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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Der sowjetische Geruch ist noch nicht verschwunden“

    „Der sowjetische Geruch ist noch nicht verschwunden“

    In Deutschland wurde Regisseur Ilja Chrshanowski bekannt, als er 2018 für die Premiere seines Filmprojekts Dau die Berliner Mauer temporär wieder errichten wollte. Das Projekt scheiterte, zwei Dau-Filme wurden in Deutschland schließlich im Februar 2020 auf der Berlinale gezeigt, ohne wiedererrichtete Mauer. 
    Aber auch in Russland und in der Ukraine polarisiert der international erfolgreiche Künstler und Filmemacher, der derzeit an einem Konzept für das Museum von Babyn Jar arbeitet, wo 1941 knapp 33.000 Jüdinnen und Juden von den Nationalsozialisten ermordet wurden.
    Im Interview mit Meduza spricht Ilja Chrshanowski über seine Kindheit unter Künstlern und Dissidenten, über „sowjetischen Geruch”, den die russische Gesellschaft bis heute ausströme, und das Museum als Ort einer emotionalen Erfahrung.  

    Meduza: Erzählen Sie von Ihrer Familie und der Umgebung, in der Sie aufgewachsen sind.

    Ilja Chrshanowski: Geboren bin ich in der Familie des Filmregisseurs Andrej Chrshanowski und der Philologin Maria Nejman. Ich war ein spätes Kind, für sowjetische Verhältnisse sogar extrem spät – meine Eltern waren 35 und 36 Jahre alt.   
    Und offenbar hatten sie so lange auf mich gewartet, dass sie sich dann nicht mehr von mir trennen wollten und mich überallhin mitnahmen – was für mich natürlich ein absolutes Glück war. Das war mir schon damals klar, aber jetzt schätze ich das noch mehr. Weil ich die ganze Zeit mit meinen Eltern verbrachte, hatte ich bis 13 praktisch keine eigenen Freunde, sondern war vor allem mit den Freunden meiner Eltern befreundet. Wenn ich heute auf diese Situation zurückblicke, verstehe ich es als riesiges Geschenk, von diesen wunderbaren Menschen umgeben zu sein, etliche von ihnen wahre Größen ihrer Zeit, und dadurch habe ich eine andere Beziehung zu Zeit. 

    Ich war vor allem mit den wunderbaren Freunden meiner Eltern befreundet

    Mein Taufpate, der Schriftsteller Sergej Alexandrowitsch Jermolinski, wurde 1900 geboren. Schon als Kind wollte er Schriftsteller werden und schrieb einen Brief an Lew Tolstoi, der, wie Sie wissen, ziemlich viele Briefe bekam. Doch Tolstoi antwortete ihm und erklärte dem 10-Jährigen lang und breit, warum er doch besser kein Schriftsteller werden solle, was das für eine schwere und schwierige Arbeit sei. Trotzdem wurde Sergej Alexandrowitsch Schriftsteller und einer der ersten sowjetischen Drehbuchautoren. Viele Jahre lang war er eng mit Bulgakow befreundet. 
    Das alles wurde ihm zum Verhängnis: Er wurde verhaftet, man verlangte von ihm, Bulgakow zu denunzieren, gegen seine Freunde auszusagen, doch er unterschrieb nichts und lebte noch sehr lange. Er und seine Frau Tatjana Alexandrowna Lugowskaja, die Schwester des Dichters Wladimir Lugowski, waren mit meinen Eltern befreundet. 
    Im Haus von Jermolinski und Lugowskaja wurden gern Feste gefeiert – Namenstage und Geburtstage, dort fanden sich immer illustre Gäste ein: die Kulturszene und die echte Intelligenzija jener Zeit. 

    Ihre Begegnung mit dem Millionär Sergej Adonjew – ist das die Fortsetzung einer Reihe von nützlichen und wichtigen Bekanntschaften, die in Ihrer Kindheit begonnen hat, oder ist das eine eigene Geschichte?

    Na ja, das Leben nahm seinen Lauf, und man begegnet verschiedenen Menschen unter unterschiedlichen Umständen. Sergej Adonjew lernte ich zufällig kennen. Mein Freund, der Restaurantbetreiber Iljuscha Demitschew, der seit ein paar Jahren in London lebt und dort fabelhafte Restaurantprojekte vorantreibt, hat im Wissen, dass es bei dem Film Dau Finanzierungsschwierigkeiten gab, einer gemeinsamen Bekannten davon erzählt – Uljana Zejtlina. Und die wiederum hat Sergej Adonjew getroffen, und als im Gespräch der beiden das Thema Kunstförderung, Kulturförderung aufkam, erzählte sie ihm von Dau. Sergej sagte, er habe den Film 4 gesehen, der habe ihm gut gefallen und er wolle mich kennenlernen. 

    Sergej Adonjew unterstützt einzigartige Projekte – und die Leute, die mit ihm arbeiten, gewinnen obendrein Inspiration aus dieser Beziehung

    Sergej ist ein außergewöhnlicher, geradezu genialer Mensch, dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Denn ich habe in meinem Leben schon viele Genies gesehen, Gott sei Dank, als Kind, aber auch als Erwachsener. Sergej hat eine enorme persönliche Gabe, diese Welt zu sehen und zu spüren. Er ist ein einflussreicher Mann und hat einen besonderen Einfluss. Er wirkt auf das Bewusstsein der Menschen, die in seine Nähe kommen. Das Leben dieser Menschen verwandelt sich dann irgendwie, verändert sich. Dass Sergej über Geldsummen verfügt, ohne die Dau und viele andere Kulturprojekte in Russland undenkbar wären, ist gar nicht das Entscheidende. Er unterstützt einzigartige Projekte – und die Leute, die mit ihm arbeiten, gewinnen obendrein Inspiration aus dieser Beziehung. Ich bin überzeugt, dass wir uns der Bedeutung von Sergejs Einfluss auf die heimische Kultur in Zukunft noch bewusst werden.  

    Führen Sie Ihre Zusammenarbeit mit Adonjew also auf einen Zufall zurück und nicht auf die Tatsache, dass Sie in bestimmten Kreisen reicher Menschen verkehrten?

    Natürlich, weil ja die Intelligenzija, wie Sie wissen, nie Berührungspunkte mit der Welt der sogenannten Reichen hatte. Schon zu Tschechows Zeiten wurden Geschäftsleute von der Intelligenzija verachtet, und in der Sowjetunion wuchs sich der Spalt zwischen Intelligenzija und Geschäftswelt zu einem Abgrund aus. 
     
    Was hat Sie an der Persönlichkeit Lew Landaus so beeindruckt, dass Sie beschlossen, ihm einen Film und in weiterer Folge ein ganzes Projekt zu widmen? Kann man sagen, dass die Zeit, in der die Handlung von Dau angesiedelt ist, 1938 bis 1968, gewissermaßen eine wichtigere Rolle spielt als die Figur Landaus? 

    Es fügte sich alles ineinander: Mich hat schon immer das Phänomen des sowjetischen Bewusstseins interessiert, des sowjetischen Menschen, des sowjetischen Genotyps. Nach der Katastrophe des Jahres 1917 wurde ein bestimmter Genotyp des Sowjetmenschen entwickelt, dem wir alle mehr oder weniger angehören. Wenn man sich dessen nicht bewusst ist, ist es schwer, damit umzugehen und – wie ein berühmter Schriftsteller es nannte – Tropfen für Tropfen diesen Sklaven aus sich herauszupressen. Anders schafft man es nicht, ihn aus sich herauszupressen. Man darf nicht so tun, als hätte man ihn nicht in sich. Ich finde das Thema des sowjetischen mentalen Sklaventums sehr interessant.

    Man darf nicht so tun, als hätte man man den sowjetischen Sklaven nicht in sich

    Hinzu kommt der Eindruck, den Landau bei mir als Kind hinterlassen hat, als ich ein Buch über ihn las, und später als Jugendlicher die Memoiren seiner Frau Kora. An alldem faszinierte mich in erster Linie dieser absolut freie und interessierte Mensch, der sein Leben abgesehen von der Wissenschaft der Frage widmete, was Glück ist und wie das Glück des Einen das Unglück des Anderen sein kann. 
    Landau war ein Mensch, der alles hatte, von Kind an wusste er, dass er ein Genie war, und auch alle anderen wussten, dass er ein Genie war. Er war immer sehr erfolgreich – bis auf eine dramatische Episode, wo er ein Jahr im Gefängnis saß, aber auch daraus wurde er befreit, konnte sich retten. Er wurde von den Frauen geliebt und von allen bewundert. Was ist Glück für so einen Menschen? Was ist Freiheit für so einen Menschen, für so einen Persönlichkeitstyp? Das war der Ausgangspunkt. 
    Doch dann kamen wir davon ab, Landaus Biografie zu verfilmen, weil es unmöglich ist, einen historischen Film zu machen, ohne ihn sich auszudenken, und wir wollten ihn uns nicht ausdenken, wir wollten ihn gewissermaßen herausbilden. Deswegen gibt es in diesem Projekt zwar einige Motive aus dem Leben Landaus und anderer Physiker, doch hat das alles nichts zu tun mit ihnen.  

    War Ihre Familie vom Stalinistischen Terror betroffen?

    Natürlich. Es gibt keine Familie, die nicht betroffen war.

    Das passierte auf verschiedene Arten. Wurde Ihre Wahrnehmung der damaligen Zeit innerhalb der Familie geprägt oder waren es die unzähligen Freunde Ihrer Eltern, die Ihnen ihre Erinnerungen mitgeteilt haben?

    Ich habe bereits meinen Taufpaten erwähnt, der inhaftiert gewesen war und sein Leben lang Angst vor der Polizei hatte. Und mein Vater hat eben jahrelang nicht gearbeitet, weil man ihm das verboten hatte. 
    1968 machte er den Film Die Glasharmonika und fuhr damit just an dem Tag, an dem unsere heldenhaften Truppen in der Tschechoslowakei einmarschierten, zu Goskino. Mit dem Ergebnis, dass der Film verboten wurde. Sie stellten ihn ins Regal, die erste Version vernichteten sie einfach, indem sie sie im Hinterhof des Filmstudios mit einer Axt in Stücke schlugen. Und Papa schickten sie, „damit er das Volk näher kennenlerne“, für zwei Jahre zur Marineinfanterie an Kampfschauplätze. Und das waren schon eher vegetarische Zeiten. Die Brüder meiner Großmutter, der Mutter meines Vaters, saßen an die 20 Jahre in sowjetischen Gefängnissen. 

    Die Angst vor dem KGB war immer Teil des Lebens der Intelligenzija

    Meine Großeltern sind in der Kommunalka gestorben, in der nebenan Spitzel wohnten, Amateurspitzel oder tatsächliche Sicherheitsbedienstete von Stalin. Mein Großvater ist niemals irgendwelchen Vereinigungen von Künstlern, Schauspielern oder Theaterleuten beigetreten, zu denen er eingeladen wurde, weil er mit dem sowjetischen System nichts zu tun haben wollte. Er hatte bei Filonow, Malewitsch und Petrow-Wodkin gelernt und war ein absolut freier Mensch, aber eben frei auf dem abgesteckten Gebiet seines persönlichen Lebens und seiner Seele.
    Wir alle sind mit diesem Leben fest verbunden. Ich weiß noch, wie sie mir als Kind auf der Straße den Ermittlungsbeamten Chwat zeigten, der Meyerhold gefoltert hat. Und wir alle kennen Meyerholds berühmten Brief, in dem er beschrieb, was sie im Gefängnis mit ihm machten. Ein sehr enger Freund meines Großvaters war Erast Pawlowitsch Garin, ein Lieblingsschüler von Meyerhold, der sein Leben lang litt und die Tragödie um Meyerhold nicht überwinden konnte. Die Angst vor dem KGB in seinen verschiedenen Ausformungen war immer Teil des Lebens der Intelligenzija.

    Wie ist der Genotyp des Sowjetmenschen, den Sie mit Dau erforschen, entstanden und wie hat er sich etabliert?

    Er ist über all die Jahre hindurch herangereift. Das ist ein langer Prozess – das ist ja das Entsetzliche. Nazideutschland existierte nur 13 Jahre, und sie sind noch immer damit beschäftigt, es hinter sich zu lassen. Die Sowjetmacht war 70 Jahre am Ruder. Bürgerkrieg, Repressionen, Terror, Emigration, Großer Terror, Zweiter Weltkrieg, wieder Terror, Emigration, Emigration – alles Gute in diesem Land wurde vernichtet, es war ein Genozid am eigenen Volk.  
    Diejenigen, auf die unsere Kultur jetzt stolz ist, wurden in diesem Land vernichtet und misshandelt: Denken Sie nur daran, wie Sacharow gejagt wurde, was mit Solshenizyn passierte, wie Anatoli Efros gehetzt und hereingelegt wurde, wie Pasternak, Achmatowa, Soschtschenko, Sabolozki und viele andere sekkiert wurden, was sie mit Schostakowitsch machten, dass der Arme sogar zum Parteibeitritt gezwungen wurde, in so einer Angst lebte er und freute sich noch, dass sie ihn nicht einsperrten. Und wer hat all diese Schriftsteller und Künstler angeschwärzt? Ihre Kollegen! Und genau das ist der Genotyp. Das haben nicht irgendwelche anderen Leute gemacht, das haben dieselben Leute gemacht, die dann überlebten und stolz waren auf ihre Errungenschaften. Das ist alles ein Teil unserer gemeinsamen Geschichte, des Leids und des Traumas. 
    Und dieser sowjetische Geruch ist noch nicht verschwunden, wir riechen immer noch danach, strömen ihn aus. Und um ihn loszuwerden, müssen wir verstehen, was da war. Dau ist ein Teil der Erforschung dieses Genotyps.

    Sie haben die Arbeit an Dau mit 30 Jahren begonnen und waren die nächsten 15 Jahre mit diesem Projekt beschäftigt. Generell ist das eine der aktivsten und produktivsten Phasen im Leben eines Menschen. Hätten Sie diese Jahre besser verbringen können?

    Nein, besser hätte ich sie nicht verbringen können. Ich bin absolut glücklich über die Möglichkeit, dieses Projekt zu machen, wie schwierig es auch sein mag, welche Reaktionen es auch immer hervorgerufen hat und welche Schwierigkeiten es mitunter in mein Leben bringt. Es ist ein absolutes Glück, dass mir die Möglichkeit zuteil wurde, dieses Projekt zu machen, dass mir das Glück zufiel, die Menschen zu treffen, mit denen ich dieses Projekt gemeinsam gemacht habe. Zum einen war es eine große Mühe, zum anderen ein großes Glück. 

    Der sowjetische Geruch ist noch nicht verschwunden, wir riechen immer noch danach, strömen ihn aus

    Und ich bin mir sicher, dass es, egal wie es jetzt aufgenommen wird, ein langes Leben haben wird. Es wird eine gewisse Bedeutung haben für jene, die etwas erfahren wollen über das Leben, über die Zivilisation, über die Mechanismen, in denen wir heute leben. 

    Wer hat Ihnen angeboten, das Projekt des Museums Babyn Jar zu leiten und warum?

    Von diesem Projekt hat mir Michail Fridman erzählt. Und ich war eine der Personen, mit denen die Mitglieder des Aufsichtsrats besprachen, wie man diese tragische Geschichte erzählen und emotional vermitteln kann, welche Sprache es dafür braucht. 
    Diese Geschichte ist mir nicht fremd. Im Leben jeder beliebigen zur Intelligenzija gehörigen Familie, erst recht in jeder jüdischen, war Babyn Jar nicht nur eine Tragödie aus Kriegszeiten, sondern auch ein anschließendes Drama – nämlich aufgrund dessen, was mit Leuten passiert ist, die das Gedenken dieser Tragödie aufgreifen wollten. Der Schriftsteller Viktor Nekrassow etwa war einer, der damit begann, sich für dieses Gedenken einzusetzen, und so wie viele andere musste er dafür büßen. Übrigens, der Vorsitzende unseres Aufsichtsrats, [der Bürgerrechtler] Natan Schtscharanski, wurde erstmals auf dem Weg zu einer Kundgebung im Rahmen von Babyn Jar verhaftet. 

    Meine Mutter wurde in der Ukraine geboren, überlebte durch ein Wunder den Holocaust, und auch ich war einige Zeit in der Ukraine, für mich ist das kein fremdes Land. Deswegen habe ich, wie mir scheint, das Recht, dieses Projekt in Augenschein zu nehmen, mir Gedanken darüber zu machen. Zuerst fuhr ich dort allein hin, dann auf Einladung des Aufsichtsrats zusammen mit einem hervorragenden Schriftsteller, dem Autor des Romans Die Wohlgesinnten, Jonathan Littell, um das Projekt genauer kennenzulernen und zu besprechen, wie es weitergehen soll. So begann mein regelmäßiger Kontakt zu Mitgliedern des Aufsichtsrats. 

    Und dann begann eine Art freies Gespräch, in welche Richtung sich das Projekt entwickeln könnte: Wie kann man ein Museum gestalten, das die Leute auch in 20, 50 und in 100 Jahren Jahren sehen wollen – wie seltsam das in Bezug auf einen derart tragischen Ort auch klingen mag –, um etwas zu klären und zu entdecken über sich selbst, für sich selbst, sich selbst zu erlauben, durch den Schmerz zu gehen. Schmerz und Leid sind nicht unbedingt ein sadistischer, quälender Akt, wie das in der physischen Welt so ist. Die Bereitschaft, Anteil zu nehmen an fremdem Schmerz und fremdem Leid, ist ein Weg zu seelischer Gesundheit, darauf bauen zumindest die meisten Religionen der Welt auf. 

    Im Leben jeder beliebigen zur Intelligenzija gehörigen Familie war Babyn Jar nicht nur eine Tragödie aus Kriegszeiten, sondern auch ein anschließendes Drama

    Allmählich gab es immer mehr Gespräche, ich redete mit anderen Kulturschaffenden, Künstlern, Philosophen über das Projekt. Dann stellte sich uns noch eine Frage: Was wird das Museum in Zukunft darstellen? Wenn man davon ausgeht, dass es in fünf, sechs Jahren gebaut wird, dann ist es in 30 Jahren immer noch ein neues Museum. Und schon jetzt muss man eine Sprache finden, die in der Zukunft gehört wird und aktuell ist. Unser Ziel war es, ein lebendiges Denkmal zu schaffen, nicht ein Denkmal im sowjetischen Sinn dieses Wortes. 

    Warum dieses Projekt Sie interessiert und Ihnen wichtig ist, ist klar, aber warum hat Michail Fridman Sie ausgewählt? Kannten Sie ihn schon?

    Mich hat nicht Fridman ausgewählt, sondern der Aufsichtsrat. Ja, wir kannten uns. Um genau zu sein, hat Fridman sich an mich gewandt. Und davor hat er, soweit ich weiß, meine Kandidatur mit dem Aufsichtsrat besprochen, von dem ich einige Mitglieder auch schon kannte. Fridman kenne ich aus London, wo ziemlich viele reiche Leute russischer Herkunft leben, während russischsprachige Menschen, die sich wirklich für Kultur interessieren, ja nicht so dicht gesät sind.  
    Fridman ist ein großer Kulturkenner, sehr interessiert. Als gründlicher Mensch verfügt er über ein enzyklopädisches Wissen über Literatur, Musik, Geschichte, und beim Film kennt er sich zum Beispiel viel besser aus als ich.  
    Natürlich war das Projekt Dau einer der Gründe, warum ich dorthin eingeladen wurde – immerhin ist das ein großer Teil meines Lebens. Wobei man hinzufügen muss, dass ich fast nie fremde Projekte gemacht habe, sondern immer nur meine eigenen. Aber hier war klar, dass das nicht einfach irgendein Projekt ist, sondern ein großes, komplexes, öffentliches Projekt, das man wie sein eigenes behandeln muss, während man gleichzeitig eine Riesenmenge Regeln aller Art beachten muss. 
    Im Endeffekt ist der Aufsichtsrat zu dem Schluss gekommen, dass ein solches Projekt eine künstlerische Leitung braucht. Mir wurde angeboten, mir Gedanken über die kreative Umsetzung zu machen. 

    Hat sich an der umstrittenen Reputation des Projekts Dau keines der Aufsichtsratsmitglieder gestoßen? Gab es welche, die gegen Ihre Kandidatur eintraten? Waren Sie mit irgendeiner Art Widerstand konfrontiert?

    Soweit ich weiß, wurde ich einstimmig ernannt. Man muss wissen, dass Dau in Europa, in England, Frankreich, Deutschland, in den USA einen gewissen Ruf als einzigartiges Kunstprojekt hat – bei allen Skandalen, die es rund um das Projekt gab.

    Was wird die hauptsächliche interaktive Methode des Museums Babyn Jar sein?

    Die grundlegende Methode hängt damit zusammen, dass es für jeden Besucher ein individuelles Erlebnis werden soll. Die Menschen sollen dort etwas spüren und erfahren. Sie sollen ein Gefühl für diese Welt bekommen, die zerstört wurde – das jüdische Leben in der Ukraine, in Osteuropa wurde praktisch komplett vernichtet. Zu Beginn der 1940er Jahre war in Kiew jede vierte Familie jüdisch, somit wurde ein riesiger Teil des Lebens einfach ausgerottet und vernichtet.  

    Das heißt, die Welt, die jetzt existiert, ist eine andere: Kinder wurden nicht geboren, Wissen wurde nicht generiert, Werke wurden nicht erschaffen, wissenschaftliche Entdeckungen wurden nicht gemacht, es riecht nicht mehr so wie damals, das ganze Ökosystem menschlichen Lebens existiert nicht mehr. Das heißt, diese verlorene Welt muss man wahrnehmen, man muss sie spüren und lieben. Man kann nicht etwas lieben, ohne es wahrzunehmen, und man kann nicht mitfühlen, ohne zu lieben. 

    Die Menschen sollen im Museum von Babyn Jar etwas spüren und erfahren. Sie sollen ein Gefühl für diese Welt bekommen, die zerstört wurde – das jüdische Leben in der Ukraine

    Dafür muss eine Sprache, dahin muss ein Weg gefunden werden. Lieben, fühlen, erleben kann man nur durch Berührung. Und Berührung muss für ein 10-jähriges Kind anders aussehen als für einen 35-jährigen Erwachsenen oder einen 85-jährigen Greis, weil jeder von ihnen mit seiner eigenen Erfahrung ins Museum kommt. Dabei helfen uns moderne Technik und sogar sogenannte Big Data, mithilfe derer wir zu jedem in einer ihm verständlichen Sprache über das sprechen können, wozu er aufnahmebereit ist. 
    Mir schwebt vor, dass es die Aufgabe dieses Museums ist, den Menschen ein Gefühl für die Zerbrechlichkeit der Welt zu vermitteln.

    Mit welchen Instrumenten wird das umgesetzt? Wie wollen Sie diese Erfahrung für Erwachsene und Kinder personalisieren? Wie werden die Big Data gesammelt?

    Beim Kauf der Eintrittskarte wird der Besucher im System registriert und wählt aus, in welchem Umfang er Zugriff auf seine Daten gewähren möchte. Das erlaubt es uns, seinen Rundgang individueller zu gestalten. Derzeit verfolgen wir die Idee, dass das Auswählen eine wichtige Rolle im Museum spielen wird. Während des Rundgangs dann wird der Besucher immer wieder Entscheidungen treffen und selbst bestimmen, was ihm als Nächstes begegnet. Die Geschichte dieses Museums ist eine Geschichte der Entscheidungen, denn in der ganzen Menschheitsgeschichte geht es um Entscheidungen. Manchmal um sehr kleine, unbedeutende, wo man gar nicht dazu kommt, [seinen Schritt] zu reflektieren, doch genau diese kleinen Entscheidungen ergeben zusammen eine große. 

    Bei der Präsentation bekommt man den Eindruck, dass die Museumsbesucher nicht nur Zuschauer und Beobachter bleiben, sondern an manchen nachgestellten Ereignissen unmittelbar teilnehmen. 

    Ja, aber man muss bedenken, dass wir in der Zeit des immersiven Theaters leben, der immersiven Projekte, Installationen, Performances, der Hologramme und Virtual Reality – all das ist eine Sprache der modernen Realität, und, in der Folge, Kultur. Die Wahrnehmung des Menschen hat sich verändert, das muss man sich eingestehen. Damit etwas in der Zukunft funktioniert, darf man es nicht nach den Mustern der Vergangenheit bauen. Sonst werden wir immer Autos der Marken WAS und SAS herstellen, und selbst wenn wir sie Lada oder Tawrija nennen, wird daraus kein Tesla. Stellen Sie sich einfach vor, dass das hier der Tesla der Museumswelt wird.

    Ich möchte, dass Sie verstehen: Mein Ziel ist es, dafür zu sorgen, dass ins Museum Babyn Jar Millionen von Menschen kommen. Wenn sie nicht kommen, heißt das, dass das Konzept nicht aufgegangen ist. Millionen Menschen kann man nicht dazu zwingen, irgendwo hinzukommen, sie müssen einen Grund und den Wunsch haben, das zu tun, und sie müssen wiederkommen wollen. 

    Stellen Sie sich einfach vor, dass Babyn Jar der Tesla der Museumswelt wird

    Ich glaube, es gibt solche Momente, solche Gelegenheiten, wo man etwas Originelles machen kann und soll, und nicht irgendetwas nach Schema F, einfach um es abzuhaken. Niemand wird in ein Museum gehen, in dem ihm in verstaubter Sprache erzählt wird, wie viele gute Juden von den bösen Deutschen getötet wurden. Das wird niemanden interessieren. Und das bedeutet, dass diese Lektion der Geschichte nicht verinnerlicht wird. 

    Es wird aber auch niemand in ein Museum gehen, in dem er ein psychisches Trauma erleiden kann. 

    Wie können Sie in einem Museum ein psychisches Trauma erleiden?

    Wenn Sie von Auswahlmöglichkeiten für die Besucher sprechen, die werden wahrscheinlich wählen müssen, für wen sie den nächsten fiktiven Zug machen: für einen Ordnungspolizisten, ein Opfer oder einen SS-Offizier. Ist das die Wahl, die man treffen muss?

    Nein, solche Entscheidungen sind gar nicht gefragt, sondern die Leute können schauen, wie bei ihnen selbst psychologische Mechanismen funktionieren. Ich glaube nicht, dass das traumatisieren kann, sondern das zeigt jedem, wo sich in seiner Seele jene Grenzen befinden, die er nicht überschreiten darf.  

    In Deutschland passierte der Völkermord nach der Weimarer Republik – nach einer freien, wunderbaren, großartigen Zeit. Auch die Menschen damals waren wunderbar, religiös, gläubig, kulturell gebildet. Was war da mit ihnen geschehen innerhalb weniger Jahre? Wie wurden sie zu jenen deutschen Jungs, die in ein paar Tagen zigtausende Menschen erschossen und ihren Opfern dabei in die Augen sahen? Was waren das für Ausgeburten der Hölle? Wie ist das passiert, wie passiert so etwas? Wie wurden wir zu jenem Volk oder jenen Völkern, die Millionen von Denunziationen schrieben? Wie wurden wir zu denen, die schwiegen? Wie wurden wir zu denen, die das zuließen? Diese Mechanismen muss man vor allem in sich selbst erkennen, damit das nicht wieder passiert.       

    Andererseits muss man versuchen, in sich selbst die komplizierte Mechanik des Verständnisses für das Andere und des Zugeständnisses der Rechte des Anderen zu entfalten. 

    Wie wurden wir zu denen, die das zuließen? Diese Mechanismen muss man vor allem in sich selbst erkennen, damit das nicht wieder passiert       

    Wir sehen, was jetzt in einer großen Anzahl sehr demokratischer europäischer Länder vor sich geht: An die Macht kommen Rechtsradikale. Man darf nicht vergessen dass auch Hitler demokratisch gewählt wurde, und Stalin wurde geliebt, während Sacharow im ganzen Land angefeindet wurde und nur wenige es verweigerten, Briefe gegen ihn zu unterschreiben. Und wieder ein paar Jahre später kamen hunderttausende Menschen zu seinem Begräbnis, und jetzt stellen sie ihm Denkmäler auf. 

    Wir kennen leider viele solcher Geschichten, aus diesen Geschichten ist auf jenem Territorium, das Sowjetunion hieß, das Leben gewebt. Deswegen glaube ich, dass die Konfrontation mit sich selbst, mit den eigenen Entscheidungen, kein Trauma ist. Ein Trauma ist es, wenn du in einer Situation bist, wo du ein Trauma, das du schon in dir trägst, nicht verarbeiten kannst, wo du ein zukünftiges Trauma nicht abwenden kannst. Darin liegt vor allem die Gefahr, weil dann die nächste Generation mit diesem Trauma zu tun haben wird.   

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • „Die Stimmung in Seweromorsk ist aufgeheizt“

    „Die Stimmung in Seweromorsk ist aufgeheizt“

    Bei einem Brand auf einem russischen U-Boot der Nordmeerflotte sind 14 Seeleute ums Leben gekommen. Wer sind die Toten? Gibt es Verletzte und wie viele? Um welches U-Boot handelt es sich?
    Derzeit gibt es viele offene Fragen, aber kaum Antworten. Nur tröpfchenweise fließt die Information: Präsident Putin gab bekannt, dass unter den Toten sieben Kapitäne ersten Ranges gewesen seien. Das Schiff sei ein Forschungsschiff. Es wurde nach dem Unglück zu einer Militärbasis in Seweromorsk, im hohen Norden Russlands, gebracht. 
    Russische Medien wie RBC und Novaya Gazeta berichten unterdessen, dass es sich dabei um das nuklearbetriebene U-Boot AS-12 handele. Über dieses U-Boot ist nur wenig bekannt, es unterliegt strenger Geheimhaltung. Eine Theorie ist, dass es nicht zu Forschungszwecken, sondern zu anderen Arbeiten auf dem Meeresgrund verwendet werden könnte, etwa zur Sabotage von Unterseekabeln.

    Das Unglück ereignete sich am 1. Juli, die Nachricht darüber war zuerst tags darauf auf der russischen Website severlife.ru erschienen. Diese lokale Infoplattform aus Seweromorsk hat der Website similarweb zufolge durchschnittlich rund 150.000 Aufrufe im Monat. 

    Wie severlife.ru-Blogger Jewgeni Karpow als einer der Ersten von dem Unglück erfahren hat und weshalb er seine Meldung kurz nach der Veröffentlichung wieder von der Seite nahm, das erzählt er im Interview mit Meduza – und gibt ganz nebenbei einen Einblick, welche Hürden unabhängige, regionale Onlinemedien im heutigen Russland mitunter nehmen müssen.

    Blogger Jewgeni Karpow berichtete als Erster über das U-Boot-Unglück der Nordmeerflotte / Foto © Privatarchiv
    Blogger Jewgeni Karpow berichtete als Erster über das U-Boot-Unglück der Nordmeerflotte / Foto © Privatarchiv

    Am 1. Juli ist so gegen 23 Uhr die Nachricht aufgetaucht, dass sich das Krankenhaus auf die Aufnahme einer großen Zahl Verletzter vorbereitet. Die Info kam von meinen Quellen bei der Nordmeerflotte. Um was genau es sich handelt, das haben sie nicht gesagt. In diese Sachen stecken wir unsere Nase normalerweise nicht rein, da es um strategische Geschichten geht.

    Die Informationen über Todesopfer und Verwundete änderten sich ständig. In der allerersten Meldung wies ich darauf hin, dass meine Informanten unterschiedliche Auskünfte geben und dass es schwer sei, aus ihren Worten die genaue Anzahl [Toter und Verwundeter – dek] zu bestimmen. 

    Die Informationen über Todesopfer und Verwundete änderten sich ständig

    Interessant war, dass vom Katastrophenschutzministerium keinerlei Informationen kamen. Meine Informanten dort sagten, dass sie von nichts gehört hätten. Da stiegen Zweifel in mir auf [an der Richtigkeit der Informationen aus erster Quelle], deswegen wartete ich ab bis zum Morgen und begann, die Information mit anderen Quellen abzugleichen.

    Nach der Veröffentlichung [am 2. Juli, vormittags – dek] hab ich bei der Pressestelle angerufen und um eine Stellungnahme gebeten. Danach hat mich einer angerufen, der mit der Nordmeerflotte zu tun hat, und bat mich, die Info wieder von der Seite zu nehmen: Es gäbe bald eine offizielle Meldung dazu.
    Ich hab Informationen darüber, dass derzeit zwei Menschen auf der Intensivstation sind, aber ich kann das nicht garantieren, denn ich bin nicht in der Stadt. Genausowenig kann ich sicher sein, dass die Informationen der Pressestelle der Wahrheit entsprechen.

    Wahrscheinlich wird es niemals irgendwelche Informationen geben – es geht hier schließlich um die Nordmeerflotte

    Die Namen der Toten haben mir meine Quellen nicht genannt. Das Krankenhaus geht auf meine Anfragen nicht ein. 
    Wahrscheinlich wird es niemals irgendwelche Informationen geben – es geht hier schließlich um die Nordmeerflotte. Sie sprechen überhaupt wenig mit Zivilisten, erst recht nicht über Dienstliches – wenn, dann nur zuhause in der Küche.

    Nach der Veröffentlichung wurde Karpow telefonisch gebeten, die Info wieder von seiner Seite zu nehmen
    Nach der Veröffentlichung wurde Karpow telefonisch gebeten, die Info wieder von seiner Seite zu nehmen

    Ich weiß, dass die Stimmung in der Stadt jetzt ziemlich aufgeheizt ist. Es sind hochrangige Leute angekommen, wer sich mit denen trifft, hat Geheimhaltungserklärungen unterzeichnet. Das verlangen sie womöglich auch von den Familien der Toten und Verwundeten. 

    Wahrscheinlich erfahren wir in den nächsten Tagen nicht mal ansatzweise etwas über die Opfer [am 3. Juli bestätigte der Sankt Petersburger Interims-Gouverneur Alexander Beglow, dass sie zu den Streitkräften gehörten, die in Sankt Petersburg stationiert sind – dek|, nicht mal ihr ungefähres Alter. Aber ich denk mal, bei ihnen kann es sich kaum um einfache Soldaten auf Zeit handeln.

    Die Stimmung in der Stadt ist ziemlich aufgeheizt

    In der Stadt wird man wohl kaum etwas mitbekommen. Kursk hat man mitbekommen, denn wir haben aus den Fenstern beobachtet, wie man das U-Boot herauszog, die Situation war schwierig. Alle haben alles kapiert, die Stadt war grau, trüb, schweigsam, als ob man die Anspannung spüren konnte. Weinende Menschen gab es in der Stadt aber keine.

    Es gibt keine Journalisten in Seweromorsk. Hier arbeite ich, und da sind noch die Medien, die die Stadtverwaltung eingerichtet hat. Niemand wird sie informieren. Und mir kommt meine Tätigkeit manchmal quer. 

    Von 2008 bis 2011 habe ich im Einsatz- und Streifendienst der Seweromorsker Miliz gearbeitet. Dann aber wurde ich nach Paragraph 228.2 zu drei Jahren Haft verurteilt, vor Gericht saß ich als Mitarbeiter [der Polizei – dek]. Aus Seweromorsk wurde ich nach Kirow gebracht, wo ich einsaß. Dann war ich in einer Strafkolonie in Irkutsk und kam nach einem Jahr und neun Monaten vorzeitig auf Bewährung raus. Vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse um Golunow könnte man bei mir eine halbe Tonne Kokain finden und mich wieder ins Gefängnis schicken.

    Vor Kurzem tauchte im Internet ein anonymer Artikel auf, dass ein ehemaliger Häftling (also ich) Nachrichten aus Seweromorsk schreibe. Da steht, dass ich auf meiner Website manchmal glaubwürdige Informationen verbreite und manchmal ein wenig lüge. Und dass man sich nicht wundern solle, falls Jewgeni Karpow bald Förderung von ausländischen Medien erhält [das sogenannte Ausländische-Agenten-Gesetz gilt seit November 2017 auch für Medien – dek].

    Ich finde es interessant, mich damit zu beschäftigen. Noch in Haft habe ich realisiert, dass ich das machen werde. Und nun gibt es meine Website und einige Gruppen in sozialen Medien schon seit fünf Jahren. Ich trete aber als Blogger auf, eine Registrierung als Medium habe ich nicht.

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  • Zitat #5: „Senzow ist ein ukrainischer Kamikaze“

    Zitat #5: „Senzow ist ein ukrainischer Kamikaze“

    Die Regisseure Ken Loach und David Cronenberg, die französische Kulturministerin und andere internationale Kulturschaffende haben in der vergangenen Woche auf das Schicksal und den mittlerweile äußerst kritischen Gesundheitszustand des ukrainischen Regisseurs Oleg Senzow hingewiesen. Vor dem Aufruf in Le Monde hatte Frankreichs Präsident Macron in einem Telefonat an Putin appelliert, Senzow freizulassen.
    Seit mehr als drei Monaten ist Oleg Senzow im Hungerstreik. Allerdings hungert Senzow, der 2014 wegen „Terrorismus“ zu 20 Jahren Lagerhaft verurteilt wurde, nicht für sich selbst: Sein Ziel ist die Freilassung aller politischen ukrainischen Häftlinge in Russland. 

    Das Portal Meduza sprach mit seinem Anwalt Dimitri Dinse über Senzows Bedingungen und seinen Gesundheitszustand, sowie über die öffentlichen Reaktionen. dekoder bringt Ausschnitte aus dem Gespräch.
     

    Die Ombudsfrau der Ukraine, Ljudmyla Denissowa, veröffentlichte am 9. August dieses aktuelle Foto von Oleg Senzow in Haft / Foto © Ljudmyla Denissowa/Facebook

    Gesundheitszustand

    [bilingbox]Dimitri Dinse: Senzow ist mittlerweile im fortgeschrittenen Stadium des Hungerstreiks.
    Er fühlt sich derzeit schlecht, liegt die meiste Zeit, läuft nur wenig herum. Laut medizinischem Gutachten produziert sein Körper quasi keine Blutkörperchen mehr, sein Hämoglobinwert ist zu niedrig, im anämischen Bereich, er hat Taubheitsgefühle in Händen und Füßen.
    Zweimal ist sein Puls drastisch auf 40 Schläge pro Minute gesunken, jedes Mal schlug man ihm vor, ins Krankenhaus zu gehen. Aber er lehnte eine Einweisung ab, denn die von den Vertragsärzten vorgeschlagenen Konditionen sind schlechter als die, in denen er sich jetzt befindet.

    Ich habe ihn gefragt: „Und was, wenn du das Bewusstsein verlierst und sie dich gewaltsam dorthin bringen?“ Er hat mir geantwortet: „Aus diesem Grund trinke ich die Nährlösung freiwillig, um den Hungerstreik fortsetzen zu können, bei Bewusstsein zu bleiben und nicht irgendwann in einem Krankenhaus zu landen, wo man an mir ohne mein Wissen und ohne meine Zustimmung bestimmte Behandlungen durchführen will.“

    Mit einer solchen Nährlösung kann man recht lange durchhalten, wenn man sie in der vorgeschriebenen Menge zu sich nimmt. Aber Oleg nimmt leider in Absprache mit der Gefängnisleitung genau so viel, dass er weiterhin im Hungerstreik bleibt – er schüttet das Zeug nicht in sich hinein. Sondern er feilscht um jedes Gramm dieser Lösung, um auch ja im Hungerstreik zu bleiben. Das ist seine Entscheidung, leider.~~~Димтирий Динзе: В июле у него начался третий кризис голодовки.
    Сейчас он плохо себя чувствует, в основном лежит, редко ходит. Медицинскими показаниями установлено, что у него фактически не воспроизводятся кровяные тельца, пониженный гемоглобин, развилась анемия, немеют руки и ноги. 
    У него уже дважды резко снижался пульс — до 40 ударов в минуту, и каждый раз ему предлагали уехать в больницу. Но он отказывается от госпитализации, потому что те условия, которые предлагают ему гражданские врачи, хуже тех условий, в которых он находится сейчас.
    На этой медицинской смеси можно продержаться достаточно долгое время, если ее употреблять в адекватных количествах. Но Олег, к сожалению, по договоренности с администрацией употребляет ее ровно столько, чтобы оставаться в голодовке, — он не закидывается этой смесью. Он торгуется за каждый грамм этой смеси, чтобы оставаться в голодовке. Ну, это его выбор, к сожалению.[/bilingbox]

    Öffentlichkeit

    [bilingbox]Meduza: Erzählen Sie ihm denn, dass das Thema aus den Schlagzeilen verschwindet?
    Ja, ich erzähle ihm von den [Solidaritäts-]Aktionen, erzähle ihm, was so passiert. Oleg ist klar, dass sich das Thema nicht drei Monate auf den Titelseiten halten kann. Und er bittet all die, die ihn und die Ukraine unterstützen, dass sie das Thema am Laufen halten mögen und nicht zulassen, dass die Menschen vergessen werden, die sich unrechtmäßig hinter den Mauern russischer Gefängnisse befinden. 

    Oleg ist mittlerweile ein ukrainischer Kamikaze, der sein Leben aufs Spiel gesetzt hat für das Leben anderer, für die Ideale, die er hatte, und für sein Land.~~~— Медуза: Это вы ему рассказываете, что тема угасает?
    — Да, я ему рассказываю про акции [в его поддержку], рассказываю про то, что происходит. Олег понимает, что три месяца тема не может держаться в накале, и он просит всех людей, которые переживают за Украину и за него, чтобы они эту тему поддерживали на плаву, не давали забыть о тех людях, которые незаконно находятся в застенках российских тюрем.
    Олег стал украинским камикадзе, который поставил на кон свою жизнь ради жизни других людей, ради тех идеалов, которые у него были, и ради своей страны.[/bilingbox]

    Bedingungen

    [bilingbox]Inwieweit sind die Bedingungen, die er gestellt hat, überhaupt erfüllbar?
    Das entscheidet sich ganz schlicht: mit der Entscheidung eines Menschen, binnen eines Tages, einer Stunde. Wie hat es bei Sawtschenko und Afanasjew funktioniert? Alles war innerhalb von ein, zwei Tagen entschieden.

    Aber Sawtschenko war nur eine einzige Person, und auf Olegs Liste stehen 64.
    Nun, Oleg ist ja kein Idiot, er fordert nicht, dass alle gleich freigelassen werden. Leitet die Sache ein, nehmt Verhandlungen auf, lasst vielleicht zwei drei oder auch einen frei. Er sagt: „Ich bin bereit, den Hungerstreik zu beenden, wenn die Sache eingeleitet wird und wenigsten ein politischer Gefangener in die Ukraine kommt. Ich erbitte das nicht für mich, ich erbitte das für andere.“~~~— Насколько условия, которые он выдвинул, вообще выполнимы?
    — Это решается элементарно: решением одного человека, одного дня, одного часа. Как с Савченко и Афанасьевым получилось? Все решилось за один-два дня.
    Но Савченко была одна, а в списке Олега 64 человека.
    — Так Олег же не идиот, он же не просит сразу всех освободить. Начните процесс, начните переговоры, освободите хотя бы двух-трех или одного. Он говорит: «Я готов уйти с голодовки, как только процесс пойдет и хоть один человек из политзаключенных окажется в Украине. Я не за себя прошу, прошу за других».[/bilingbox]


    In ganzer Länge erschien das Interview am 10.08.2018 unter dem Titel  «On stal ukrainskim kamikadse, kotory postawil na kon swoju shisn radi shisn drugich» (dt. „Oleg ist mittlerweile ein ukrainischer Kamikaze, der sein Leben aufs Spiel gesetzt hat für das Leben anderer“). Das russische Original lesen Sie hier.

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  • Russische Journalisten in Afrika getötet

    Russische Journalisten in Afrika getötet

    Unbekannte Angreifer haben in der Nacht auf Dienstag in der Zentralafrikanischen Republik drei russische Staatsbürger getötet: den Dokumentarfilmer Alexander Rastorgujew, den Kriegsreporter Orchan Dshemal und den Kameramann Kirill Radtschenko

    Die Journalisten waren seit dem 28. Juli in dem Bürgerkriegsland unterwegs. Für das Online-Medium ZUR des Oligarchen Michail Chodorkowski arbeiteten sie an einem Film über die russische Söldner-Einheit Wagner. Das Militärunternehmen wird dem Putin-Vertrauten Jewgeni Prigoshin zugeschrieben. In der Vergangenheit geriet es immer wieder in die Schlagzeilen wegen mutmaßlicher Beteiligung an den Kriegen in der Ostukraine und in Syrien.

    Rastorgujew, Dshemal und Radtschenko wollten nach Angaben des Journalisten Rodion Tschepel Hinweisen auf Russen in Militäruniform nachgehen, die angeblich in der Zentralafrikanischen Republik immer wieder gesichtet wurden. Bereits im Juni hatte die Novaya Gazeta über russische Staatsbürger in der Zentralafrikanischen Republik berichtet, die dort als Militärausbilder sowie möglicherweise auch als Leibwache des Präsidenten tätig sind. 

    Der Angriff soll sich nahe der Stadt Sibut ereignet haben, wie der dortige Bürgermeister der Nachrichtenagentur Reuters berichtete. Näheres über die Täter ist bislang nicht bekannt. Laut einer Studie des Forschungsinstituts IPIS vom Dezember 2017 sind bewaffnete Wegelagerer auf den Straßen der Zentralafrikanischen Republik keine Seltenheit. Die politische Lage in dem Land, das zu den ärmsten der Welt zählt, ist äußerst instabil. Seit Ausbruch des Bürgerkrieges 2013 sind tausende Menschen ums Leben gekommen.

    Die Novaya Gazeta und Meduza veröffentlichten Nachrufe von Journalisten an ihre verstorbenen Kollegen. 

    Kirill Radtschenko, Alexander Rastorgujew und Orchan Dshemal – die Journalisten und Filmemacher wurden in der Zentralafrikanischen Republik getötet / Fotos © anna-news-info über Facebook
    Kirill Radtschenko, Alexander Rastorgujew und Orchan Dshemal – die Journalisten und Filmemacher wurden in der Zentralafrikanischen Republik getötet / Fotos © anna-news-info über Facebook

    Orchan Dshemal

    [bilingbox]Maxim Schewtschenko: Er kannte keine Angst. Konnte sich einfach nicht fürchten. Er ging immer auf Gefahren zu – selbst wenn das zuweilen ziemlich unvernünftig war. In Donezk lief er vor meinen Augen mitten im Feuer, er ging aufrecht und schwang seinen Stock – seit einer Verletzung hinkte er. Rundum gingen Minen hoch, alle lagen, aber er stand aufrecht, ohne sich zu verstecken.
    Ich wusste, dass er in die Zentralafrikanische Republik wollte. Er wollte mit anderen Journalisten, die dort arbeiten, etwas zu TschWK Wagner machen. Ich wollte ihm das ausreden: „Wozu? Hier ist genug zu tun, ein Haufen Arbeit liegt hier.“
    Er wollte mit einer knackigen, unglaublichen Reportage in den großen Journalismus zurückkehren, aus dem er nach einer schweren Verletzung in Libyen verschwunden war.
    Und so ist er dorthin gefahren, denn rationale Erwägungen, Worte wie „das ist gefährlich“ haben ihn nie von etwas abgehalten. Denn wo es gefährlich war, da war Orchan.
    Orchan war in der letzten Zeit der beste Journalist in unserem Land. Er war während des Krieges in Südossetien. Mit dem Fotoapparat in der Hand lief er in den Reihen der angreifenden Soldaten mitten im Feuer. Hat darüber ein wunderbares Buch geschrieben. Er war im Donbass und an weiteren Orten.
    Orchan ist den Tod eines echten Kriegsreporters gestorben. Er war der mutigste Mensch, den ich im Leben kannte. Er war ein wunderbarer Mensch.~~~Максим Шевченко: Это был человек, который не знал страха. Он просто не умел бояться. Он шел всегда навстречу любой угрозе — даже порой несколько безрассудно. На моих глазах в Донецке он ходил под огнем в полный рост, так, размахивая палочкой — он хромал после ранения. Вокруг рвались мины, все лежали, а он стоял в полный рост, даже не прятался.

    Я знал, что он собирается в Центральноафриканскую республику. Он собирался делать материал о «ЧВК Вагнера» вместе с другими журналистами, которые там работают. Я его отговаривал от этого: «Зачем? Тут полно дел, полно работы здесь».
    Он вообще хотел вернуться с каким-то ярким, невероятным репортажем в большую журналистику, из которой он выпал после тяжелого ливийского ранения.
    И он поехал туда, поскольку его никогда не останавливали рациональные рассуждения, слова «это опасно». Потому что там, где было опасно, там был Орхан.
    Орхан был лучший журналист последнего времени в нашей стране. Он был во время войны в Южной Осетии. С фотоаппаратом в руках шел с цепями атакующих десантников — под огнем. Написал об этом прекрасную книгу. Он был на Донбассе, он был в других разных местах.
    Орхан умер смертью настоящего военного журналиста. Орхан был храбрейший из людей, кого я знал вообще в жизни. Это был прекрасный человек.[/bilingbox]

    [bilingbox]Nadeshda Keworkowa: Er war der große Sohn eines großen Vaters. Er war Muslim, der bei allem, was er tat, Muslim blieb.
    Seine gesamte journalistische Arbeit war der Gerechtigkeit gewidmet. Er war immer da, wo es brannte. Ein unglaublich, übermenschlich mutiger Mensch.
    Er war der beste Journalist der muslimischen Gemeinschaft, und bei dem Sturm, den wir alle gerade spüren, ist das ein großer Verlust. Ein unersetzlicher Verlust.~~~Надежда Кеворкова: Великий сын великого отца. Это был мусульманин, который оставался мусульманином, что бы он ни делал.
    Вся его журналистская работа была посвящена справедливости. Он был, конечно, на острие. Человек невероятной, нечеловеческой храбрости <…>
    Это был самый лучший журналист мусульманского сообщества, и по тому шквалу, который мы все ощущаем, это большая утрата. Я бы даже сказала невосполнимая.[/bilingbox]


    Alexander Rastorgujew

    [bilingbox]Andrej Loschak: Letztes Jahr haben wir an ähnlichen Geschichten gearbeitet. Ich habe einen Film über die ehrenamtlichen Helfer von Alexej Nawalny gedreht, war in allen Landesteilen, in denen es Regionalbüros gibt. Und Sascha hat fürs deutsche Fernsehen einen Film über die russischen Wahlen gedreht, zu dessen Protagonisten auch Nawalny gehörte. Wir sind uns in dieser Zeit oft begegnet.
    Ich war immer davon fasziniert, wie professionell er arbeitet. Dabei muss man sagen, dass ich auch ziemlich neidisch war, wir haben ja dasselbe gemacht und waren Konkurrenten. 
    Ich habe viel von ihm gelernt. Mut, und Freiheit … Ich habe mich beim Fernsehen immer an ein bestimmtes Genre gehalten, er aber hatte keine Genres – er war ein freier Mensch und ein mutiger. Auch sein Tod macht das deutlich.

    Ich war in  einer ähnlichen Situation: Ich sollte auch in die Zentralafrikanische Republik reisen, um einen Beitrag für den Aurora-Preis zur Förderung der Menschlichkeit zu drehen. In der Zentralafrikanischen Republik gab es einen Geistlichen, der Menschen rettete während des Bürgerkriegs, der dort schon jahrelang andauert. 
    Wir sollten dorthin, hatten schon Logistik und Sicherheit durchgeplant und sogar einen Geleitschutz der UN-Blauhelme arrangiert. Aber im letzten Moment haben die Organisatoren unsere Leben gerettet, indem sie uns rieten, nicht in diesen Teufelskessel zu fahren und irgendwas aus den Archiven zu nehmen.

    Tja, und Sascha ist gefahren.~~~Андрей Лошак: В последний год мы работали над похожей историей. Я делал фильм про волонтеров Алексея Навального, ездил по всем регионам, где были штабы. А Саша снимал фильм для немецкого телевидения про российские выборы, и одним из главных героев в нем был Навальный. Мы пересекались часто.
    Я всегда заворожено смотрел на то, как профессионально он работает. Но при этом, надо сказать, сильно ревновал, потому что мы делали одно и то же и, конечно же, друг с другом соревновались, конкурировали.
    Я у него учился многому. Смелости какой-то, свободе… Я работал на телевидении в рамках определенного жанра, а у него этих жанров не было — он был свободный человек и смелый. И смерть его это подтверждает.

    У меня была подобная ситуация: я тоже должен был поехать в ЦАР на съемку ролика для гуманитарной премии «Аврора». В ЦАР был священник, спасавший людей во время гражданской войны, которая там не прекращается уже много лет. И мы должны были туда ехать, прорабатывали логистику и безопасность, даже договорились, что у нас будет конвой ООН. Но в последний момент организаторы спасли нам жизнь, сказав собрать что-нибудь на архивах и посоветовав не лезть в это пекло.

    А вот Саша полез.[/bilingbox]

    [bilingbox]Vitali Manski (Meduza): Während ich mit Ihnen rede, läuft gerade der Fernsehsender Doshd, mit Newsticker, dass Orchan Dshemal, Alexander Rastorgujew und Kirill Radtschenko ums Leben gekommen sind.

    Alle drei Tode sind eine riesige Tragödie. Doch die Gesellschaft erkennt das Niveau und die Größe von Rastorgujews Persönlichkeit nicht an. Denn er hat mit der Sprache des Dokumentarfilms Kunstwerke geschaffen. Zu der Zeit, als es noch keine Filme gab, haben so etwas die großen russischen Schriftsteller wie Tolstoi und Gogol getan: Sie haben das russische Dasein beschrieben – mit all seiner Größe und seinem Dreck, seiner Sauberkeit und einer Art Dürftigkeit, der Breite und der Enge, im riesigen Ausmaß der russischen Widersprüchlichkeit.
    Rastorgujew war ein begnadeter Künstler. Zumindest soll sein Tod, zum Teufel damit, die Menschen wachrütteln und dazu bringen, seine Epen anzusehen.
    Er hat sich reingefressen ins Leben und festgebissen, ist in sein Nervenzentrum vorgedrungen – und hat dort geatmet. Nur dort konnte er existieren – das ist eine einzigartige, einmalige Eigenschaft. ~~~Виталий Манский (Meduza): Сейчас я с вами разговариваю, у меня перед глазами «Дождь», и идет такая строка, что Орхан Джемаль, Александр Расторгуев и Кирилл Радченко погибли. Все три смерти — это огромная трагедия. Но общество не осознает уровень и масштаб личности Александра Расторгуева. Потому что он языком документального кино создавал такие художественные произведения, которые когда-то, когда еще не было кинематографа, делались великими русскими писателями — Толстым, Гоголем, — описывавшими русское бытие, со всем его величием и грязью, чистотой и какой-то скудостью, широтой и узостью, во всем огромном диапазоне российского противоречия.
    Расторгуев был выдающийся художник. Хотя бы смерть, черт возьми, должна людей встряхнуть и заставить посмотреть эти его эпосы. 

    Он въедался, вгрызался в жизнь, залезал в ее подкорку — и там он дышал. Он мог существовать только в этом пространстве — это совершенно уникальное, неповторимое свойство.

    [/bilingbox]

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Wieso ist Stalin heute so populär?

    Wieso ist Stalin heute so populär?

    Den Befehl Nr. 00447 hat NKWD-Chef Nikolaj Jeschow am 30. Juli 1937 unterzeichnet. Mit diesem Befehl Über die Operation zur Repression ehemaliger Kulaken, Krimineller und anderer antisowjetischer Elemente begann die umfassendste Massenoperation des Großen Terrors unter Stalin. Hunderttausende wurden auf seiner Grundlage verhaftet, ein Großteil davon erschossen.

    80 Jahre später feiert Stalin eine Art Revival: Einer Umfrage des Lewada-Instituts zufolge halten 38 Prozent aller Russen Stalin für die herausragendste Persönlichkeit aller Zeiten – vor Staatspräsident Putin und vor dem Nationaldichter Alexander Puschkin. Nach wie vor verbinden viele Stalin mit dem Sieg über Hitlerdeutschland. Aber erklärt das allein die große Popularität?

    „Die Ent-Stalinisierung“, so schreibt Meduza, „kümmert in Russland heute kaum einen: die Gesellschaft verhält sich zu Stalin entweder gleichgültig oder gar wohlwollend.“

    Von führenden Wissenschaftlern und Experten wollte Meduza deshalb wissen: Hat denn überhaupt eine Ent-Stalinisierung stattgefunden in Russland? Oder warum ist die Figur Josef Stalin nach wie vor so populär?

    Juri Saprykin

     

    © Mark Nakoykher/Wikipedia unter CC BY-SA 4.0
    © Mark Nakoykher/Wikipedia unter CC BY-SA 4.0
    Juri Saprykin (geb. 1973) ist ein russischer Journalist. Bekannt geworden ist er durch seine Arbeit als Chefredakteur bei dem Online-Magazin Afisha.ru. 2011/2012 war er maßgeblich an der Organisation der Protestreihe Sa tschestnyje Wybory (dt. Für freie Wahlen) am Bolotnaja-Platz beteiligt. Von 2011 bis 2014 war er Chefredakteur der Mediengesellschaft Afisha-Rambler. 2015 wechselte er zur Moscow Times, wo er als Redaktionsleiter tätig ist..

    Zu Sowjetzeiten war Stalin wie Solschenizyn: irgendwas Verbotenes

    In Russland hat die Ent-Stalinisierung schon einmal stattgefunden. Ich erinnere mich an meine Kindheit, die mit der späten Ära der Stagnation zusammenfiel – damals klang das Wort „Stalin“ in etwa so wie „Solschenizyn“. Das war etwas Verbotenes, das nirgendwo und in keinster Weise zur Sprache kommen durfte. 

    Die politische Strategie der geschwächten Kommunistischen Partei bestand darin, Stalin komplett zu vergessen, einfach auszuradieren. Für jemanden, der Ende der 1970er bis Anfang der 1980er Jahre aufwuchs, existierte diese historische Figur gar nicht.

    Verbotene Volkshelden

    Stalin sah man, neben seinem gelegentlichen Auftauchen in irgendwelchen Kriegsfilmen, vor allem auf kleinen Porträt-Bildchen – hinter der Windschutzscheibe des nächstbesten Autos. Fernfahrer hängten sich bald Stalin, bald Wyssozki in ihre Fenster. Das waren damals Figuren ein und derselben Kategorie: verbotene Volkshelden. In diesem Sinne verkörperte Stalin weder Repressionen noch Massenmorde, sondern eine Ordnung, die dem einfachen Menschen in der späten Sowjetunion fehlte.

    Natürlich wusste niemand von den Repressionen, das Thema kam gar nicht erst auf. Doch es dachte auch keiner an Stalin als den großen Staatsmann, das war längst aus den Geschichtsbüchern gestrichen.

    Wunsch nach starker Führung

    Seit kurzem ereignet sich etwas Unerfreuliches in Russland: die Re-Stalinisierung. Diese schleichende Entwicklung geht einzig und allein auf den Wunsch der Obrigkeit zurück. Es gibt keine Nachfrage nach Stalin-Denkmälern seitens des Volkes, niemand schreibt dem Präsidenten Briefe: „Bringen sie uns Stalin zurück!“ Es handelt sich hier um eine bewusste Politik der Regierung: Das Pflanzen eines zarten Stalin-Kults als gewissen Orientierungspunkt – danach strebt die derzeitige Staatsmacht, das sei gut, dem solle man nacheifern.


    Ella Panejach

     

    © tv2.today
    © tv2.today
    Ella Panejach (geb. 1970) ist eine renommierte Soziologin aus Sankt Petersburg. Nach ihrem Studium der Politikwissenschaft, des Managements und der Finanzen in Sankt Petersburg promovierte sie 2005 an der Universität Michigan, USA. Seit 2015 ist Panejach Dozentin an der Europäischen Universität Sankt Petersburg.

     

     

     

    Sie sagen ,Stalin‘ und meinen: Wir wollen weniger Ungleichheit

    Die erste Ent-Stalinisierung scheiterte, weil es unmöglich war, die Schuldfrage anständig auseinanderzudividieren. Unter Chruschtschow hat sich die sowjetische Regierung in der Nachfolge Lenins positioniert. Doch tatsächlich lässt sich das System Stalins nicht von den ersten Jahre der Sowjetherrschaft trennen.

    Von Anfang an lag der Überwindung des Personenkults eine Lüge zugrunde: nämlich, dass es einen guten Bolschewismus und Kommunismus gegeben habe, aber dann sei Genosse Stalin gekommen und habe alles kaputt gemacht.

    Nur einen Teil des Traumas durfte man zulassen

    Das heißt, einen Teil des Traumas durfte man zulassen, einen anderen wiederum nicht. So musste die Liquidierung des Adels und der Bourgeoisie als Klasse weiterhin befürwortet werden, während die Verfolgung sowjetischer Beamter als Verbrechen und Ausschweifung gelten konnte. Die Tragödien im Zuge der Kollektivierung dagegen durften überhaupt nicht verurteilt werden, als hätte es sie nie gegeben.

    Während der Perestroika begann eine neue Phase der Ent-Stalinisierung. Es konnte darüber diskutiert werden, was wirklich passierte; die Archive wurden geöffnet, es kamen Möglichkeiten auf, diese Informationen auch zu veröffentlichen. Aber diese Tendenz ging einher mit dem relativ traumatischen Zerfall der Sowjetunion und einer tiefen Wirtschaftskrise. So wurden alle Bemühungen, die Vergangenheit zu bewältigen, in Verbindung gebracht mit den unbeliebten 1990er Jahren und der liberalen Politik, die für die Wirtschaftskrise verantwortlich gemacht wurde und so weiter. 

    Komplex historischer Mythen

    Für die Jugend heute geht es in dieser Geschichte nicht einmal um ihre Großväter, sondern um noch frühere Generationen, um Menschen, die sie nie erlebt haben. Das heißt also, dass dieses Trauma für sie kein lebendiges Gesicht hat. Ihr Verhältnis dazu ist weniger ein Verhältnis zu aktuellen, realen Ereignissen der jüngsten Vergangenheit als eher ein Verhältnis zu einem historischen Bild, zu einem bestimmten Komplex historischer Mythen.

    Was hat es mit Stalin heute auf sich? Für den Großteil seiner Bewunderer steht Stalin beispielsweise für effektive Führung, obwohl schon längst belegt ist, dass er kein guter Staatenlenker war. Er steht auch für den Kampf gegen Korruption, doch die gab es auch in der UdSSR, wie Historiker ja wissen.

    Stalin steht auch dafür, dass es in der UdSSR wesentlich weniger Ungleichheit gab als heute. Das ist schon etwas realistischer. 
    Der mythische Stalin verkörpert für seine Befürworter eine Gesellschaftsform, in der die Ungleichheit (und vor allem der demonstrative Luxus der Oberschicht) wesentlich geringer war als in ihrer gegenwärtigen Lebenswirklichkeit.

    Keiner will die Repressionen zurück

    Ich würde darauf achten, was die Leute eigentlich sagen wollen, wenn sie mit Stalin-Porträts auf die Straße gehen. Sie meinen damit nicht: „Wir wollen Repressionen; wir wollen, dass mehr Menschen ins Gefängnis kommen; wir wollen eine Zentralplanwirtschaft; wir wollen die Repression ganzer Völker; wir wollen, dass unsere Regierung einen weiteren Weltkrieg entfesselt.“ 

    Sie meinen damit: „Wir wollen weniger Ungleichheit; wir wollen weniger Korruption; einen sozialeren Staat als wir jetzt haben. Uns gefällt nicht, was wir haben, wir sind es leid, und um das zu artikulieren, wählen wir die Figur, die so grausam und abschreckend ist, wie möglich.“  In etwa das haben sie im Sinn, wenn sie Stalin zum besten Herrscher Russlands erklären.


    Ilja Wenjawkin

    © theoryandpractice.ru
    © theoryandpractice.ru
    Ilja Wenjawkin (geb. 1981) ist ein russischer Philologe und Historiker mit dem Forschungsschwerpunkt Sowjetische Kultur und Literatur. Neben seiner Forschung leitet er Bildungsprogramme der Diskussionsplattform InLiberty und ist Gründungsmitglied des Internetprojekts Proshito – einer elektronischen Sammlung sowjetischer Tagebücher.

     

     

     

    Die Ent-Stalinisierung ist noch nicht abgeschlossen


    Die Ent-Stalinisierung ist in Russland aus einer Reihe von Gründen nicht abgeschlossen. Üblicherweise wird als [wichtigster] Grund das Vorgehen der russischen Staatsmacht in den 1990er Jahren genannt: Die Aufarbeitung des sowjetischen Erbes war für Boris Jelzin kein substanzieller Teil seiner Agenda. Die Demonstrationen auf der Lubjanka einen Tag nach dem gescheiterten Putsch führten lediglich zur Demontage des Dsershinski-Denkmals. Niemand wagte es, die KGB-Zentrale selbst zu betreten, und weiterhin wurde das Fortbestehen dieser obersten repressiven Instanz des Landes am selben Ort wie vor 70 Jahren kaum noch in Frage gestellt. Im Grunde genommen ist der Versuch, einen offenen [gerichtlichen] Prozess gegen die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) zu führen, im Sande verlaufen.

    Kein fundamentaler Elitenwechsel

    Unter Jelzin hat außerdem kein fundamentaler Elitenwechsel stattgefunden. Zu einem großen Teil sind diejenigen an der Macht geblieben, die die Karriereleiter der UdSSR-Nomenklatura hinaufgestiegen waren. Am auffälligsten wurde die Elitenkontinuität erst unter Wladimir Putin, als klar wurde, dass 25 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion ehemalige Mitarbeiter des sowjetischen KGB und Mitglieder der KPdSU an der Spitze des Staates standen.

    Legitimation des heutigen Regimes

    Es stellt sich heraus, dass wegen des Fehlens einer eigenständigen Ideologie die sowjetische Vergangenheit eine wichtige Rolle für die Legitimation des aktuellen politischen Regimes spielt: Durch die kritische Auseinandersetzung mit Stalin und mit der sowjetischen Vergangenheit könnten die heutigen Machthaber in ernsthafte Bedrängnis geraten.

    Nach 1991 war das Bedürfnis nach Ent-Stalinisierung von Seiten der Gesellschaft nicht stark genug. Wie unlängst der Fall von Denis Karagodin zeigt, der im Alleingang die Namen derjenigen identifiziert hat, die an der Hinrichtung seines Vaters beteiligt waren, können konsequente und durchdachte Bemühungen auf privater Ebene sehr wirkungsvoll sein. Leider gibt es hier immer noch wenige Initiativen solcher Art.

    Gewalt als Norm

    Es ist wichtig zu verstehen, dass es nicht nur die Geschichte des Stalinismus an sich ist, die uns beschäftigt. Vielmehr werden damit auch wichtige Fragen über die Gesellschaftsordnung aufgeworfen, in der wir heute leben.

    Wenn wir heute über die Ent-Stalinisierung sprechen, meinen wir die Notwendigkeit der totalen Entautomatisierung der Gewalt: Wir müssen lernen, die Gewalt zu erkennen, die vielen gesellschaftlichen Institutionen inhärent ist, und aufhören, diese als etwas Normales hinzunehmen.

    In diesem Sinne ist der Kampf um die Rechte der Menschen in Heimen, Gefängnissen, im Militär und an den Schulen heute eine Fortführung der Ent-Stalinisierung der russischen Gesellschaft. Es ist nicht von grundlegender Bedeutung, ob wir Stalin erwähnen oder nicht, wenn wir darüber sprechen, dass keine Regierung dazu befugt ist, die Würde des Menschen mit Füßen zu treten. Dieser Kampf wird auf jeden Fall weitergehen, ob wir dabei auf die Geschichte verweisen oder nicht.


    Nikita Petrow

     

    © Rodrigo Fernandez/Wikipedia unter CC BY-SA 3.0
    © Rodrigo Fernandez/Wikipedia unter CC BY-SA 3.0
    Nikita Petrow (geb. 1957) ist ein russischer Historiker, zu dessen Forschungsschwerpunkten Verbrechen der sowjetischen Geheimdienste zu Zeiten des Großen Terrors gehören. Er arbeitet als stellvertretender Vorsitzender der Menschenrechtsorganisation Memorial, die sich für die historische Aufarbeitung der politischen Repressionen und für die soziale Unterstützung von Gulag-Überlebenden einsetzt.

     

    Jede Kritik an der Vergangenheit wird als Intrige des Westens dargestellt


    Die Ereignisse der sowjetischen Epoche liegen in der Vergangenheit, aber was beunruhigt uns heute? Uns beunruhigt, dass das Land im alltäglichen Leben noch immer nicht vom Gesetz regiert wird, dass die bestehenden Gesetze wie Imitate wirken.

    Es gibt eine Verfassung, die Rechte und Freiheiten garantiert, und es gibt den Alltag, in dem das alles mit Füßen getreten wird.

    Willkür statt Gesetze

    Wir sehen, wie wir zu den Praktiken zurückkehren, die es in der UdSSR gab, als der politische Wille der Führung und nicht das Gesetz den Alltag bestimmt hat. Von diesem Standpunkt gesehen ist die Ent-Stalinisierung eine Absage an eine solche Praxis, an die Regeln und Gewohnheiten der Willkür, die sich im sowjetischen System gebildet haben.

    Andererseits muss man juristisch einen klaren Strich ziehen unter die sowjetische Vergangenheit und sagen, dass die sowjetische Epoche nicht nur eine Epoche der Willkür war, sondern auch die eines totalitären und verbrecherischen Staates. Dieser Strich ist momentan noch nicht gezogen.

    Es tut sich was

    Wenn man Ent-Stalinisierung enger versteht als Gedenken an die Opfer der politischen Repressionen, dann tut sich da natürlich etwas. Allerdings im ständigen Widerspruch zu den Versuchen, Stalins Namen zurück auf die russische Landkarte zu bringen [durch die vorübergehende Umbenennung Wolgograds in Stalingrad – dek] oder das Thema 1945 zu forcieren und mit Stalins Persönlichkeit zu verknüpfen. Deswegen befürwortet der Staat nicht mal die vorsichtigsten Ent-Stalinisierungs-Programme.

    Leider haben sich der Staat und unser Volk als unfähig erwiesen, unter rechtsstaatlichen und demokratischen Bedingungen zu leben. Man ist ständig in alte Praktiken verfallen, weil man es so gewohnt ist und anders nicht kann. Das Primat des Staates vor den persönlichen Rechten ist heute die Visitenkarte des Kreml. Auch deswegen ist das Thema Ent-Stalinisierung so unbeliebt unter Russen. Mit Hilfe von Propaganda, Radio und Fernsehen hat man vielen Bürgern eingetrichtert, dass unsere Besonderheit in eine aggressive Xenophobie münden solle. Alle Versuche, die Vergangenheit zu kritisieren, werden als Intrigen des Westens dargestellt.

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