren. Teils, damit chinesische Waren ungehindert in jeden Winkel gelangen können, hauptsächlich zu den engsten Partnern – Russland, Türkei und Pakistan – und andernteils, um den eigenen Einfluss auf dem Kontinent zu stärken. Das Projekt, das mehr als 1,3 Billionen Dollar kosten wird, wird als chinesischer Marshallplan bezeichnet. Seinen Beginn verlautbarte Xi Jinping im Jahr 2013 während eines Besuchs in Kasachstan. Der Hauptzweig der Neuen Seidenstraße soll ausgerechnet durch Xinjiang gehen und die Grenze bei Korgas kreuzen. Ich weiß nicht, ob das erklärt, weshalb Xinjiangs Einwohner in Lager geworfen werden. Aber es erklärt fraglos, weshalb Kasachstan und andere Länder schweigen. 

    Vor einem Jahr wurde in Harvard eine Studie durchgeführt, die die Verschuldung verschiedener Staaten China gegenüber analysierten. Dort heißt es, dass 23 Länder ihre Schulden, aller Wahrscheinlichkeit nach, bereits nicht mehr zurückzahlen können, und sich somit in totaler Abhängigkeit befinden. Unter anderem sind dies die Mongolei, Tadschikistan und Kirgisistan. Im Austausch gegen den Erlass eines Teils der Schulden hat Tadschikistan bereits ein Stück seines Territoriums im Pamir-Gebirge an China abgetreten. 

    Grenze zwischen Kasachstan und China, Sonderwirtschaftszone Chorgos, kasachischer Teil, November 2018 / Foto © Konstantin Salomatin
    Grenze zwischen Kasachstan und China, Sonderwirtschaftszone Chorgos, kasachischer Teil, November 2018 / Foto © Konstantin Salomatin

    Ich lausche den Freiwilligen von Atashjurt. Sie sind herzensgute Menschen, getrieben von dem Wunsch zu helfen. Der Fahrer, selbst ein Flüchtling, fuhr uns kostenlos in seinem Honda umher. Er bat lediglich um Benzin. Siebenhundert Kilometer hin und zurück. Er will unbedingt helfen. Davon gibt es hier viele. Ich biete ihnen an, wenigstens ein paar Tausend dazulassen. 

    Das einzige Problem ist, dass sie sich alle gegenseitig verdächtigen. Sie vertrauen nur Ausländern. Sie denken, dass alle Kasachen entweder für kasachische oder chinesische Geheimdienste arbeiten. Die Aktivisten werden regelmäßig von anderen Kasachen, die für Geheimdienste arbeiten, angerufen und bedroht: „Wir wissen, wo du wohnst. Wenn du noch einmal den Mund aufmachst, wird es mit dir ein böses Ende nehmen!“

    Kasachstans Schulden bei seinem Nachbarn sind nicht sehr groß, aber in Korgas wird einem trotzdem alles klar. Es handelt sich um eine Freihandelszone, einen neutralen Streifen zwischen China und Kasachstan. Auf der kasachischen Seite gibt es Jurten und ein paar Wägelchen, auf der chinesischen Wolkenkratzer und mehrere gigantische, mehrstöckige Shoppingmalls, ein wahres Disneyland. Eine Packung mit hundert Socken für dreihundert Rubel. Plasmabildschirme und Reifen werden hin- und hergeschleppt. Man überquert die Grenze und bekommt einen Stempel. Bald wird hier im Rahmen der Neuen Seidenstraße ein riesiges Drehkreuz entstehen. Gegenüber davon auf der kasachischen Seite entsteht Nurkent. Derzeit leben hier 3000 Menschen. In fünf Jahren sollen es 300.000 sein. Es geht allem Anschein nach um Geldsummen, für die Astana zu allem bereit ist. 

    Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin
    Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin

    Abends, als wir im Hotel sitzen, kommt eine SMS von Serikshan Bilasch: „Irgendwelche Unbekannten sind ins Büro gekommen, sie suchen überall nach mir. Mein Leben ist in Gefahr.“ Sie haben sich für die Nacht irgendwohin abgesetzt, und ich habe mein Telefon ausgeschaltet. Morgens habe ich es gerade wieder eingeschaltet, als ein Anruf reinkommt: „Habt ihr Zeit zu reden? Ich bin der Bruder von Serikshan. Er ist gerade entführt worden, wir wissen nichts.“

    Einen Tag später taucht Serikshan Bilasch wieder in Astana auf. Geheimdienstler haben ihn entführt, in ein Privathaus gebracht und sich dort mit ihm unterhalten. Einen weiteren Tag später geht ein Video durchs Netz, auf dem Bilasch sich von seinen Kampfgenossen lossagt und die Kasachen dazu aufruft, nicht auf Demonstrationen gegen China zu gehen. Er verpflichtet sich, im Weiteren keine Probleme mehr für die chinesischen Kasachen zu verursachen und lehnt einen Anwalt ab. Anschließend wird Bilasch offiziell verhaftet. Er wird beschuldigt, Zwietracht zwischen den Völkern gesät zu haben. Später, nachdem die Anwältin Aiman Umarowa ein Treffen mit Bilasch erreicht hat, erzählt er, dass die Geheimdienstler ihn dazu gezwungen haben, das Video aufzunehmen, leere Blätter und ein Schuldeingeständnis zu unterschreiben, all das unter der Androhung von zehn Jahren Haft.

    Direkt nach Bilaschs Verhaftung schreiben chinesische Zeitungen, dass sie Kasachstans Antiterrorkampagne voll und ganz unterstützen. Dass Serikshan einen Haufen Schulden bei der chinesischen Regierung gemacht habe und deswegen geflohen sei. 

    Kasachische Medien schweigen über Xinjiang, das Thema ist Tabu. Sofort nach seinem Rücktritt ist Nursultan Nasarbajew mit der höchsten Auszeichnung Chinas prämiert worden, dem Orden der Freundschaft. Neuer Präsident wurde der Diplomat und Spezialist für China Qassym-Schomart Toqajew.

    Xinjiang, Dorf an der Grenze zu Kirgisien, in der Nähe des Grenzübergangs Irkeschtam. Uigurische Taxifahrer spielen Billard, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin

    Die Datenbank

    „Als ich nach Almaty umzog“, gesteht Shenja, „hoffte ich noch, weiter an dem Buch arbeiten zu können. Aber dann kam ein Aktivist auf mich zu und sagte: ‚Es gibt Zeugen, ehemalige Gefangene. Könntest du helfen?‘ Ich hatte westliche Journalisten als Freunde, die ich dafür zu gewinnen versuchte. Schließlich habe ich selbst begonnen zu schreiben. Jedes Mal, wenn ich zu Atashjurt kam, waren dort zehn oder zwanzig Angehörige von Verschollenen, und sie wollten alle mit Journalisten sprechen. Aber du kannst nicht über jedes einzelne Opfer schreiben. Die ganze Zeit kommen neue Hinweise ans Licht, Verwandte nehmen Videobotschaften auf, schreiben auf Facebook, aber all das gerät nach und nach in Vergessenheit. Ich verstand, dass es einen weiteren Schritt braucht, dass es wichtig war, all das zu dokumentieren und zu strukturieren. Im September letzten Jahres habe ich angefangen eine Datenbank mit Daten aller Gefangenen aufzubauen: shahit.biz. Mittlerweile gibt es dort 4027 Zeugenaussagen, und jeden Tag kommen ungefähr zwanzig neue hinzu.“

    Und so schuf der Linguist Shenja Bunin ein Schlüsselloch, durch das hindurch die Welt das Geschehen in Xinjiang sehen konnte.

    „Bis November versuchte ich noch, mit der Linguistik weiterzumachen, aber dann wurde mir klar, dass das jetzt wichtiger für mich ist. Du kannst nicht über jeden Menschen schreiben. Aber du kannst ihn zur Datenbank hinzufügen, Zeugenaussagen aufschreiben, die Geschichte weiterverfolgen. Und dann kannst du sie Journalisten anbieten. Nehmen wir an, irgendwer will über Kinder schreiben. Er arbeitet sich in die Datenbank ein und findet hunderte Hinweise über verschwundene Kinder. Irgendwo findet sich ein Video, indem man einen realen Menschen darüber reden hört. Und das ist weitaus eindrücklicher, als nur zu sagen, dass es ein paar hundert Fälle gibt. Anhand der Datenbank kann man auch analysieren, was dort passiert, also die Suche am Zeitpunkt der Festnahme, Polizeiwachen, Gefängnissen, Lagern, Geschlecht, Alter, Nationalität und so weiter orientieren.“

    Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin
    Kaxgar, 2007 / Foto © Konstantin Salomatin

    „Wie hoch sind die Haftstrafen?“

    „Im Gefängnis minimal drei Jahre, aber in der Regel 10, 15, 20 Jahre. Diese Urteile werden nirgendwo veröffentlicht und niemandem in die Hand gegeben. Ins Lager stecken sie einen von einem halben bis zu zwei Jahren, dort gibt es kein offizielles Strafmaß. Offenbar sitzen doppelt so viele Leute in Lagern als in den Gefängnissen.“

    „Wer ist in der Datenbank stärker vertreten – Kasachen oder Uiguren?“

    „Hauptsächlich Kasachen, obwohl es in Xinjiang weitaus mehr Uiguren gibt. Informationen über sie gibt es aber zehnmal weniger als über die Kasachen. Kasachen, deren Verwandte Lärm machen, werden häufig freigelassen, denn sie haben einen eigenen Staat. Aber über die Uiguren gibt es nur wenig Informationen. Sie haben schreckliche Angst. Selbst wenn sie einen Weg gefunden haben, Kontakt mit ihren Verwandten aufzunehmen und wissen, wohin man sie gebracht hat. Sehr, sehr viele Menschen schweigen einfach. Sie denken: Wenn ich heute eine Aussage mache, werden morgen alle meine Verwandten eingesperrt.“

    „Ist das nicht so?“

    „Ich habe mir gedacht: Wenn nur ein Mensch aussagt, dann ist das gefährlich. Aber wenn hundert Menschen aussagen, dann ist es schon nicht mehr so schlimm, der 101. zu sein. Wieder ein anderer wird solange Angst haben, bis es nicht 1000 Aussagen sind. Andere werden erst bei 10.000 Aussagen mitmachen. Jeder hat seine Angstgrenze. Wenn schon eine Million Menschen ausgesagt haben werden, wirst du dich dann wirklich noch davor fürchten, deine Unterschrift dieser Million hinzuzufügen? Die Welt muss mit Aussagen überschwemmt werden. Damit Regierungen nicht so tun können, als hätten sie nichts gehört.“

    Fotos © Konstantin Salomatin
    Fotos © Konstantin Salomatin

    „Wissen denn die Menschen in China grundsätzlich, was in Xinjiang passiert?“

    „Der Großteil nicht. Es gibt keine unabhängigen Medien, das Internet steht unter Kontrolle, alles wird zurückverfolgt. Informationen kommen nur aus den chinesischen Medien: Dort ist alles gut, wir kämpfen gegen den Terrorismus, Touristen können dorthin fahren, niemand wird euch angreifen. Viele glauben, dass dort tatsächlich Chaos herrscht, dass man damit aufräumen muss und dass die Uiguren wirklich Extremisten sind, die man erziehen muss. Ich habe versucht über dieses Thema zu reden, sogar zu streiten, aber das ist schwierig. Sie sagen mir: ‚Was denn, glaubst du etwa, dass eine Million Menschen einfach nur so im Lager sitzen? Sie werden wohl schon irgendwas getan haben …‘ Es ist sehr schwer, sie umzustimmen. Wenn du die Regierung kritisierst, stimmen sie dir schon aus einem Instinkt heraus nicht zu. Einige mögen schon etwas verstehen, aber sie haben vor langer Zeit gelernt, dass man sich aus der Politik heraushalten sollte. Dann kannst du in Ruhe leben, Geld verdienen, sogar reisen, und alles ist in Ordnung. Empathie, Menschenrechte, sich für jemanden einsetzen – für die meisten ist das fremd. Diese Angst rührt noch von Mao her, aus jenen Zeiten. Aber auch Islamophobie existiert. Die Menschen verstehen, dass etwas Schreckliches vor sich geht, aber sie geben einen Dreck auf die Uiguren, die Muslime. Muslime, das sind schlechte Menschen, die man kontrollieren muss.“

    Das russische Außenministerium unterstützt den Kampf Pekings gegen den Terrorismus natürlich vollumfänglich. Das Innenministerium und die Moskauer Regierung kaufen chinesische Gesichtserkennungssysteme. Muslimische Staaten, furchtlose Kämpfer gegen Mohammed-Karikaturen, wie Pakistan, Iran, Saudi-Arabien, schweigen beflissentlich. Auf dem internationalen Parkett haben lediglich Donald Trump und Recep Erdogan die Lager verurteilt. Aber Ankara macht keine Anstalten, auf die chinesischen Investitionen zu verzichten. Selbst Europa macht im Allgemeinen keinen Skandal daraus. 

    „Wisst ihr, warum ich in Almaty lebe?“, setzt Shenja Bunin an. „Ich bin für eine Konferenz nach Amerika geflogen. Nach einer Woche habe ich mich dabei ertappt, dass ich schon gar nicht mehr an Xinjiang dachte.“

    Weitere Themen

    Sila Sibiri

    Business-Krimi in drei Akten

    Pack die Badehose ein

    Vom Osten lernen

    Ayka – Moskau kann dein Freund und Feind sein

    Russland und China

  • Ojub Titijew – die Geschichte eines Menschenrechtlers

    Ojub Titijew – die Geschichte eines Menschenrechtlers

    Ojub Titijew, Leiter von Memorial Grosny, ist im Januar 2018 verhaftet worden. Die Polizei hat in seinem Auto angeblich Drogen gefunden. Derzeit läuft der Prozess gegen ihn, den internationale Menschenrechtler als fadenscheinig und konstruiert bezeichnen. 2018 wurde er mit dem Václav-Havel-Menschenrechtspreis ausgezeichnet.
    Der Moskauer Journalist Schura Burtin, der schon über Juri Dmitrijew, Leiter von Memorial Karelien, recherchiert und geschrieben hatte, kennt Titijew jedoch schon lange. Den Prozess gegen ihn hat er zum Anlass genommen, um nach Grosny zu fahren und kleinere tschetschenische Orte zu besuchen, etwa Kurtschaloi, wo Ojub Titijew herkommt. 

    Auf Meduza hat Schura Burtin Titijews Geschichte aufgeschrieben, die auch eine Geschichte über das Tschetschenien der Gegenwart ist. Ein dekoder-Longread.

    Im Bau befindliche Moschee in Kurtschaloi, dem Heimatort Titijews / Foto © Dmitry Markov für Meduza
    Im Bau befindliche Moschee in Kurtschaloi, dem Heimatort Titijews / Foto © Dmitry Markov für Meduza

    „Ich erinnere mich, wie Mama ihm mal hinten Flicken auf die Hose gemacht hat“, erzählt Ojubs ältere Schwester. „Er war in der zweiten oder dritten Klasse. [Mama] sagte: ‚Geh mit dieser Hose in die Schule, die andere ist noch feucht.‘ Er hat sich unwillig angezogen, fertig gemacht, die Tasche genommen, und ist los, ohne etwas zu sagen. Mama sagte mir: ‚Ich weiß, dass er sich irgendwo versteckt hat. Lauf ihm unauffällig nach.‘ Ich bin los, ihm nach. Er hatte sich um die Ecke bei den Nachbarn versteckt und stand da jetzt. Ich wartete und wartete, aber er kam nicht raus. Ich ging hin und sagte: ‚Mama wird schimpfen …‘ Unsere Mutter war noch ziemlich streng. ‚Guck mal, ist doch überhaupt nicht zu sehen. Geh’ heute so, Ojub. Setz dich hin, dann merkt’s niemand.‘ Da ist er widerwillig los. An diese Geschichte erinnere ich mich aus irgendeinem Grund ständig, warum weiß ich nicht.“

    Ich hatte nicht vor, diese Episode einfließen zu lassen, weil sie nicht so recht ins Gesamtbild passen wollte. Aber dann merkte ich, dass auch ich mich ständig an sie erinnerte. Vermutlich deswegen, weil sich in ihr Ojubs wahre, seine scheue und eigensinnige Natur spiegelt.

    Ich habe Ojub Titijew vor zehn Jahren kennengelernt. Er war ein Freund und Kollege meiner Schwester. Sie bauten zerstörte Schulen in den Bergregionen Tschetscheniens wieder auf und transportierten Kranke und Verletzte zur Behandlung nach Moskau. Er war ein schweigsamer Mann mittleren Alters, auf den ersten Blick keine besonderen Auffälligkeiten. 

    Ich sollte einen Text über die tschetschenischen Adaten und ihre Anwendung schreiben, und Ojub fuhr mit mir für ein paar Tage durch die Berge, um mich mit einigen der Ältesten bekannt zu machen. Aus irgendeinem Grund kannte er dort alle. Es stellte sich heraus, dass er ein angenehmer Mensch ist, insbesondere ein verlässlicher. Außerdem führte seine Lässigkeit dazu, dass wir sofort zum „du“ übergingen, obwohl er bedeutend älter war als ich. 
    Damals habe ich gemerkt, dass sich hinter dieser gemächlichen Art noch etwas anderes verbirgt. Wenn er über die Dörfer erzählte, erwähnte er manchmal Episoden des Krieges, die dort geschehen waren – inklusive der Nummern von Einheiten, Namen von Kommandeuren, Opferzahlen und konkreten, schrecklichen Todesumstände. Und wer, wann, bei wem und für wie viel den Körper jenes Getöteten freigekauft hatte. Ich hatte das Gefühl, als wüsste er das alles ganz genau und nicht aus dem Internet.

    Später verstand ich, dass Ojub weitaus besser informiert war, als alle mir bekannten Memorial-Mitarbeiter, anderen Menschenrechtler und Journalisten. Es schien, als wüsste er die ganze Wahrheit über das, was in Tschetschenien passierte und passiert. Auf jede Frage gab er für gewöhnlich eine kurze, konkrete Antwort. 

    Sein Wissen hat Ojub nie kommentiert und war offensichtlich nicht stolz darauf. Er sah aus wie ein bescheidener Dorflehrer, der aus unerklärlichen Gründen die Last ungeheuren Wissens über das menschliche Leid auf seinen Schultern trug. All das war noch vor der Ermordung Natascha Estemirowas, und bevor Ojub die tschetschenische Abteilung von Memorial übernahm.

    Trotzdem haben wir uns nicht ein einziges Mal über Persönliches unterhalten, über sich selbst hat Ojub nie geredet. Daher wusste ich lange nicht, was ich sonst noch über ihn schreiben könnte.

    „In Tschetschenien wird schwerlich überhaupt jemand mit dir reden“, sagte mir eine Bekannte von Ojub. „Ich persönlich jedenfalls nicht, wenn ich dort wäre.“

    Sie hat sich geirrt. Ich hatte nicht genügend Zeit mich mit allen zu unterhalten, die etwas über Ojub erzählen wollten. Tatsächlich kann ich keinen einzigen der Tschetschenen hier beim Namen nennen, konnte bei niemandem übernachten. Das ging nur in Hotels. Jeder Einheimische, der in diese Geschichte verwickelt ist, riskiert sein Leben.

    Kapitel 1
    Vergebung

    Vermutlich hatte ein Ereignis in Ojubs Kindheit starken Einfluss auf sein Schicksal: Sein Vater, ein Dorfpolizist, tötete einen Menschen. Das war ein unglücklicher Zufall, und alle wussten, dass er unschuldig war. Die Titijews baten um Vergebung, und die Sippe des Getöteten akzeptierte. In Tschetschenien gilt das Gesetz der Blutrache: Ein Mord kann nicht ungesühnt bleiben. Die Familie des Getöteten muss sich rächen – oder der Familie des Mörders vergeben. 
    Es werden lange Verhandlungen geführt, Kompensationen vorgeschlagen, die Ältesten anderer Sippen als religiöse Autoritäten hinzugezogen. Es ist wichtig zu verstehen, dass die Blutrache kein Recht der Familie ist – es ist ihre Pflicht. Ihr Umfeld erwartet von ihr Gerechtigkeit. Einen Mord nicht zu rächen bedeutet, den Ruf der Sippe zu beschmutzen. Aber um den dreht sich das ganze Leben. Vergebung ist möglich, doch das ist eine lange Prozedur, und es braucht eine handfeste Grundlage, mit der alle einverstanden sind. 

    Die Pflichten, die sich für die Familie aus der ihnen zuteil gewordenen Milde ableiten, wiegen schwer. Ab sofort muss sie der Familie des Getöteten in jeder Situation beistehen und immer als erstes zur Stelle sein, so als würde sie den Verstorbenen zu ersetzen versuchen. 

    „Wir sind jetzt wie Verwandte“, erzählt Ojubs Schwester. „Wir stehen seitdem an ihrer Seite. Als ihr Sohn heiratete, halfen wir, und auf den Feldern im Herbst und Frühling ebenso.“

    Das soziale Leben des Mörders ändert sich fundamental: Er stirbt quasi selbst, muss auf ewig Buße tun. Er muss entweder aus seinem Heimatort verschwinden oder sich völlig unauffällig verhalten. Er kann kein öffentliches Leben mehr führen und nicht mehr an Versammlungen der Dorfgemeinschaft teilnehmen. Er darf nicht mehr sichtbar sein. 

    „Ihr Vater gab seine Arbeit auf und hielt sich von da an nur noch im Haus auf, ohne sich jemandem zu zeigen“, erzählt ein Freund der Familie Titijew. „Er war gezwungen so zu leben, während die Mutter die Verantwortung für die Familie übernehmen musste. Sie hatte schwer zu tragen, diese starke Frau.“

    Ojub Titijew (in der Mitte) mit seiner Familie / Foto © Privatarchiv der Familie Titijew
    Ojub Titijew (in der Mitte) mit seiner Familie / Foto © Privatarchiv der Familie Titijew

    Ojubs Vater war ein sehr zarter Mensch und, der sowjetischen Ordnung zum Trotz, sehr gläubig. Seine Mutter dagegen war sehr streng. Ojub war der jüngste von vier Brüdern. 
    Ich weiß nicht, ob das etwas mit der Sache zu tun hat, aber mir scheint, dass jüngere Brüder oft unter dem Affentheater ihrer älteren Brüder leiden, mehr Mitgefühl für ihre Eltern empfinden und versuchen, es ihnen recht zu machen. Ich vermute, dass die Tragödie des Vaters eine tiefe Prägung in Ojub hinterlassen hat – seine Verschlossenheit, Bescheidenheit und Abneigung gegen Gewalt. Und ich habe das Gefühl, dass Ojub sein ganzes Leben ein Gefühl der Schuld mit sich herumtrug.

    Kapitel 2
    Der Sportlehrer

    Was in seiner Kindheit und Jugend weiter passiert ist, weiß ich nicht. Was ich weiß, ist, dass er den Militärdienst in der Ukraine abgeleistet hat, und zwei Jahre in einem Disziplinarbataillon absaß. Als Jungspund, der sich dort desöfteren mit Tschetschenen umgab, hatte er sich geweigert, die Anordnungen der Altgedienten auszuführen. Dafür versuchte man einmal, kurzen Prozess mit ihm zu machen. Sie waren zu elft, aber Ojub entriss ihnen das Messer. Das deckt sich nicht im Geringsten mit seinem friedliebenden Charakter. Allerdings wurde Ojub mit äußerst rigorosen Vorstellungen über Ehre und Würde erzogen, und ich glaube, dass er schlichtweg keine Wahl hatte.

    Ojub beendete das Agrarinstitut, dann das Institut in Nowgorod, kehrte nach Kurtschaloi zurück und fing an, als Sportlehrer an einer Schule zu arbeiten. Ab Mitte der 1980er Jahre organisierte er dort mit einem Kameraden einen Boxverein, einen der ersten in Tschetschenien. Alle seine Freunde sagen, dass Ojub hingebungsvoll, ja fanatisch in Sport vernarrt ist. 

    „Er hat einen der Box-Klubs in Tschetschenien aufgebaut, aus dem seither Champions hervorgegangen sind“, erzählt der Vorsitzende von Memorial, Alexander Tscherkassow. „Er hat sich da sehr reingehängt. Das Schicksal dieses Klubs ist ihm überaus wichtig, genauso wie das seiner Schüler. Die Leidenschaft für den Sport ist nicht irgendein beliebiger Charakterzug, sondern ein Grundpfeiler seines Lebens.“

    Ich kann mir Ojub in der Rolle des Trainers sehr gut vorstellen, als ernsten und wortkargen Typen. Ich stelle mir vor, dass er seine Schüler sehr liebt, wenn er es sich auch nicht anmerken lässt; wie er geduldig mit ihnen ist. Dieser Verein spielte in seinem Leben eine bedeutende, widersprüchliche Rolle. 

    Während der Perestroika verließ Ojub die Schule. Anscheinend handelte er mit Möbeln und sonst welchem Kram und führte einen kleinen Laden in Gudermes. Er heiratete. Erzählungen nach zu urteilen, war er damals ein anderer, fröhlicher, offener und kontaktfreudiger Typ. 
    So lief es bis zum Krieg. Und als russische Truppen in Grosny einmarschierten, schloss sich Ojub, so wie viele andere, der Dudajew-Miliz an. Er tat das ungeachtet der Meinung seiner älteren Brüder.

    „Am Anfang waren die Aufrufe solche: ‚Los jetzt, raus mit euch! Ehefrauen, Mütter – lasst eure Männer gehen! Wenn du ein Mann bist – verkauf die Kuh und kauf dir eine Maschinenpistole!‘ Naja, einige haben sich verleiten lassen, ehrliche, gute Leute“, erzählt Jakub Titijew. „Aber als Dudajew im Fernseher erschien, habe ich meinen Brüdern von Anfang an gesagt: Nein, diesem Schnauzer werde ich nicht hinterherlaufen, das ist kein männlicher Schnauzer. Wenn es sein muss, finden wir Waffen. Wir sind zu viert. Aber jetzt macht es keinen Sinn, sich zu verteidigen. Niemand hat vor, uns die Heimat wegzunehmen.“

    Aber Ojub ging trotzdem. Ihm folgten viele Jugendliche aus dem Dorf, darunter seine Schüler. Dennoch ist er nicht lange in Grosny geblieben.

    „Seine Mutter und Schwester sind hingefahren“, erzählt einer seiner Freunde, „und haben auf den Knien, weinend, auf ihn eingeredet, dass der Vater weg ist und er die Familie nicht einfach im Stich lassen kann und so weiter. Seine Mutter sagte ihm: ‚Wenn du jetzt nicht gehorchst und mitkommst, dann bist du nicht mehr mein Sohn.‘ Und Ojub fühlte sich schuldig gegenüber seiner Mutter, dafür, dass sie es immer so schwer gehabt hatte. Also musste er mitkommen.“

    Ojub gehorchte und kehrte heim. Aber seine Schüler blieben zurück, um zu kämpfen. Sie kamen um, siebzehn an einem Tag. Ojub lief über das Feld und las sie in Einzelteilen auf – hier einen Arm, dort ein Bein, irgendwo anders einen Stiefel …

    Kapitel 3
    Depression

    Nach dem Tod seiner Schüler verließ Ojub lange Zeit nicht mehr das Haus und sprach mit niemandem. Freunde dachten, dass er durchgedreht sei.

    „Die ganze Zeit saß er da, behaute Tschurty aus Stein, die hiesigen Grabsteine, und setzte sie auf die Gräber. Es war ein schwerer Schlag für ihn, dass er zurückgekehrt war und sie gestorben waren.“

    Alle sagen, dass Ojub die nächsten Jahre in einer Depression verbrachte. Sein Charakter veränderte sich. Er wurde zu dem, als den wir ihn heute kennen: still und nachdenklich. Er half den anderen Dorfbewohnern ihre Verwandten zu suchen, die in Gefangenschaft waren, und sie sowie die Körper der Toten bei den föderalen Kräften, den Russen, freizukaufen.

    „Im Großen und Ganzen haben sich die Frauen um die Suche nach den Verschollenen gekümmert. Die Männer haben sich damals hinter den Frauen versteckt, weil es zu gefährlich war. Aber Ojub hatte keine Angst. Er hat sich nie unter den Röcken verkrochen“, erzählt ein Freund.

    Ich glaube, dass Ojub damals, in diesem Zustand, gelernt hat, bei gefährlichen Aktionen die Angst vollständig zu ignorieren. Möglicherweise versuchte er auf diese Weise, seine Schuld zu bereinigen. Oder er hoffte, dabei umzukommen. 

    „Er hat sich darauf verstanden, die Überreste aufzusammeln und zu bestatten, wie andere die Hausarbeit erledigen“, sagt ein Nachbar von Ojub. „Alle hatten Tote zu beklagen. Trotzdem machten die Menschen weiter. Sie schlossen irgendwie Frieden damit. Aber Ojub kam nicht darüber hinweg.“

    „So ein Verhalten ist heutzutage nicht gerade weit verbreitet“, erklärt Alexander Tscherkassow. „Solche Menschen wurden zu dieser Zeit beispielsweise Dorfvorsteher, Älteste. Das sind Menschen, die man vorschob, um Verhandlungen mit den Soldaten zu führen. Sie trugen die Verantwortung für alle, nicht nur für die eigene Familie. Für alle in ihrem Umfeld: Verwandte, Kollegen, Schüler, alle, die ihnen vertrauten. So einer war er.“

    „Er hat definitiv viel riskiert“, erzählt ein Nachbar. „Da gab es diesen Rebellenführer namens Radujew, erinnern Sie sich? Er kam in Gudermes vorbei und startete eine Schießerei. Da war alles voller Leichen. Die Leute flüchteten aus der Stadt. Und Ojub ist los, um in seinem Auto die Leute aus der Stadt zu fahren. Während die Bomben fielen, fuhr er den ganzen Tag hin und her. Den Seitenflügel haben sie ihm durchlöchert. Am Ende hat er die Leichen noch bestattet.“

    Es muss damals gewesen sein, dass Ojub anfing, sich alles zu merken, was er von den Geschehnissen mitbekam. Alle Kollegen sagen, dass sie viele Male über sein phänomenales Erinnerungsvermögen für Daten, Zahlen und Ereignisse staunten.

    „Ein Computer merkt sich wahrscheinlich nicht so viel“, sagt Tscherkassow. „Wenn du rein gar nichts tun kannst, nicht einmal etwas sagen, dann musst du es halt abspeichern. Auch das wird dir am Tag des Jüngsten Gerichts mit angerechnet.“

    Kapitel 4
    Der Freiwillige

    Ojubs Laden in Gudermes brannte im Krieg bis auf die Grundfesten nieder. Seine Schwager wollten ihn wieder aufbauen, aber Ojub verlor das Interesse daran. Er kehrte in die Schule zurück. Sein älterer Bruder Sultan war dort Direktor. Die Schule war zerstört, die Brüder bauten sie mit bloßen Händen wieder auf. Ojub unterrichtete dann Sport und Geschichte. 

    Als der Zweite Tschetschenienkrieg begann, war es wieder Ojub, der die Dorfbewohner aus den Filtrationslagern rausholte. Im Jahr 2000 kam Natascha Estemirowa von der Menschenrechtsorganisation Memorial in Kurtschaloi an. Sie sammelte Daten über die Getöteten und Verschleppten. Man verwies Natascha an Ojub, der sich anbot zu helfen. So lernten sie sich kennen, und er leitete dann Informationen an sie weiter. 

    Zu Beginn beäugten sie einander misstrauisch. Der Menschenrechtlerin Swetlana Gannuschkina kam es so vor, als würden sie nicht recht warm miteinander: „Er war nicht all zu sehr zum Lächeln aufgelegt, kriegt die Lippen nicht so recht auseinander. Wie soll man mit so einem Menschen arbeiten? Seine erste Reaktion war ein Gesichtsausdruck, der zu sagen schien, dass das, was wir da machen, Mumpitz ist. Aber mit der Zeit erkannte er, dass wir es ernst meinen.“

    „Weißt du, in der Welt der Menschenrechtler gibt es sehr viele gute Leute“, erzählt die Human Rights Watch-Mitarbeiterin Tatjana Lokschina. „Viele kreative Persönlichkeiten, interessante Gespräche, wunderbare Initiativen. Häufig wollen die Menschen aufrichtig etwas bewirken, glauben zu einhunderfünfzig Prozent daran. Aber dann resignieren sie und das war’s. Ojub hat sich nie an philosophischen Auseinandersetzungen über Heimat und Zukunft beteiligt, sondern versucht, realen Menschen zu helfen. Er hat seine Versprechen immer gehalten. Wenn du ihn gebeten hast, etwas herauszufinden oder zu überprüfen, konntest du mit hundertprozentiger Sicherheit davon ausgehen, dass er es macht. Und er sagte auch manchmal Nein. Seine Grenzen zu kennen ist auch sehr wichtig.“

    Alle seine Freunde sagten mir, dass Memorial für Ojub die Rettung war und er ansonsten definitiv verrückt geworden wäre. Anfangs gab er einfach als Freiwilliger Informationen weiter. Er hielt alles handschriftlich fest, und fuhr fünfzig Kilometer und über dutzende Checkpoints, um die Dokumente den Moskauern zu übergeben. Er unterschrieb nicht mit seinem Namen, sondern einfach nur mit „Monitor-1“.

    Während der 2000er hatte sich Tschetschenien dem Kadyrow-Clan noch nicht vollständig unterworfen. Moskau unterstützte mehrere bewaffnete Clans gleichzeitig, die um die Macht kämpften oder ihre Unabhängigkeit verfochten: die Jamadajews, die Baisarows, die Kakijews und die Chassambekows. Das war ein blutrünstiger Haufen. Das Dorf Kurtschaloi war das Hoheitsgebiet von Chamsat Edelgirijew, dem Chef der örtlichen Polizei, der ebenfalls wegen seiner unglaublichen Brutalität berüchtigt war. Es hieß, er würde Ramsan nicht fürchten. In den Bergen nahe dem Dorf Jalchoi-Mochk hatte er ein geheimes Privatgefängnis, wo man Entführte folterte. Die Polizei von Kurtschaloi befand sich hundert Meter von Ojubs Haus entfernt.

    „Diese Polizeieinheit war eine der schlimmsten in ganz Tschetschenien“, sagt Elena Milashina, Journalistin der Novaya Gazeta. „Er riskierte damals jeden Tag sein Leben. Uns wurde bewusst, dass wir abends von der Arbeit nach Hause gingen, er aber in die Höhle des Löwen zurückkehrte.“

    Kapitel 5
    Das Dorf

    Aus den Gesprächen mit Verwandten und Nachbarn erfuhr ich etwas über eine Seite von Ojubs Leben, über die ich zuvor noch nichts gehört hatte: In Kurtschaloi und weit über seine Grenzen hinaus wird er als Friedensrichter hochgeschätzt.

    Man muss verstehen, dass es in Tschetschenien zwei gesellschaftliche Sphären gibt. Es gibt die äußere Sphäre, über die im Fernsehen gesprochen wird, und die dörfliche, das Leben der wainachischen Taips, wo Bräute umworben und entführt werden, wo geheiratet und sich getrennt, geboren und gestorben wird, wo Konflikte zwischen Dorfbewohnern aufflammen und gelöst werden, wo fern aller Augen und Ohren Blutrache geübt und Friedensgerichte abgehalten werden. 

    Der wichtigste Faktor hier sind verwandtschaftliche Verbindungen. Das ist nichtsdestotrotz das öffentliche Leben, wenn auch in einem völlig nichtöffentlichen Sinne des Wortes. Ein Konflikt, selbst wenn alle drumherum davon wissen, gilt als die private Angelegenheit zweier Familien. Niemand wird anfangen darüber in der Zeitung zu berichten. Jeder Tschetschene lebt in diesen beiden Sphären, und jedes komplexe Ereignis lässt sich in diesen zwei Dimensionen interpretieren. 

    Diese Trennung hat es immer gegeben, die gesamten einhunderfünfzig Jahre seit der Unterwerfung Tschetscheniens. Die Existenz dieser wainachischen Sphäre, die für die sowjetischen Machthaber beinahe unsichtbar war, hatte weitreichende Konsequenzen: die Entwicklung einer Schattenwirtschaft und eines Systems der Nebenverdienste in der Breshnew-Ära, das Fortbestehen von suffistischen Bruderschaften, den plötzlichen Zusammenbruch des Staates 1991, die gute Organisation der tschetschenischen Milizen, die Schwäche des Maschadow-Regimes und massenhaft weitere.

    „Wenn beispielsweise jemand stritt“, erzählt ein Verwandter, „oder jemand einen Unfall verursachte, bei dem der andere Fahrer starb, haben die Leute Ojub gerufen, wenn es um die Versöhnung ging. Wenn er kommt, um zu reden, können jene nicht ablehnen, denn er ist ein angesehener Mann. Nicht nur Verwandte riefen ihn, auch andere Dorfbewohner, Menschen aus Nachbardörfern, aus der ganzen Republik. Ich erinnere mich, dass sogar Leute aus Inguschetien zu ihm kamen.“

    „Und womit kamen die Menschen zu ihm?“

    „Keine Ahnung, das ist doch eine Sache zwischen ihnen. Wenn ich zu ihm kam, und ihm irgendwas erzählt habe, hat er das auch niemandem weitergesagt.“

    „Es gibt Regeln der Scharia“, erklärt Jakub Titijew, „und irdische Regeln, die Adaten. So oder so muss Gerechtigkeit herrschen. Die Menschen suchen einen Ort, wo man eine Sache still regeln kann. ‚Also, gehen wir zu Ojub, zu Usman oder zu Magomed?‘ ‚Jawohl.‘
    Es geht das Gerücht um, dass der oder der objektiv und ehrlich richtet. Am Anfang wird ein mündlicher Vertrag geschlossen: ‚Mein Urteil wird endgültig sein, beide Seiten werden damit einverstanden sein. Wenn nicht, fange ich gar nicht erst an.‘ Kommt heraus, dass du im Recht oder schuldig bist, dann war’s das, Punkt. Du hast nicht das Recht, dich zu beschweren.“

    Bei Memorial wusste man über diese Seite Ojubs nur wenig. Aber es wird ungefähr verständlich, woher Ojub so viele Kontakte hatte. 

    Das tschetschenische Dorf Tschatoi im September 2018 / Foto © Dmitry Markov für Meduza
    Das tschetschenische Dorf Tschatoi im September 2018 / Foto © Dmitry Markov für Meduza
    Leben in Grosny / Foto © Dmitry Markov für Meduza
    Leben in Grosny / Foto © Dmitry Markov für Meduza
    Kühe auf der Straße und Moderne im Hintergrund im tschetschenischen Argun / Foto © Dmitry Markov für Meduza
    Kühe auf der Straße und Moderne im Hintergrund im tschetschenischen Argun / Foto © Dmitry Markov für Meduza

    Kapitel 6
    Die dunkle Seite

    „Als ich in Tschetschenien ankam, setzten wir uns hin, und er erzählte mir bis ins kleinste Detail, was hier gerade passierte“, erzählt die Menschenrechtlerin Jekaterina Sokirjanskaja. „Menschen wurden entführt, in irgendwelchen illegalen Gefängnissen festgehalten, gefoltert und schließlich ermordet. Er hat hunderte solcher Fälle bearbeitet, hunderte menschliche Schicksale. Die Körper hat man entweder irgendwo verbuddelt, oder einfach auf die Straße geworfen, wo sie jemand fand und dann auf irgendeinem Dorffriedhof begrub. Er forschte lange nach, sehr gründlich, stellte Verbindungen her. Ergab sich ein Muster, so prüfte er und vergewisserte sich, bis das Bild vollständig war.“

    „Ojub verstand, dass man Details bestimmen und dokumentieren muss, denn die Leute verschwanden. Sowohl ihre Verwandten, als auch die Bewohner, die die Körper gewaschen und sie begraben hatten. Sie erinnerten sich noch, wie die Leiche aussah, wie sie bekleidet war. Aber es war klar, dass die Information bald für immer verloren sein würde“, fährt Sokirjanskaja fort. „Man muss zu den Leuten rausfahren, um ihre Aussagen aufzunehmen, meistens sind es Ehefrauen und Mütter. Es ist psychisch sehr anstrengend, diese Leute zu zwingen, sich noch einmal zu erinnern. Und es war überraschend, wie viel sie vergaßen. Manchmal konnten selbst Mütter sich nicht mehr an die Augenfarbe ihrer Kinder erinnern, an welchem Tag das passiert war, in welchem Monat. Manches behielten sie sehr genau, und andere Details verschwanden vollständig. Wir verstanden, welche Menge an Information da verloren ging.“

    Mit der Zeit stellte Ojub für Memorial eine einzigartige Datenbank zusammen, mit der man nicht nur die Vermissten suchen, sondern auch die Täter feststellen konnte, darunter Soldaten. Er musste alles mögliche überprüfen: alte Verfahren dieser Menschen, Daten der Staatsanwaltschaft, Anfragen von Anwälten. Musste sie systematisieren, sämtliche Information über einen Verschollenen zusammenführen oder mehrere Fälle miteinander verbinden. Manchmal verschwanden Menschen in Gruppen, etwa um Militärbasen herum. Laut Memorial wurden in Tschetschenien in den 2000er Jahren 2000 bis 5000 Menschen durch Silowiki entführt und ermordet.

    „Er hat versucht, mich vor all dem zu bewahren. Er verschlüsselte die Dateien über Verstümmelte, Erhängte, diejenigen, die man gefoltert hatte“, erzählt eine Mitarbeiterin von Memorial. „All diese furchtbaren Texte und Fotos versteckte er vor mir: ‚Das ist nichts für deine weibliche Psyche.‘ Selbst wenn es notwendig war, dass ich mir etwas anschaute, sagte er: ‚Das hier schau dir nicht an, nur das da.‘ Er lebte mit all dem, dem, was passiert war, die ganze Geschichte dieser beiden Kriege. In ihm steckten so viele Informationen! Für ihn drehte sich alles darum. Manchmal waren Menschen von ihm abgestoßen. Manche fanden ihn langweilig. Selbst mein Mann sagte: ‚Er macht mich fertig, erzählt immer nur über das eine.‘“

    Es galt, nicht nur an die Toten zu denken. Nach dem Krieg landeten zehntausende Kaukasier in den Gefängnissen. Man bezichtigte sie der Mitgliedschaft in illegalen bewaffneten Gruppierungen. Ein Teil von ihnen hatte tatsächlich gekämpft. Aber Tausende wurden Opfer konstruierter Fälle. Im Knast wurden sie als Terroristen gehandelt, und man ging scheußlich mit ihnen um.

    „Einmal, um drei Uhr nachts“, erinnert sich Swetlana Gannuschkina, „rief mich jemand an: ‚Ich weiß nicht, wer Sie sind, aber Ihre Telefonnummer ist hier bei uns auf die Wand geschrieben.‘ Ich fragte: ‚Wo sind Sie?‘ ‚Ich sitze im Gefängnis. Sie haben gerade einen Menschen abgeholt und schlagen ihn jetzt zusammen. Helfen Sie irgendwie‘. Ich fand heraus, von welchem Knast die Rede war, und rief die Wache an. Die sagt: ‚Wer hat Ihnen das gesagt?‘ Ich antworte: ‚Jemand hat mir gesagt, dass er bei euch arbeitet. Bei euch gibt es doch anständige Leute?‘ Und bald darauf kriege ich eine SMS: ‚Sie haben uns sehr geholfen. Den Typen haben sie zurückgebracht, halbwegs unversehrt.‘ Schon bald sagte mir Ojub, dass sie auch ihn anriefen. Wir verstanden, dass man etwas tun musste, Anwälte hinschicken und so weiter.“

    Ojub und seine Kollegen stellten ein Projekt zur Unterstützung der Tschetschenen und Inguschen in den Vollzugsanstalten auf die Beine. Sie nahmen Beschwerden von Verwandten auf, schrieben Anfragen an die Staatsanwaltschaft und an die Gefängnisbehörde, und schickten Anwälte in die Knäste. Gerechtigkeit war damit nicht zu erreichen, aber es konnte sein, dass die Folter aufhörte, und Kranken endlich medizinische Hilfe gewährt wurde.

    Kapitel 7
    Der einsame Wolf

    „Als wir anfingen mit ihm zusammenzuarbeiten“, erzählt die Mitarbeiterin einer Menschenrechtsorganisation, „erzählten die Moskauer, dass er der Typ ‚einsamer Wolf‘ sei. Meine Tochter war Sekretärin und hatte sogar Angst an einem Tisch mit ihm zu sitzen und zu Mittag zu essen, so einen ernsten Eindruck machte er. Ich habe sie beruhigt, dass er nur äußerlich so wirkt, aber innerlich ein herzlicher Mensch ist. Und er sagte mir selbst, dass er das Gefühl hat, dass man ihn nicht möge und ihm aus dem Weg gehe, weil er nicht besonders charmant ist.“

    „Wenn du ihn dir so anschaust, wirkt er wie ein harter Kerl aus den Bergen“, sagt eine Memorial-Mitarbeiterin, „aber dann wird dir plötzlich klar, dass er – im Gegenteil – sehr emotional ist, und versucht, das irgendwie zu verbergen. An ihm war überhaupt nichts Großspuriges, Machohaftes. Beispielsweise, wenn irgendwelche Feiertage anstanden, wo man den Mädels was schenkt. Menschen eine Freude zu machen war ihm sehr wichtig. Er bringt uns irgendwas mit und hat dabei so ein bescheidenes, kindliches Lächeln auf den Lippen: ‚Hier, greift zu.‘ Seine Gesten sind von einer rührenden Tollpatschigkeit.“

    „Ich erfuhr erst, dass er vier Kinder hat“, erzählt eine Kollegin von Ojub, „als er irgendein Formular ausfüllen musste.“

    Von Verwandten und Nachbarn aus Kurtschaloi hörte ich einen Haufen Geschichten, in denen sich Härte auf merkwürdige Art und Weise mit etwas Kindlichem vermischte.

    Ojubs Neffen sind sehr nette Typen, um die dreißig, Bauarbeiter. Beide sind Ojub irgendwie ähnlich, aber auf unterschiedliche Art und Weise: Einer tschetschenisch-rau und reserviert, der andere, im Gegenteil, offenherzig, sanft und zugänglich.

    „Ojub hat nie mit mir geschimpft, wenn ich irgendwas angestellt habe. Er hat niemals mit irgendjemandem geschimpft …“

    Der Neffe verbirgt sein Gesicht in der Armbeuge und weint. Als der Zweite das merkt, fängt er an, schneller zu erzählen:

    „Einmal wurde ich in einen Unfall verwickelt. Ich hatte ein ganz neues Auto und wurde abgedrängt. Der andere Fahrer hat sich sehr unfair verhalten. Er leugnete alles. Ich fuhr nach Hause, war stinksauer. Da kommt Ojub an: ‚Jusuf, deine Hände sind ja dreckig? Komm, wasch dich‘. Er öffnete den Wasserhahn, und ich wusch mich. ‚Siehst du, alles Irdische, wie Dreck, kommt und verschwindet wieder. Vielleicht vergibst du ihm jetzt, dann wird auch dir der Allmächtige vergeben. Er ist auch nur ein Mensch, vielleicht hat er einen Fehler gemacht. Sowas passiert. Kein Grund sich aufzuregen‘. Er war ruhig wie der Prophet.“

    Ich glaube im Allgemeinen, dass Namen einen Einfluss haben. Nicht immer einen direkten, natürlich. Aber die Spiegelung des Schicksals in unseren Namen ist schwer zu übersehen. Der Prophet Ojub (die tschetschenische Variante des biblischen Hiob) – das ist die Verkörperung der Geduld. 

    Aussichtsplattform auf einem Geschäftsgebäude in Grosny / Foto © Dmitry Markov für Meduza
    Aussichtsplattform auf einem Geschäftsgebäude in Grosny / Foto © Dmitry Markov für Meduza
    Leben in Grosny / Foto © Dmitry Markov für Meduza
    Leben in Grosny / Foto © Dmitry Markov für Meduza
    Marktbesucher in Grosny / Foto © Dmitry Markov für Meduza
    Marktbesucher in Grosny / Foto © Dmitry Markov für Meduza

    „Er hatte mal einen Wolga, den er schließlich auseinanderschraubte. Ersatzteile, Stoßstange, Türen – er legte alles aufs Dach“, erzählt ein Nachbar. „Da sitzt er zuhause und hört, dass jemand auf dem Dach herumläuft. Er schaut aus dem Fenster, und sieht einen Dieb. Ojub kennt ihn, der hatte auch einen Wolga. Er nahm alles was er brauchte mit und verschwand leise wieder. ‚Wie, du hast nichts gesagt?‘ ‚Nein, was soll ich ihm denn sagen?‘“

    „Die ganze Familie saß zusammen, und sah fern. Da erinnerte sich Ojub, dass die Nachbarn keinen Fernseher hatten, denn sie waren sehr arm. Er schaltete ihn ab, packte ihn ein und brachte ihn rüber.“

    „Seine Frau erzählte da mal was, ungefähr einen Monat vor seiner Verhaftung. Er kam nach Hause und sagte: ‚Haben wir noch Lebensmittel, Zwiebeln und Kartoffeln? Leg einen Vorrat an, diesen Monat gibt’s kein Gehalt.‘ ‚Aber du hast es doch schon bekommen.‘ ‚Ja, ich hab’s abgegeben, um den Armen zu helfen.‘
    In den Bergregionen half er einfach allen. Die Nähmaschine hatte er auch weggegeben! Und seine Ehefrau machte das mit.“

    „Irgendwann mal, während des Krieges, hörte ich, dass auf dem Basar Butter und Zucker günstig verkauft werden“, erzählt Ojubs Schwester. „Und er sagt: ‚Das geht nicht, das ist Diebesgut, das ist Haram. Wenn das nicht gestohlen wäre, würden sie’s nicht so günstig verkaufen. Wenn ihr was braucht, dann kauft es im Laden. Und wenn ihr wenig Geld habt, dann kauft eben nicht so viel‘.“

    „Mittlerweile machen doch alle Mullahs bei uns das, was sie wollen. Aber Ojub hat in seinem Leben unter keinen Umständen auch nur ein Gebet versäumt. Er ist ein streng gläubiger Muslim. Aber er hat das nie zur Schau gestellt, niemandem etwas aufgedrängt oder jemanden belehrt.“

    „Wenn Ojub irgendwohin unterwegs ist und an einer Beerdigung vorbeikommt, dann macht er da definitiv Halt. ‚Weil auch du sterben musst‘, das waren immer seine Worte.“

    „Den Russen gegenüber ist er tolerant, aber mir fällt es schon schwer, in seiner Gegenwart zu rauchen“, erzählt ein Memorial-Mitarbeiter. „Von der Sauferei fange ich gar nicht erst an. Auf Seminaren im Hotel rennst du auf dem Balkon rum, du willst unbedingt rauchen, weißt aber nicht, in welchem Zimmer er wohnt, ob er was sieht oder nicht. Du gerätst ins Schwitzen: Und was, wenn er jetzt rauskommt? Er würde nichts sagen, aber sein Blick verrät alles. Wir waren auf einem Seminar und ich hatte Geburtstag. Eine Kollegin sagte: ‚So, zu diesem Anlass stoßen wir mit einem Wein an! Komm schon, was ist los? Gestern hast du doch auch getrunken.‘ Und ich sah es in Ojubs Augen: ‚Alkoholiker!‘“

    „Mein Sohn hat geheiratet“, erzählt ein Freund, „und unser Haus war dafür nicht gemacht, deshalb musste die Hochzeit in einer größeren Räumlichkeit stattfinden. Von Ojubs Haus aus sind das fünfzig Meter. Aber er warnte mich: ‚Wenn die Hochzeit bei euch zuhause stattfindet, komme ich. Wenn sie in einem Festsaal stattfindet, komme ich nicht. Du weißt, dass das nicht die tschetschenische Sitte ist.‘ Aber ich war nicht gekränkt. Er wäre ohne zu fragen auf ein Himmelfahrtskommando mit mir mitgekommen. Aber zur Hochzeit kam er nicht, weil man traditionell im Haus des Bräutigams feiert.“

    „Das ist das, was wir Gylk nennen – die Verhaltensregeln, der Ehrenkodex“, erzählt eine Mitarbeiterin von Memorial. „Ojub hielt sich zu einhundert Prozent daran. Wie man sich in der Gesellschaft zu verhalten hat, insbesondere dort, wo Frauen sind. Selbst die Pose, wie du sitzt, wie du redest, welchen Ton du dir erlaubst. Ojub benahm sich immer sehr bescheiden, fürsorglich und großzügig. Alles was man für das Büro brauchte oder für die Teepause, kaufte er. Er ließ nicht zu, dass wir Geld ausgaben, obwohl das nicht seine Pflicht war. Nicht weit von uns gab es ein kleines Kaffeehaus. Wenn wir Zeit hatten, gingen wir mal vorbei. Ojub kam nach, und bezahlte sofort die gesamte Rechnung. Wir versuchten, nach ihm hinzugehen, weil es uns unangenehm war, dass er immer für uns zahlte.“

    „Er ist von Beruf Schweißer, wenn auch ein Autodidakt“, erzählt ein Nachbar von Ojub. „Er reparierte für alle. Wenn im Dorf irgendwas passierte, ein Unfall oder irgendein Unglück, warf er alte Klamotten über, und los geht’s. Man muss ihn nur anklingeln an sein Tor klopfen, selbst um drei Uhr morgens, ganz egal. ‚Womit kann ich helfen?‘. Als ich baute, hat er mehr als ich gearbeitet.“

    „Bei ihm gibt es kein Meins und Deins. Als wir in Gudermes arbeiteten, hatte er einen Shiguli, so einen roten. Wir alle fuhren ständig mit diesem Wagen. Er hat ihn nie jemandem verweigert. Einer kam, stellte das Auto ab – ich setzte mich und fuhr los. Ich kam zurück, ein anderer fuhr wieder los. Und irgend so ein Verkehrspolizist sagt: ‚Hör mal, jetzt sag mal ehrlich, wem dieses Auto wirklich gehört.‘“

    „Ich habe ihm mal ein italienisches Sakko geschenkt, das mir zu groß war. Er befingerte es. ‚Gute Qualität, wie viel hast du dafür gezahlt?‘ ‚Fünfundvierzigtausend.‘ ‚Was denn, bist du übergeschnappt?! Weshalb soviel Geld? Du hättest es doch den Armen geben können.‘“

    „Ojub hat den Armen immer Geld gegeben, das heißt bei uns Sadaqa. Er ging selbst zu ihnen. Er wusste, wo sie sind. Mich fragte er: ‚Weißt du, ob es bei euch in der Nähe jemanden gibt?‘ Wenn irgendwer in unserem oder im Nachbardorf etwas brauchte, ganz egal, er brachte Lebensmittel oder Geld vorbei. Und wenn die Kinder etwas für die Schule brauchten, dann kaufte er auch das. Einmal, das weiß ich noch, kaufte er den Kindern Bälle und Fußballtrikots.“

    Sport hat Ojub sein ganzes Leben sehr ernsthaft betrieben. Nachbarn erzählten, dass sie vor ungefähr 15 Jahren nachts an sein Tor klopften und ihm sagten, dass Jakubs Haus in Flammen stand. Irgendwo war Gas ausgetreten. Ojub rannte los, um zu helfen, am anderen Ende des Dorfs. Aber vorher ging ihm die Puste aus. Von da an trainierte er täglich.

    „Abends brauchte man Ojub nicht zu suchen, er war immer in der Sporthalle“, erzählt ein Nachbar. „Jeden Tag, selbst wenn er von morgens bis abends geackert hatte. Er trainierte mit Hanteln, ungeachtet seines Alters. Ein grandioser Boxer war er immer schon. Es verging kein Tag, an dem er nicht acht Kilometer gejoggt ist. Und jeden Sonntag in Gudermes zwanzig Kilometer. Einmal hat er mit einem Freund gewettet. Ojub warf sich eine kugelsichere Weste über, 18 Kilogramm, und sie liefen zu zweit los. Sein Freund hielt keine vier Kilometer durch, aber Ojub lief hin und zurück ohne innezuhalten.“

    Sport war für Ojub ein Teil seiner Ethik. Um Menschen zu helfen, musste er kräftig sein.

    „Er schrieb uns einen Brief“, erzählt ein Neffe, „ich habe ihn hier im Telefon: ‚Helft allen, sowohl Verwandten als auch Fremden. Ein Mann muss all jenen helfen, die in Schwierigkeiten stecken. Solch eine Möglichkeit gibt es nicht oft. Solange ihr jung und gesund seid: Helft euren Mitmenschen. Wo auch immer ihr gerade seid – helft! Und geht auf jeden Fall trainieren!‘“

    Kapitel 8
    Die Berge

    Als Ojub und ich durch Tschetschenien fuhren, erzählte mir ein weiser Alter vom „Weg des Konach“. Der Konach, was auf tschetschenisch so viel wie Krieger oder Bewahrer bedeutet, ist die zentrale Figur der traditionellen tschetschenischen Ethik. Zunächst einmal hat er sich streng an alle traditionellen Verhaltensregeln zu halten. Es ist ein permanentes Training des Aushaltens und der Selbstbeherrschung.

    Zweitens ist der Konach für die Schwächeren verantwortlich. Vor allem anderen muss er sich um die Familie kümmern, aber damit müssen seine Aufgaben nicht zwangsläufig enden. Er kann sich selbst das Gelöbnis abnehmen, alle Nachbarn, Kinder, Frauen und einsame Alte zu verteidigen und noch einiges mehr. Einige legendäre Konachen übernahmen die Verantwortung für ganze Dörfer oder Taips. Das bedeutete, dass jeder mit der Bitte um Hilfe zu ihm kommen konnte. Und der Konach musste für ihn einstehen, so wie er für seinen leiblichen Bruder einstehen würde. Die wichtigste Eigenschaft des Konach, erklärte der Alte, ist die Bescheidenheit. Du nimmst Verantwortung auf dich, aber stellst es nicht zur Schau. 

    Um der Gewalt ein Ende zu setzen, konnte der Konach sich mit fremdem Blut besudeln, und selbst zum Subjekt der Rache werden. Aber die stärksten Konachen nahmen nicht nur die Verantwortung für alle um sich herum auf sich, sondern lehnten auch Gewalt ab. Der ehrbare Konach ist unbewaffnet, aber durch sein Verhalten rüttelt er das Gewissen der Täter wach. Ich habe nie mit Ojub darüber gesprochen, aber ich denke, dass er in eben diesem Koordinatensystem lebte.

    Im Jahr 2002 wurde Ojub zum ständigen Mitarbeiter von Memorial in Gudermes. Zusätzlich zum Monitoring von Morden und Entführungen stießen sie auch soziale Projekte an. Sie organisierten Kurse zur Beseitigung des Analphabetismus. Gemeinsam mit dem Komitee Zivile Zusammenarbeit halfen sie den Betroffenen der vom Krieg ruinierten Bergdörfer.

    Das Gesundheitssystem war vollständig zerstört. Es gab weder Krankenhäuser noch Ärzte. Dafür jedoch eine riesige Zahl an Kranken und zu Krüppeln gewordenen Menschen. Zuerst mussten diese Menschen gefunden werden, denn die Bergbewohner hatten vergessen, was der Begriff „ärztliche Hilfe“ überhaupt bedeutete. Meine Schwester Aljona fuhr mit Ojub und Kollegen von Zivile Zusammenarbeit durch die Berge, sie befragten Einwohner, fahndeten nach Kranken, kauften Medikamente und transportierten Menschen zur Behandlung nach Moskau. 

    „Es war gefährlich da herumzufahren“, erzählte meine Schwester. „In den Bergen wurde weiter geschossen. Ich erinnere mich, als wir in einmal im Wedenski Rajon am Haus der dortigen Krankenschwester ankamen. Sie war so außer sich, ich wollte am liebsten direkt wieder gehen. Ich hatte Angst, dass mit ihr etwas passiert. Ihre Hände zitterten, sie kramte irgendwelche Heftchen und Krankenscheine hervor und sagte: ‚Ach je, lassen Sie, lassen Sie, besser wir sterben hier, alle zusammen.‘ Aber das war eine gute Arbeit, wir konnten viele retten. Insgesamt halfen wir ungefähr achttausend Menschen.“

    Beinahe alle Schulen in den Bergen waren zerstört oder beschädigt. Im Krieg hatten beide Seiten hier gerne Stabsquartiere eingerichtet. Die Dorflehrer versuchten, mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu improvisieren, hielten Unterricht in unbeheizten Klassenzimmern ab, heizten mit Kanonenöfen. Auf Öfen und Elektroherden kochte man den Kindern Brei auf Wasserbasis oder aus der Milch der Kühe, die den Lehrern selbst gehörten. Ojub und Aljona pendelten zwischen den Bergen hin und her und kümmerten sich um die elementaren Dinge. Dazu kontaktierten sie Direktoren, Beamte, Einheimische und Arbeiter. Ojub setzte einen Finanzplan auf und kommunizierte mit den Bauarbeitern. Das Prozedere war ihm bekannt, er hatte es ja selbst durchstehen müssen. Irgendwo musste ein Dach repariert werden, eine Sporthalle, oder es mussten Leitungen verlegt werden, woanders baute man eine Brücke über eine Erdspalte auf dem Schulweg.

    2007 und 2008 – Ojub Titijew besucht Schulen in den Bergdörfern / Fotos © Privatarchiv der Familie Titijew
    2007 und 2008 – Ojub Titijew besucht Schulen in den Bergdörfern / Fotos © Privatarchiv der Familie Titijew

    Jede dieser Reisen in die Berge war gefährlich. Jeden Moment konnte alles passieren. Menschen verschwanden regelmäßig, oder man fand sie tot am Wegesrand. Im April 2006 verließ der Fahrer des Versorgungsprogrammes, Bulat Tschilajew, sein Haus in Sernowodski. An einer Straßensperre stoppten Milizen des tschetschenischen Bataillons Sapad seinen Wagen. Sie zwängten Bulat in ihr Auto, seinen Beifahrer in den Kofferraum. Die beiden wurden nie wiedergesehen. Am wahrscheinlichsten ist, dass man sie direkt ermordet hat oder zu Tode folterte.

    Viele Bergdörfer waren völlig verlassen. Den Föderalen war das ganz recht, denn so verloren die Milizen Essen und Unterschlupf. Die Soldaten sprengten die übrigen Häuser, damit die Leute nicht zurückkehrten. Viele Bewohner der kleinen Dörfer baten um Hilfe beim Wiederaufbau von Betrieben. Zivile Zusammenarbeit kaufte Traktoren für die Dörfer, um die Wege auszubessern und Vieh für einige Familien. Ojubs Leben war damals gänzlich ausgefüllt von all den Kühen und Traktoren. Es scheint, als wäre das trotz all der Widrigkeiten eine glückliche Zeit für ihn gewesen. 

    In dieser alten tschetschenischen Welt, aus der er kam, konnte man seine Schuld bereinigen und die Welt zurück ins Gleichgewicht bringen. Wer jemanden tötete, der zahlte mit Blut oder mit Hilfeleistung und Demut, wie sein Vater. Ojub fühlte sich schuldig für den Tod seiner Schüler und empfand es als seine Pflicht, andere Menschen zu retten, die unter den Folgen des Krieges litten. Er versuchte das Gleichgewicht wiederherzustellen in einer Welt, die vor seinen Augen zerbrach.

    Kapitel 9
    Natascha

    Zum zweiten Wendepunkt in Ojubs Leben wurde der Tod Natascha Estemirowas, die ihn bei Memorial eingeführt hatte.

    „Ojub saß in Kurtschaloi und Gudermes, den schlimmsten Gebieten in dieser Zeit. Er arbeitete dort still an gefährlichen Dingen“, erzählt Tatjana Lokschina. „Ich erinnere mich, dass Natascha sich sehr um ihn sorgte. Wenn sie jemanden an ihn vermittelte, betonte sie, dass man auf keinen Fall Aufmerksamkeit auf ihn lenken durfte.“

    Natascha war aus völlig anderem Holz geschnitzt und kam aus einer anderen Welt. Ich habe erst vor Kurzem bemerkt, dass sie etwas gemeinsam hatten: Beide waren Lehrer. Aber wahrscheinlich ist das zentrale Motiv von Ojubs Geschichte der Kontrapunkt ihrer beiden Charaktere.

    Natascha war ein äußerst emotionaler und temperamentvoller Mensch. Zur Hälfte Russin, war sie in der Oblast Swerdlowsk aufgewachsen und hatte anschließend im russischsprachigen Grosny gelebt. Sie arbeitete als Geschichtslehrerin. Als Menschenrechtlerin hatte sie sich schon vor dem Beginn des ersten Krieges betätigt. Während des zweiten kam sie dann zu Memorial und wurde zu einer großen Unterstützerin von Anna Politkowskaja. Alle nannten sie Natascha.

    „Natascha war eine vollkommen europäische Frau“, sagt ihre Freundin Tatjana Lokschina. „Sie hatte den Gang und die Haltung einer Ballerina. Ungeachtet aller Geldnöte versuchte sie, sich stilvoll zu kleiden. Während irgendwelcher Dienstreisen ins Ausland kaufte sie sich von den letzten drei Kopeken alle möglichen wunderhübschen Tücher. Sie sprach schlecht Tschetschenisch und fühlte sich dort natürlich nicht ganz zuhause.“ „Viele denken, dass Natascha die Leiterin von Memorial in Grosny war. Aber das stimmt nicht. Mit ihren Eigenschaften eignete sie sich nicht als Chefin“, sagt der damalige Vorsitzende von Memorial, Oleg Orlow. „Sie war der Motor, das Herz.“

    „Nataschka war ein sehr ambitionierter Mensch mit starkem Antrieb“, erzählt Lokschina. „Sie war sich der Gefahr völlig bewusst, aber sie konnte nicht aufhören. Sie bewegte sich an den gefährlichsten Orten, manchmal auf geradezu verrückte Art. Ungerechtigkeit konnte sie beinahe physisch nicht ertragen. Und es war ihr sehr wichtig, aus erster Hand berichten zu können: ‚Ich habe es gesehen, ich war da, man hat es mir erzählt.‘ Schweigen war für sie wie ein Messer an der Kehle. Endlos wurde auf sie eingeredetet: ‚Natascha, das sind sehr wichtige Informationen, bitte veröffentliche sie nicht unter deinem Namen. Du bist verrückt, du sitzt doch da mittendrin‘.“

    Ojub gab niemals Interviews, Natascha dagegen schon. Die Kollegen waren sehr wütend. Aber Natascha war ein zutiefst öffentlicher Mensch. Sie sah sich als Journalistin. Sie war eine der stärksten Unterstützerinnen Politkowskajas. Nach Anna [Politkowskaja]s Tod wollte die Novaya Gazeta ihre Arbeit in Tschetschenien fortsetzen und sie schlugen Natascha vor, eine Kolumne zu schreiben. 

    „Natascha kam nach Moskau“, erinnert sich Lokschina, „und hat mir das in der Küche in völliger Ekstase erzählt. Aber die Leitung von Memorial entschied aus Sicherheitserwägungen, dass das nicht ginge. Sie machten mit der Redaktion der Novaya Gazeta aus, dass diese Kolumne nicht unter Nataschas Namen laufen solle, sondern unter Memorial. Sie wurde völlig hysterisch, war zutiefst verletzt und weinte.“

    Die endlosen Überzeugungsversuche halfen nicht im Geringsten. „Natascha, komm, du lebst dort mit einem kleinen Kind! Die Menschen sorgen sich doch nur um deine Sicherheit!“ Um ihr Töchterchen hatte Natascha panische Angst, aber sie konnte einfach nicht im Untergrund leben. 

    „Als das mit der Kolumne nicht klappte“, fährt Lokschina fort, „fing sie an, Texte unter Pseudonym zu schreiben. Ich erinnere mich gut, wie sie anderthalb Jahre vor ihrem Tod wieder zu mir nach Moskau kam, ganz aufgekratzt und glücklich. Während ihres Fluges aus Grosny hatte sich ein Mitarbeiter des tschetschenischen Presseministeriums zu ihr gesetzt und ganz arglos zu ihr gesagt: ‚Natascha, hör mal, es gibt da diese Kolumne, in der Novaya Gazeta unter dem Namen Magomed Alijew. Ich erinnere mich an deine Texte im Grosnenski Rabotschi, die waren sehr ähnlich geschrieben. Sag mal, bist du das?‘. Und anstatt sofort in Deckung zu gehen: ,Na hör mal, wie kommst du denn darauf‘, blüht sie auf, und sagt mit einem breiten Lächeln: ‚Ach was? Du hast meinen Stil erkannt? Bin ich froh, dass ich gelesen werde.‘“

    Ein Jahr vor ihrem Tod stauchte Kadyrow sie zusammen. Das war nach ihrem großen Interview bei REN TV darüber, dass Frauen gezwungen werden, Kopftücher zu tragen. Das war eine für Natascha schmerzliche Sache. In jenem Interview hatte sie erklärt, dass sie selbst eine Tschetschenin sei und dass, wenn sie bei Gedenkfeiern oder religiösen Leuten zu Gast war, ihren Kopf natürlich auch bedeckte. Aber niemand habe das Recht, eine Frau dazu zu zwingen. 

    „Kadyrow zitierte sie zu sich“, erinnert sich Lokschina. „Er brüllte sie zusammen und drohte ihr. Sie kehrte leichenblass zurück. Mir scheint, dass Kadyrow sie für eine Russin hielt, die als Angestellte von Memorial hier arbeitete. Aber aus dem Interview verstand er, dass sie eine Tschetschenin war, und dass er mit ihr machen konnte, was er wollte.“

    Ich selbst habe nur einmal mit Natascha zu tun gehabt. Das war eine Woche vor ihrem Tod. Ich erinnere mich, dass sie sehr nervös war. Sie war mit einer Erschießung beschäftigt: Im Juli 2009 hatten Kadyrow-Milizen, die sogenannten Kadyrowzy, im Dorf Achkintschu-Borsoi öffentlich einen Bauern erschossen, weil er Rebellen einen Bock überlassen hatte.

    „Sie warfen den krass Zusammengeschlagenen aus dem Auto, ein Haufen Fleisch. Er konnte praktisch nicht mehr sprechen, im Grunde konnte er gar nichts mehr“, erzählt Lokschina. „Sie erschossen ihn vor aller Augen, und sagten, dass so mit jedem verfahren würde, der den Rebellen hilft. Es spiele keine Rolle, ob du ein Schaf oder einen Brotkrumen gibst. Sie finden es heraus, und die Strafe wird fürchterlich sein. 

    Wir hörten von dieser Geschichte ausgerechnet über Ojub. Wir fuhren ins Dorf und unterhielten uns mit den Leuten, und Natascha gab dem Kawkaski Usel ein Interview.“

    Natascha nannte die Namen der Mitarbeiter der Polizeibehörde, die die Erschießung durchgeführt hatten. Bald darauf ließ Ojub die Kollegen wissen, dass die Situation ausgesprochen gefährlich sei. Wegen mindestens dreier Fälle von Entführung, Mord und Folter, die Natascha in jenem Moment bearbeitete, waren die Kadyrowzy sehr wütend auf sie.

    „Ich fuhr hin um herauszufinden, was da gerade passiert“, erzählt Swetlana Gannuschkina. „Natascha war voller Angst, also entschieden wir, dass sie da raus muss. Aber sie bat uns um eine Woche. Wir hätten sie zwingen müssen direkt am nächsten Morgen abzufahren. Aber wir machten mit dem Innenministerium aus, dass sie nach Stawropol geht, um da unsere Datenbank der Verschollenen mit ihrer zu vernetzen. Und das war’s. Natascha ging morgens aus dem Haus und bei dem Treffen mit den Beamten vom Innenministerium kam sie schon nicht mehr an.“

    Das war der schrecklichste Morgen in der Geschichte von Memorial in Grosny.

    „Wir fuhren los, um sie zu suchen, suchten die Gegend um ihr Zuhause ab“, erinnert sich Sokirjanskaja. „Und ausgerechnet die einzige Zeugin hatte gehört, wie ich mit den Marschrutka-Fahrern darüber sprach. Sie nahm mich zur Seite: ‚Fragst du nach Natascha?‘ Sie erzählte mir alles, zeigte mir den Ort, und stieg dann völlig verschreckt in eine Marschrutka.“

    Sie hatten Natascha vor dem Haus abgefangen und sie in eine weiße Semjorka gezerrt. Es gelang ihr noch, zu schreien, dass man sie entführt. Mittags fand man Nataschas Körper mit Kugeln in Brust und Kopf in einem Waldstück nahe des inguschetischen Dorfes Gasi-Jurt.

    „Ojub konnte damit einfach nicht leben“, sagt Lokschina. „Sie hatte ihn geschützt, für seine Deckung gesorgt. Und dann kam sie selbst um. Zurück blieb ein kleines Waisen-Mädchen.“

    „Er wiederholte permanent: ‚Ich hätte an ihrer Stelle sein müssen‘“, erinnert sich meine Schwester. „Weil symbolische Phrasen absolut nicht seins waren, ist das wörtlich zu verstehen. Es gab einen konkreten Anlass. Man hatte sie für Informationen ermordet, die er ans Licht gebracht hatte.“

    Sie fingen Natascha vor dem Haus ab und zerrten sie in eine weiße Semjorka / Foto © Dmitry Markov für Meduza
    Sie fingen Natascha vor dem Haus ab und zerrten sie in eine weiße Semjorka / Foto © Dmitry Markov für Meduza

    Kapitel 10
    Ein anderes Tschetschenien

    Grosny wurde enorm gut wieder aufgebaut. Es kann durchaus mit Moskau mithalten – nichts von wegen Regionalhauptstadt. Schöne Straßen, alles wie geleckt. Ich war vor zehn Jahren hier. Fast die ganze Stadt, außer entlang der Hauptstraße, bestand aus Ruinen. Es schien als gäbe es in ganz Tschetschenien keine Wand, die noch aufrecht steht. Sich jetzt vorzustellen, dass hier einmal Krieg war, ist absolut unmöglich.

    Wie Russland sieht es hier nicht aus. Die Architektur erinnert an Ankara oder Dubai. Frauen laufen in bunten Hidschabs herum. Die Polizisten haben modische Uniformen, die an die der NATO erinnern, und alle tragen die gleichen Seemannsbärte. Russisch spricht auf den Straßen niemand, und russische Straßenschilder wirken ungewohnt vor dieser Kulisse.

    Von den ersten Minuten an, den ersten Worten, der Intonation in Tschetschenien staune ich über diese Energie. Alles ist irgendwie gewaltig. Ein faszinierendes Volk, das ist sofort klar. Die Männer sind alle riesig, kantig, muskulös. Aber die Menschen sind höflich und entgegenkommend. Über den Putin-Prospekt, der in den Kadyrow-Prospekt übergeht, schlendern zwischen Wolkenkratzern Scharen russischer Touristen mit Reiseführern.

    Dabei fühlt es sich sofort so an, als hätte sich irgendwas an der Atmosphäre stark verändert. Es ist ein anderes Tschetschenien. Früher, zwischen den Ruinen, als um einen herum unaufhörlich Menschen verschwanden, ließ es sich deutlich freier atmen.

    „Während des Krieges, in den schlimmsten Momenten, kamst du in irgendein Dorf, und es stürmten sofort Leute auf dich zu, du wusstest nicht, wie dir geschieht“, erzählt Lokschina. „Man hat dich quasi auseinandergerissen, egal wer du warst – Journalist, Menschenrechtler, Moskauer, Ausländer. Hauptsache ein Mensch aus einer anderen Welt, dem kann man was erzählen. Die Menschen hatten ein unglaubliches Bedürfnis zu reden. Und danach, innerhalb der letzten sechzehn Jahre, ist das alles vor unseren Augen kollabiert. 
    Die Menschen begannen, vorsichtiger zu reden und immer weniger. ‚Ich erzähle dir etwas, aber erwähne mich nirgendwo, nenne bitte nicht mal das Dorf. Ansonsten zählen die sofort eins und eins zusammen.‘ Oder: ,Hör mir zu, aber erzähle das niemandem weiter.‘ 
    Irgendwann waren immer weniger Menschen bereit, überhaupt zu reden. Denn was wäre, wenn sich jemand verplappern würde.“

    „Ich erinnere mich, wie einmal zwei Greise zu mir kamen, beide trugen eine Papacha“, erzählt Sokirjanskaja. „Sie kamen aus einem entfernten Dorf, früh am Morgen. Um was es ging, werde ich nicht konkretisieren. Sie erzählten mir lange ihre Geschichte. Und dann sagen sie: ‚Bitte veröffentlichen Sie nichts davon, das darf absolut nirgendwo erwähnt werden.‘ Ich sage: ‚Weshalb haben Sie dann so viel Zeit aufgewendet, hierher zu kommen?‘ ‚Wir wollten, dass Sie wissen, wie es hier tatsächlich zugeht. So wissen wenigstens Sie es.‘“

    „Die Angst ist jetzt wesentlich größer als damals, als die Soldaten in die Dörfer kamen und sich alle der Reihe nach schnappten“, sagt der Memorial-Mitarbeiter Oleg Orlow. „Ich weiß noch, wie wir Anfang der 2000er wegen der Säuberungen rausgefahren sind. Ojub und ich wunderten uns: ‚Was machen die da?!‘ 
    Sie pickten sich die nächstbesten Männer raus, warfen sie in die Zelle und verprügelten sie der Reihe nach. Dabei fragten sie: ‚Wo ist Schamil Bassajew?‘ Woher soll denn irgendein Bauer wissen, wo Schamil Bassajew ist? Sie stellten die idiotischsten Fragen, allen dieselben. Uns kam es vor, als wären sie einfach nur dumm und unkreativ. Und erst später wurde uns klar, dass das eine ausgeklügelte Taktik, beziehungsweise Strategie war. Sie wussten, dass sie von diesen Leuten keinerlei Information bekommen würden. Es ging darum, sie zu brechen.“

    „Der Wahrheitsgehalt von Informationen interessierte sie gar nicht so sehr. Unter Folter schreist du irgendeinen Namen heraus: ‚Ja, ja, der ist ein Rebell!‘ In der Nacht holen sie diesen Menschen dann ab, und er verschwindet, während du und deine Familie von da an ihre Geiseln seid. Sie sagen dir: ‚So, Kumpel, du bist doch derjenige, der ihn angeschwärzt hat. Wir können ihnen das stecken, dann fließt nicht nur dein Blut, sondern auch das deiner Familie. Denk an deinen Sohn, an deinen Bruder, deine Neffen.‘ Auf diese Weise haben sie Anfang der 2000er ein Netz von Informanten aufgebaut“, erklärt Orlow. „Und dann die illegitime Gewaltausübung auf tschetschenische bewaffnete Gruppen übertragen. Gleichzeitig übergaben ihnen die Föderalen ein Netzwerk von Informanten. Über dieses Netzwerk konnten sie Stück für Stück, Jahr für Jahr eine ungeheure Atmosphäre der Angst etablieren. Heute verschwinden bedeutend weniger Menschen, aber die Angst ist größer als je zuvor. Jeder denkt, dass die Macht alles über ihn weiß.“

    Vor zehn Jahren war Tschetschenien buchstäblich gespickt mit russischen Militärbasen. Überall waren Checkpoints, BTR Panzer, Stacheldraht, Sandsäcke und ausgeblichene Armeezelte. Jetzt ist all das wie vom Erdboden verschluckt. An ihrer Stelle wurden tschetschenische Bartträger herangekarrt, behangen mit teuren importierten Waffen, der Blick düster. 
    Ramsan liebt es zu wiederholen, dass er über eine starke Armee verfügt. Das ist keine leere Prahlerei: Unter seinem Kommando stehen ungefähr 12.000 Silowiki. Formell dienen sie dem Innenministerium, aber sie führen ausschließlich die Befehle Kadyrows und seines Umfeldes aus. Wie schlagkräftig diese Armee wirklich ist, lässt sich schwer sagen, aber das Volk ist angesichts ihrer starr vor Angst. Den Namen ihres Chefs sprachen meine Gesprächspartner lautlos aus, mit einer bloßen Lippenbewegung.

    Markt in Grosny, September 2018 / Foto © Dmitry Markov für Meduza
    Markt in Grosny, September 2018 / Foto © Dmitry Markov für Meduza
    „Sich jetzt vorzustellen, dass hier einmal Krieg war, ist absolut unmöglich“ / Fotos © Dmitry Markov für Meduza
    „Sich jetzt vorzustellen, dass hier einmal Krieg war, ist absolut unmöglich“ / Fotos © Dmitry Markov für Meduza
    „Grosny kann durchaus mit Moskau mithalten – schöne Straßen, alles wie geleckt“ / Fotos © Dmitry Markov für Meduza
    „Grosny kann durchaus mit Moskau mithalten – schöne Straßen, alles wie geleckt“ / Fotos © Dmitry Markov für Meduza
    Wo der Blick in Grosny auch hinfällt, er trifft nur auf Wohlstand aus Glas und Beton  / Foto © Dmitry Markov für Meduza
    Wo der Blick in Grosny auch hinfällt, er trifft nur auf Wohlstand aus Glas und Beton / Foto © Dmitry Markov für Meduza

    Kapitel 11
    Besessenheit

    Der damalige Chef von Memorial nannte Ramsan Kadyrow nach Estemirowas Tod einen Mörder. 

    „Weshalb sollte Kadyrow eine Frau umbringen, die niemandem etwas nützt? Sie hatte weder Ehre noch Würde noch Gewissen“, erwiderte Ramsan.

    Weniger als zwei Monate nach Nataschas Tod entführten Sicherheitsorgane zwei Freunde der Memorial-Leute, Sarema Sadulajewa und Alik Dschabrailow. Sie waren Mitarbeiter der Organisation Wir retten eine Generation, die Kindern und Jugendlichen half, die Opfer des Krieges geworden waren. Am nächsten Morgen fand man ihre Leichen mit Foltermalen im Kofferraum ihres Autos. Das Büro von Memorial in Grosny wurde geschlossen, sein Leiter Schachman Akbulatow musste emigrieren.

    Seine Ermittlungen zu den Morden beendete Ojub ziemlich schnell. Wir sahen uns wenige Monaten danach, und er kannte schon sämtliche Namen und Umstände. Aber die Untersuchungskommission hatte nicht vor, die Mörder zu suchen. Sie zu finden wäre nicht schwer gewesen. Natascha hatte mit ihren Entführern gekämpft, und unter ihren Fingernägeln waren DNA-Rückstände haften geblieben. Aber die Moskauer Fahnder dazu zu bewegen, Proben bei den Kollegen in Kurtschaloi zu nehmen, war unrealistisch. Einer Sache nachzugehen, die zu den Untergebenen von Kadyrow führen konnte, war ihnen verboten. Stattdessen versuchten die Fahnder die Beweise zu fälschen, und die Tat Rebellen unterzuschieben, die schon bald nach Nataschas Tod getötet wurden. 
    Eine echte Ermittlung konnte Memorial nicht erreichen, aber Ojub und seine Kollegen sammelten unumstößliche Beweise für die Hinfälligkeit dieser Version. Die Untersuchungskommission war ratlos, die Ermittlungen liefen auf. Man untersucht den Fall bereits seit neun Jahren.

    Keiner wusste, wie weiter. Die Arbeit von Memorial wiederaufzunehmen, bedeutete, bewusst das Risiko einzugehen, dass es noch mehr Opfer geben könnte. Aber die Kollegen in Grosny entschieden sich dafür.

    „Ojub sagte, dass es in diesem Moment geradezu ein Verbrechen von unserer Seite gewesen wäre, die Arbeit einzustellen“, erinnert sich Orlow, „dass wir es Natascha schuldig seien, und dass all die Leute völlig hilflos wären, wenn wir aufhörten. ‚Wozu waren wir all die Jahre hier, wenn wir jetzt gehen?‘ Er setzte sich konsequent für die Offenhaltung des Büros ein und schließlich setzte er sich durch.“

    Es stellte sich die Frage, wer die Leitung übernimmt. Niemand traute sich.

    „Aber Ojub erklärte sich bereit, blieb dabei auch ganz ruhig“, erinnert sich ein Kollege, „obwohl er es weit hatte von Kurtschaloi. ‚Was soll’s, ich werde fahren.‘ Er kam morgens an, und abends fuhr er als einer der Letzten.“

    „Ojub war schon früher äußerst motiviert, aber nach Nataschas Tod, glaube ich, wurde das zu Besessenheit“, sagt Lokschina. 

    Es ist kaum vorstellbar, wie schwer es Ojub damals gehabt haben muss. Er hatte doch die ganze Zeit Vergebung erfleht, jahrelang Steintafeln graviert. Und dann war schließlich ein Mensch aufgetaucht, der ihm half. Sie erfüllte sein Leben mit Sinn, lehrte ihn, etwas wahrhaft Wichtiges zu tun, womit er seine Schuld tilgen konnte. Er begann Natascha zu helfen, gab sich die größte Mühe. Und sie brachten sie um.

    „Ich kam aus Dagestan und traf mich mit Ojub. Der Friedhof war neben der Straße, auf einem Hügel“, erzählt Sokirjanskaja. „Wir fuhren an ihrem Haus vorbei, liefen über den Friedhof. Man drückt die Handfläche in die Erde, hinterlässt einen Handabdruck, so machen die Tschetschenen das, und danach verlässt man den Ort wieder.“

    „Zum Jahrestag von Nataschas Tod gab es diese tschetschenische Tradition des Sadaqa. Man schlachtet ein Tier, und das Fleisch wird den Armen gegeben“, erinnert sich Lokschina. „Ojub kümmerte sich um den Kauf eines Ochsenkalbes. An so einem traurigen Tag eine schwere Aufgabe, meint man. Aber es war geradezu erhellend, ihm zuzusehen. Wie er Geld sammelte, dann dieses Ochsenkalb aussuchte, allen Bildern davon schickte, was für ein tolles Kalb er für dieses Geld gekauft hatte. Darin war er ganz er selbst, er blühte geradezu auf.“

    In Ojubs Welt konnte die Opfergabe Erleichterung bringen. Aber jene Welt gab es nicht mehr und das Ochsenkalb konnte daran nicht viel ändern. Den Großteil der Schuld hatte Ojub auf sich genommen. Er war bereit, die Verantwortung für alle zu tragen, und zum Objekt der Rache zu werden.

    Kapitel 12
    Per Anhalter durch Tschetschenien

    Nachdem ich mit Freunden und Verwandten von Ojub gesprochen hatte, bereitete ich mich schon auf die Abreise vor. Aber dann spürte ich, dass mir irgendetwas fehlte. Ich hatte das echte Tschetschenien nicht gesehen, außerhalb der Politik und des vorliegenden Themas. Ich ließ meinen Computer bei Freunden zurück, schnappte mir ein altes Nokia mit lokaler SIM-Karte, stellte mich an den Straßenrand und hob den Daumen. 

    Per Anhalter durch Tschetschenien zu reisen ist wunderbar. In den Dörfern, besonders in den Bergen, atmet man sofort freier. Die Menschen sind wesentlich entspannter, keine dieser garstigen Blicke der Bärtigen, ohne diese trügerische, an Dubai erinnernde Atmosphäre und die teuren Karren, der Anschein des reichen Bergbewohners. 

    Man musterte mich mit freundlicher Verwunderung, denn Touristen kommen hier sonst nicht her. Meistens dachte man, ich sei ein Soldat, der auf seine Basis zurückkehrt. Einige Male erntete ich schiefe Blicke, aber die überwiegende Mehrheit der Menschen nahm meine Ankunft sichtlich erfreut auf. 
    Und dabei geht es nicht nur um die Gastfreundschaft. In den Blicken und dem Lächeln stand etwas geschrieben: „Siehst du, am Ende haben wir uns doch noch versöhnt.“ So als wären wir noch in der Sowjetunion, als hätte es nie einen Krieg gegeben und die Menschen könnten einander einfach so besuchen. 

    Wenn du über Tschetschenien erzählst, spürst du als Reporter schnell deine eigene Eindimensionalität. Du fängst an über Entführungen, Folter und Mord zu erzählen und es kommt ein Horrorfilm über die Zeit des Tschetschenienkrieges dabei heraus. Und direkt neben dir steht eine schöne, moderne Stadt, in der alles wunderbar ist und normale Menschen leben. Wenn du über die Angst schreibst, lassen sich die hübschen Springbrunnen nur schwer erwähnen oder aber die Tatsache, dass sich die Menschen hier an der Ruhe erfreuen. Und wenn du dann von den Springbrunnen, den Kaffees und der Wohltätigkeit Ramsans erzählst, ist es schwer, sich daran zu erinnern, dass sich hinter all dem menschenverachtende Sklaverei verbirgt.

    „Bei uns im Dorf gibt’s so einen Alleskönner, der machte früher LKW-Reparaturen. Bei ihm ist’s wunderschön. Es gibt Wald, Berge, Flüsschen. Zu ihm kommen die Leute häufig, um sich zu erholen. Er baute Häuser, unterhielt einen Gemüsegarten und ein bisschen Vieh. 
    Der Ort gefiel jemandem aus Zentaroi, dem Heimatort der Kadyrows. Er bot ihm an, ihn zu kaufen, aber er lehnte ab. Als er gerade nicht auf dem Bauernhof war, kamen sie an, zerlegten alle seine Maschinen, nahmen sie mit und versetzten sie als Altmetall. Im Anschluss boten sie ihm noch einmal an zu verkaufen. Diesmal zu einem Drittel des Preises. Er sagt: ‚Nehmt ihn euch doch einfach so, aber ich werde euch das niemals verzeihen.‘ Da kamen sie und schlugen ihn zusammen. Er hatte Glück, dass er am Leben blieb.“

    „Man hat entschieden, ein Einkaufszentrum im Dorf zu bauen. Dazu nahmen sie mir einfach mein Grundstück. Keinerlei Kompensation, was denkst du denn! Sie haben eine Abmachung mit der lokalen Führung, mehr brauchen sie nicht. Ja, vor welches Gericht denn!? Weißt du, diese Typen kommen an, sacken dich ein und schlagen dann das gesamte Gericht kurz und klein.“

    „Ein Verwandter von mir ist ein hohes Tier in der Verwaltung. Ungefähr 60 Millionen Rubel [etwa 790.000 Euro – dek] zahlen sie jedes Jahr an Chosi-Jurt, unser Bezirk ist klein. Alle zahlen: Institutionen, Organisationen, sämtliche Abteilungen aller Bezirksämter. Sie rechnen fiktive Pensionen ab, Kompensationen, halten Karteileichen in den Krankenhäusern, Schulen, Kindergärten.“

    „Ende April 2018 hielt Kadyrow eine Sitzung ab, auf der er an der Arbeit der Stadtplanung und Haushaltversorgung auf Kosten der Bevölkerung Kritik übte. Das Volk zuckte zusammen: Jetzt geht’s los. 
    Buchstäblich am darauffolgenden Tag machten sie sich auf, um die Schulden für die Gasversorgung einzutreiben. Ein, zwei Kontrolleure, ein Schweißer und ein Polizist. Sie forderten die sofortige Begleichung irgendwelcher alter Rückstände laut fiktiver Rechnungen. Konnte man nichts vorlegen, wurde das Gas sofort abgedreht. Zahlte einer nicht, wurde das ganze Haus vom Netz genommen: ‚Bewegen sie ihren Nachbarn dazu zu zahlen, dann schalten wir wieder ein.‘ Und die Einschaltung erfolgte nur über das Bürgermeisteramt, entweder über einen Berg von Formularen, oder durch Bestechung.“

    Offen redet selbstverständlich niemand über all das. Aber wenn man ein Weilchen mit dem Fahrer gequatscht hat, irgendwo zum „Tee trinken“ angehalten hat (das heißt: bis zum Erbrechen vollgestopft wurde), und zwischendurch eine unschuldige Frage à la „Für wie viel Geld kann man sich bei euch das Recht kaufen?“ stellt, dann wirst du mit größter Wahrscheinlichkeit einige solcher Geschichten zu Ohren bekommen. 

    Ist das wirklich noch Russland? Tatsächlich ist die Situation hier eine andere. Es handelt sich nicht so sehr um die totale Korruption, als um ein System der illegalen Besteuerung. Der Großteil des Geldes versinkt nicht in irgendwelchen Manteltaschen, sondern fließt nach oben, in den Achmad-Kadyrow-Fonds, eine Nebenkasse des Regimes. 
    Dieser Fonds ist niemandem außer Ramsan unterstellt. Laut Kommersant existiert in der Datenbank des Justizministeriums keine einzige Abrechnung seit Gründung des Fonds, obwohl nicht-kommerzielle Organisationen laut Gesetz zu ihrer regelmäßigen Bereitstellung verpflichtet sind. Zusätzlich verfügt der Fonds über gigantische Unternehmenswerte, ist Gründer der bedeutendsten Firmen von Grosny, und kontrolliert, wie der Kommersant schreibt, den Großteil tschetschenischer Immobilien. 

    Jeder Tschetschene gibt von seinem Einkommen monatlich seinen Anteil an den Fonds ab, zehn bis dreißig Prozent. Jedes Unternehmen, ob staatlich oder privat, muss dorthin eine gewisse Summe entrichten. Wie, das ist ihr Problem. Ramsan verteilt diese Gelder dann unter dem Anschein großer Barmherzigkeit an Bedürftige, oder staffiert seine Kämpfer damit aus. 

    Natürlich versickert davon auch etwas bei Mittelsmännern, sonst würde das System nicht funktionieren. Aber im Großen und Ganzen ist es Zentaroi, das sich um die Disziplin kümmert. Jeder weiß, was ihm bei Ungehorsam droht. Im besten Falle wird man sofort entlassen, im Schlimmsten kommen sie, sammeln dich ein, ketten dich an den Heizkörper und schlagen dich solange, bis deine Verwandten alles bezahlt haben, was du ihnen schuldest, oder noch mehr. (Wie dieses System funktioniert, hat Jonathan Littell sehr klar und ausgewogen in seinem Buch Tschetschenien. Jahr III beschrieben. Ich empfehle es jedem.)

    De facto gelten die Gesetze der Russischen Föderation in Tschetschenien nicht. Das heißt jedoch nicht, dass es gar kein Gesetz gibt. Was existiert und strikt ausgeführt wird, ist der Wille Ramsans. 
    Die Unterordnung des nominalen unter das reale Gesetz wird tagtäglich demonstriert, aber das vermutlich deutlichste Beispiel liegt zwei Jahre zurück. Kadyrow hatte dem Vorstand des Obersten Gerichtshofes der Republik, der von Moskau ernannt wird, befohlen, in den Ruhestand zu treten. Aber der stellvertretende Vorsitzende Tachir Murdalow weigerte sich, den Befehl auszuführen. Die Angelegenheit endete damit, dass Lord (Magomed Daudow, die rechte Hand Ramsans) persönlich zum Obersten Gerichtshof fuhr, und dessen Vorsitzenden öffentlich zusammenschlug.

    Es gibt eine inoffizielle Abmachung: Moskau mischt sich nicht in die Regierungsangelegenheiten Tschetscheniens ein, im Austausch für die formelle Anerkennung der russischen Souveränität. Russland kann und will die hier begangenen Verbrechen nicht aufklären.

    Auf der anderen Seite ist die Gruppe, die die Macht an sich gerissen hat, zur Geisel ihres eigenen Sieges geworden. Was bedeuten tausende Verschleppte, Gefolterte und Ermordete? Dass die Kadyrowzy tausende Todfeinde haben. Das erlaubt es dem Regime nicht, auch nur einen Moment zu schwächeln. Sie können sich nicht entspannen, Pfunde ansetzen oder ihre Kinder nach London schicken. Sie sind gezwungen, sich aneinanderzuklammern und die Atmosphäre der Angst in der Gesellschaft aufrechtzuerhalten, auf dass auch nicht nur ein Gedanke an Rache aufkommt. Sie können es sich nicht erlauben, die Macht abzugeben. 
    Dabei verstehen sie, dass Moskau sie nur solange duldet, wie sie die Islamisten im Griff haben. Und diese Strömungen gibt es in Tschetschenien. Der staatliche Terror provoziert sie natürlich selbst und hält sie gleichzeitig davon ab, zu eskalieren. Was dabei herauskommt, ist ein alptraumhafter Knoten, der sich immer fester zuzieht.

    Spielende Kinder in Grosny / Foto © Dmitry Markov für Meduza
    Spielende Kinder in Grosny / Foto © Dmitry Markov für Meduza
    Links – Verkäufer auf einem Markt in Grosny, rechts – Gold- und Devisenhändler an einer Bushaltestelle in Grosny / Fotos © Dmitry Markov für Meduza
    Links – Verkäufer auf einem Markt in Grosny, rechts – Gold- und Devisenhändler an einer Bushaltestelle in Grosny / Fotos © Dmitry Markov für Meduza
    „Offen redet selbstverständlich niemand über all das“ / Fotos © Dmitry Markov für Meduza
    „Offen redet selbstverständlich niemand über all das“ / Fotos © Dmitry Markov für Meduza
    „Du erzählst über Entführungen, Folter und Morde, und direkt neben die steht eine wunderschöne Stadt, in der normale Menschen leben“ / Foto © Dmitry Markov für Meduza
    „Du erzählst über Entführungen, Folter und Morde, und direkt neben die steht eine wunderschöne Stadt, in der normale Menschen leben“ / Foto © Dmitry Markov für Meduza

    Kapitel 13
    Die Verwandten

    Ramsan Kadyrow erklärte mehrmals, wenn Jugendliche in den Bergen verschwinden, um sich den Separatisten anzuschließen, dann müsse man ihre Familien dafür zur Verantwortung ziehen. Die tschetschenische Polizei ging dazu über, die Häuser von Verwandten niederzubrennen. Auf die Rufe der Menschenrechtler antwortete Moskau nicht. Und schon bald weitete sich das Prinzip der kollektiven Verantwortung auf alle aus. 

    „Jeden Monat erreichen mich dutzende Briefe aus Tschetschenien“, erzählt der Leiter des Komitees gegen Folter Igor Kaljapin. „Und jedes Mal kommt es zu ein und demselben Gespräch: ‚Ihr Sohn ist seit vier Tagen weg, das heißt, dass man ihn aller Wahrscheinlichkeit nach gerade foltert. Beim nächsten Mal werden Sie ihn im Gerichtssaal sehen, wo er sich zur Vorbereitung eines Terroranschlags bekennt. Wir können Ihnen einen Anwalt aus Zentralrussland schicken, der innerhalb eines Tages herausfindet, wo ihr Sohn steckt und ein Treffen mit ihm erwirkt.‘ 
    Aber die Leute lehnen das ab. Sie haben Angst um andere Familienmitglieder. Warum sie mir schreiben, verstehe ich nicht.“

    „Man hat eine Anzeige, die Zeugenaussage dieses Menschen“, sagt eine andere Memorial-Kollegin von Ojub, „auf Video. Aber dann sagt er plötzlich: ‚Nein, ich habe denen das nur vorgelogen, ich habe gar nichts gesagt, die haben sich das alles ausgedacht, um den ehrlichen Namen von Ramsan Achmatowitsch Kadyrow zu besudeln.‘“

    „Weißt du, was für mich echt einschneidend war? Schon vor Ewigkeiten tauchten die Porträts auf – Ramsan, Achmad, der ganze Kram. Zuerst in den Büros, das ist klar, dann in den Läden, was schon der zweite Schritt ist. Aber dann sind wir bei einem Bekannten Zuhause zu Gast, und bei ihm an der Wand hängt ein Porträt von Kadyrow“, erinnert sich Lokschina. „Du kennst einen Menschen viele Jahre lang, seine Einstellung zu Ramsan Kadyrow ist dir ebenfalls wohlbekannt. Du schaust dir das Porträt an und fragst gar nicht erst. Aber er spricht es selbst an: ‚Du weißt, ich habe eine Familie, Kinder …‘“

    Es ist schwer vorstellbar, was für tiefgreifende Veränderungen der kadyrowsche Terror in Tschetschenien hervorgebracht hat. Noch vor nicht allzu langer Zeit wusste jeder Tschetschene, dass er unter dem Schutz der Familie und des Taips stand. Und er selbst lebte nach ihren Interessen, verteidigte ihre Ehre, war bereit sein Fleisch und Blut zu verteidigen. Das war das grundlegende Weltbild, Selbstachtung, das ganze Leben. 
    Der Zusammenbruch dieser Ordnung war für Ojub eine Tragödie. Die fundamentalen Gesetze seines Universums verloren vor seinen Augen ihre Wirkung. Die Menschen begannen, an etwas anderes zu glauben. Das Alte wurde überall ersetzt durch hohe Minarette und funkelnde Jeeps. 

    In Grosny ist all das natürlich schwer zu bemerken. Wo der Blick auch hinfällt, er trifft nur auf Wohlstand aus Glas und Beton. Was fühlen die Menschen dort? Ich vermute, alles zugleich: Erniedrigung, Angst, Liebe zum großen Bruder, Stolz auf seine Errungenschaften, Freude über das Leben in Frieden.

    „Am Ende sind wir doch unverwüstlich!“, erzählt mir eine Bekannte aus Grosny. „Auch wir wollen leben, uns irgendwie am Leben erfreuen, anstatt die ganze Zeit ans Überleben denken zu müssen. Soll doch herrschen wer will, aber lasst uns einmal durchatmen.“

    „Was soll man machen, wenn sich um einen herum alle mit dem abgefunden haben, was passiert?“, überlegt Tscherkassow. „Es hat sich gezeigt, dass schon das Sammeln von Informationen ein Weg ist, das Leben in diesem Irrsinn mit Sinn zu füllen.“

    Kapitel 14
    Hyperverantwortlichkeit

    Nachdem er die Leitung von Memorial in Grosny übernommen hatte, veränderte Ojub die Arbeitsmethodik grundlegend. An erster Stelle stand nun die Sicherheit. Keiner der Mitarbeiter veröffentlichte mehr unter seinem Namen, keiner gab mehr Interviews oder trat irgendwo öffentlich auf. Sämtliche Informationen flossen ausschließlich nach Moskau. Die Mehrheit der Journalisten, darunter auch ich, wussten gar nicht, dass Memorial seine Arbeit vor Ort überhaupt fortsetzt. Nataschas Ära war vorbei, und es begann die Ära Ojubs. Die jetzt vermutlich auch vorbei ist. 

    „Wer nicht über kommunikative Weisheit verfügt, hat sich bei uns nicht lange gehalten“, sagt Sokirjanskaja. „Du musst in der Lage sein, manchmal mit hochrangigen Beamten zu kommunizieren, musst aber auch das Vertrauen einfacher Leute gewinnen. Und die schreien manchmal, ticken aus, stellen erstmal Forderungen, ziehen Anzeigen wieder zurück, oder lassen dich einfach im Stich. Die Situation ist gefährlich, alle riskieren etwas. Und Ojub war in dieser Hinsicht ein Virtuose. Er kann mit Menschen reden, sie beruhigen, den richtigen Ton treffen, man spürt, dass man ihm vertrauen kann.“

    „Ojub machte seine Arbeit sehr leise, schweigend. Er rannte nicht mit dem Kopf durch die Wand“, erklärt eine Mitarbeiterin von Memorial. „Er gab niemals Interviews. Denn ein Journalist ist ein Mensch von außerhalb, der die örtlichen Besonderheiten nicht kennt. Er tut, was er für richtig hält. Aus redlichen Absichten heraus denkt er, dass es am besten ist, zu publizieren. Aber tatsächlich kann die kleinste Information den Kadyrowzy von Nutzen sein.“

    „Ojub sagte uns niemals, woher er was hatte. Er sagte einfach: ‚Ich hab’s raus.‘ Er telefonierte mit jemandem, sagte: ‚Wir müssen uns treffen‘, und fuhr los. Und natürlich vertraute er keinerlei Technik.“

    Ojub war absolut frei von persönlichen Ambitionen. Ich denke, zum Teil deshalb, weil in der Bergwelt, aus der er kam, das Individuum überhaupt nicht wichtig ist. Der Mensch kümmerte sich um das Überleben seines Geschlechts und versucht selbst so zu leben, wie sein Vater und Großvater. 
    Für Ojub war es von höchster Bedeutung, ein echter Tschetschene und guter Muslim zu sein. Aber persönliche Ambitionen lagen einfach außerhalb seiner Begriffswelt. Er war nicht frei von der Meinung der Gesellschaft, aber seine Gesellschaft war eine andere. Der Respekt der anderen Dorfbewohner hat ihn höchstwahrscheinlich sehr beschäftigt.

    „Ojub achtete darauf, dass wir Mädels nicht alleine im Büro blieben“, sagt eine Mitarbeiterin von Memorial. „Er ging immer als letztes. Wenn er ging, sagte er den anderen: ‚Geht nicht, bevor die Mädels nicht weg sind.‘ Wenn sich jemand verspätete, rief er sofort an und fragte, was bei ihm los ist.“

    „Zu behaupten, dass die Menschenrechtsarbeit meine Berufung und Leidenschaft ist“, schrieb Ojub vor kurzem in einem Brief an Soja Swetowa, „wäre nicht die Wahrheit. Ich empfinde mich nicht als glücklich, und ich gehe nicht meiner Leidenschaft nach. Ich würde viel lieber Kinder trainieren.“

     „Auch wir wollen leben, uns irgendwie am Leben erfreuen. Soll doch herrschen wer will, aber lasst uns einmal durchatmen“ / Foto © Dmitry Markov für Meduza
    „Auch wir wollen leben, uns irgendwie am Leben erfreuen. Soll doch herrschen wer will, aber lasst uns einmal durchatmen“ / Foto © Dmitry Markov für Meduza
    Es ist schwer vorstellbar, was für tiefgreifende Veränderungen der kadyrowsche Terror in Tschetschenien hervorgebracht hat / Fotos © Dmitry Markov für Meduza
    Es ist schwer vorstellbar, was für tiefgreifende Veränderungen der kadyrowsche Terror in Tschetschenien hervorgebracht hat / Fotos © Dmitry Markov für Meduza
    „Schon vor Ewigkeiten tauchten die Porträts auf – Ramsan, Achmad, der ganze Kram. Zuerst in den Büros, das ist klar, dann in den Läden, was schon der zweite Schritt ist“ / Foto © Dmitry Markov für Meduza
    „Schon vor Ewigkeiten tauchten die Porträts auf – Ramsan, Achmad, der ganze Kram. Zuerst in den Büros, das ist klar, dann in den Läden, was schon der zweite Schritt ist“ / Foto © Dmitry Markov für Meduza

    Kapitel 15
    Die Jahrhunderthochzeit

    „Normal zu arbeiten, also loszufahren und mit Leuten zu sprechen, wurde außerhalb der Grenzen deines Umfeldes praktisch unmöglich, die immer enger und enger wurden“, sagt Sokirjanskaja. „Du hast Angst um die Menschen, denn sie werden Probleme bekommen, und deine Freunde haben Angst um dich. 
    Ojub ließ mich nicht mal im Büro allein, selbst aus dem Auto ließ er mich nicht aussteigen. Sehr sanft und unaufdringlich. Man würde ihm ja aus Respekt nicht widersprechen.“

    Im Januar 2015 verwüsteten bewaffnete Maskierte das Büro von Memorial in Gudermes.

    „Ich dankte Allah, dass Ojub in diesem Moment nicht auftauchte!“, sagt eine Mitarbeiterin. „Auch wenn es sieben Leute waren, er wäre garantiert auf sie losgegangen. Ich habe ihn direkt angerufen, nachdem sie weg waren. Er stand sofort vor der Tür. Es kam mir vor, als hätte er von Grosny hierher nur zwanzig Minuten gebraucht.“

    Eins nach dem anderen beendeten die Memorial-Büros in Sernowodsk, Urus-Martan und Gudermes ihre Arbeit.

    „Die Büros schlossen aus unterschiedlichen Gründen“, sagt Tscherkassow. „Unter anderem auch deshalb, weil irgendein Mitarbeiter ein schlechtes Bauchgefühl hatte. Es ist ja nicht schlecht, wenn ein Mensch versteht, dass unter diesen Zeichen keine Arbeit mehr möglich ist. Niemand zwingt dich zu Kamikaze. Naja, also war Grosny jetzt unsere letzte Bastion.“

    Viele Mitarbeiter verließen Memorial und wechselten in andere Bereiche.

    „Einer sagte, dass er nicht gegangen sei, weil er um sich selbst Angst hatte“, erzählt meine Schwester. „Memorial könne einfach nicht mehr so arbeiten wie früher. Er müsse von Kritik an den Machthabern absehen, vor Kadyrow kuschen. Er hatte das Gefühl, dass es keinen Sinn hat weiterzumachen.“

    „Früher hast du die Resultate deiner Arbeit gesehen“, erzählt eine Memorial-Mitarbeiterin, „sie ließen jemanden frei, und man erreichte wenigstens ein wenig Gerechtigkeit. Aber in der letzten Zeit kann man gar nichts mehr machen. Direkt neben unserem Büro hielten sie einen Wagen an, schnappten sich einen jungen Kerl, und nahmen ihn mit. Es ist ein Teufelskreis: Es gibt einen Haufen Information, aber du kannst sie nicht verwenden.“

    Ojub hatte aus irgendeinem Grund gar keine Zweifel. Und das obwohl er all die Jahre am Abgrund entlang balanciert war.

    „Tatsächlich wurde Ojub mehrmals gewarnt“, sagt ein Kollege. „Sie gabelten ihn auf und nahmen ihn mit in die Polizeidienststelle. Ojub erzählte nie, mit was konkret sie ihn dort bedrohten, aber ich kann es mir vorstellen: ‚Entweder hörst du damit auf, gegen uns zu agitieren, oder dich gibt’s bald nicht mehr.‘ 
    Er wusste ganz genau, dass sie Mörder sind, dass sie jeden Moment seine Kinder holen könnten. Damit hat er viele Jahre gelebt.“

    „Ich hab’s irgendwann aus ihm herausgebracht, er hat’s mir erzählt“, sagt Sokirjanskaja. „Sie sagten ihm, dass sie ihn umbringen, dass er sein letztes Wort gesprochen hat. 
    Aber damals wollte er das nicht erzählen. Selbst die Moskauer wussten davon nichts. Er hat es nicht erzählt, weil er Angst hatte, dass man Memorial in Tschetschenien schließen würde.“

    „Es gab viele riskante Situationen“, erzählt Elena Milashina. „Aber ich hielt mich immer an das folgende Prinzip: Wenn Ojub ‚stopp‘ sagt, dann hören wir auf. Außer in einem einzigen Fall, dieser verfluchten Jahrhunderthochzeit. 
    2015 kamen Verwandte von Luisa Goilabijewa aus dem Dorf Baitarki auf mich zu. Der Chef der örtlichen Polizeibehörde, Naschut Gutschigow, wollte ein 17-jähriges Mädchen zu seiner zweiten Frau machen. Er war dreimal so alt wie sie. 
    Ihre Familie bat uns, darüber zu schreiben. Sie baten Kadyrow, einzuschreiten, denn er hatte Ehen mit Minderjährigen verboten. Ich schrieb, aber Ramsan Achmatowitsch reagierte mit ‚Leck mich am Arsch!‘, und entschied, eine Show daraus zu machen: ‚Die Jahrhunderthochzeit‘. Aber ich musste mit diesem Mädchen sprechen, deswegen fuhr ich hin. 
    Ojub war ja spezialisiert auf die bergigen Bezirke, die man nur schwer erreichte. Ich ging zu ihm. Er sagte: ‚Du kannst da nicht hinfahren‘. Ich sagte: ‚Ojub, ich verstehe, dass ich nicht sollte, aber ich werde zum ersten Mal nicht auf dich hören, weil ich muss.‘ 
    Ich entschied über Dagestan zu fahren, weil es dort sicherer war und so eine Chance bestand, noch bei Tageslicht zurückzukehren. Morgens früh klingelte mein Telefon. Ojub stand schon am Posten zwischen Tschetschenien und Dagestan. ‚Ohne mich wirst du nicht fahren!‘“

    „Ihm war klar, dass ich in jedem Fall fahren würde. Ein zweites Mal das durchmachen, was mit Natascha passiert war, das konnte er nicht“, fährt Milashina fort. „Wir aßen Fladenbrot und fuhren durch die wunderschöne Berglandschaft. Ojub hatte einen Plan. Naja, und der erste Mensch, an den wir uns in Baitarki diesem Plan entsprechend wandten, verriet uns an Kadyrow. Das war uns nach buchstäblich zwei Sätzen klar. 
    Trotzdem fuhren wir zu den Goilabijews. Luisa rannte vor uns weg, ihr Vater ebenfalls. Wir sprachen mit ihrer Schwester und fuhren zurück. Da bemerkten wir, dass wir verfolgt wurden. Wie wir in diesem Lada Kalina die Serpentinen entlang gejagt sind! Es regnet, wir nehmen eine Kurve nach der anderen, und da kommt ein Abhang und Erde rieselt in einem fort hinunter. Nun ja, eine ziemlich lustige Fahrt war das mit ihm … 
    Als wir in Grosny ankamen, war es bereits spät in der Nacht. Und Ojub bekam sofort Anrufe: Man warnte ihn, dass er sofort aus Tschetschenien verschwinden müsse.“

    Nach der Sache in Baitarki blinkte der rote Alarmknopf wie verrückt. Ramsan und Lord rasten vor Wut. Memorial brachte Ojubs Frau und Kinder umgehend aus Tschetschenien weg, nach Moskau und dann nach Schweden. Ojub verbrachte dort drei Monate mit ihnen und kehrte dann zurück. Ein Leben außerhalb von Tschetschenien und seiner Arbeit konnte er sich nicht vorstellen. 

    In die Einzelheiten seiner Arbeit weihte Ojub seine Familie nie ein.

    „Wir dachten, er macht einen ganz normalen Beamtenjob“, sagt seine Schwester. „Alles war so offiziell, die Organisation hatte einen guten Namen. Memorial arbeitet ja nicht nur in Tschetschenien, sondern überall. Deswegen waren wir nicht beunruhigt.“

    „Die Familie war sich nicht bewusst, wie ernst die Lage war“, erklärt ein Kollege. „Ansonsten wären sie natürlich nicht zurückgekehrt. Ich erinnere mich an diese Unterredungen. Ojub sagte ihnen ‚Nein‘, aber sie verstanden nicht. ‚Du wohnst doch auch zu Hause. Das wollen wir auch.‘“

    Ein halbes Jahr später kehrten sie zurück. Sie ließen einfach alles stehen und liegen, flogen zu Ojub und pfiffen auf ihren Flüchtlingsstatus.

    Kapitel 16
    Zwei Kapitäne

    Dass das tschetschenische Memorial nach Nataschas Tod neun Jahre durchgehalten hat, ist ein echtes Wunder. Das hat zum Teil auch damit zu tun, dass an Ojubs Seite 2010 völlig unerwartet ein Mitkämpfer auftauchte.

    Igor Kaljapin erinnert an eine Bulldogge – stämmig, ernst, furchtlos und mit eisernem Händedruck. Er hatte Physik studiert, wurde während der Perestroika aufgrund seiner Teilnahme an den Studentenprotesten aus der Universität ausgeschlossen und war in den 1990er Jahren als Geschäftsmann in Nishni Nowgorod tätig. Er wurde unter falschem Vorwand verhaftet, und unter schwerer Folter holte man ein Geständnis aus ihm heraus. Nach seiner Freilassung gründete Igor das Komitee gegen Folter und wurde als Menschenrechtler aktiv. 

    Stück für Stück wurde das Komitee zu schlagkräftigsten Organisation Russlands, die folternde Polizisten und Gefängniswärter hinter Gitter bringt. Das Komitee ist dafür bekannt, dass es strafrechtliche Ermittlungen auf sehr hohem, professionellem Niveau durchführt. Sie kennen sich hervorragend in der Strafprozessordnung aus und sind in der Lage, sich wie eine Klette an die Fersen der offiziellen Strafverfolger zu hängen und so zu verhindern, dass die aus der Ausübung ihrer Pflichten flüchten.

    Nach der Ermordung Estemirowas, als klar wurde, dass die tschetschenischen Menschenrechtler in Tschetschenien unter tödlicher Gefahr arbeiteten, traf Kaljapin die überraschende Entscheidung, Memorial zu Hilfe zu eilen.

    „Wir wendeten eine neue Methodik an“, erzählt er. „Je drei Leute wechselten sich ab. Sie saßen einen Monat in Tschetschenien und wurden dann abgelöst. 
    Wir kopierten die Arbeit des Ermittlungskomitees. Die machen sich niemals mit weniger als drei Leuten an einen Fall ran. Zwei arbeiten, der Dritte beobachtet aus der Ferne, hält den Sichtkontakt, und überall sind Geräte, die alles dokumentieren. In Tschetschenien wusste man, dass wir einen Haufen Spezialtechnik haben, und davor haben sie gezittert. Obwohl das natürlich auch nicht vor Kugeln schützt.“

    Ich glaube, Ojub erkannte in Kaljapin sofort den Profi. Das war natürlich nicht das Einzige, was sie verband. Sie sind sich überhaupt ähnlich. Beide sind sehr ernsthaft, starrköpfig und verfügen über eine ungewöhnliche Mischung aus Pragmatismus und Idealismus. Kaljapin hängte sich hinter acht Fälle von Entführung und Mord durch die Kadyrowzy.

    „Ojub führte uns mit Geschädigten und Zeugen zusammen, und das nicht an den ungefährlichsten Orten. Aber seine Bedachtsamkeit hat er niemals, unter keinen Umständen verloren. Er ist ruhig wie ein Panzer“, sagt Kaljapin. „Ich zum Beispiel bin sehr schreckhaft. Wenn solche Sachen passieren, brauche ich erstmal ein paar Minuten, um mich zu beruhigen. Ich bin das reinste Nervenbündel. Aber Ojub macht den Eindruck, als gäbe es bei ihm keinerlei Reaktion auf den Schreck. 
    Außerdem denkt er blitzschnell nach. Er kann sämtliche Umstände auf einmal erfassen. Das macht ihn zu einem erstklassigen Kundschafter. 
    Ich hatte immer das Gefühl, dieser Mensch reflektiert sehr genau, so wie ich, nur dass ihn Emotionen dabei nicht stören. Unter anderem solche wie Wut oder Leidenschaft, die habe ich bei ihm überhaupt nie gesehen. 
    Und er machte niemals den Anschein falschen Heldentums. Wir teilten das Risiko gerecht auf: Jetzt nimmst du mehr Risiko auf dich, jetzt ich. Grob gesagt, haben wir die Löcher gebohrt, und Memorial hat die Gräben gebuddelt.“

    Ermittlungen in den Fällen, hinter die sich das Komitee gegen Folter gehängt hatte, gab es natürlich nie. „Wir haben permanent aufgezeigt, dass das dort ein anderer Staat ist. Wir sagen, dass russische Gesetze in Tschetschenien nicht gelten, und erklären, wie das geht. Beispielsweise will ein Ermittler aus Moskau bei einer Polizeistation vorbeischauen, in der man Leute, an die Heizkörper gefesselt, festhält. Die Wache am Tor lässt die Tür ins Schloss fallen und sagt: ‚Hau ab, oder ich mach dich fertig!‘ Dann holt der Ermittler aus Chankala Verstärkung, aber die russischen Sondereinheiten weigern sich einfach, aus den Bussen zu steigen. Sie haben Angst. 
    Oder ein anderes Beispiel: Der Innenminister Alchanow ordnet auf unser Gesuch hin an, die Gefangenen freizulassen, und ein Mitarbeiter der Polizeibehörde sagt: ‚Ich pfeife auf die Anordnung von Alchanow, denn Alchanow ist ein einfacher General, aber ich bin ein Verwandter Ramsans!‘“

    Wären sie Tschetschenen gewesen, so wären sie schon lange tot oder im Knast, aber es gab keine Genehmigung, Russen zu töten. Trotzdem riskierten die Leute aus Nishni Nowgorod wahnsinnig viel. Man hätte sie jeden Moment ohne jede Genehmigung ausschalten können, als Folge eines spontanen Impulses, und man hätte die Mörder niemals gesucht. Ich frage Kaljapin, weshalb er keine Angst hatte.

    „Weißt du, ich musste mich schon einige Male von meinem Leben verabschieden. Erst haben mich die Bullen gefoltert, dann haben mich Gangster gefoltert und aufgehängt. Und ich weiß einfach, was man in solchen Momenten denkt. Ich bereute, dass ich das und das nicht gemacht habe, weil ich vor irgendwas Angst hatte. Aber vor was hatte ich Angst? Jetzt ist es doch eh scheißegal. Wahrscheinlich ist es die Erkenntnis, dass das Leben definitiv enden wird, die bei mir ausgeprägter ist, als bei einem normalen Menschen. 
    Und Folgendes hat mich immer gewundert: Was ist so toll daran, in seinem Bett an einer Krankheit zu sterben? Was ist daran so toll, ich versteh’s nicht. Und sich deswegen in die Hosen machen? Irgendwas Wichtiges nicht tun? Dass sie einen umbringen, das schreckt mich absolut nicht. Es sind die Schmerzen der Folter, vor denen ich mich fürchte.“

    Klar, das sind Igors Gedanken, aber auch zu Ojub, scheint mir, haben sie eine Beziehung.

    Die Arbeit des Komitees gegen Folter hatte einen zweiten, geheimen Effekt, über den nur wenige Bescheid wissen. Kaljapin machte einen derartigen Lärm, dass er die ganze Aufmerksamkeit der Machthaber auf sich lenkte, während Ojub seine Arbeit im Stillen fortsetzen konnte. Einzig die Anwesenheit des Komitees erlaubte es Memorial, so lange in Tschetschenien durchzuhalten. Unter Ojubs Leitung half Memorial mehr als zweitausend Menschen. 

    Die Aktivisten aus Nishni Nowgorod waren permanenter Überwachung ausgesetzt. Im Dezember 2014 zertrümmerten Bewaffnete das Büro des Komitees in Grosny und brannten es anschließend nieder. 
    Im Juni 2015 traten Maskierte die Tür ein und demolierten und plünderten das Büro erneut. Den Mitgliedern der mobilen Gruppe gelang es, aus dem Fenster zu flüchten. Im März 2016 wurde ein Bus des Komitees an der Grenze Tschetscheniens mit Inguschetien gestoppt. Ein maskierter Mob mit Baseballschlägern schleifte die Menschenrechtler, Journalisten und den Fahrer unter „Allahu Akbar“-Rufen heraus, schlug sie brutal zusammen und raubte sie aus. Den Bus übergossen sie mit Benzin, und zündeten ihn an. Gleichzeitig wurde das Büro des Komitees in Inguschetien von einem Dutzend Menschen mit Maschinenpistolen zerstört und geplündert.

    „In schwierigen Situationen reichte es aus, einander anzusehen, um zu verstehen“, sagt Kaljapin. „Nachdem sie unseren Bus abgefackelt hatten, fuhr ich sofort nach Grosny, um bei Memorial nach dem Rechten zu sehen. Ich sagte: ‚Mädels, die U-Boot-Kapitäne müssen reden.‘ Ich ging zu Ojub, und ich sah schon die Frage in seinem Blick: Dir ist doch klar, dass sie dich jede Minute holen könnten? Ich sagte: ‚Mir ist alles klar, deswegen haue ich jetzt ab. Lass uns schnell reden.‘“

    Noch am selben Abend überfielen sie Kaljapin. Es war klar, dass das Komitee seine Basis in Tschetschenien nicht länger würde halten können. Ojub war jetzt allein.

    Die Polizisten haben modische Uniformen, die an die NATO erinnern, und alle tragen die gleichen Seemannsbärte / Foto © Dmitry Markov für Meduza
    Die Polizisten haben modische Uniformen, die an die NATO erinnern, und alle tragen die gleichen Seemannsbärte / Foto © Dmitry Markov für Meduza

    Kapitel 17
    Salam Aleikum

    „Es gab Fälle“, sagt eine Mitarbeiterin von Memorial, „da bemerkten wir, dass uns ein Auto verfolgt. Aber am zweiten Tag war das Auto nicht mehr da und am dritten auch nicht. Also maßen wir dem nicht allzu große Bedeutung bei. Uns war klar, dass sie jedenfalls wissen, dass es uns gibt. Sie verstanden nur nicht so recht, was genau wir tun. In den letzten Jahren war zu jeder Zeit klar, dass alles passieren könnte. Selbstverständlich hat einen das nicht kalt gelassen. Aber wenn man ständig damit lebt, gewöhnt man sich daran.“

    „Das ist merkwürdig“, sagt ein Kollege von Ojub. „Man versteht alles, aber gleichzeitig kommt es einem so vor, als würde man selbst drumrum kommen, solange man sich an die Sicherheitsvorkehrungen hält. Um andere sorgt man sich natürlich, aber selbst kann man nicht die ganze Zeit mit dieser Angst leben. Man hört einfach auf, darüber nachzudenken, schließt diese Option für sich aus. Das ist kein Ausweg, aber so läuft es eben.“

    2016 startete die Kampagne gegen „Junkies“. „Diejenigen, die in der Republik Tschetschenien den Frieden stören, werden zum Teufel gejagt. Nichts ist von Bedeutung. Gesetz hin oder her … Es wird geschossen! Habt ihr verstanden? Salam Aleikum, Problem gelöst. So sieht das Gesetz aus!“, kündigte Kadyrow auf einer Versammlung an, die dem Kampf gegen Drogensucht galt. 
    Die Polizei fing an, das in die Tat umzusetzen. Allein 2017 wurden laut Kadyrow eintausenfünfhundert Menschen verhaftet. Drogen hingen sie jedem an, der besoffen aufgegriffen wurde. 
    Man schlug sie und forderte sie auf, Drogenbesitz zu gestehen. Man drohte, dass man ihnen andernfalls die Planung von Terroranschlägen oder die Mitgliedschaft in einer verbotenen paramilitärischen Organisation anhängen würde. 
    Der Großteil der Fälle war identisch. „Der Angeklagte beschnitt und trocknete wild wachsendes Cannabis.“ Absolut alle Beschuldigten legten ein Geständnis ab und wurden in einem „Spezialverfahren“ verurteilt: Man brachte sie zum Gericht, wo das Urteil sofort verhängt wurde. 

    „Wen man einsperren kann, den sperr ein. Wenn die Möglichkeit besteht, jemandem etwas in die Tasche zu stecken, dann steck ihm was in die Tasche. Mach, was du willst, und töte, wen du willst! Der Herrscher hat gesagt, ich soll ihm das so übermitteln. Ich schwöre auf Allah, ich unterstütze das!“, sagte der erste Stellvertreter des Chefs des tschetschenischen Innenministeriums, Apti Alaudinow, auf einer Sitzung in Urus-Martan. Allgemein reden die Anführer der Republik auf Tschetschenisch äußerst offenherzig. 

    Im April 2016 wurde Schalaudi Gerijew entführt, ein tschetschenischer Korrespondent des Kawkaski Usel. Die Entführer zogen ihn aus einem Bus, schlugen ihm eins über den Schädel und drängten ihn in einen schwarzen Priora. Sie fesselten ihm die Arme mit Draht und brachten ihn in einen Wald. Dort schlugen sie ihn, würgten ihn mit Plastiktüten und drohten damit, ihn zu erschießen. Sie sagten ihm, dass er nur dann aus dem Wald zurückkehren würde, wenn er Drogenbesitz gesteht. Ansonsten würde er verschwinden. 
    Im Untersuchungsgefängnis widerrief er sein Geständnis, aber selbstverständlich verurteilten sie ihn trotzdem. Er sitzt bis heute. (Vor ihm, im Jahr 2014, wurde nach dem gleichen Artikel der tschetschenische Dissident Ruslan Kutajew verurteilt, der es gewagt hatte, entgegen der Anweisung Moskaus und Kadyrows, dem 23. Februar als 70. Jahrestag der Deportation des tschetschenischen Volkes zu gedenken.)

    Im Frühling und Sommer 2017 veröffentlichten Elena Milashina und Irina Grodijenko in der Novaya Gazeta ihre berühmte Recherche zur Jagd auf Homosexuelle und deren Ermordung im Januar des gleichen Jahres: In der Nacht auf den 26. Januar hatte es in Grosny auf einem Polizeirevier eine Massenerschießung gegeben. Ohne Gerichtsurteil waren mindestens siebenundzwanzig (möglicherweise gar doppelt so viele) Menschen erschossen worden, die man des Wahhabismus verdächtigte. Verwandte der meisten Opfer unterschrieben ein Papier: „Mein Sohn/Bruder hat die Republik Ende Februar gen Moskau verlassen. Es bestehen keine Ansprüche gegen die tschetschenische Polizei.“ Oder sie unterschrieben eine Erklärung, wonach ihr Sohn nach Syrien gegangen war, um zu kämpfen. Ojub half den Journalisten, die Information zu überprüfen. Das war eine seiner letzten Nachforschungen. 
    Im Frühling begann in Tschetschenien die organisierte Ermordung von Homosexuellen. Hunderte Menschen wurden verhaftet, sehr viele gefoltert und ermordet. Die Angelegenheit wurde zu einem internationalen Skandal, sodass die föderale Menschenrechtsbeauftragte Tatjana Moskalkowa sogar eine Untersuchungskommission mit der Überprüfung beauftragte. 
    Ende des Jahres wurde Ramsan Kadyrow, nach Daudow und Anaudinow, auf die Magnitski-Liste gesetzt, „wegen der Beteiligung an verbrecherischen Gewalttaten, Folter und Menschenrechtsverletzungen“. 
    Im Anschluss daran wurde Kadyrows Instagram-Account blockiert. Es ist schon beinahe lustig, dass ausgerechnet dies die heftigste Reaktion durch die tschetschenische Führung nach sich zog. „Kadyrow wurde nicht nur um sein liebstes Spielzeug gebracht. Das war auch sein persönliches Massenmedium mit einem Publikum von mehr als drei Millionen Abonnenten“, erläutert Tscherkassow, der Leiter von Memorial.
    Am 25. Dezember gab Magomed Daudow eine offizielle Erklärung ab, dass die Menschenrechtler die Schuld tragen an der Abschaltung des kadyrowschen Instagram: „Wenn die Todesstrafe in Russland nicht verboten wäre, hieße es für die Feinde des Volkes ‚Salam Aleikum‘, und das wars.“
    „Ojub wartete darauf, dass man ihn holen würde“, erzählt Lokschina. „Ein halbes Jahr vor seiner Verhaftung reiste er in einer Sache nach Moskau und nahm mich vorher zur Seite. ‚Tanja, ich habe eine große Bitte an dich. Kannst du mir etwas versprechen?‘ ‚Naja, ich verspreche ungerne Dinge, bevor ich nicht weiß, was genau.‘ Für Ojub war so ein Gesprächsbeginn absolut untypisch. ‚Du musst mir versprechen, dass, falls mir etwas passiert, du Orlow und Tscherkassow überredest, unter keinen Umständen unser Büro zu schließen.‘ Ich sage: ‚Hör auf, ich werde mit dir solche Sachen nicht besprechen!‘ ‚Dir hören sie zu, sie respektieren dich. Das wäre das absolute Ende. Das wäre ein Verrat an Nataschas Andenken. Wo sollen denn die Leute hin?! Du musst es mir versprechen!‘ 
    Naja, was sagt man ihm da?“
    „Manchmal konnte man anhand einiger Sätze verstehen, worüber er nachdenkt“, sagt Sokirjanskaja. „Dann wurde einem bange. Schon davon, wie überaus bewusst er das alles tat. Das war derart tief in ihn eingesickert, er war derart erfüllt von den Geschichten all dieser Leute, all dem Leid, dass er einfach genau in die Schussbahn lief.“
    „Ich erinnere mich, wir waren mit dem Monitoring beschäftigt“, erzählt eine Kollegin von Ojub. „Wir fuhren an irgendeiner Straße vorbei, und plötzlich kam er mit Einzelheiten zu einer Sache heraus: ‚Du musst wissen, dass hier ein Mensch wohnt, der an einem Verbrechen beteiligt war‘, mit unangenehmen Einzelheiten. Anfangs hörte ich geistesabwesend zu, ich war müde, schlief beinahe ein. Aber dann fing es langsam an, mir zu dämmern. Er war permanent darauf vorbereitet, dass er bald nicht mehr da sein würde. Also dachte ich mir, dass ich nachfragen muss. Ich hatte ja nicht alles gehört.“
    Ojub konnte nicht aufhören. Er war schon alt, es war zu spät sich einzugestehen, dass nichts dabei herumgekommen war. Hinter ihm standen Menschen, um die er Angst hatte, aber er zog die Sache durch.
    „Ich habe ihn im Scherz gefragt: ‚Du bist ja mittlerweile quasi in die Sporthalle eingezogen. Du gehst jeden Tag hin, nicht?‘“, sagt Lokschina. „Er antwortet ‚Ja‘ und fügt ganz ernst hinzu: ‚Ich glaube einfach, wenn sie mich mitnehmen und mich foltern, dass es hilft, physisch gut in Form zu sein, um das auszuhalten.‘ Er sagte das ohne einen Anflug von Ironie, ohne auf Mitgefühl aus zu sein, auch nicht auf Mitleid. Es war eine Feststellung.“
    „Bei den Tschetschenen gilt es viel, sich in Form zu halten“, erklärt meine Schwester. „Wenn ein Mann einen Bauch hat, dann ist das unschicklich und führt zu Geringschätzung ihm gegenüber. ‚Wie ein Kolchosenvorsteher‘ werden sie sagen. Ojub ist ja auch noch Sportlehrer. Aber er ist sechzig Jahre alt und geht jeden Abend in die Sporthalle. Ich fragte mich wofür. Wie sehr er sich auch aufpumpt, die Kräfte sind in keinem Fall gerecht verteilt. Die sind doch bewaffnet, jung und in der Überzahl. Aber dann erzählte einmal ein mir bekannter Lehrer von einem Dorfbewohner, den die Kadyrowzy in den Kofferraum eines Autos gezwängt hatten. Und Ojub hat gesagt: ‚Mich wird man lebend nicht in einen Kofferraum zwängen.‘ 
    Das heißt, ihm ist es wichtiger, die Demütigung zu verhindern, als den Tod. Auf diesen Fall bereitete sich Ojub vor.“

    Stück für Stück, Jahr für Jahr wurde eine Atmosphäre der Angst etabliert / Foto © Dmitry Markov für Meduza
    Stück für Stück, Jahr für Jahr wurde eine Atmosphäre der Angst etabliert / Foto © Dmitry Markov für Meduza

    Kapitel 18
    200 Gramm

    „Er rief im Dezember 2017 an, es waren Winterferien, man hatte uns schon freigegeben“, erinnert sich eine Kollegin von Ojub. „Er sagt mir: ‚Wirst du über’s Wochenende in der Stadt sein? Geh beim Büro vorbei. Auf dem Schrank liegen Pakete, nimm die mit.‘ Ich ging vorbei und sah, dass da Geschenke für meine Kinder lagen. Das war unser letztes Gespräch.“

    Am 9. Januar, dem ersten Arbeitstag im Jahr 2018, verließ Ojub sein Haus, um sich mit einem Freund im Dorf Maitrup zu treffen. Der Freund wartete etwa eine Stunde auf ihn, dann rief er bei Ojub an, aber der nahm den Hörer nicht ab. Unverrichteter Dinge machte sich der Freund auf den Weg und lief Ojub auf der Straße entgegen. 
    Nach kurzer Zeit sah er Ojubs Lada Kaliva am Straßenrand und daneben Polizeiautos vom Typ Niva und UAZ-Patriot sowie Männer in Camouflage mit Ärmelstreifen der Spezialeinheit GBR. Der Freund hielt an und stieg aus seinem Wagen, aber Ojub gab ihm ein Zeichen weiterzufahren. Er wollte niemanden da mit reinziehen. 

    Der Freund fuhr weiter, wendete, aber Ojub gab ihm erneut ein Zeichen, dort nicht stehen zu bleiben. Beim dritten Mal waren Ojub und die Polizisten verschwunden, aber der Freund hatte verstanden, dass sie nach Kurtschaloi gefahren waren. Auf dem Hof der Polizeistation sah er Ojubs Wagen. 

    Man forderte Ojub auf, ein Geständnis bezüglich Drogenbesitzes zu unterzeichnen, wobei man ihm drohte, dass man ansonsten seinen Sohn wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen bewaffneten Organisation rankriegen würde. 
    Ojub lehnte ab. Er sagte, dass die „gefundenen“ Drogen ohne Zeugen keinerlei Beweiskraft hätten. Das hatten die Polizisten nicht erwartet, zumal doch absolut alle „Junkies“ das Schuldeingeständnis unterschrieben. Man fuhr Ojub zurück zur Straße und inszenierte eine Festnahme durch eine Streife und die Beschlagnahmung von Drogen mit Zeugen. 
    Die Kameras in der Polizeistation und in den Autos, die diesen ganzen Zirkus normalerweise hätten aufnehmen sollen, funktionierten natürlich nicht. Entlang des gesamten Weges, welchen die Polizeiwagen in Kurtschaloi zurücklegten, hatten gleichzeitig 15 weitere Videoüberwachungssysteme „den Geist aufgegeben“, darunter Kameras in Verwaltungsgebäuden und Banken. Ojubs abgeschlossener Wagen wurde auf dem Parkplatz der Polizeistation aufgebrochen und dessen Videoaufzeichnungen sowie Satellitennavigation gestohlen. 

    Nun galt es, ein Geständnis aus ihm herauszupressen. Aber das gelang ihnen einfach nicht. Nachdem er Ojubs Auto erkannt hatte, rief sein Freund bei Memorial an. In Kurtschaloi machte sich ein Anwalt auf den Weg, aber man ließ ihn nicht in die Polizeistation und behauptete, Ojub wäre nicht dort. 
    Aber in Moskau hatten sie bereits ein Fass aufgemacht: Oleg Orlow war mit den Vertretern der Menschenrechtskommission, Michail Fedotow und Tatjana Moskalkowa, in Verbindung getreten. Abends war der Chef der Polizeibehörde gezwungen, offenzulegen, dass Ojub bei ihnen war, sowie, dass man ihn des Drogenbesitzes beschuldigte. In seinem Wagen hatte man vermeintlich 200 Gramm Marihuana gefunden. 

    Offenbar wurde Ojub nicht gefoltert. Aber man setzte ihn stark unter Druck und bedrohte seine Familie. Das wurde klar, als er nach drei Tagen seinem Anwalt einen Zettel mit einer Erklärung an den Vorsitzenden der Ermittlungsbehörde, Alexander Bastrykin, übergab: 

    „Am 09.01.2018 wurde ich durch Beamte der Polizei von Kurtschaloi festgenommen, und in meinem Wagen wurde Rauschgift platziert. Es wurde ein Strafverfahren gegen mich inszeniert. Die Beweise für meine Schuld sind zur Gänze manipuliert. Ich habe keinerlei Schuld eingestanden und werde dies auch nicht tun. 
    Ich möchte Sie darauf hinweisen: Sollte ich mich der mir angehängten Taten in irgendeiner Weise schuldig bekennen, so bedeutet dies, dass man mich zu diesem Geständnis auf dem Wege physischer Einflussnahme oder Erpressung gezwungen hat.“ 

    Wenn schon Ojub sich nicht mehr seiner sicher war, bedeutete dies, dass die Situation verzweifelt war. 

    Ramsan Kadyrow trat im tschetschenischen Fernsehen auf, nannte Titijew einen Drogensüchtigen und erklärte: „Sie [die Menschenrechtler] sagen Dinge, die nicht stimmen, und selbst wenn es so wäre und er darüber reden oder Zettelchen schreiben würde, bedeutete dies, dass er sich gegen sein Volk gestellt hat. Er ist ein Volksfeind. Sie haben keine Heimat, keine Nation, keine Religion. Ich wundere mich wirklich über diesen Menschen, der für die arbeitet und gleichzeitig behauptet, dass er ein Tschetschene sei. Deswegen sage ich euch, wir werden die Wirbelsäulen unserer Feinde brechen.“

    In der Nacht auf den 17. Januar zündeten Maskierte das Büro von Memorial in Nasran an. Am 19. Januar fand im Büro von Grosny eine Hausdurchsuchung statt, in deren Verlauf angeblich zwei Zigaretten mit Rauschgift gefunden wurden. Am 22. Januar wurde in Machatschkala ein Dienstwagen des dagestanischen Memorial angezündet, dessen Mitarbeiter sich in Ojubs Sache eingeschaltet hatten. Eine SMS wurde an das Bürotelefon gesendet: „Euer Leben hängt am seidenen Faden. Macht den Laden dicht! Nächstes Mal verbrennen wir euch zusammen mit eurem Büro. Das Auto war eine Warnung.“ 

    Die Polizeibeamten zuckten mit den Schultern: „Nach wem sollen wir da suchen? Das sind doch Kadyrowzy.“

    Seinen Freunden war klar, dass es mit Ojub kein gutes Ende nehmen würde. Er hatte nicht vorgehabt zu verschwinden, und die einzige Alternative war der Tod. Als ich hörte, dass man Ojub Drogen untergejubelt hatte, war mein erster Gedanke: „Gott sei Dank!“ 

    „Ich denke, hat vielleicht Allah das alles so eingerichtet, damit das Büro geschlossen wird?“, sagt eine seiner Kolleginnen. „Denn mittlerweile ist es ein Kampf gegen Windmühlen. Es ist schmerzhaft, sich das einzugestehen, aber es macht keinen Sinn gegen sie anzukämpfen, es werden nur noch mehr von unseren Leuten dahingerafft.“

    „In diesem Moment empfanden wir alle nichts anderes als Dankbarkeit für das tschetschenische Innenministerium: Danke, dass er am Leben ist“, schreibt Elena Milashina.

    Außer dem ihm untergeschobenen Paket wurde noch ein „Zeuge“ namens Amadi Baschanow organisiert, der gesehen haben will, wie Ojub am hellichten Tag auf der Straße Cannabis rauchte. Aber bei der Zeugengegenüberstellung gabs eine Panne. Der Anwalt Pjotr Saikin bemerkte, dass Ojub zu leicht von den Komparsen zu unterscheiden war: Er trug Latschen, während alle anderen mit Stiefeln bestückt waren. Und er bestand darauf, dass dieses Detail verändert wird.

    Milashina beschrieb die Gegenüberstellung in der Novaya Gazeta so: „Der Zeuge zeigte alle Anzeichen eines Drogenrausches. Die Pupillen waren riesig, sodass die Iris kaum noch zu sehen war. Er bewegte sich sehr langsam. Er schwankte leicht und reagierte überhaupt nicht auf den Ermittler. Bekleidet war der Zeuge mit einer sauteuren Lederjacke, die eindeutig jemand anderem gehörte, und gleichzeitig einer zerrissenen Hose und zerschlissenen Schuhen ohne Schnürsenkel. Er kannte Ojub nicht, das war völlig offensichtlich.“

    Der verärgerte Ermittler notierte im Protokoll zunächst die Wahrheit, dass der Zeuge Ojub nicht hatte erkennen können. Aber später erklärte er, dass er sich vertan hatte. Die Gegenüberstellung hätte zur Identifizierung geführt. Er hätte es lediglich falsch notiert.

    Auf den Anwalt Saikin setzte man einen demonstrativen Spitzel an und setzte sein Auto in Brand. Ojubs anderer Anwalt, Aslan Telchigow, war aufgrund von Drohungen gezwungen, aus Tschetschenien zu fliehen. 

    Drei Wochen nach Ojubs Verhaftung erklärte Kadyrow: „Dass sie sich verkauft hat, haben wir erst im Nachhinein erfahren. Sie hat das Image unseres Volkes vor dem Westen und Europa diskreditiert. Wir erkannten erst, was für ein Miststück sie war, nachdem wir sie mit Drogen erwischten.“ 

    Ramsan sprach von Ojub in der weiblichen Form, so wie er es zuvor mit dem ermordeten schwulen Sänger Selim Bakajew getan hatte.
    Frau und Kinder von Ojub flüchteten sofort nach seiner Verhaftung aus Tschetschenien. Aber im Mai erfüllte die Polizeibehörde von Kurtschaloi ihr Versprechen: Ein Neffe von Ojub wurde verhaftet. Man erhob Anklage gegen ihn wegen Drogenbesitzes. 

    Kapitel 19
    Das Gericht

    Ojub sitzt hinter den Gitterstäben und wirkt fast scheu. Es scheint, als wäre es ihm ein bisschen unangenehm, dass alle nur seinetwegen hergekommen sind. In der Pause dränge ich mich zu seinem Käfig durch und sage, dass ich in einer Woche mehr Gutes über ihn gehört habe, als jemals überhaupt über irgendjemanden. Ojubs Gesicht bleibt eine reglose Maske. Er ist offensichtlich verlegen.

    „Für Ojub war Junkie ein schlimmes Schimpfwort“, sagt Lokschina. „Wenn er über tschetschenische Silowiki sprach, die besonders viel Dreck am Stecken hatten, presste er zwischen den Zähnen hindurch: ‚Junkie‘. Er konnte sich vermutlich nicht vorstellen, wie ein Mensch solche schrecklichen Dinge tun konnte, ohne dabei unter dem Einfluss irgendwelcher Substanzen zu stehen. Und dass nun ernsthaft jemand denken könnte, dass er selbst ein Junkie ist, ein Dealer, das muss für Ojub ungeheuerlich sein.“

    In den ersten Reihen sitzen die Menschenrechtler, in den hinteren Bauern aus Kurtschaloi, Verwandte und Nachbarn von Ojub. 

    „Im Dorf glaubt kein Mensch, dass man Drogen bei ihm gefunden hat“, erzählt ein Nachbar. „Das kann einfach nicht sein. Als wir in der Schule waren, schimpfte er selbst mit dem Direktor und der Schulleitung, weil die rauchten. Und den Typen, den sie im Fernsehen hingestellt haben, der angeblich ein Nachbar ist, der ihn verleumdet hat, den kennt im Dorf niemand. Wenn ihn jemand kennen würde, gäb’s ihn längst nicht mehr, so wütend wie alle waren.“

    „Hätten sie ihm eine Pistole untergeschoben, hätte das weitaus glaubwürdiger ausgesehen“, sagt ein Freund. „Aber Drogen – es weiß doch jeder, dass er nicht mal Rauch aushält. Ich bin sicher, für ihn wäre es leichter zu ertragen, wenn sie gesagt hätten, dass er einen Menschen getötet hat. Aber das ist bei ihnen schon ein altbewährtes Spielchen: Sie haben dieses Paket, 200 Gramm, das geht aus dem Safe hier- und dorthin und wieder zurück.“

    „In der Moschee bei uns versammeln sich fünftausend Menschen“, sagt Jakub Titijew. „Jeder Einzelne von ihnen ist bereit für Ojub auszusagen. Die ersten Tage gab es zu Hause keine Ruhe. Alle kamen vorbei, um ihr Beileid auszudrücken.“

    „Er hat mir diese Gebetskette hier gegeben.“ Ein Neffe zeigt mir eine lila Kette mit einer kleinen Quaste. Wie alles, was aus Ojubs Händen stammt, ist sie hervorragend gearbeitet. „Er hat sie im Gefängnis gemacht, aus Brot und Kaffee. Er schreibt immer: ‚Entschuldigt, dass all das wegen mir passiert, dass ihr im Gerichtssaal weint.‘ Meine Tante fragt immer: ‚Hast du gegessen? Hast du genug?‘ und er: ‚Mehr Fragen hast du nicht? Immer redest du über’s Essen. Jetzt gerade ist mir nicht nach essen zumute‘, und einen Tag später schreibt er dann: ‚Entschuldige, meine Liebe, ich wollte dich nicht beleidigen.‘ 
    Ich bin auch vorbeigegangen: ‚Ojub, sag mal, was kann man dir bringen?‘ Er sagt: ‚Bring mir eine Cola.‘ Ich wundere mich: ‚Du trinkst doch gar keine Cola?‘ ‚Die mit mir in der Zelle sitzen aber schon.‘“

    „Er hat im Traum seinen älteren Bruder gesehen, der verstorben ist“, sagt der Neffe, „und er sagte uns: ‚Ich habe meinen Bruder im Traum gesehen, er hat mich um Geld gebeten. Ist mein Gehalt angekommen? Verteilt es an die Armen.‘ Selbst jetzt will er noch allen helfen.“

    Ich war nur an einem Verhandlungstag dabei, den Rest weiß ich aus dem Stenogramm und aus Texten von Kollegen, hauptsächlich von Elena Milashina.

    Das Gericht befragt einen Zeugen nach dem anderen. Achtundzwanzig Mitarbeiter der Polizeibehörde von Kurtschaloi, die sich an nichts erinnern. Tschetschenische Gerichte sind absolut nicht anspruchsvoll, also ist die Arbeitserfahrung der Ermittler in der Regel dünn, und sie sind schlecht auf das Verfahren vorbereitet. Die Mitarbeiter der Polizeibehörde sind selbstverständlich instruiert worden. Ihre Aussagen, die sie in der Beweisaufnahme abgeben, sind Wort für Wort identisch: Titijew kenne ich nicht, habe ich noch nie gesehen, nicht festgenommen oder abgeführt. 

    Die Idee dahinter ist, Ojubs Aussage über die erste Festnahme zu widerlegen. Die Streifenpolizisten haben ihn auf der Straße angehalten und die Ermittler herbeigerufen, aber wir haben damit gar nichts zu tun! Offenbar hat man bei der Instruktion einfach nur alle zusammengerufen und ihnen befohlen: Ihr sagt „Das weiß ich nicht mehr“. Daran, dass die Anwälte unterschiedliche Fragen stellen, haben sie wohl nicht gedacht. 

    „Mit welchen Autos gehen sie auf Streife?“
    „Das weiß ich nicht mehr.“
    „Welche Farbe hat ihre Uniform?“
    „Das weiß ich nicht mehr.“
    „Wie lautet ihr Kennzeichen?“
    „Das weiß ich nicht mehr.“

    „Die Verteidigung versucht, die Zeugen zu veralbern!“, entrüstet sich der Staatsanwalt. „Ich beantrage, das im Protokoll festzuhalten!“

    Wie viele Mitarbeiter die Einheit hat, wer die Leitung innehat, wie mit den Festgenommenen verfahren wird, wem gegenüber diese während der Ermittlungen Aussagen gemacht haben – keiner weiß es. Ein Zeuge nach dem anderen wiederholt, dass er Titijew nicht festgenommen hat und er ihm nicht bekannt ist. 

    Als die Reihe an denen ist, die unmittelbar an der Platzierung der Drogen beteiligt waren, ändert sich das Verhalten. Die Polizisten antworten aggressiv und viele lachen hinter vorgehaltener Hand. Nurid Salamow, der ehemalige zuständige Ermittler, der nach der Panne bei der Gegenüberstellung abgesetzt wurde, findet alles zum Lachen komisch: die Frage des Anwalts, welches Datum auf dem Schild stand, mit dem er Ojubs Wagen versiegelt hat, die Frage, ob Titijew Waffen bei sich hatte, der Versuch zu klären, welche Untersuchungen er durchführte.

    „Ich bin nicht dazu verpflichtet, das zu wissen. Ich erinnere mich nicht, was ich da überprüft habe, es gab viele Untersuchungen. Meinen Sie“, lacht er, „dass ich nur eine Sache auf dem Tisch habe?“

    Von dem bei Ojub „gefundenen“ Päckchen mit Marihuana nahm Salamow nicht einmal Fingerabdrücke. 

    Es ist ein endloses Ping-Pong, Variationen ein- und desselben Dialoges. 

    Anwalt: „Du kannst ja nicht einmal richtig lügen!“ 
    Zeuge: „Und du wirst so oder so nichts rausfinden, leck mich!“

    „Bist du gläubig?“, fragt plötzlich Ojub den Ermittler.
    „Ja …“
    „Und welchen Glauben hast du?“
    „Wie jetzt?“, antwortetet Salamow verwirrt, „Islam, natürlich.“
    „Es kann ja sein, dass es ein Glaube ist, der dir erlaubt zu lügen. Aber im Islam ist das eine Sünde. Wenn man dir einen Fall übergibt, hast du, als gläubiger Muslim, was zu tun – die Wahrheit herauszufinden oder meine Schuld zu beweisen?“
    „Die Wahrheit herauszufinden …“, antwortet Salamow sehr leise.
    „Und was hast du getan?“
    „Angeklagter, Frage abgelehnt. Wir sind hier nicht in einem Scharia-Gericht!“

    Am 22. August trat Ramsan Kadyrow vor tschetschenischen Polizisten auf. „Die käuflichen Taugenichtse aus allen Ecken der Welt, aus jedem Land, kommen in dieses Gericht. Als ob es bei uns in Russland oder in der Welt keine anderen Probleme gäbe außer einem Junkie“, sagte er. „Meine Rechte verteidigen sie nicht! Mich haben sie illegal auf die Sanktionsliste gesetzt, ohne jeden Grund meine Accounts blockiert. Sogar die Pferde haben sie mir weggenommen, ich kann sie nicht zurück nach Hause holen! Wenn ich nicht das Recht habe, nach Europa oder in den Westen zu reisen, sage ich: Menschenrechtler haben nicht das Recht, sich auf meinem Territorium zu bewegen! Ich habe Sanktionen gegen sie erlassen! Noch erlauben wir es, sollen sie kommen! Kommt nach Schali, nach Grosny, aber nach Prozessende war’s das! Hiermit erkläre ich den Menschenrechtlern offiziell: Nach dem Ende des Prozesses ist Tschetschenien für sie verbotenes Territorium, genauso wie für Terroristen und Extremisten.“

    Allerdings warteten sie das Urteil gar nicht erst ab: Am 20. September beantragte der Staatsanwalt unerwartet, dass der Prozess gegen Titijew unter Ausschluss der Öffentlichkeit weitergehen sollte, da persönliche Daten von Polizeibeamten ein Staatsgeheimnis seien und ihre Veröffentlichung deren Sicherheit bedrohe. Das ist Feenstaub: Als Staatsgeheimnis gelten die persönlichen Daten der Angehörigen von Anti-Terror-Einheiten, aber nicht von Dorfpolizisten aus Kurtschaloi. Die von dieser Wendung verdutzten Anwälte Ojubs beantragten eine Unterbrechung, um Widerspruch einzulegen.
    „Sie werden tatsächlich Widerspruch einlegen? Was hat das für einen Sinn?“, wunderte sich die Richterin geradeheraus. In ihrer Entscheidung wiederholt sie schließlich Wort für Wort den Antrag des Staatsanwalts. Wir werden wohl nicht mehr zu Ojub ins Gericht gehen können. (Am 27. September, bereits nach der Veröffentlichung dieser Reportage wurde die Sitzung wieder für die Öffentlichkeit freigegeben. Anmerkung von Meduza)

    Wie ist Ojub zu dem geworden, der er ist? Wahrscheinlich hatte er einfach Mitgefühl mit seiner Mutter. Sein ganzes Leben hat er versucht, das Richtige zu tun. Die Welt war anders, als die Großeltern ihm gelehrt hatten. Sie hatten gesagt, wenn man wie einer der Helden aus den Märchen ist, dann rettet man alle. Aber das hat nicht funktioniert. Die Schüler, die er liebte, starben, Natascha starb, die Sache, der er sein Leben gewidmet hat, ist zerstört. Sie sperrten ihn in einen Käfig und stellen ihn im Fernsehen als Drogendealer dar.

    Ojub Titijew wirkt vor Gericht fast scheu / Foto © Dmitry Markov für Meduza
    Ojub Titijew wirkt vor Gericht fast scheu / Foto © Dmitry Markov für Meduza

    Epilog

    Nach der Verhandlung sitzen wir mit den Leuten von Memorial im Café Central Park, benannt nach der Serie Friends, auf dem Putin-Prospekt. An den Wänden hängen alte Fotos von New York, zwischen den Stühlen laufen hübsche Kellnerinnen in Hidschabs hin und her. Hier erreicht Tscherkassow eine Nachricht. „Es heißt, dass sie in Komsomolskoje auf der Polizeistation einen Typen umgebracht haben. Es gibt einen Namen und die Telefonnummer des Vaters.“ „Na dann, los geht’s“, sagt einer.

    Wir schließen uns mit dem Moskauer Büro kurz.

    „Ruft jetzt nicht an, das Telefon des Vaters wird mit Sicherheit abgehört. Fahrt ins Dorf, ruft von dort an, fragt nach der Adresse und lauft sofort hin.“

    „Und wenn wir niemanden erreichen?“

    „Dann könnt ihr einfach hinfahren und nach der Adresse fragen. In diesem Moment gehen alle vorbei, um ihr Beileid zu bekunden. Wenn ihr euch entsprechend einkleidet, werdet ihr keine Aufmerksamkeit auf euch ziehen.“

    Die Mädels ziehen sich Kopftücher und Kleider an. Beide sind Russinnen, das ist erkennbar, aber was soll’s, auch unter Tschetscheninnen gibt es Unterschiede im Aussehen. Nur die Hipsterschuhe verraten ihre Trägerinnen auf hundert Meter Entfernung. 

    „Fahren wir mit Delimobil?“

    Es stellt sich heraus, dass es in Grosny Carsharing gibt. Alles wie in Europa. 

    Wir kommen in Komsomolskoje an. Die Situation ist schlimm. Wir rufen an, aber niemand nimmt ab. Wir treffen eine Gruppe alter Männer, die vor einem Haus sitzen, und fragen, wo der Vater des Getöteten lebt. Sie starren uns verwundert an, aber erklären uns den Weg sehr genau. Auf dem Weg erfahre ich die Umstände: Die Polizei suchte den Mann, der sich, als er erkannte, was ihm bevorstand, versteckte. Aber sein Vater glaubte, dass sich die Sache klären und sie den Sohn wieder laufen lassen würden, also brachte er ihn persönlich zur Polizeistation. Einen Tag später brachten sie ihm eine Leiche zurück, die Spuren von Folter aufwies. Und sie nahmen direkt einen Mann aus der Nachbarschaft mit. 

    Das Dorf ist hervorragend wiederaufgebaut worden. Straße, Zäune, Tore, und im Kontrast dazu die angespannten Blicke der Jugend aus der Nachbarschaft. Der Vater ist nicht da, sie haben ihn vor drei Stunden aufs Revier geholt. In der Tür steht die Mutter, eine betagte Bäuerin mit gräulichem Gesicht. Höflich, leblos bedankt sie sich für die Beileidsbekundungen, dann sinkt sie auf eine kleine Bank nieder. Zum Stehen fehlt ihr die Kraft. Den Ermordeten hat man gestern bestattet, ohne Totenmahlzeit, wie es die Kadyrowzy befohlen haben, damit die Leute die Folterspuren nicht sehen und kein Lärm entsteht. Aus der sommerlichen Küche lugt die Witwe hervor, ein ganz junges Mädchen. Sie kocht etwas, das Gesicht versteinert, kreidebleich. Ihr restliches Leben wird sie entweder alleine mit zwei Kindern verbringen müssen, oder erneut heiraten, dafür aber die Kinder verlieren. 

    Der Vater erscheint. Man hat ihn aus dem Polizeirevier entlassen, wo man ihm erklärte, wie er sich zu verhalten habe. Ein durchschnittlicher Dorfmensch, mit schleppendem, etwas wackeligem Gang. Wir erklären, wer wir sind.

    „Ich danke ihnen, danke. Alles gut, hier war nichts.“
    „Aber ihr Sohn ist tot?“
    „Stimmt, ist tot.“
    „Weshalb?“
    „Naja, hat einfach aufgehört zu atmen.“

    Nachdem ich diese Reportage beendet hatte, habe ich sie Ojub ins Gefängnis geschickt. Als Antwort erhielt ich einen Brief. Er handelte fast ausschließlich von seinen verstorbenen Schülern. Nach dreiundzwanzig Jahren dachte er immer noch an sie:

    „Sie sind nicht mit mir gegangen, wir sind uns gar nicht über den Weg gelaufen. So ein Idiot aus unserem Dorf hat sie mitgenommen. Jeder dieser Jungs hätte ablehnen können, und man hätte es keinem von ihnen zum Vorwurf gemacht. Überhaupt hatte damals niemand das Recht, jemand anderem Befehle zu erteilen. Alles war freiwillig. Die Gruppen haben sich selbstständig auf den Weg gemacht und Widerstand geleistet, wo sie konnten.

    Ich wusste, dass sie gegangen waren, aber nicht, wohin. Man teilte sie ein auf dem leeren Feld einer Kolchose, und sie alle trafen die Entscheidung zu sterben. Meine Schuld liegt darin, dass ich ihnen nicht gefolgt bin, nicht bei ihnen war, sondern alles dem Zufall überlassen habe. Wenn ich bei ihnen gewesen wäre, hätte ich sie da ohne Widerstand rausgeholt. Neunzehn Menschen sind dort gestorben, die meisten ehemalige Schüler von mir, und drei Cousins und Neffen, die ich mit großgezogen habe. Am vierten Tag gelang es uns, elf Leichen da rauszuholen. Ich habe sie aufgesammelt, einige in Einzelteilen. Das ist schwer aus dem Gedächtnis zu streichen. Ich würde Vieles dafür geben, in diesem Moment an ihrer Seite gewesen zu sein, ihr Los zu teilen, um nicht sehen zu müssen, was aus Tschetschenien geworden ist.“

    Schura Burtin
    Mitarbeit: Julia Wischnewezkaja und Sergej Bondarenko

    Fotos: Dmitry Markov für Meduza

    Übersetzung: Dario Planert

    Weitere Themen

    Argument mit Sahne

    Im Schwebezustand – Südossetien

    Was ist eigentlich im Nordkaukasus los?

    Schuld und Sühne à la Kadyrow

    „Wie es ausgeht, weiß keiner”

    Der Vaterländische Krieg von 1812

  • Die Geister der Vergangenheit

    Die Geister der Vergangenheit

    Juri Dmitrijew muss ein „Wahnsinniger“ sein. Das sagen Freunde und Kollegen über ihn, und sein Werdegang legt es nahe: Akribisch und detailversessen, ohne große Institutionen und Gelder im Hintergrund, forschte und grub er in Archiven und in Erdhügeln nach Toten aus der Zeit des Großen Terror. Er sorgte dafür, dass die Ermordeten und anonym Begrabenen wieder einen Namen und einen Gedenkort bekamen. 
    Mit seinen Nachforschungen hat Dmitrijew ein Tabu gebrochen, denn bis heute ist die Zeit des Großen Terrors kaum aufgearbeitet

    Am 13. Dezember 2016 wurde Juri Dmitrijew verhaftet. Der ungeheure Vorwurf lautet: Kinderpornographie. Dabei werden ihm Fotografien zur Last gelegt, die er vor einigen Jahren von seiner Pflegetochter machte. 2008 hatte er das damals dreijährige Mädchen zu sich genommen.
    Die Anschuldigungen und der Prozess erregten großes Aufsehen, viele Beobachter zweifeln die Vorwürfe an, glauben an eine Kampagne, um Dmitrijew zum Schweigen zu bringen. Eine Petition wurde gestartet, zahlreiche Prominente wie der Musiker Boris Grebenschtschikow, die Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja oder der Regisseur Andrej Swjaginzew setzten sich für Dmitrijew ein, bislang ohne Erfolg: Der Prozess geht am kommenden Dienstag weiter. Dmitrijew, der sich nun auch an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewandt hat, drohen bis zu 15 Jahre Haft.

    Schura Burtin hat mit Freunden und Weggefährten Dmitrijews gesprochen, ist den Spuren des Mannes in die dunkle sowjetische Vergangenheit gefolgt. 
    Seine Reportage über den „Fall Chottabytsch“, wie Dmitrijew wegen der äußeren Ähnlichkeit mit dem in Russland populären Flaschengeist genannt wird, wurde viel gelesen und diskutiert. 


    Update, 27.12.2021: Die Lagerhaft von Juri Dmitrijew wurde von einem Gericht in Karelien von 13 auf 15 Jahre angehoben, wie Mediazona berichtet.
    „Dmitrijew kann man mit Worten schwer beschreiben, er flucht ohne Ende Mat und raucht Belomor.“ / Foto © Sofija Pankewitsch
    „Dmitrijew kann man mit Worten schwer beschreiben, er flucht ohne Ende Mat und raucht Belomor.“ / Foto © Sofija Pankewitsch

    Von Juri Dmitrijew habe ich erstmals diesen Winter gehört, nach seiner Verhaftung. Freunde erzählten mir die merkwürdige Geschichte von einem Memorial-Mitarbeiter aus Karelien, der wegen Kinderpornographie festgenommen worden war.

    Ich kam nach Hause, suchte im Netz und sah Fotos von einem dürren, bärtigen Mann mit grauen Zotteln und schwerem Blick. Aus der Anklage war schwer zu ersehen, was von der Sache zu halten ist. Einerseits kann man sich von einem Memorial-Mitarbeiter so etwas Abwegiges schwer vorstellen. Andererseits – kein Rauch ohne Feuer: Die Ermittler konnten das doch nicht alles erfunden haben!

    Harsche, emotionale Person mit schwierigem Charakter

    Ich spreche mit verschiedenen Menschen, die Dmitrijew kennen. In Moskau sind es zwei feine, kluge Frauen: Irina [Galkowa, Leiterin des Memorial-Museums] und Olga Kersina, Leiterin des Moskauer Kinokolledsh. Beide unterstützen Dmitrijew. Aus ihren Erzählungen wird bald klar, dass er ein ziemlich ungewöhnlicher Typ sein muss, ein Original. Mir wird eine harsche, emotionale Person mit schwierigem Charakter beschrieben (fast alle benutzten das Wort „kratzbürstig“), auf der anderen Seite sehr direkt und offenherzig; ein emsiger Technik-Freak mit dem Charakter einer Schukschin-Figur.

    „Naja, er ist schon, sagen wir, eigen …“ Das höre ich von fast allen, die ich nach Dmitrijew frage. „Schickt dich auch schon mal zum A****, wenn’s sein muss …“

    „Dmitrijew kann man mit Worten schwer beschreiben, er flucht ohne Ende Mat und raucht Belomor. Lebt mit Katze, Tochter und Enkeltochter zusammen. Sie kleben an ihm, und er: ‚Immer hübsch der Reihe nach, ihr Hurenkinder!‘ Zum Abschied bekam ich von ihm zu hören: ‚So, und jetzt verpiss dich.‘ Aber immer mit einem Lächeln, ironisch, nicht böse …“  

    In seiner Jugend besuchte er eine Weile die medizinische Fachschule, wollte Arzthelfer werden, brach sie dann ab. Saß ein paar Jahre wegen einer Schlägerei ein, arbeitete als Schlosser bei einem Wäscherei- und Saunakombinat, als Hilfsarbeiter in einer Mineralien-Fabrik, betreute Heizanlagen für die Wohnungsverwaltung. Führte Touristen durch Karelien, lernte, im Wald zu überleben. Heiratete, bekam zwei Kinder, sparte auf eine Wohnung. Während der Perestroika flammte bei ihm, wie bei vielen, das Interesse an Politik auf – aus der Zone war er als Antisowjet zurückgekehrt. 1988 wurde Dmitrijew, mitgerissen vom Kampf gegen die führende Rolle der KPdSU, ehrenamtlicher Assistent eines Volksabgeordneten. Eines Tages rief ein Reporter der Zeitung Komsomolez bei ihm an: In der Garnisonsstadt Bessowez hatte man menschliche Überreste entdeckt.

    „Also hab ich zum Chef gesagt: ‚Wir müssen dahin.‘ Folgendes Bild: Ein Bagger steht da, ein paar Typen von der Staatsanwaltschaft, der Ermittler, Bezirksbeamte jeder Couleur, so an die fünfzehn Leute waren dort versammelt. Alle stehen rum, wissen nicht, was sie mit diesem Fund anfangen sollen. Ich war ja mal auf der medizinischen Fachschule und weiß ein bisschen was über Anatomie, also habe ich anhand der Knochenanordnung gesehen, wo der Kopf war, den Schädel rausgeholt, die Erde abgerieben – und da sehe ich am Hinterkopf eine runde Öffnung. Erschossen.

    Was also tun? ‚Wieder vergraben und gut ist’s!‘ Und ich: ‚Wie – vergraben? Und was ist mit beerdigen?‘ ‚Ist doch nicht unsere Aufgabe.‘ Und stehen so da, gucken sich an. ‚Na gut, wenn euch das alles schnurz ist, mach ich’s eben selbst …‘

    Und dann bin ich ein paar Wochenenden lang rausgefahren, hab die Knochen eingesammelt, in Säcke gepackt und in Garagen gebracht. Eines Tages fand ich einen Schuh mit abgenutzter Galosche. Und hinten drin – ein Stück Zeitung, damit die Galosche nicht rutschte. Ich brachte das Beweisstück zur Staatsanwaltschaft, aber die sagten: Man kann nichts lesen. Ich hab mir also einen feinen Pinsel und Kinderseife genommen – und zwei Wochen mit dieser Zeitung zugebracht. Als der Text zum Vorschein kam, bin ich in die Bibliothek und hab die passende Zeitung gesucht. Wie sich herausstellte, war es die Krasnaja Karelija [dt. Rotes Karelien dek], von September 1937 …“

    Erste Etappe

    Eines Tages, Mitte Oktober 1937, legten am Hafen der Solowezki Inseln drei Lastkähne aus Kem an. Die Lagerinsassen wurden zu einer unerwarteten Generalüberprüfung nach draußen gescheucht. Eine ellenlange Liste wurde verlesen, mehr als tausend Namen von Menschen, die in Etappen verschifft werden sollten.

    Von den Menschen, die in diesen Kähnen ablegten, hat nie wieder jemand etwas gehört. Sie sind weder irgendwo angekommen noch in irgendwelchen Dokumenten oder Memoiren aufgetaucht. Es ging die Legende, die Kähne wären im Weißen Meer versenkt worden. Den Angehörigen wurden jahrzehntelang falsche Auskünfte erteilt: „Zehn Jahre ohne Recht auf Briefverkehr“, „Aufenthalt in entlegenem Lager“, „Verstorben an Lungenentzündung, Herzinfarkt …“. Erst mit der Perestroika wurde bekannt, dass man diese Menschen alle erschossen hatte.

    Das geschah folgendermaßen: Man holte die Häftlinge [die man per Schiff nach Medweshja Gora transportiert hatte – dek] einzeln aus den Zellen, unter dem Vorwand einer medizinischen Untersuchung. Dann brachte man sie in das „Handfesselzimmer“, wie es die Tschekisten unter sich nannten. Nach Abgleich mit der Liste erklang ein Codewort: „Etappentauglich“. Sofort packten zwei Tschekisten den Gefangenen an den Armen, verdrehten sie auf dem Rücken, während ein dritter sie fest verschnürte. Wenn der Häftling schrie, wurde er mit einem Knüppelschlag auf den Kopf „bewegungsunfähig“ gemacht, ihm wurde mit einem Handtuch so lange die Luft genommen, bis er das Bewusstsein verlor. Die Mörder hatten Angst vor den Schreien: Die Gefangenen sollten nicht wissen, wozu man sie nach Medweshja Gora gebracht hatte. Wenn jemand versehentlich starb, schaffte man die Leiche in den Waschraum.

    Wenn 50 bis 60 Menschen zusammen waren, wurden sie von einem Begleitkommando auf Lkw-Ladeflächen gezerrt, dicht an dicht auf den Boden gelegt und mit Planen zugedeckt. Eine Karawane aus mehreren Lkws und einem Pkw als Schlusslicht brach in Richtung Wald auf. Dort hatte ein Arbeitskommando bereits tiefe Gruben in den lockeren Sandboden gegraben. Feuer wurden entzündet, damit die Begleitmänner es warm und hell hatten. Die Autos fuhren dicht an die Gruben heran, einer nach dem anderen wurden die Menschen von der Ladefläche gezogen. In den Gruben warteten die Mörder. Die waren ein halbes Jahr später fast alle selbst tot. Erschossen, wie so viele der am Großen Terror Beteiligten.

    Aus ihren Aussagen bei den Kreuzverhören kennen wir das Hinrichtungsmuster. „Dem Gefangenen wurde befohlen, sich mit dem Gesicht nach unten in die Grube zu legen, woraufhin er mit einem Nahschuss aus dem Revolver getötet wurde“, berichtet Matwejew, ein Hauptmann der Staatssicherheit, in seiner Aussage.

    War das Erschießungskommando mit einer Gruppe fertig, kehrte ein Teil des Kommandos nach Medweshja Gora zurück, um den nächsten Schub zu holen, während ein anderer Teil dort blieb und neue Gruben schaufelte. In einer Nacht schaffte man bis zu vier solcher Durchläufe. Frauen wurden gesondert transportiert. Gegen vier Uhr morgens beendete man die Operation.

    „Einmal hatte der Lkw mit den Menschen hinten drauf während der Fahrt eine Panne und blieb im Dorf Pinduschi liegen. Da fing einer der Verurteilten so an zu schreien, dass man es draußen hören konnte. Um die Geheimhaltung unserer Arbeit zu wahren, musste ich entsprechende Maßnahmen ergreifen, aber es war nicht möglich, im Auto zu schießen, und man konnte ihm den Mund auch nicht mit einem Tuch zubinden, weil die Verhafteten dicht an dicht auf dem Boden der Ladefläche lagen. Also habe ich, um den schreienden Verurteilten ruhigzustellen, ihn mit einem Eisenstab aufgespießt, wie mit einer Stichwaffe, und so sein Schreien beendet.“

    Wo die Menschen nicht hingehen

    Dmitrijew freundete sich mit Iwan Tschuchin an, dem Leiter des Petrosawodsker Memorial. Auch der kannte sich mit dem Thema aus: Ein Oberstleutnant der Miliz, der sich für die Geschichte des Weißmeer-Ostsee-Kanals interessierte und mit Haut und Haar in die Vergangenheit abgetaucht war. Tschuchin arbeitete an einem Buch, den Totengedenklisten Kareliens von 1937 bis 1938, den Jahren des Großen Terrors. Dmitrijew begann ihm zu helfen.

    „Ich saß beim FSB, füllte all diese Karteikarten aus, mehrere tausend Stück – Datum der Festnahme und so weiter, alle Details. Und als ich mit den Karten durch war, begriff ich, dass wir riesige Lücken in den Listen hatten. Ich ging wieder zum FSB und sagte: ‚Ich brauche nicht die ganzen Akten. Gebt mir die Protokolle der Troika-Sitzungen.‘ Das war vielleicht was! Sie ließen mich keine Kopien machen, keine Fotos. Ich musste alles von Hand abschreiben – was schafft man da schon in acht Stunden? Also nahm ich ein Diktiergerät mit, sprach die Protokolle ein, die angehefteten Schriftstücke, von vorne bis hinten … Wort für Wort, Buchstabe für Buchstabe. Dann ging ich nach Hause, hörte es die halbe Nacht ab, schrieb alles auf, glich die Erschießungen mit den Listen der Repressierten ab, ging wieder hin, nahm alles auf und so weiter. Und erst so schufen wir langsam eine mehr oder weniger zuverlässige Grundlage.“

    Den Archiven entnahm Dmitrijew, dass es in Karelien sehr viele Hinrichtungsstätten gegeben haben musste. Aber sie wurden streng geheimgehalten, in den Dokumenten sind nie konkrete Orte genannt. Den Erschießungsort kannte nicht einmal die Führung, nur der Kommandeur des Erschießungskommandos und das Kommando selbst. In den Akten fanden sich nur vereinzelt indirekte Hinweise.

    Er las eine Schäferhündin auf und brachte ihr bei, Grabstätten aufzuspüren / Foto © Alexander Zepljanow
    Er las eine Schäferhündin auf und brachte ihr bei, Grabstätten aufzuspüren / Foto © Alexander Zepljanow

    Und so begann Dmitrijew zu suchen: Den Winter verbrachte er im Archiv, im Sommer ging er in die Wälder. Wie Erschießungsgräber aussahen, das wusste er bereits.

    Er las eine Schäferhündin von der Straße auf, nannte sie Wedma, Hexe, und brachte ihr bei, Grabstätten aufzuspüren. Die beiden wurden ein unzertrennliches Paar, verschwanden monatelang zu zweit in den Wäldern. Und so kennen Dmitrijew alle: dürr, schroff, immer in Matrosenshirt und Tarnanzug, mit der immergleichen Belomor-Zigarette zwischen den Zähnen und Wedma auf der Rückbank des verbeulten Niva.

    „Alles, was er wissen will, erfährt er innerhalb von zehn Minuten. Er spricht alle Omas an. Er hat uns beigebracht, welche Fragen man stellt. Man darf nicht nach den konkreten Ereignissen fragen, sondern zum Beispiel: Welche Stellen werden hier gemieden? Vor welchen Orten haben die Menschen Angst?“

    Alle Grabstätten waren getarnt.

    „In Sulashgora bin ich einmal fast durchgedreht … Ich weiß ja, wie der Mensch aufgebaut ist, wo welcher noch so kleine Knochen am Skelett hingehört. Aber da waren die menschlichen Knochen mit etwas anderem vermischt. Ich bin zum Tierarzt gelaufen – ein Schwein! Eine Aasgrube war das. Warum? Weil es Jäger mit Hunden gibt. Die Hunde wittern was, fangen an zu scharren, dann gräbt vielleicht auch mal der Jäger und findet plötzlich einen Toten. Also hat man am Ende immer ein totes Schwein oder irgendwas reingeworfen: Hier ist eine Aasgrube, haltet euch fern.“

    Abgesackte Böden

    1997 wurde Dmitrijew von den Petersburger Memorial-Mitarbeitern Wenjamin Iofe und Irina Flige gebeten, nach der Hinrichtungsstätte der ersten Gefangenen-Etappe von Solowezki zu suchen. Die Suche gestaltete sich äußerst schwierig. Die Bahnstation Medweshja Gora liegt mitten in der Taiga. Aus den Aussagen wusste man nur, dass die Lastwagen mit den Verurteilten das Dorf Pinduschi passierten, sie also irgendwo im näheren Umkreis der Straße nach Powenez erschossen worden waren. Aus der Anzahl der Fahrten pro Nacht und anderen indirekten Hinweisen schlossen die Memorial-Mitarbeiter, dass die Fahrtzeit zum Zielort etwa eine halbe Stunde betragen haben musste, circa 20 Kilometer.

    Die Zeiten waren andere – die Kreisverwaltung leistete Unterstützung, wo sie konnte, die Führung der hiesigen Armeeeinheit stellte einen Trupp Soldaten bereit, um bei der Suche zu helfen.

    „Ich gehe mit dem Oberleutnant langsam den Waldweg entlang und überlege: Welche Stelle hätte ich wohl gewählt? In einem der Verhörprotokolle hatte ich gelesen, wie sie instruiert wurden: Nicht weiter als zehn Kilometer vom Ort der Internierung und so, dass man die Schüsse nicht hörte, das Licht der Scheinwerfer, den Widerschein der Lagerfeuer nicht sah. Hier? Nein, zu nah an der Straße. Dort? Schon eher, aber noch etwas weiter. Ja, hier ist es genau richtig … Und plötzlich, während ich das denke, fallen mir zu beiden Seiten der Straße gerade, rechteckige Erdmulden auf, mit abgesackten Böden. Und als wir uns umsehen, wimmelt es überall nur so von diesen Erdmulden …“

    So weit das Auge reichte war der Wald übersät von Gräbern. Gleich bei den ersten Grabungen entdeckte man Schädel mit Einschusslöchern darin. Bei der Menge der Grabstätten war sofort klar, dass hier nicht nur die Häftlinge der Solowezker Etappe erschossen worden waren, sondern noch sehr viele andere Menschen. Viele von ihnen waren den Memorial-Mitarbeitern bereits bekannt.

    Unter den Opfern waren Leute, deren akademische Titel eine Schreibmaschinenseite sprengten und deren Liste wissenschaftlicher Arbeiten so dick war wie ein Schreibheft. Etliche Intellektuelle, Soldaten und Offiziere der Weißen Armee und natürlich Geistliche, darunter vier, die von der Kirche heilig gesprochen wurden. Insgesamt um die 9000 Menschen.

    Es ist eines der größten Massengräber des Stalinistischen Terrors, zu nennen in einer Reihe mit der Lewaschowo-Brache, dem Butowo-Poligon, Kommunarka, Kuropaty und Katyn.

    Der Ort hatte keinen Namen. Bei der Durchsicht alter Karten entdeckte Dmitrijew in der Nähe den Flurnamen Sandarmoch. Also wurde die Fundstelle nach diesem Waldstück benannt.

    Sandarmoch

    Im Norden ist es still. Die Geräusche – das Klopfen eines Zuges, das Gepolter von Steinen, die vom Kipplaster rutschen, das Dröhnen eines Motors auf der Landstraße – zerreißen diese Stille nur kurz. Nach Sandarmoch sind es drei Stunden mit dem Zug von Petrosawodsk bis zur Bahnstation Medweshja Gora und dann zwanzig Kilometer mit dem Bus, der nach Powenez fährt. Eine unmerkliche Kurve, vierhundert Meter einen Waldpfad entlang, am Ende – eine kleine Lichtung mit einem scharfkantigen Stein und einer Holzkapelle, dahinter wieder Wald, ein gewöhnlicher karelischer Wald, karelische Kiefern. Und an jedem Stamm: das Portrait eines hier ermordeten Menschen. Es duftet nach Nadelholz, unter den Füßen knirscht der Schnee, die Schatten werden blau, ein Specht klopft den Takt. Und von jedem Baum blicken mich Menschen an, Schwarzweißfotos. Ich gehe durch den Wald, zwischen den Bäumen hindurch – und sie sind überall, Tausende von Menschen. In diesem Leben wurden all diese Menschen zu Bäumen. Und jeder Baum erzählt mir, was für ein Mensch er einmal war.

    Von jedem Baum blicken mich Menschen an, Schwarzweißfotos / Foto © Tomasch Kisny
    Von jedem Baum blicken mich Menschen an, Schwarzweißfotos / Foto © Tomasch Kisny

    Ich verliere mich, wandere lange durch den Wald. Komme wieder an der Lichtung heraus, wo der große Felsblock steht, den Dmitrijew und sein Freund Grischa Saltup hier vor zwanzig Jahren aufgestellt haben. Darauf eine Inschrift: „Menschen, tötet einander nicht!“ Dieser scheinbar banale Aufruf hallt beim Verlassen des Waldes wie deine eigene, inständige, naive Bitte.

    Bis aufs Grab genau

    „Er ist ja gar kein Historiker“, sagt die Leiterin des Memorial-Museums Irina Galkowa, „aber er kennt sich unheimlich gut aus, und er hat ein unglaublich feines Gespür für Details, für sachliche genauso wie archivarische. Ich kenne keinen anderen, der durch Tausende von Akten gehen und dabei die immergleichen langweiligen Daten herausschälen könnte, alles miteinander vergleichen, Kärtchen ausfüllen … Ein Grab auszugraben ist an sich ja schon ein makaberes Unternehmen. Aber dann ist da ja noch diese ganze langatmige Arbeit – vergleichen, vermessen, Details gegenüberstellen. Wofür macht man das alles? Um den Erschießungsbefehl zu finden, der zu diesem konkreten Grab gehört. Dieser Erschießungsbefehl erlaubt es, alle Ermordeten mit Namen zu nennen – die konkreten Menschen, die in diesem einen Grab liegen. Eine ungeheure Arbeit, niemand in Russland macht sie außer ihm.“

    Die Entdeckung von Sandarmoch wurde zum zweiten Schlüsselmoment in Dmitrijews Leben. Für viele Jahre tauchte er in die Schicksale der dort hingerichteten Menschen ein. Innerhalb von zehn Jahren hat er den Großteil der Erschießungsbefehle zugeordnet, für etwa siebeneinhalbtausend Menschen. Es ist die einzige Hinrichtungsstätte in Russland, bei der die meisten der Opfer namentlich bekannt sind, viele bis auf die Grube genau.

    Katja

    Kurz vor der Entdeckung von Sandarmoch hatte Dmitrijew eine Stelle als Wachmann angenommen und eine verlassene Militärfabrik am Stadtrand bewacht. Das war genau das richtige für ihn: Es gab genug Freizeit und ein minimales Gehalt. Alle seine Suchaktionen bezahlte Dmitrijew aus eigener Tasche, er hat nie im Leben Forschungsgelder erhalten, nicht eine müde Kopeke. Er ließ sich einen Bart und lange Zotteln wachsen – seine Freunde tauften ihn Chottabytsch. Mitte der 1990er hatte seine Frau ihn verlassen, seine beiden Kinder, Jegor und Katja, damals etwa zehn und elf, blieben bei ihm.

    „Er blieb allein, bis die Kinder erwachsen waren“, erzählt Irina. „Wenn er davon sprach, klang das immer, als wäre das ein Gesetz: ‚Meine Kinder sollen keine Stiefmutter haben.‘ Er hat eine etwas pathetische Einstellung dazu, was ein Vater sein muss. Eine Familie, die von ihm abhängt und der er sich bedingungslos aufopfert, ist ihm ungeheuer wichtig.“

    Dmitrijews Zuhause ist eine Junggesellenwohnung im obersten Stockwerk einer Chruschtschowka in einer Vorstadtsiedlung. Jetzt, nach seiner Verhaftung, lebt hier seine Tochter Katja mit ihren Kindern. Es riecht nach Hund und kaltem Belomor-Rauch. Eine altersschwache Wohnzimmerschrankwand mit Kristallgeschirr, lauter Krimskrams über dem typisch chaotischen Schreibtisch à la sowjetischer Ingenieur …

    „,Naja, er ist schon, sagen wir, eigen ... ‘ Das höre ich von fast allen, die ich nach Dmitrijew frage“ / Foto © Ekaterina Makhotina
    „,Naja, er ist schon, sagen wir, eigen … ‘ Das höre ich von fast allen, die ich nach Dmitrijew frage“ / Foto © Ekaterina Makhotina

    Katja ist etwas über 30, eine eher grobe, schroffe, schnörkellose junge Frau, die beim Notdienst der Wohnungs- und Kommunalwirtschaft arbeitet. Schreit ihre Kinder an wie ein Feldwebel. Das macht mich anfangs etwas nervös, aber dann verstehe ich, dass das nur eine Angewohnheit ist, vermutlich hat sie das von ihrem Vater. Es sind gute Menschen, und sie haben ein gutes Verhältnis zueinander. Danik bringt mir einen Teller Borschtsch und Mayonnaise.

    „Er hat immer nur vier Stunden geschlafen – die ganze Zeit war er mit diesen Listen zugange! Ist doch klar, dass du völlig fertig bist. Aber ewig Kaffee und Papirossy – nach dem Motto ich muss, ich muss! … Jura, sage ich, rasier dich mal. Du siehst aus wie ein Waldschrat! Lass mich, sagt er. Und ich: Dann komm ich nachts und rasier dich! Nein, sagt er, solange das Buch nicht fertig ist, werd ich mich nicht rasieren, und meine Haare bleiben auch dran … Als dieses große Gedenk-Buch rauskam, hieß es, es würde sich vielleicht verkaufen lassen. Da sagt er: Was heißt denn verkaufen? Vielleicht ist es für irgendein Großmütterchen, irgendeine Rentnerin, ihr ganzer Lebenssinn? Er kratzte hier und da was zusammen, packte seine Sachen – und zog wieder los, ließ sich seinen Bart wachsen.“

    Sekirka

    Sandarmoch bescherte Dmitrijew eine weitere Leidenschaft: Er beschloss, koste es, was es wolle, die beiden anderen Solowezker Etappen zu finden, die zweite und die dritte. Die Suche nach der zweiten Etappe führte Dmitrijew in die Gegend bei Lodeinoje Pole [in der Nähe von St. Petersburg – dek]. Gefunden hat er sie noch immer nicht, aber er durchkämmt weiter jeden Sommer dort die Wälder.

    Die dritte Etappe hat, wie ihm klar wurde, niemals abgelegt: Die Schifffahrtssaison war vorbei, und so wurden die Häftlinge gleich dort, auf den Solowezki Inseln, erschossen. Bei seiner Suche nach der dritten Etappe stieß Dmitrijew auf die Erschießungsgruben am Sekirnaja Gora – wohl einem der schrecklichsten Orte der Menschheitsgeschichte.

    Der Strafisolator auf dem Sekirnaja Gora befand sich in einer großen zweistöckigen Kirche, die niemals geheizt wurde. Bei der Ankunft wurde der Häftling komplett entkleidet, sämtlicher persönlicher Gegenstände entledigt und in einen Kittel aus Leinsäcken gesteckt.

    Zu Essen gab es auf Sekirnaja Gora so gut wie nichts – 300 Gramm von irgendeinem Moder, der in den umgeschlagenen Kittelsaum gekippt wurde. Den ganzen Tag mussten die skelettgleichen, schmutzigen, halbtoten Menschen auf speziellen Sitzstangen ausharren, die so angebracht waren, dass die Füße kaum bis zum Boden reichten, und durften sich nicht rühren. Im Winter bei grausamster Kälte, im Sommer übersät von Tausenden von Mücken. Wer nicht gehorchte, wurde mit Stöcken geschlagen, gefesselt oder in die „steinernen Säcke“ gezwängt – Nischen, die seinerzeit Mönche zur Aufbewahrung von Lebensmitteln in den Fels gehauen hatten. Geschlafen wurde auf dem reifbedeckten Steinboden, zusammengedrängt zu sogenannten „Wärmegruppen“ (die Beine des einen geschlungen um den Hals des nächsten), oder in drei Reihen übereinander gestapelt, immer abwechselnd. Jede Nacht starb jemand aus der untersten Reihe, die Aufseher zogen die Leichen heraus, und die Häftlinge, völlig von Sinnen, hinderten sie daran – aus Angst, sich auf den Steinboden legen zu müssen.

    Sekirnaja Gora war der Vernichtungsort des Lagers, länger als zwei Monate überlebte dort niemand. Schon im Voraus, im Herbst, wurden am Fuß des Berges Gräben für die Leichen gegraben. Genau hier fand auch der Großteil der Erschießungen von Solowezki statt. Auf dem Sekirnaja Gora gab es sechs hauptamtliche „Henker“. Den Erinnerungsberichten nach zu urteilen, wurden dort wöchentlich um die zehn Menschen hingerichtet. Aber es gab auch Massenerschießungen: 140 ehemalige Weißgardisten, die der Vorbereitung eines Aufstands bezichtigt wurden (der sogenannten Solowezker Verschwörung, ein von der OGPU fabrizierter Fall); 125 Häftlinge, die bei der Verladung von Holz für die Ausfuhr gearbeitet und Hilferufe in die Stämme geschnitzt hatten; 148 gläubige Christen, die sich weigerten, „für den Antichrist“ zu arbeiten – das sind die Fälle, die belegt sind.

    Eine dieser Begräbnisstätten mit 70 Erschossenen darin hat Dmitrijew entdeckt. Es gelang ihm nicht, die Namen herauszufinden – die Archive des Solowezki-Lagers sind entweder vernichtet oder streng geheim. Also bat er einfach die Mönche, eine Messe für die Toten abzuhalten, beerdigte sie und stellte Kreuze auf.

    Charon

    Ich versuche immer noch zu verstehen und frage alle danach: Was hat diesen Mann dazu bewegt, völlig uneigennützig dreißig Jahre seines Lebens dem unappetitlichen und eintönigen Herumwühlen in Knochen und Karteikarten zu widmen, den Reisen ins Reich der Toten? Es ist ja eine Sache, einen Friedhof zu finden, oder zwei, drei … aber dreißig Jahre?

    Ein Schreibtischgelehrter hätte niemals wirklich in das damalige Leben eintauchen, es zu seinem eigenen machen können. Da wäre immer eine unüberwindbare Grenze geblieben hinter der durchsichtigen Schicht der Zeit. Aber Dmitrijew hat ein magisches Ritual gefunden, das ihre Schicksale zu einem Teil seines eigenen macht. Er grub die Toten aus, gab ihnen Namen, beerdigte sie wieder – und trat damit in ihre Leben, all diese Menschen wurden zu seinen Angehörigen. Ihre Knochen wurden zu seinen Knochen. Er wurde zu Charon, der einen kleinen Teil ihrer Seelen wieder in die Welt der Lebenden zurückbrachte. Er stand ganz offenbar in irgendeiner Verbindung zu den Toten.

    „Er sagte, er würde die Stimmen der Toten hören – in den schlaflosen Nächten, wenn er in den Karteikarten blättere, und im Rascheln der Äste im Wald“ / Foto © Ekaterina Makhotina
    „Er sagte, er würde die Stimmen der Toten hören – in den schlaflosen Nächten, wenn er in den Karteikarten blättere, und im Rascheln der Äste im Wald“ / Foto © Ekaterina Makhotina

    Naturgemäß wurde Dmitrijew zu einem Gläubigen, einem Mystiker. Er sagte, er würde die Stimmen der Toten hören – in den schlaflosen Nächten, wenn er in den Karteikarten blättere, und im Rascheln der Äste im Wald.

    „Auf dem Friedhof in der Nähe der achten Schleuse am Belomorkanal zündete ich eine Kerze an, begann, für den Seelenfrieden der Verstorbenen zu beten, und ich hörte von allen Seiten: Denk auch an mich, und mich, und mich …“

    In diesen dreißig Jahren hat Dmitrijew überwältigend viel getan – niemand in Russland hat so viel ausgegraben wie er. Er schuf Geschichte, die es vor ihm nicht gegeben hat, und er veränderte Stück für Stück die Welt um ihn herum. Nicht jeder Historiker kann das von sich behaupten.

    Einer nach dem anderen entstanden in Karelien Orte, die zum Nachdenken bewegen. Scheinbar war dort alles in Ordnung – und plötzlich, nach zwanzig Jahren, finden die Bürger heraus, dass sie umgeben sind von Gräbern voller Erschießungsopfer. Und jetzt müssen sie etwas mit dieser Geschichte tun, es ist nicht mehr möglich, sich abzuwenden, zu vergessen …

    Gefahr

    Den Gesprächen mit seinen Freunden entnehme ich, dass Dmitrijew im vergangenen halben Jahr sichtlich nervös war, mehrfach äußerte, dass man ihn holen würde.

    Chottabytsch spürte, dass man ihn beobachtet, aber er wusste nicht, was er genau verstecken sollte. Im November vergangenen Jahres veröffentlichte Memorial die aufsehenerregenden sogenannte Henkerslisten – Listen mit den Namen von NKWD-Mitarbeitern, die unmittelbar am Großen Terror beteiligt waren. Dmitrijew hatte an diesem Projekt nicht mitgewirkt, allerdings bekam er in den ersten Dezember-Tagen mehrere Anrufe von einer anonymen Person, die herauszufinden versuchte, ob er Informationen über die Massenmörder besaß.

    „Er hatte schon länger davon gesprochen, dass jemand in seinem Computer herumwühlt, dass man ihn abhört“, erzählt Katja. „Ich hab zu ihm gesagt: ,Hör auf zu spinnen, James Bond!‘ Und dann rief er mich an: ‚Komm bitte morgen früh und bleib ein bisschen hier. Es muss jemand da sein morgen.‘ Ich sagte: ‚Ich kann nicht, ich muss arbeiten.‘ ‚Was ist mit Danik?‘ Ich fragte: ‚Was ist passiert?‘ Und er: ‚Schon gut …‘“

    Am 10. Dezember 2016 bekam Dmitrijew Besuch von einem Polizeibeamten, der ihn bat, am nächsten Tag wegen irgendwelcher Formalitäten auf dem Revier zu erscheinen. Dmitrijew erschien und wurde vier Stunden lang zu irgendwelchen Jagdgewehren ausgequetscht. Als er nach Hause kam, wurde ihm klar, dass jemand in seiner Wohnung gewesen war und seinen Computer durchforstet hatte.

    Einen Tag später wurde Dmitrijew wegen des Verdachts auf Herstellung von Kinderpornographie festgenommen. Als Beweismittel dienten Fotos der nackten Nataschka.

    Nataschka

    Als Jegor und Katja erwachsen waren, heiratete Dmitrijew zum zweiten Mal. Seine Frau und er nahmen ein dreijähriges Mädchen aus dem Kinderheim bei sich auf, Natascha. Alle sagen, das sei ein ungeheuer wichtiger Moment für ihn gewesen. Dmitrijew, selbst ein Heimkind (er war noch ganz klein, als seine Eltern ihn zu sich nahmen), betrachtete dies als seine Pflicht. Man wollte ihm kein Kind geben, es hieß, er sei zu alt. Aber Dmitrijew zog vor Gericht, durchbrach alle Mauern, besuchte Kurse für Pflegeeltern – und bekam Nataschka.

    „Ich habe als letzte davon erfahren“, erinnert sich Katja. „Weil sie wussten, wie eifersüchtig ich bin … Ich liebe meinen Papa sehr, seine Aufmerksamkeit ist mir sehr wichtig. Als sie es mir sagten, war ich wie erstarrt, meine erste Reaktion war: ,Hoffentlich kein Mädchen?‘ Allein die Vorstellung, dass er zu jemandem anders Töchterchen sagt … Naja, und dann kam diese Natascha, komisch war die. Furchtbar dünn, unterernährt, schielte, hatte den Kopf voller Läuse. Später erst, da wurde sie der Chef. Da staunst du nur so!“

    „Als seine Frau gegangen ist, war er natürlich erstmal etwas ratlos“, erzählt Katja. „Aber mit vereinten Kräften ging es irgendwie. Natürlich war ich jeden Tag da, hab geholfen, Essen gemacht. Und dann komm ich eines Tages, und siehe da – er hat sich dran gewöhnt, überall hängt Wäsche, wie bei einer Hausfrau. Wir waren ständig zusammen. Er ging auf seine Expeditionen, ich nahm Nataschka zu mir, später nahm er sie mit. Meine Kinder waren ständig dort, sie gingen auf dieselbe Schule. Er schleppte sie zu allen möglichen Kreisen, überallhin, er hat sich ihr richtig angenommen.“

    „Nataschka entwickelte sich sehr langsam“, sagt Olga Kersina vom Moskauer Kinokolledsh. „Dmitrijew machte sich Sorgen, dachte, das wäre, weil sie sich schon so an seine Frau gewöhnt hatte. Er ist zu allen Ärzten gerannt, die sagten, dass sie nicht wächst, weil sie emotional schwer traumatisiert sei. Er suchte nach Fachärzten, dachte, er würde sie in Moskau finden. Er hatte einen ziemlichen Tick, was ihre Gesundheit anging.“

    „Eine Verbundenheit wie im Krieg war das, Wahnsinn!“, sagt Irina Galkowa. „Dass Nataschka auch ein Mensch mit einem schlimmen, von Beginn an schwierigen Schicksal ist, an dem er nun teilhat und wofür er verantwortlich ist – das war Juri sehr bewusst.“

    „Er hat sie auf dem Sekirnaja Gora taufen lassen. Das war im August, ein furchtbarer Tag, windig, grau, kalt. Aber es war ihm sehr wichtig, sie genau dort taufen zu lassen. Ich saß vorher mit ihr in der Banja [zur obligatorischen Waschung vor der Taufe – dek], wir haben das Vaterunser und das Glaubensbekenntnis gelernt, das war sehr schön. Auch sehr ernst, weil Papa gesagt hat, es muss sein. Und als sie getauft war, kam die Sonne raus – es war unglaublich. Er war sehr glücklich, und sie war auch glücklich. Da war so viel Liebe.

    Das, was danach geschah, ist eine scheußliche Geschichte, denn er hat sie ja sehr lieb.“

    Verhaftung

    „Als es passierte, hatte ich an die 40 Grad Fieber“, erzählt Katja weiter. „Ich stand unter Schock, sie haben mich vor dem Gefängnis festfrieren lassen, ich stand vor dem Eisentor, niemand hat mich beachtet. Und Nataschka konnte ich nicht finden. Der Ermittler wollte nicht mit mir reden, ich schrie in den Hörer, war völlig hysterisch, ich verstand überhaupt nichts mehr. Dann durfte er mich anrufen, er sagte: ‚Die wollen mir irgendwas mit Pornographie anhängen, ich soll Fotos ins Internet gestellt haben …‘ Was für ein Schwachsinn, er hatte keinen blassen Schimmer wie man im Internet überhaupt irgendwas macht … Er sagte: ‚Katja, ich verstehe ja selbst nichts, aber mit so einer Anklage hat man im Lager kein ruhiges Leben … Da kriegt man vielleicht acht bis zehn …‘ Und ich: ‚Tage?‘ ‚Nein, Jahre.‘“

    Zuerst verstand niemand etwas. Dann stellte sich heraus, dass es um Fotos von Natascha ging, die Dmitrijew für die Vormundschaftsorgane gemacht hat.

    „Ich rufe Nataschka an – das Handy ist aus. Es ist schon dunkel, die Schule gleich zu Ende, ich weiß nicht, wo das Kind steckt! Ich renne zurück nach Hause, da ist sie nicht … Ich bin fast verrückt geworden. Dann, mitten in der Nacht, ruft sie mich an: ‚Wo ist Papa?‘ Das Jugendamt hat sie von der Schule abgeholt, um zehn Uhr morgens, als sie auch ihn abgeholt haben, und in ein Heim gebracht. Ich bin losgefahren, hab dieses Heim gefunden, die Frauen dort waren nett, zeigten Mitgefühl und ließen mich zu ihr. Sie hatte ihnen schon alles erzählt: Wie sie ihren Papa liebt, wie sie mich liebt, und Sonja und Danik, und dass sie Sambo betreibt. Sie hängte sich an mich ran: ‚Warum ist Papa nicht gekommen?‘ Ich sagte: ‚Wenn Papa nicht kann, dann komme ich und nehme dich mit, warte nur ein bisschen.‘ Und dann bekomme ich einen Anruf vom Jugendamt: Der Ermittlungsrichter hat verfügt, dass Verwandte von Juri Alexejewitsch nicht mit Natascha sprechen dürfen.“

    Etwa einen Monat verbrachte Natascha im Heim, dann kam sie zu ihrer leiblichen Großmutter, in ein Dorf im Norden Kareliens.

    „Als Nataschka das mit ihrem Vater im Internet gelesen hatte, rief sie mich an: ‚Katja, warum machen die das?! Das ist doch alles nicht passiert! Was wollen die von ihm?‘ Sie schreibt ihm Briefe, dass sie ihn sehr liebt, dass sie nach Hause will. Die Oma sagt zwar, dass sie sich schon eingelebt hat – doch sie kämpft wieder ihre Kämpfe ohne Regeln, in der Schule und überall. Ich rufe immer an, halte sie zum Lernen an, halte die Oma an, ihre Hausaufgaben zu kontrollieren.“

    Rauch ohne Feuer

    Das Unterfangen, ein nacktes Kind zu fotografieren, kam selbst mir anfangs, ehrlich gesagt, ziemlich seltsam vor. Wenn man hört, dass jemand der Herstellung von Kinderpornographie beschuldigt wird, fällt es schwer, locker zu bleiben – selbst wenn man vermutet, dass die Anklage stark überzogen ist. Wenn ich jemandem von diesem Fall erzähle, reagieren die meisten mit: „Ja, aber warum hat er sie fotografiert?“

    Drei Wochen lang führte ich Gespräche mit verschiedenen Leuten, in Petrosawodsk, Petersburg, Moskau, fragte sie nach Dmitrijew, Nataschka, den Bildern. Ich glaubte nicht an die Pornoversion, aber ich versuchte trotzdem zu verstehen, welche Merkwürdigkeit ihn dazu bewogen hat, seine nackte Tochter zu fotografieren.

    Irina und andere Freunde von ihm berichten, dass das Mädchen völlig unterernährt und stark entwicklungsgestört aus dem Kinderheim gekommen sei. Das Verhältnis zu den Behörden war anfangs angespannt, weil Dmitrijew sich das Kind erkämpft hatte. Bald kam es zu einem Konflikt im Kindergarten: Die Erzieherinnen behaupteten, Natascha hätte blaue Flecken – wie sich herausstellte, waren es in Wirklichkeit Farbspuren von einer Zeitung, die seine Frau unter die wärmenden Senfpflaster gelegt hatte.

    Im Grunde alles Kleinigkeiten, aber Dmitrijew machte es sich daraufhin eisern zur Regel, Nataschka einmal im Monat nackt zu fotografieren – vier Aufnahmen: von vorne, von hinten, von links und von rechts. Am Anfang einmal im Monat, dann alle drei bis vier Monate, und vor ungefähr zwei Jahren hörte er ganz damit auf.

    „Auf seiner Festplatte waren 144 Fotos in nach Jahren sortierten Ordnern“, sagt sein Rechtsanwalt Viktor Anufrijew. „Davon sind überhaupt nur neun Gegenstand der Klage. Wenn sein Interesse sexueller Natur wäre, wäre das Verhältnis doch wohl nicht neun aus 114, sondern umgekehrt, oder? Von diesen neun ist die Hälfte völliger Humbug, da rennen Natascha und Katjas Kinder zusammen ins Badezimmer, sitzen in der Wanne. Auf den anderen steht sie einfach nur da. Darauf wären die Genitalien zu sehen, sagen sie – das kann ich nicht beurteilen, ich bekomme die Fotos mit schwarzen Quadraten. Und einmal hat er sie fotografiert, als sie nackig geschlafen hat. Ich sage Ihnen ganz klar: Hier wird kein Tatbestand erfüllt, da gibt es nichts zu diskutieren.“

    Dmitrijew ist nicht einmal auf die Idee gekommen, die Fotos seiner Tochter zu löschen, obwohl er schon ahnte, dass die Ladung aufs Polizeirevier dazu diente, ihn aus der Wohnung zu bekommen.

    Die Ironie des Schicksals liegt gerade darin, dass er die Aufnahmen aus Angst davor aufbewahrte, Nataschka zu verlieren, er sah sie als Beweis für ihre Gesundheit.

    „Das war so ein beruflicher Tick von ihm – alles zu dokumentieren, abzufotografieren“, sagt Olga Kersina. „Wenn sich jemand dreißig Jahre lang mit Knochen beschäftigt, hat er ein völlig anderes Verhältnis zum menschlichen Körper, einen distanzierten Blick. Er muss bestimmen, was das für Menschen sind, welchen Geschlechts, wie alt, woran sie gestorben sind … Alles muss festgehalten werden, genau fotografiert, verschriftlicht. Vielleicht hat ihm der Vorfall mit den blauen Flecken gezeigt, dass er Fotos als Beweismittel braucht. Nataschas Gesundheit steht für ihn an oberster Stelle. Diese Fotos sind eindeutig Gesundheitstagebücher. Es liegt eben einfach in seiner Natur: Er schießt gerne übers Ziel hinaus, geht bei allem bis zum Äußersten, bis auf den Grund.“

    „Vor allem: Jura ist dermaßen weit entfernt von diesem Vorwurf!“, sagt sein Freund Anatoli Rasumow. „Seine Moralvorstellungen sind dem völlig entgegengesetzt! Mit Leuten, die das tun, was sie ihm vorwerfen, würde er sonstwas machen.“

    „Man muss schon pervers sein, um da Pornographie zu sehen“, sagt Katja. „Wenn ein Mann 50 ist und die Frau 30 – schon das findet er verrückt: ‚Wie kann man nur?‘ Er ist 60, also muss die Frau 50 sein, und selbst das sind für ihn junge Hüpfer. Will sagen, er ist für Beziehungen auf Augenhöhe, schon mit 20 Jahren Altersunterschied kann er nichts anfangen, hat mich immer nur mit großen Augen angeschaut: ‚Aber Katja, was ist denn das …‘“

    Zunächst wurde Dmitrijew nur die Herstellung von Pornographie zur Last gelegt. Aber der Paragraph umfasst auch die Veröffentlichung und Verbreitung. Genau das haben die Ermittler gleich behauptet, und danach auch der Fernsehkanal Rossija 24. Aber Dmitrijew hatte mit dem Internet nichts am Hut, er hat nicht einmal Bilder per E-Mail verschickt. Nachträglich etwas ins Netz stellen konnte man nicht – eine solche Fälschung wäre viel zu kompliziert. Wahrscheinlich wurde die Anklage wegen Verbreitung deshalb schnell wieder fallengelassen, aber der Porno-Paragraph selbst blieb.

    Das Gutachten darüber, ob diese Aufnahmen als pornographisch zu werten sind, bestellte die Ermittlungsbehörde beim Zentrum für soziokulturelle Expertisen, einer „unabhängigen gemeinnützigen Organisation“. 
    Dabei handelt es sich um eine bekannte Firma, die in industriellen Mengen Gutachten produziert, die vom Zentrum E und dem FSB in Auftrag gegeben werden. Zu ihren jüngsten Werken gehören: Die „Verletzung religiöser Gefühle von Gläubigen“ im Torfjanka-Park und die Aufdeckung der extremistischen Natur der Zeugen Jehovas
    Vier Experten sind dort zugange: ein Kunsthistoriker, ein Mathe-Lehrer, ein Politikwissenschaftler und ein Englisch-Übersetzer. Diese Leute wurden bereits der Aneignung gefälschter akademischer Grade überführt, der direkten Unterschiebung (sie schrieben Dinge in die zu analysierenden Texte, die dort nicht standen) und natürlich der massenhaften Erstellung von Gutachten zu Themen, von denen sie keine Ahnung haben. Berühmtheit erlangte das Zentrum dadurch, dass es eine Bibel, die man den Zeugen Jehovas abgenommen hatte, als extremistische Literatur einstufte. Nach Meinung der Experten sei eine „Bibel, als Buch begriffen, nicht mehr die Bibel, zu der wird sie einzig und allein in der Kirche“.

    Die Fotografien von Natascha erklärten sie zu Pornographie – und das ist das Einzige, worauf sich die Anklage stützt. Dmitrijews Rechtsanwalt stellte einen Antrag auf Begutachtung durch ein beliebiges Zentrum für Sexualpathologie – der natürlich abgelehnt wurde.

    Vier Monate später präsentierte die Ermittlungsbehörde Dmitrijew zwei weitere Anklagen: wegen unzüchtiger Handlungen und illegalen Besitzes von Waffen. Die unzüchtigen Handlungen bestanden aus Sicht der Ermittler im Akt des Fotografierens eines nackten Kindes. Und die Waffen, die Dmitrijew besaß, waren völlig legal: In seiner Jugend hatte er gejagt, in den ganzen letzten Jahren trug er bei seinen Wanderungen im Wald eine Pistole mit sich – in Karelien wimmelt es vor Bären. Aber vor einigen Jahren hat er ein paar Jungs im Hof eine uralte, rostige Flinte abgenommen. Sie war völlig kaputt, zum Schießen untauglich – aber sicher ist sicher … Und ebendiese Flinte haben sie bei der Durchsuchung gefunden. Nach Aussage des Rechtsanwalts lässt sie sich unmöglich reparieren: „Und selbst wenn, womit sollte man schießen? Solche Patronen kann man seit 50 Jahren nicht mehr kaufen.“

    Schatten

    Ich verliere mich lange in Mutmaßungen, wem Dmitrijew wohl im Weg war, dieser wenig bekannte Memorial-Mitarbeiter aus Petrosawodsk, der weder politisch noch als Menschenrechtler aktiv war. Ist Chottabytsch etwa wirklich einem der Mächtigen im hiesigen Mikrokosmos auf den Senkel gegangen? Oder gab es eine Order aus Moskau zur Einschüchterung von regionalen Memorial-Zentren? Oder wurde alles nur für diese Sendung auf Rossija 24 eingefädelt (Nataschas Fotos landeten seltsamerweise gleich nach der Verhaftung beim Fernsehsender WGTRK)? Oder war es bloß Zufall: Hatte man routinemäßig die hiesigen Aktivisten beobachtet, auf der Festplatte gewühlt, die Fotos entdeckt und beschlossen, die Sache aufzurollen?

    Aber langsam ergab sich aus den diversen Gesprächen ein Bild. Wie das Schicksal es will, trat ein Schatten hinter den zugewachsenen Gräbern von Sandarmoch hervor. Die Begräbnisstätte vereint sehr viele Nationalitäten, was im Wesentlichen jener ersten Etappe geschuldet ist. Es liegen dort Massen von Ukrainern, Polen, Finnen, Georgier, Aserbaidschaner, Tataren, Wainachen begraben, sogar Schweden und Norweger. Jedes Jahr am 5. August besuchen verschiedene Delegationen diesen Ort. So ergab es sich, dass die Gedenkfeiern in Sandarmoch von Anfang an internationale Veranstaltungen waren. Es kamen offizielle Persönlichkeiten, und auch hohe Regierungsvertreter mussten immer hin, ob sie wollten oder nicht.

    „Es duftet nach Nadelholz, unter den Füßen knirscht der Schnee, die Schatten werden blau, ein Specht klopft den Takt, und an jedem Stamm – das Portrait eines hier ermordeten Menschen“ / Foto © Ekaterina Makhotina
    „Es duftet nach Nadelholz, unter den Füßen knirscht der Schnee, die Schatten werden blau, ein Specht klopft den Takt, und an jedem Stamm – das Portrait eines hier ermordeten Menschen“ / Foto © Ekaterina Makhotina

    So ging es bis 2016, als, so heißt es, eine Anordnung durch die Verwaltungsbehörden ging: keine Sandarmoch-Besuche mehr. Zum ersten Mal waren weder Vertreter der Russisch-Orthodoxen Kirche anwesend, noch fand die traditionelle Kreuzprozession statt (obwohl noch 2010 Patriarch Kirill höchstpersönlich die Messe abgehalten hatte). Dafür wimmelte es vor Journalisten der offiziellen karelischen Medien. „Sie bekamen spezielle, von den Behörden vorbereitete Fragen ausgeteilt und befragten die ausländischen Gäste, warum sie hergekommen waren und so weiter. Das wurde nie für irgendwelche Publikationszwecke genutzt, ist einfach irgendwo nach oben geflossen …“

    Besonders häufig wird Sandarmoch von Polen und Ukrainern besucht – mit der Solowezker Etappe hatte man große Teile der ukrainischen Intelligenz und zahlreiche polnische Geistliche ermordet. 2015 hatte die Botschafterin Katarzyna Pelczinska die Gedenkfeier besucht und Dmitrijew das Goldene Verdienstkreuz überreicht, eine der höchsten Auszeichnungen Polens. Offenbar beschloss man daraufhin, dass mit Sandarmoch nun langsam Schluss ist. Zumal der Friedhof 2017 ein Jubiläum feiert – zwanzig Jahre seit seiner Entdeckung, dazu jährt sich der Große Terror zum 80. Mal. Den Behörden dämmerte, dass die Leute in Scharen kommen würden.

    Gleichzeitig begann im vergangenen Sommer in Petrosawodsk eine Kampagne, die regionale Geschichte umzudichten. Erst tauchte in der Presse eine Nachricht von Juri Kilin auf, einem Professor an der Universität von Petrosawodsk. Er äußerte die Vermutung, in Sandarmoch seien nicht nur Repressionsopfer begraben, sondern auch Kriegsgefangene, die von Finnen erschossen worden seien.

    „Eine Behauptung, die aus der Luft gegriffen ist“, sagt Irina Galkowa. „In Analogie dazu, dass die Finnen die Lager des Gulag für ihre eigenen Kriegsgefangenen benutzt haben. Nach dem Motto, wenn sie die Lager benutzten, dann haben sie wohl auch Erschießungen durchgeführt. Eine krude Logik. Aber die These hat gefruchtet. Und wenn es im ersten Stadium eine bloße Vermutung war, dann war es im dritten und vierten schon eine Feststellung, und im fünften – eine Negierung der Tatsache, dass es überhaupt irgendwelche Repressionen gegeben hat: ‚Ach so ist das, Memorial macht so einen Wind, dass es die eigenen Leute waren, und in Wirklichkeit waren’s die irren Deutschen!‘“

    Am 4. August 2016, am Vorabend der Gedenkveranstaltung, brachte der TV-Kanal Swesda eine Sendung: Die zweite Wahrheit des Konzentrationslagers Sandarmoch – wie die Finnen Tausende unserer Soldaten ermordeten.

    Dort war die Rede von geheimen FSB-Dokumenten, die dem Fernsehsender vorlägen und aus denen hervorginge, dass in Sandarmoch sowjetische Gefangene beerdigt seien.

    In Wirklichkeit zeigte man den Zuschauern einen Bericht des SMERSch über ein kleineres, 250 Menschen fassendes Kriegsgefangenenlager in Medweshjegorsk, das sich auf dem ehemaligen Gelände einer Abteilung der BelBaltLager befand. Darin wird von der Erschießung zweier Gefangener berichtet. In dem Beitrag allerdings hieß es, hier seien „verschiedenen Quellen zufolge 19.000 bis 22.000 Menschen umgekommen. Und natürlich muss dort ein Denkmal für die ermordeten Kriegsgefangenen errichtet werden“.

    „Auf wen hören die? Was glaubst du? Auf Dmitrijew, einen stadtbekannten Verrückten, oder auf die Onkel mit den Dienstgraden …“, fragt ein Freund von der Petrosawodsker Uni Irina Galkowa. „Und was ist damit, dass der Verrückte Dokumente zu Sandarmoch hat, zu siebeneinhalbtausend Menschen? Ich habe versucht, mit Dmitrijew darüber zu diskutieren, aber er winkte nur ab: ‚Ist doch alles Mist. Das sind angefütterte Bisons, die fressen aus der Hand, aus der sie fressen müssen. Und ich bin ein wilder Wolf, der frisst, was er will …‘“

    Das war das ganze Problem. Eine Abmachung mit Dmitrijew zu treffen, war ein Ding der Unmöglichkeit. Es war klar, dass er diese Gedenkfeiern organisieren würde, solange er lebt. Wenn man die Party beenden wollte, musste man Chottabytsch wegsperren.

    Wenn ein Fall konstruiert ist, kommt das normalerweise im Laufe der Verhandlung raus. Es ist natürlich ein Leichtes, einen Unschuldigen zu verurteilen. Aber wenigstens sehen die Leute dann, was da in Wirklichkeit los ist. Darauf kann Dmitrijew allerdings nicht hoffen. Die unglückseligen Fotos wird nie jemand zu Gesicht bekommen: Er wird eines Sexualverbrechens an einer Minderjährigen beschuldigt, und deshalb wird die Verhandlung hinter verschlossenen Türen geführt.

    Ja, natürlich, Chottabytsch spürte, wohin es geht. Ich werde das Gefühl nicht los, dass das alles – Dmitrijew selbst, die Seelen der Toten, die FSBler, die Fernsehleute von Rossija 24 – dass sie alle irgendeiner weisen und segensreichen Macht unterstehen. Dass wir noch immer in einer Welt leben, in der es solche Menschen und Geschichten gibt. In der der Herr noch immer jedem sein wundersames Schicksal schenkt und jeder Held einen Drachen findet, gegen den er kämpfen kann. Vor dreißig Jahren ist Dmitrijew mit seinem Feldspaten ausgezogen, gegen ihn anzutreten. Er bekam zu hören, dass es keine Drachen gebe, aber er ging immer weiter, von Grab zu Grab, durch Wälder, Schleusen, über Inseln, suchte die Spuren des Monsters im Staub von Karteikästen, stur und unnachgiebig. Und bitte sehr, hier ist er, der Drache.

     

    Weitere Themen

    Gulag

    Die Fragen der Enkel

    Erinnerungs-Entzündung

    Die Täter-Debatte

    Archipel Gulag

    Sprache und das Trauma der Befreiung