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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Bystro #42: Wie groß ist die Wirtschaftskrise in Belarus?

    Bystro #42: Wie groß ist die Wirtschaftskrise in Belarus?

    Im Zuge der Repressionen und der Gewalt, mit der Alexander Lukaschenko seit den historischen Protesten von 2020 gegen Medien, Zivilgesellschaft, Aktivisten und Opposition vorgeht, hat die EU sechs Sanktionspakete gegen die belarussische Führung verabschiedet. Auch der russische Krieg gegen die Ukraine hat für die belarussische Wirtschaft enorme Auswirkungen, unter anderem, weil der für Belarus wichtige ukrainische Absatzmarkt weggebrochen ist oder weil Russland von massiven Sanktionen betroffen ist.  

    Kann die russische Führung dennoch die wirtschaftliche Unterstützung für Lukaschenko fortsetzen? Welche Auswirkungen haben die westlichen Sanktionen auf Belarus? Ist ein Kollaps der belarussischen Wirtschaft denkbar? Diese und andere Fragen beantworten Robert Kirchner und Justina Budginaite-Froehly vom German Economic Team (GET) in einem Bystro.

    1. Wie ist es aktuell um die belarussische Wirtschaft bestellt?

    Die belarussische Wirtschaft ist im letzten Jahr um 4,7 Prozent geschrumpft. Damit hat das Land den schwersten Einbruch seit den 1990er Jahren erlitten und wurde auf das Produktionsniveau von 2012 zurückgeworfen. Die Prognosen für 2023 reichen von einem weiteren – wenngleich geringeren – Rückgang bis zu einem leichten Wachstum. Alle Sektoren außer der Landwirtschaft entwickeln sich negativ. Sogar der Sektor für Informations- und Kommunikationstechnik, der traditionell als Wachstumstreiber der Wirtschaft galt, schrumpft derzeit massiv.
    Die Struktur des Außenhandels hat sich ebenfalls drastisch verändert. Die Exporte in die EU sind sanktionsbedingt massiv eingebrochen (minus 75 Prozent), während die Exporte in die GUS-Staaten (hauptsächlich Russland) deutlich zugenommen haben. Auf der Import-Seite ist ein genereller Rückgang zu beobachten, was zum begrenzten Angebot an Waren und sogar zur Verknappung einiger Produkte führt.
    Nach offiziellen Zahlen ist die Arbeitslosigkeit niedrig (4,5 Prozent im Jahr 2022) und geht wegen der nach Februar 2022 deutlich zugenommenen Emigration sogar zurück; allerdings sind diese Zahlen mit einer gewissen Vorsicht zu behandeln.
    Als Konsequenz der genannten Entwicklungen schrumpft der Lebensstandard der belarussischen Bevölkerung. Das verfügbare Einkommen sinkt aufgrund der weiterhin hohen Inflation. Die Reallöhne in einigen staatlichen Unternehmen sind zu Kriegsbeginn um rund 40 Prozent gesunken, haben sich aber später wieder stabilisiert. Auch der Konsum sinkt infolge der fallenden Einkommen.

    2. Wie reagiert die belarussische Staatsführung auf die Krise?

    Die belarussische Staatsführung versucht, die wirtschaftliche Situation zu stabilisieren, weil davon die sozio-politische Stabilität des Landes stark abhängt. Hierbei werden aber meist administrative Maßnahmen gewählt, die häufig weitere Probleme nach sich ziehen.
    Im Oktober 2022 wurden umfassende Preiskontrollen eingeführt, mit dem Ziel, die hohe Inflation einzudämmen. Die Maßnahmen haben kurzfristig geholfen, das offizielle Inflationsziel von 6 Prozent wurde jedoch nicht erreicht und bleibt auch für 2023 unrealistisch. Während die Zentralbanken weltweit auf hohe Inflation mit Zinsanhebungen reagieren, wurde dies in Belarus nicht in Betracht gezogen – der Zinssatz liegt aktuell bei 11 Prozent und wurde unlängst sogar gesenkt. Zudem hat die Regierung finanzielle Unterstützung für große staatliche Banken und staatliche Industrieunternehmen bereitgestellt. Mit Kapitalverkehrskontrollen wird versucht, die außenwirtschaftliche Stabilität zu erhalten und den Wechselkurs zu stabilisieren. Ein Kontrollmechanismus für Unternehmen mit Kapitalanteilen aus sogenannten unfreundlichen Ländern wurde eingeführt, um den Exodus von Unternehmen aus dem Land zu stoppen. 
    Kürzlich wurde auch ein Importsubstitutionsprogramm gestartet, das den Kauf belarussischer Produkte vorsieht und so die Produktion im Lande zu stimulieren versucht, um ausbleibende Importe zu ersetzen. 

    3. Können freie Unternehmer unter den aktuellen Bedingungen noch existieren?

    Der stark steigende, repressive Einfluss des Staates auf die Wirtschaft erhöht das unternehmerische Risiko erheblich. Viele ausländische Unternehmen, die auf dem belarussischen Markt tätig waren, haben daher ihre Tätigkeit eingestellt bzw. deutlich reduziert. Generell leiden die belarussischen Unternehmen unter erheblichen Imageschäden, sie sind aus Sicht ihrer ausländischen Geschäftspartner „toxisch“ geworden. Dies verschlechtert das Geschäftsklima deutlich und führt oft zur Aufgabe bestehender oder künftiger Kooperation. Auch die Finanzsanktionen erschweren den internationalen Handel.  
    Die Unternehmensgewinne sind deutlich geringer als in den Vorjahren, und die Unternehmensverschuldung ist relativ hoch. Zudem berichten private Unternehmen über einen gestiegenen Abgabendruck seitens des Fiskus. Darüber hinaus gab es im Jahr 2022 einen deutlichen Lageraufbau bei den Unternehmen aufgrund der Absatzschwierigkeiten, und einen erheblichen Abfluss von Unternehmenseinlagen bei den Banken. Insgesamt also sehr schwierige Rahmenbedingungen, die sich im Jahresverlauf verschlechterten.

    4. Inwieweit zeigen die westlichen Sanktionen Wirkung?

    Die westlichen Sanktionen betreffen den Handel, den Finanzbereich (Banken und Staat) sowie einzelne Personen und Unternehmen. Die Wirkung der Handelssanktionen ist sicher nicht schockartig, aber durchaus spürbar. Belarus hat seine profitabelsten Exportmärkte in den EU-Mitgliedstaaten und in der Ukraine für Kalidünger, raffinierte Ölprodukte und Holzerzeugnisse verloren. Wie viele der Güter sich umlenken lassen, und vor allem zu welchen Kosten, ist aufgrund der nicht zugänglichen Daten nicht genau erkennbar.  
    Eine wichtige Rolle spielen auch die Finanzsanktionen. Einige Banken wurden vom SWIFT-System ausgeschlossen, die Goldreserven der Nationalbank und Geschäfte mit ihr wurden in der EU blockiert, wodurch letztendlich ein „Default“ von Belarus eintrat: Das Land konnte also seine vertraglich eingegangenen Verbindlichkeiten in Fremdwährung bei der Bedienung von staatlichen Schulden nicht begleichen. Hinzu kommen „over-compliance“-Effekte im Bankensektor, die Schwierigkeiten bei der Abwicklung der Transaktionen auch für diejenigen belarussischen Banken bereiten, die nicht direkt von den Sanktionen betroffen sind. Dies hat wiederum Rückwirkungen auf die zugrundeliegenden Warentransaktionen – wenn es keine Zahlung gibt, wird auch nichts geliefert.
    Der durch zusätzliche Sanktionen im Logistikbereich blockierte Zugang zu den baltischen Häfen für die Exporte aus Belarus (z. B. Kalidünger) hat negative Auswirkungen auf die Industrieproduktion, die sich seit Februar 2022 im Sinkflug befindet. In der Summe ist der anfangs genannte Einbruch der Wirtschaft vor allem auf die Sanktionen zurückzuführen. 

    5. Inwieweit fängt Russland die Wirkung der Sanktionen ab?

    Wegen der Sanktionen hat der Handel zwischen Belarus und Russland deutlich zugenommen. Obwohl beide Länder keine Daten zu den gehandelten Warenmengen veröffentlichen, kann man sehen, dass der wertmäßige Handelsumsatz merklich zugenommen hat. Allerdings bedeutet dies für Belarus keine vollständige Kompensation der Verluste durch den Wegfall der Märkte in Europa und der Ukraine. 
    Belarus ist auch auf die Hilfe Russlands bei der Reorganisation der Transporte von belarussischem Kalidünger und anderer sanktionierter Waren auf Drittmärkte angewiesen. Diese Exporte wurden durch russische Häfen und auf die russische Eisenbahninfrastruktur umgelenkt. Russland hat Minsk auch einen Kredit für Maßnahmen zur Importsubstitution gewährt. Zudem wurden Vereinbarungen mit Russland über die Beibehaltung von Sondertarifen für Energielieferungen für Belarus getroffen. 
    Darüber hinaus hat Minsk ein Dokument zur Ausweitung der Integration mit Russland unterzeichnet, dass es belarussischen Produzenten ermöglicht, ihre Ölprodukte auf dem russischen Markt zu den gleichen Bedingungen zu verkaufen wie russische Unternehmen. Dadurch wird der belarussische Staatshaushalt im laufenden Jahr 600 Millionen US-Dollar an Subventionen einnehmen. Durch solche Schritte verflechtet sich Belarus wirtschaftlich immer stärker mit Russland. 

    6. Kann Russland Belarus´ Wirtschaft auch langfristig unterstützen?

    Russland unterstützt Belarus schon seit langem über vielfältige Instrumente, neben den Energiepreissubventionen zum Beispiel über langfristige Kredite. Dies wird tendenziell zunehmen, da Belarus von internationalen Finanzmärkten abgeschnitten ist und von den wichtigsten Ratingagenturen auf „Default“ herabgestuft wurde, das heißt ein Zahlungsausfall festgestellt wurde. Dementsprechend steigt auch der Einfluss Russlands, zum Beispiel wenn es um die Verschiebung von Schuldenrückzahlungen geht. Man kann davon ausgehen, dass Russland langfristige Ziele in Belarus hat. Allerdings basieren sie nicht auf der Sorge um das Wohlergehen von Belarus, sondern um die weitere – vor allem politische – Einflussnahme auf das Nachbarland.  
    Die Unterstützung durch Russland ist dabei mit hohen politischen Kosten für Belarus verbunden. Die Integrationsprozesse des Unionsstaates schreiten voran. Es gibt neue Initiativen zur Vertiefung der Zusammenarbeit in den Bereichen Industrie, Landwirtschaft, Verkehr und Kernenergie. Außerdem haben sich Russland und Belarus über eine weitere Vereinheitlichung des Steuer- und Zollrechts verständigt, die der russischen Steuerverwaltung Zugang zu den Transaktionen sämtlicher belarussischer Steuerzahler verschafft. In der Praxis wird dies also die Unterordnung des belarussischen Systems unter das russische bedeuten. Manche sprechen dementsprechend von einer „schleichenden Okkupation“ von Belarus durch Russland in allen öffentlichen Bereichen. 

    7. Ist ein Kollaps der belarussischen Wirtschaft denkbar?

    Ich denke, der Begriff „Kollaps“ weckt falsche Erwartungen und sollte vermieden werden. Gleiches gilt zur Lage in Russland, wo nach Kriegsbeginn und den folgenden Sanktionen viele Beobachter von einem schnellen Kollaps ausgingen, der bekanntermaßen nicht eingetreten ist. Die aktuelle Lage und der Ausblick sind eher durch ein langsames „Dahinsiechen“ gekennzeichnet, also eine Situation der Stagnation ohne Aussicht auf neue Wachstumstreiber. Zunehmend hängt die belarussische Wirtschaft von der Lage der russischen Wirtschaft ab, deswegen sind die Entwicklungen in Russland von großer Bedeutung auch für Belarus. Die sich anbahnenden Probleme durch die im Vorjahr eingeführten Ölsanktionen werden sich indirekt zweifellos auch auf Belarus auswirken. 
    Darüber hinaus wird die Lage der belarussischen Wirtschaft davon abhängen, ob eventuell weitere Sanktionen gegen das Land in der Zukunft verhängt werden. Andererseits zeigt die bisherige Erfahrung aber auch, dass sanktionierte Länder fähig sind, sich an Sanktionen anzupassen und sie teilweise zu umgehen. Belarus findet immer noch Käufer für seine von der EU sanktionierten Produkte wie Kalidünger und Ölprodukte zum Beispiel in China, Brasilien und Indien. Hier wird zu beobachten sein, ob der Westen stärker als bisher das Thema „Sanktionsumgehung“ auf die Tagesordnung setzt.

     

    Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Text: Justina Budginaite-Froehly und Robert Kirchner
    Veröffentlicht am 21.03.2023

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  • Bystro #33: Überlebenskunst und Krisenkampf – Wie stabil ist die Wirtschaft in Belarus? 

    Bystro #33: Überlebenskunst und Krisenkampf – Wie stabil ist die Wirtschaft in Belarus? 

    Auf die Proteste des Jahres 2020 folgte eine schwere politische Krise in Belarus, die bis heute anhält. Das politische System um Machthaber Alexander Lukaschenko hat sich zusehends radikalisiert – ein Prozess, der weiter andauert. Die EU und andere Länder der demokratischen Staatenwelt haben den Eskalationskurs mit bisher fünf Sanktionspaketen bestraft. Erstmals wurden auch Wirtschaftssanktionen verhängt, so unter anderem gegen Belaruskali, einen der weltweit größten Hersteller von Kalidüngern.

    Lässt sich aktuell schon etwas über die Effektivität dieser Sanktionen sagen? Befindet sich die belarussische Wirtschaft, der man schon häufiger den baldigen Kollaps vorausgesagt hat, in einer Krise? Welche Rolle spielt Russland für die wirtschaftliche Entwicklung in Belarus? In einem Bystro mit neun Fragen und Antworten widmet sich der Wirtschaftsexperte Robert Kirchner den ökonomischen Rahmenbedingungen in Belarus.

    1. Seit 20 Jahren heißt es immer mal wieder, die belarussische Wirtschaft stünde kurz vor dem Kollaps. Wie sieht es aktuell mit der Wirtschaftslage aus?

    Ich glaube, jeder Belarus-Beobachter kennt diese Einschätzungen, die ich jedoch frei nach Mark Twain für „stark übertrieben“ halte. Lassen wir die Daten sprechen: Belarus ist im vergangenen Jahr um 2,3 Prozent gewachsen, was im internationalen Vergleich eher mager ist, da sich viele Länder nach der Corona-Krise 2020 im Erholungsmodus befanden. Allerdings ist Belarus insofern ein Sonderfall, da 2020 kaum Corona-bedingte Einschränkungen implementiert wurden und das Land dadurch weniger stark wirtschaftlich getroffen wurde. Was nun den Ausblick für dieses Jahr angeht, ist die Lage wesentlich unsicherer. Auch aufgrund der westlichen Handels- und Finanzsanktionen ist eine Verlangsamung des Wachstums in diesem Jahr auf etwa 0,5 Prozent wahrscheinlich, ein Durchschnittswert der Prognosen der wichtigsten Institute.
    Wenn wir über die aktuelle Lage hinausgehen und uns mal die mittelfristigen Trends anschauen, dann fällt auf, dass Belarus nur noch sehr langsam wächst. Wurden vor der Finanzkrise 2009 teilweise jährliche BIP-Wachstumsraten von mehr als zehn Prozent erzielt, so hat sich das Bild in den letzten zehn Jahren komplett gedreht, als das Wachstum maximal drei Prozent erreichte. Der negative langfristige Trend ist also sehr ausgeprägt. 

    2. Die Inflation lag 2021 bei fast zehn Prozent, die Renten sind leicht gefallen und Lebensmittelpreise gestiegen. Aus Sicht der Menschen ist das schon ein bemerkbares Absinken des Lebensstandards, oder?

    Ich denke, dass die hohe Inflation, die aktuell sogar über zehn Prozent liegt, gegenwärtig das wichtigste Problem für die meisten Menschen in Belarus darstellt. Die hohe Inflation ist allerdings nicht nur auf Belarus beschränkt; auch viele andere Länder verzeichnen aktuell eine hohe Inflationsrate. Im Falle von Belarus muss aber darauf verwiesen werden, dass dies trotz der Anwendung von administrativen Maßnahmen der Preiskontrolle bei verschiedenen Gütern geschieht, die tatsächliche Inflation damit wahrscheinlich sogar noch höher liegt. Auch das Wachstum der Realeinkommen und der Löhne hat sich in der vergangenen Zeit deutlich abgeschwächt – in der Summe also eine große wirtschaftliche und soziale Herausforderung für die Bevölkerung. Aufgrund der angespannten finanziellen Situation kann der Staat hier keine großen Mittel aufwenden, ohne die finanzielle Stabilität zu gefährden.

    3. Im vergangenen Jahr haben die EU und die USA erstmals Wirtschaftssanktionen beschlossen. Kann man jetzt schon sagen, ob diese überhaupt einen Effekt auf die belarussische Wirtschaft haben? 

    Hier muss man die Lage sehr differenziert betrachten. Auf den ersten Blick haben sich die Exporte in die EU 2021 sehr dynamisch entwickelt – sie sind in US-Dollar um 74 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gestiegen; der Anteil der EU an den gesamten Exporten ist auf 24 Prozent gestiegen. Allerdings war 2020 durch Corona geprägt, und der hohe Anstieg ist vor allem ein Preiseffekt (beispielsweise aufgrund von höheren Energie- und anderen Rohstoffpreisen), die exportierten Mengen haben sich weit weniger stark entwickelt.
    Aufgrund der Konstruktion der Wirtschaftssanktionen – es gibt ja Ausnahmen für laufende Verträge und für bestimmte Produkte – ist die Abwesenheit spürbarer Folgen in 2021 jedoch nicht weiter überraschend. Ich gehe davon aus, dass sich die negative Auswirkung der Sanktionen vor allem in 2022 bemerkbar machen wird. Hier wird es aber sicher weitere Nachjustierungen und Anpassungen geben, wie etwa die Unterbindung des Düngemitteltransits durch Litauen Ende Januar 2022 zeigt. Die Unsicherheit bleibt damit hoch, was natürlich die Wirtschaft belastet.   

    4. Wo ist die belarussische Wirtschaft eigentlich am verwundbarsten? Oder anders: Wo liegen die strukturellen Hauptprobleme für die Wirtschaft in Belarus? 

    Viele große Unternehmen, so etwa in der Industrie, wurden nie privatisiert und sind weiter im staatlichen Besitz. Damit ist Belarus in gewisser Weise ein Sonderfall unter den osteuropäischen Transformationsländern. Denn so fehlt häufig aber auch der Zugang zu Kapital und Know-How, welches beispielsweise von ausländischen Investoren bereitgestellt werden kann. Dies zeigt sich dann in einer niedrigeren Produktivität. Auch der Bankensektor ist durch staatliche Banken dominiert. Das hat zur Folge, dass Kredite häufig nicht nach marktwirtschaftlichen Überlegungen vergeben, sondern staatlich in die gewünschten Bereiche gelenkt werden. Insgesamt ist der Reformbedarf im strukturellen Bereich damit unverändert hoch; es gab in den vergangenen Jahren durchaus Fortschritte bei der Entwicklung des Privatsektors, wie etwa im IT-Sektor, was kleinen und mittleren Unternehmen zu Gute gekommen ist Aber die weitere Entwicklung ist nun sehr unsicher.

    5. Gerade der IT-Bereich hat über Jahre einen enormen wirtschaftlichen Beitrag geleistet. Allerdings war auch die IT-Branche von Repressionen betroffen, viele Unternehmen haben das Land verlassen. Wie ist der aktuelle Stand?

    Hier besteht weiterhin ein Widerspruch zwischen den offiziellen Wirtschaftsstatistiken und der aktuellen Stimmung beziehungsweise der Wahrnehmung der Lage der Branche. Ich hatte ja bereits auf das BIP-Wachstum im letzten Jahr hingewiesen – der wichtigste Treiber von der Angebotsseite war der IKT-Sektor, der um 9,2 Prozent expandiert ist! In 2021 trug der Sektor damit insgesamt 7,4 Prozent zum BIP bei, nach 7,3 Prozent in 2020 und 6,3 Prozent in 2019. Hier sieht man sehr gut die dynamische Entwicklung dieses primär privaten Sektors, auch wenn sich das starke Wachstum der Vergangenheit etwas abgekühlt hat. Wie sich das weiterentwickeln wird, ist schwer zu prognostizieren. Natürlich sind solche Tätigkeiten sehr mobil und prinzipiell leicht verlegbar. Auch beim steuerlichen und regulatorischen Rahmen ziehen andere Länder nach; die Ukraine hat gerade ihr Diia City-Projekt gestartet. Es bleibt also sehr unsicher, wie sich der Sektor unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen weiter entwickeln wird.  

    6. Die russische Abhängigkeit ist Fluch und Segen für die Machthaber. Lässt sich die Aussage treffen, dass die belarussische Wirtschaft ohne Russland vor dem Kollaps stünde? 

    Ich würde nicht den Begriff Kollaps verwenden. Aber die permanente und vielfältige ökonomische und finanzielle Unterstützung durch Russland mit Hilfe von zinsgünstigen und langfristigen Krediten, durch den vergünstigten Bezug von Energieträgern wie Öl und Gas ist sicherlich ein zentraler Faktor für Wirtschaft und Politik in Belarus. Ohne diese Unterstützung würde das aktuelle Wirtschaftsmodell sicher ganz anders aussehen, auch wenn es spekulativ bleibt, in welche Richtung es sich entwickeln würde.

    7. China hat in den vergangenen 15 Jahren immens in Belarus investiert. Welche Rolle spielt die Volksrepublik für die belarussische Wirtschaft?

    Der wirtschaftliche Einfluss Chinas ist in der Tat langfristig gewachsen. Allerdings sollte hervorgehoben werden, dass für China insbesondere Belarus‘ Lage an der EU-Außengrenze von Interesse ist, und diese Transitfunktion eine wichtige Rolle spielt. So gehen etwa 80 Prozent des China-EU Transits durch Belarus. Investitionsprojekte außerhalb dieser sogenannten Belt and Road Initiative gibt es kaum, da auch die finanziellen Konditionen nicht besonders vorteilhaft waren. Wegen der aktuellen Spannungen beziehungsweise Sanktionen von Seiten der EU ist diese Funktion teilweise bedroht. In einem solchen Szenario der Unsicherheit würde ich erwarten, dass China zunächst abwartet und beobachtet, wie sich die Lage weiterentwickelt. Hierzu passt, dass wir in den letzten Jahren auch von keinen großen neuen Projekten mehr gehört haben, was sicherlich aber auch an der Pandemie lag. 

    8. Auch die Ukraine hat sich den Sanktionen gegen Lukaschenko angeschlossen. Welche Folgen hat dies für die Wirtschaftsbeziehungen beider Länder?

    Sowohl für Belarus als auch für die Ukraine sind die bilateralen Handelsbeziehungen sehr wichtig, was vor dem Hintergrund der geographischen Lage und des gemeinsamen sowjetischen Erbes nicht überrascht. Für die Ukraine spielt Belarus insbesondere bei der Versorgung mit Ölprodukten eine strategisch wichtige Rolle. Daher hat sich die Ukraine auch nicht komplett den westlichen Sanktionen angeschlossen, sondern nur selektiv (wie etwa bei den Luftfahrtsanktionen). Der Warenaustausch zwischen beiden Ländern betrug 2021 sechs Milliarden US-Dollar, 2020 waren es aufgrund der Pandemie nur vier Milliarden US-Dollar.
    Was nun die weitere Entwicklung der Russland-Ukraine-Krise angeht – im Falle einer militärischen Eskalation würden die wirtschaftlichen Effekte sicherlich sehr negativ sein. Neben den Auswirkungen auf die direkten Wirtschaftsbeziehungen müsste hier natürlich noch Russland einbezogen werden, welches für Belarus der Hauptpartner ist. Hier würden mögliche Sanktionen des Westens gegenüber Russland (beziehungsweise eventuell auch gegen Belarus) als Reaktion auf die Eskalation die Lage weiter verschärfen. 

    9. Eine weitere Öffnung der Wirtschaft wird es in der aktuellen politischen Lage sicher nicht geben. Was muss Lukaschenko 2022 gelingen, damit die Wirtschaft stabil bleibt und die Unzufriedenheit der Menschen nicht weiter wächst? 

    In der Tat ist das eine große Herausforderung, gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Russland-Ukraine-Krise. Ich denke, der unmittelbare Fokus wird weiter auf der Bewahrung der makroökonomischen und finanziellen Stabilität liegen, so wie auch in den vergangenen beiden Jahren. Hierdurch sollen schockartige Krisenepisoden vermieden werden, wie beispielsweise eine massive Abwertung des belarussischen Rubels, ein weiterer Anstieg der Inflation oder Abzüge von Einlagen bei den Banken. Die wirtschaftliche und finanzielle Unterstützung durch Russland wird in einem solchen Szenario weiter eine zentrale Komponente bilden. Gleichzeitig ist klar, dass in einem solchen Kontext keine neuen Impulse für beschleunigtes Wachstum erfolgen werden. Wir werden es also mittelfristig mit einem sehr niedrigen Wachstum zu tun haben, was sich negativ auf die Schere zwischen der Einkommensentwicklung von Belarus und östlicher EU-Staaten wie Polen auswirken wird.  

     

    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Text: Robert Kirchner
    Veröffentlicht am: 22. Februar 2022

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