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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Kontrollverlust – Der Volksaufstand vom Juni 1953

    Kontrollverlust – Der Volksaufstand vom Juni 1953

    Die größte Gefahr für Diktaturen besteht im Verlust der Kontrolle. Um dieser Herausforderung zu begegnen, brauchen sie Infrastrukturen der Überwachung und der Unterdrückung – stets in der Hoffnung, dass sie im Moment der Bedrohung Wirkung zeigen. Der Volksaufstand vom Juni 1953 in der DDR war eine solche Ausnahmesituation, in der die SED-Diktatur existenziell herausgefordert wurde. Diese Ereignisse sind für die Geschichte der DDR von zentraler Bedeutung. Zugleich sind sie Teil einer transnationalen Geschichte des Widerstands gegen kommunistische Diktaturen und stehen in einer Kontinuitätslinie, die von 1917 bis 1989/91 reicht. So unterschiedlich Proteste und Aufstände gegen Ordnungen sowjetischen Typs im Einzelnen verliefen, legten sie doch stets deren Fragilität und Schwäche bloß. Auch deshalb folgten staatliche Reaktionen auf massenhafte Manifestationen des Unmuts immer gleichen Mustern: Um Autorität zu demonstrieren und ihren Herrschaftsanspruch durchzusetzen, setzten die Machthaber auf Zwang und physische Gewalt. Aus einer solchen Perspektive handelte es sich beim Einsatz von sowjetischen Panzern und Soldaten gegen die Demonstrierenden auf den Straßen und Plätzen ostdeutscher Städte letztendlich um eine „normale“ Reaktion sozialistischer Regime angesichts des drohenden Kontrollverlusts. Gleichzeitig blieb der Aufstand vom Juni 1953 für die führenden Kommunisten in der DDR eine traumatische Erfahrung, die ihr Denken und Handeln bis zum Zusammenbruch des Staates beeinflusste. 

    Seit Beginn des Jahres 1953 spitzte sich die ökonomische und soziale Krise in der DDR zu. Eine wesentliche Ursache für die zunehmende Schieflage war der seit Sommer 1952 offiziell forcierte Kurs zum „Aufbau des Sozialismus“. Konkret bedeutete dies: Zwangskollektivierung, Fokussierung auf die Schwerindustrie und die Verstärkung politischer Repression. Insbesondere auf dem Land wuchs die Unzufriedenheit innerhalb der Bevölkerung massiv. Angesichts dieser Zwänge stimmten viele Menschen mit den Füßen ab und flohen aus dem „Paradies der Arbeiter und Bauern“ gen Westen.

    Parallel dazu wurde das Schicksal des jungen deutschen sozialistischen Staats in Moskau diskutiert. 1952 und unmittelbar nach Stalins Tod im März 1953 ließ die Sowjetunion Anzeichen von Verhandlungsbereitschaft über die Zukunft der DDR erkennen. Im Kern ging es darum, ob und unter welchen Bedingungen eine Wiedervereinigung Deutschlands denkbar war.1 Die Ernsthaftigkeit dieser Angebote ist bis heute umstritten. Nicht nur in Bonn, London und Washington wurden die ambivalenten Signale registriert, sondern auch in der DDR glaubten manche, über die Zukunft des ostdeutschen Teilstaates sei in Moskau noch nicht abschließend entschieden worden. 

    Dies hing auch damit zusammen, dass im Frühjahr 1953 die Machtkonstellation in der sowjetischen Führung nach dem Tode Stalins neu ausgehandelt wurde. In diesen Auseinandersetzungen war das Schicksal des ostdeutschen Teilstaats nur eine Frage unter vielen. 

    „Neuer Kurs“

    Erst im Mai 1953 rangen sich die Erben des Diktators zu einer Entscheidung durch: Die forcierte Durchsetzung des Sozialismus in der DDR sollte gestoppt werden. Die SED-Führung wurde nach Moskau zitiert, wo den konsternierten Genossen die Kernelemente des „neuen Kurses“ diktiert wurden: Die Zwangskollektivierung wurde gestoppt, Preiserhöhungen zurückgenommen und Steuern reduziert. Der verordnete Politikwechsel fiel derart radikal aus, dass viele glaubten, er würde die Herrschaft des SED-Generalsekretärs Walter Ulbricht beenden. 

    Doch wie sich bald zeigen sollte, standen nun nicht mehr einzelne Karrieren, sondern die Existenz der SED-Diktatur an sich auf dem Spiel. 

    Am 11. Juni wurde im Parteiorgan Neues Deutschland der „Neue Kurs“ veröffentlicht. Mit ihm zerbrach die fragile Stabilität der DDR-Gesellschaft: Viele Menschen verstanden die Ankündigungen als Bankrotterklärung des Staates und fragten erbost, weshalb die führenden SED-Kader keine Konsequenzen aus diesem Eingeständnis ihres Scheiterns zogen. Andere triumphierten angesichts der Rücknahme der Zwangskollektivierung und weiterer Repressionen. In der Arbeiterschaft herrschte hingegen vielfach Unzufriedenheit, denn ausgerechnet die kurz zuvor verkündete Erhöhung der Arbeitsnormen blieb von den Reformen ausgenommen. Aus Unzufriedenheit wurde offener Protest. Es entstand eine Eskalationsdynamik, die vor allem von Dörfern und kleineren Städten ausging.2

    Kontrollverlust

    Die Partei verlor zunehmend die Kontrolle. Aus allen Teilen der Republik gingen alarmierende Berichte ein, so hieß es beispielsweise in einem SED-Lagebericht vom 12. Juni: „Das Kommuniqué des Politbüros wurde von den Großbauern in allen Bezirken unserer Republik mit offener Schadenfreude aufgenommen. Sie führten wüste Saufgelage durch, schüchterten teilweise die Genossenschaftsbauern ein und versuchten durch offene Benutzung der RIAS-Argumente Verwirrungen unter den Genossenschafts- und werktätigen Bauern zu stiften.“3 Der in West-Berlin ansässige „Untersuchungsausschuss freiheitlicher Juristen“ erhielt am 13. Juni die Information, „dass in der Kreisverwaltung Königs Wusterhausen unter den Funktionären der SED ein kopfloses Durcheinander herrscht. Die Funktionäre wissen nicht, wie sie sich für die Zukunft verhalten sollen.“4 Aus Brandenburg an der Havel hieß es am selben Tag: „Am 12.6. versammelten sich gegen Abend etwa 200 bis 300 Einwohner […] vor dem […] Gefängnis. […] Die Menschenmenge erwartete die Freilassung von Gefangenen. Transportarbeiter […] waren mit Blumen und Transparenten erschienen, um ihren inhaftierten Chef „heimzuholen“. Es herrschte viel Geschrei und eine absolut aufsässige Stimmung gegen die Volkspolizei. Einige Volkspolizisten wurden verprügelt. Ein herbeigerufenes Überfallkommando traute sich nicht vom Wagen herunter.“5 

    In den folgenden Tagen beruhigte sich die Lage nicht, im Gegenteil. Am 16. Juni legten die Bauarbeiter auf der Ost-Berliner Stalinallee zunächst die Arbeit nieder, um gegen erhöhte Arbeitsnormen zu protestieren. Am folgenden Tag riefen sie gar zum Generalstreik auf. Diese Nachricht verbreitete sich in der gesamten DDR wie ein Lauffeuer. Doch zu der massenhaften Erhebung am 17. Juni konnte es nur deswegen kommen, weil es vielerorts bereits seit Tagen Proteste gab und unablässig Gerüchte die Runde machten. In einem Bericht der „Organisation Gehlen“, der Vorläuferorganisation des BND, hieß es dazu: „Der Aufstand hatte nicht nur Ost-Berlin, sondern die gesamte Zone erfasst. Die Unruhen vom 17. Juni, die in der ganzen Welt einen Widerhall fanden, waren kein spontaner Akt, sie waren zwar der Höhepunkt, aber dennoch nur eine Phase im Ablauf von Ereignissen, die schon mehrere Tage vorher begonnen hat und die eine Vorgeschichte haben.“6

    Zu der massenhaften Erhebung am 17. Juni konnte es nur deswegen kommen, weil es vielerorts bereits seit Tagen Proteste gab und unablässig Gerüchte die Runde machten / Foto © 70 Jahre DDR-Volksaufstand/Bundesstiftung Aufarbeitung, Eastblockworld, 1212152
    Zu der massenhaften Erhebung am 17. Juni konnte es nur deswegen kommen, weil es vielerorts bereits seit Tagen Proteste gab und unablässig Gerüchte die Runde machten / Foto © 70 Jahre DDR-Volksaufstand/Bundesstiftung Aufarbeitung, Eastblockworld, 1212152

    Vielfach angeführt von den Belegschaften großer Betriebe, demonstrierten am 17. Juni 1953 abertausende Menschen überall in der DDR. Ihre Motive waren unterschiedlich. Während einige ihren Protest gegen die SED-Herrschaft artikulierten („Spitzbart, Bauch und Brille sind nicht des Volkes Wille“) oder konkrete Forderungen erhoben, feierten andere bereits das vermeintliche Ende der Diktatur.  

    „Ulbrichtknechte“

    Das Zentrum des Aufstands war Berlin, doch auch in allen anderen Bezirken der DDR kam es zu Protesten, Demonstrationen und Ausschreitungen. So etwa in der sächsischen Kleinstadt Niesky. Ein Bericht der Staatssicherheit beschrieb die Ereignisse dort folgendermaßen: „Die Demonstration bewegte sich nach dem Zinssendorfplatz. Dort drangen die Demonstranten bei geringem Widerstand in das Gebäude der SED-Kreisleitung ein und zerstörten einen Teil der Einrichtung. Führende Genossen wurden misshandelt. Der I. Parteisekretär flüchtete in das VPKA [Volkspolizeikreisamt –dek] Niesky. Danach zogen die Demonstranten zum Gebäude des Ministeriums für Staatssicherheit. Da von Seiten des Dienststellenleiters und der Mitarbeiter keine ausreichenden Maßnahmen zur Sicherung der Dienststelle getroffen wurden, gelang es den Banditen nach längerer Zeit, das Gebäude zu stürmen und unsere Mitarbeiter niederzuschlagen.“7

    Dramatisch auch die Schilderung eines Angehörigen der „Kasernierten Volkspolizei“, dessen Einheit in die Kleinstadt Hohenstücken beordert wurde, um dort den Aufstand niederzuschlagen: „Wir wurden mit Steinen beworfen und als ‚Ulbrichtknechte‘ beschimpft. Fahnen wurden verbrannt und in den Schmutz getreten. […] Aus den Fenstern des Amtes flogen Aktenordner und Papiere. Im Haus tobte eine unbekannte Personengruppe. Die Volkspolizisten des Amtes hatten sich in die oberste Etage zurückgezogen und leisteten Widerstand. Vor dem Amtsgebäude lag ein toter Zivilist. An einem Laternenmast hing ein Seil mit Schlinge und die grölende Menge forderte, den Täter auszuliefern, um ihn öffentlich zu richten. Angeblich ein Volkspolizist, der geschossen haben sollte. […] Auf den Treppen entwickelte sich ein kurzer Kampf – Mann gegen Mann. Die Gewalttäter gingen mit Brandhaken und Feuerwehräxten gegen uns vor. Wir versuchten, sie mit Gewehrkolben zurückzudrängen bzw. mit Körpergewalt zu überwältigen. Dieses Handgemenge dauerte ca. 30-40 Minuten. Die Festgenommenen waren in einem Raum zusammengefasst. […] Der Aufruf an die Menge erfolgte, die Festgenommenen wurden freigelassen und tauchten sofort in der Menge unter. Jedoch anstelle einer Auflösung verschärfte sich die Situation, darunter die Drohungen gegen uns. […] Die Menge tobte weiter. Auf uns prasselten Rufe nieder wie: ‚Was wollt ihr noch? Ulbricht und die Bonzen sind längst nach Moskau abgehauen! Geht nach Hause, ihr habt hier nichts mehr zu verrichten!‘“8

    „Ulbricht und die Bonzen“ befanden sich zu diesem Zeitpunkt zwar nicht in Moskau, wohl aber unter sowjetischem Schutz im Berliner Bezirk Karlshorst. Nur hier waren die führenden Genossen sicher, die ohnmächtig miterleben mussten, wie sich Teile der Bevölkerung – und keineswegs nur Arbeiter – gegen sie erhoben. 

    Den Aufstand bekämpfen 

    Ohne das energische Eingreifen der „Freunde“ wäre der Fortbestand der SED-Herrschaft gefährdet gewesen, doch dies war aus sowjetischer Sicht keine Option. Nachdem die ersten Nachrichten von den Berliner Unruhen bei den sowjetischen Behörden eintrafen, ergriff Moskau die Initiative. Dort gab es keinen Zweifel, dass der Aufstand mit allen Mitteln niedergeschlagen werden musste. Der Geheimdienstchef Lawrenti Berija persönlich erteilte die Befehle. Die sowjetische Führung, die noch Tage zuvor im Begriff gewesen war, die Führungsriege um Ulbricht fallenzulassen, tat nun alles dafür, den ungeliebten Genossen – und damit auch den ostdeutschen Staat – zu retten. 

    In Moskau gab es keinen Zweifel, dass der Aufstand mit allen Mitteln niedergeschlagen werden musste / Foto © 70 Jahre DDR-Volksaufstand/Bundesstiftung Aufarbeitung, Eastblockworld, 1212156
    In Moskau gab es keinen Zweifel, dass der Aufstand mit allen Mitteln niedergeschlagen werden musste / Foto © 70 Jahre DDR-Volksaufstand/Bundesstiftung Aufarbeitung, Eastblockworld, 1212156

    Gegen Einheiten der ostdeutschen Kasernierten Volkspolizei und der Roten Armee vermochten die Aufständischen letztlich nichts auszurichten. Auch wenn zahlreiche Einheiten der insgesamt 500.000 Soldaten umfassenden sowjetischen Besatzungstruppen alarmiert beziehungsweise eingesetzt wurden und über die meisten ostdeutschen Landkreise der Ausnahmezustand verhängt wurde, konzentrierte sich der sowjetische Militäreinsatz auf und um Berlin. Allein hier waren am 17. Juni rund 600 Panzer im Einsatz.9 Insgesamt kamen im Kontext des Volksaufstands mehr als 50 Personen ums Leben; 34 davon wurden nachweislich erschossen oder starben an den Folgen ihrer Verletzungen.10 

    Am Abend des 17. Juni war in Berlin die „Ordnung weitgehend wieder hergestellt“ und in den folgenden Tagen flauten die Unruhen auch in den anderen Teilen der DDR allmählich ab. Die Unzufriedenheit blieb jedoch bestehen; immer wieder streikten in den folgenden Monaten ganze Betriebsbelegschaften oder verweigerten den Parteileitungen die Gefolgschaft. 

    Die Abrechnung

    Sowjetische Truppen und Kasernierte Volkspolizei waren kaum in die Kasernen zurückgekehrt, da begann die Abrechnung. Für die Kommunisten schien die Sache eindeutig: Der Aufstand war von außen geschürt worden. In einem SED-internen Bericht hieß es, „feindliche Kräfte unter direkter Beteiligung und Führung amerikanischer Stellen und der Volksfeinde in Bonn [organisierten] in der Zeit vom 16. bis 22.6.53 den Versuch eines faschistischen Umsturzes in der DDR.“  Nicht nur intern, sondern auch in offiziellen Verlautbarungen verwies die DDR immer wieder auf den Einfluss des Rundfunksenders RIAS, der von Westberlin aus die Geschehnisse angeheizt und manipuliert habe.

    Wo es Organisatoren gab, mussten auch Schuldige gefunden werden. Aus diesem Grund wurden in den folgenden Monaten mehr als 1500 „Provokateure des Putsches“ vor Gericht gestellt und zumeist verurteilt. Doch weder Propaganda noch Justiz konnten darüber hinwegtäuschen, dass die SED und ihr Machtapparat eine empfindliche Niederlage erlitten hatten und bloßgestellt worden waren. In einem Bericht der Staatssicherheit zu den Ereignissen im Bezirk Dresden hieß es etwa: „Es ist festzustellen, dass […] am 17.6., die Betriebsparteiorganisationen unserer Partei zum großen Teil versagt haben. Die Funktionäre waren zum Teil ratlos und entwickelten keinerlei Initiative, um die Lage zu klären. Es gibt auch Beispiele, dass Parteisekretäre bei der Verfassung von sogenannten Resolutionen dabei waren und zustimmten. Es zeigte sich, dass der Einfluss der Partei auf die Massen vollkommen ungenügend war und somit in vielen Fällen die führende Rolle der Partei nur theoretisch, aber nicht praktisch existiert.“ In einigen Fällen hätten etwa die Arbeiter nur noch mit „Gejohle und Geschrei auf die ‚Phrasen‘“ der Funktionäre reagiert.11 

    Moskauer Bilanzen

    Auch in Moskau wurde Bilanz gezogen. Während in der Parteizeitung Prawda formelhaft von „Provokateuren“ und „Faschisten“ die Rede war, die hinter den Ereignissen steckten, wurde der Aufstand auf höchster politischer Ebene instrumentalisiert. Anfang Juli 1953 versammelte sich das Zentralkomitee der KPdSU zu einem Plenum, um mit dem wenige Tage zuvor verhafteten ehemaligen Geheimdienstchef Lawrenti Berija abzurechnen. Zu den zahlreichen ihm zur Last gelegten Vergehen gehörte unter anderem auch der Vorwurf, er habe die DDR preisgeben und eine Wiedervereinigung unter „bürgerlichen“ Vorzeichen forcieren wollen. Berija wurde einige Monate später hingerichtet, weil er die Stabilität der sowjetischen kollektiven Führung gefährdete.12 

    Berijas Ende und der Volksaufstand hingen zunächst nur mittelbar miteinander zusammen. Doch beide Ereignisse trugen entscheidend dazu bei, dass die Frage einer (partiellen) Herauslösung der DDR aus dem sowjetischen Machtbereich bis 1989 nicht mehr zur Debatte stand. Zugleich wurde die Herrschaft Walter Ulbrichts, die zuvor auf tönernen Füßen gestanden hatte, durch die Protestwelle stabilisiert: Die Sowjetunion konnte es sich nicht leisten, Risse in ihrem Herrschaftsgefüge sichtbar werden zu lassen, obgleich die Kritik hinter verschlossenen Türen nicht abriss.13

    „Ist es so, dass morgen der 17. Juni ausbricht?“

    Der Kontrollverlust, der im Juni 1953 offenbar geworden war, war für die Genossen ein Schock. Fortan bestimmte der „Tag X“ ihr Denken und Handeln. Der Ausbau paranoid anmutender Überwachungs- und Repressionsapparate in der DDR – und die stets präsente Sorge, diese könnten im entscheidenden Moment versagen – lässt sich nicht zuletzt auf diese prägende Erfahrung zurückführen. In der oft zitierten Frage Erich Mielkes in einer Lagebesprechung im August 1989 „Ist es so, dass morgen der 17. Juni ausbricht?“ wird dies unmittelbar deutlich. Die Antwort eines Stasioffiziers „Der ist morgen nicht, der wird nicht stattfinden, dafür sind wir ja auch da“, vermochte Mielke vielleicht für den Augenblick zu beruhigen, verkannte indes den Ernst der Lage.14 Denn im Unterschied zum Juni 1953 war die Sowjetunion im Herbst 1989 nicht mehr bereit, die DDR-Führung zu unterstützen. Damit aber war die SED-Herrschaft am Ende, weil sie ein entscheidendes Mittel zur Machtsicherung verloren hatte.  


    1. Scherstjanoj, Elke (1998): Die sowjetische Deutschlandpolitik nach Stalins Tod 1953. Neue Dokumente aus dem Archiv des Moskauer Außenministeriums, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 46/3 (1998), S. 497-549 ↩︎
    2. Schöne, Jens (2023): Jenseits der Städte. Der Volksaufstand vom Juni 1953 in der DDR, Erfurt. Für eine Interpretation, die davon ausgeht, dass der Aufstand von Berlin ausging vgl. bspw.: Diedrich, Torsten (2003): Waffen gegen das Volk. Der 17. Juni in der DDR, München ↩︎
    3. SED: Lagebericht Nr. 4, 12.6.1953, in: Heydenreich, Ronny (Hrsg.): Der 17. Juni 1953. Berichte über den Volksaufstand aus Ostberlin und Bonn, Bd. 1 Berlin 2023, S. 110-117 ↩︎
    4. Bericht von „Hans Kraft“ (UfJ) über die Stimmung in der SED-Kreisleitung Königs Wusterhausen, 13.6.1953, in: Heydenreich (Hrsg.), Der 17. Juni 1953, Bd. 1, S. 287f. ↩︎
    5. Bericht von „A79/Dr. B. (UfJ) über die Gefangenenentlassung in Brandenburg/Havel, in: Heydenreich (Hrsg.), Der 17. Juni 1953, Bd. 1, S. 289f. ↩︎
    6. Organisation Gehlen: Einschätzung über den Volksaufstand, 29.6.1953, in: Heydenreich (Hrsg.), Der 17. Juni 1953, Bd. 3, S. 156-165 ↩︎
    7. Stasi Mediathek: Gesamtübersicht über die Ereignisse in den Tagen um den 17. Juni 1953 im Bezirk Dresden ↩︎
    8. zit. Nach: Diedrich, Waffen gegen das Volk, S. 94f. ↩︎
    9. Diedrich, Waffen gegen das Volk, S. 167-172 ↩︎
    10. bpb.de: Die Toten des Volksaufstands vom 17. Juni 1953 ↩︎
    11. Stasi Mediathek: Gesamtübersicht über die Ereignisse in den Tagen um den 17. Juni 1953 im Bezirk Dresden ↩︎
    12. Zur kollektiven Führung nach Stalins Tod: Wagner, Martin (2023): Stalins Tod und das Ende der Allmacht. Zur Transformation totalitärer Herrschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 20-21/2023, S. 35-40 ↩︎
    13. Novik, F.I. (2006): SSSR i sobytija v GDR v ijune 1953g, in: Sacharov, A.N. (Hg.): Trudy Instituta rossijskoj istorii, t. 6, Moskva, S. 305-326 ↩︎
    14. Wolle, Stefan (1996): „Ist es so, dass morgen der 17. Juni ausbricht?“ Der Volksaufstand in der DDR als Trauma, Hoffnung und Menetekel, in: Kirchliche Zeitgeschichte, 9/1 (1996), S. 111-118 ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Der Vertrag von Rapallo 1922 – Ein deutsch-(sowjet)russisches Jahrhundert-Abkommen

    Der Vertrag von Rapallo 1922 – Ein deutsch-(sowjet)russisches Jahrhundert-Abkommen

    Im Frühjahr 1922 findet in Genua eine Konferenz statt: Insgesamt 34 Staaten beraten darüber, wie das internationale Wirtschaftssystem nach dem Schock des Ersten Weltkrieges neu aufgestellt werden könnte. Auch die beiden Parias der Versailler Friedensordnung – Deutschland und Sowjetrussland – gehören zu den Teilnehmern. Am 16. April kommen am Rande der Konferenz die Delegationen beider Länder in Rapallo, einem Kurort nahe Genua zusammen. Das Abkommen, das sie unterzeichnen, wird von Zeitgenossen als Sensation aufgefasst – es soll die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts entscheidend beeinflussen. Als Vertrag von Rapallo geht es in die Geschichte ein und wird zu einem wichtigen Teil jenes deutsch-sowjetischen „Sonderwegs“, der 1939 zur gewaltsamen Aufteilung Ostmitteleuropas beitrug – und dessen Auswirkungen bis in unsere Gegenwart reichen:

     „Rapallo“ stand und steht für die Sorge vor einer zu engen Bindung Deutschlands an die Sowjetunion beziehungsweise Russland, die zu Lasten der anderen europäischen Staaten geht. Befürworter des Vertrags sahen in ihm hingegen ein Modell für die friedliche Koexistenz konkurrierender Gesellschaftssysteme. 

    Sowjetrussland und Deutschland gehörten auch vier Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zu den Außenseitern der internationalen Ordnung. Während Deutschland aufgrund seiner von den Siegermächten zugeschriebenen Verantwortung für den Ausbruch des Krieges weitgehend isoliert war, galt die Moskauer Sowjetregierung nach Revolutionen und Bürgerkrieg lange Zeit als inakzeptabler Verhandlungspartner. Beide Staaten litten insbesondere unter Wirtschaftssanktionen, Handelsembargos – und im deutschen Fall besonders dramatisch – den Reparationsforderungen, die im Vertrag von Versailles festgelegt worden waren. 

    In Genua hofften beide Staaten, bei den anderen europäischen Regierungen Verständnis für ihre Situation und ihre Forderungen zu finden. 

    Doch sowohl die deutsche als auch die sowjetrussische Delegation mussten feststellen, dass sie mit ihren Forderungen kaum durchdrangen: Weder waren die Sieger des Ersten Weltkriegs bereit, den Deutschen einen Teil der Reparationszahlungen zu erlassen, noch konnten die sowjetischen Diplomaten darauf hoffen, dass die Schulden des Zarenreichs gestrichen würden. 

    In dieser Situation unterzeichneten die beiden Außenminister Georgi Tschitscherin und Walther Rathenau ein bilaterales Abkommen. Die meisten Punkte der Übereinkunft, die nur sechs Artikel umfasste, waren unspektakulär: Beide Staaten vereinbarten die Aufnahme diplomatischer Beziehungen, räumten einander das Meistbegünstigungsrecht in Handelsfragen ein und erleichterten deutschen Unternehmen Investitionen in Sowjetrussland. Dabei erklärten die Vertragspartner eher vage, sie würden „den wirtschaftlichen Bedürfnissen der beiden Länder in wohlwollendem Geiste wechselseitig entgegenkommen“. Zudem erklärten sie den wechselseitigen Verzicht auf Reparationen oder die Begleichung sonstiger Kriegskosten oder -schulden.1 

    Der Geist von Rapallo

    Die eigentliche Bedeutung des Vertrags lag indes nicht in seinen konkreten Bestimmungen, sondern sie bestand in der Kooperation zweier Staaten, die – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen – die europäische Nachkriegsordnung ablehnten. Er bildete einen integralen Bestandteil der gegen den Versailler Vertrag gerichteten deutschen Revisionspolitik sowie der sowjetischen Bündnispolitik nach dem Scheitern sozialistischer Revolutionen in anderen Ländern. Der Vertrag richtete sich deshalb wesentlich gegen die Architekten und Profiteure dieser Ordnung: also gegen Großbritannien und Frankreich, aber auch ganz besonders gegen Polen.2 Überall in Europa wurde diese Botschaft verstanden. 

    Bis heute hält sich hartnäckig das Gerücht, der Vertrag sei ohne größere Vorbereitung vereinbart worden und eine unmittelbare Reaktion auf den unbefriedigenden Konferenzverlauf gewesen. Und tatsächlich verging vom konkreten Vertragsangebot der sowjetrussischen Delegation bis zur Unterzeichnung nur eine schlaflose Nacht, in der die Deutschen in einem Hotelzimmer beisammensaßen und beratschlagten. Diese sogenannte „Pyjamakonferenz“ trug – zumindest in der deutschen Geschichtswissenschaft – erheblich zur Legendenbildung bei. Doch die Zusammenarbeit hatte sich seit langem angebahnt: Die Bolschewiki suchten bereits seit Jahren den Ausgleich mit Deutschland. Allerdings hatten sich die Rahmenbedingungen seit dem Friedensvertrag von Brest-Litwosk 1918 entscheidend gewandelt. Musste die Führung um Lenin damals erhebliche Konzessionen machen, um sich überhaupt an der Macht zu halten, kamen die Abgesandten Moskaus vier Jahre später als Sieger des russischen Bürgerkriegs nach Genua. 

    Rapallo – Vorgeschichte des Hitler-Stalin-Paktes?

    Die Interessen beider Seiten ergänzten sich: Die sowjetrussische Seite benötigte ausländisches Kapital und Know-How für den wirtschaftlichen Wiederaufbau. Deutschlands Industrie war auf der Suche nach neuen Absatzmärkten und Rohstofflieferungen. Angesichts dieser offensichtlichen Komplementarität lag eine ökonomische Zusammenarbeit auf der Hand. Deutsche Unternehmen wie Krupp, Otto Wolff, die AEG, Siemens ließen sich daher die Gelegenheit nicht nehmen, mit dem „Klassenfeind“ zügig geschäftliche Beziehungen aufzubauen.3 Gebündelt wurden die ökonomischen Interessen im Russlandausschuss der Deutschen Wirtschaft, einer am Reichsverband der Deutschen Industrie angedockten Institution. Sie wurde nach 1945 im Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft wieder gegründet und übersetzte das Ziel der politischen Annäherung durch Handel maßgeblich in praktische Wirtschaftsbeziehungen.4

    Hinzu kam die enge Kooperation auf militärischem Gebiet. Auch wenn dieses Thema im Vertrag von Rapallo nicht erwähnt wurde, so stand das Abkommen doch am Beginn einer intensiven Zusammenarbeit von Reichswehr und Roter Armee. In der Sowjetunion entstanden Testzentren der Luftwaffe, und es wurden Versuche mit Waffensystemen durchgeführt, die Deutschland nicht einmal besitzen durfte. Sowjetische Offiziere erhielten Zugang zum überlegenen strategischen und taktischen Wissen der Deutschen. Diese enge Zusammenarbeit war essentiell für das Aufrüstungsprogramm der Nationalsozialisten nach 1933, und sie trug zur Professionalisierung der Roten Armee bei.

    Aus all diesen Gründen gehört der Vertrag von Rapallo zur Vorgeschichte des Hitler-Stalin-Pakts vom 23. August 1939. Doch es führt keine direkte Linie zu diesem „Teufelspakt“ mit dem die beiden Diktatoren Ostmitteleuropa unter sich aufteilten. Denn auch wenn Nationalsozialisten und Bolschewiki Todfeinde waren, so hatten sie doch gemeinsame Interessen, die zu Beginn des Zweiten Weltkriegs eine Kooperation für beide Seiten sinnvoll erscheinen ließen. Erst mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 endete die Zusammenarbeit der beiden Diktaturen. 

    Rapallo-Komplex und die „deutsche Frage“

    Nach dem Zivilisationsbruch des Zweiten Weltkriegs und der deutschen Teilung blieb der „Rapallo-Komplex“ eine weithin verständliche Chiffre für eine mögliche Annäherung der Bundesrepublik an die Sowjetunion zu Lasten ihrer westlichen Bündnispartner. Dahinter stand die lange Zeit insbesondere in Großbritannien und Frankreich artikulierte Sorge, dass die Regierung in Bonn auf diese Weise versuchen könnte, sowjetische Zusagen zur Lösung der „deutschen Frage“ zu erhalten. Alle deutschen Bundeskanzler – von Konrad Adenauer bis Helmut Kohl – wurden mit diesem Problem konfrontiert und mussten öffentlich versichern, dass es für die Bundesrepublik keinen „Weg zurück nach Rapallo“ gibt.5

    Angesichts der fortschreitenden europäischen Integration, der bundesdeutschen Mitgliedschaft in der NATO und insbesondere angesichts des KSZE-Prozesses, zu dessen Grundlagen die friedliche Koexistenz unterschiedlicher politischer Systeme gehörte, verlor „Rapallo“ langsam seinen unmittelbaren Aktualitätsbezug.6 Dies änderte sich jedoch Mitte der 1980er Jahre. Osteuropäische Intellektuelle wie Ágnes Heller und Ferenc Fehér artikulierten ihre Sorge vor einem „Osteuropa unter dem Schatten eines neuen Rapallo“. Denn, so befürchteten sie, der Preis für eine mögliche Wiedervereinigung Deutschlands bestehe in der dauerhaften Unterwerfung der Staaten Osteuropas unter sowjetische Dominanz.7 

    Zugleich gab es lagerübergreifende Versuche, Rapallo als „Modell für Europa“ zu rehabilitieren. In der Bundesrepublik und in der DDR fanden solche Überlegungen überall dort Anklang, wo die Sorge vor einem alles vernichtenden Atomkrieg besonders präsent war. Dem Verweis auf „Rapallo“ lag dabei die Vorstellung zugrunde, dass es allen Differenzen zum Trotz übergeordnete gemeinsame Interessen „zwischen Ost und West“ gäbe. In der Sowjetunion wurden angesichts der Abrüstungsgespräche mit den USA nun ebenfalls neue Töne angeschlagen: Nun gehe es nicht mehr um eine „Politik der Stärke, sondern um die Stärke der Politik“, erklärte etwa der sowjetische Journalist und Spitzenfunktionär Lew Tolkunow.8 Und der Historiker Alexander Tschubarjan beschrieb Rapallo als „Ausdruck des politischen Realismus“ und „Grundlage auch für die Beziehungen des Sowjetstaats mit anderen Ländern“.9 Aus einer anderen Perspektive priesen Wirtschaftshistoriker wie Manfred Pohl die „deutsch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen zwischen den beiden Weltkriegen [als] ein Musterbeispiel für die Kooperation zwischen Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung. Das Deutsche Reich läßt sich hier als Vorreiter im modernen Ost-West-Handel darstellen“.10

    Wiedervereinigung und deutsch-russische „Modernisierungspartnerschaft“

    In Westeuropa und in den USA erlebte die Sorge vor einem neuen Rapallo in den Jahren 1989/90 eine Renaissance. Nun stand die Frage der deutschen Einheit auf der Tagesordnung und damit auch die gesamte europäische Sicherheits- und Bündnisarchitektur. Erneut wurde die Sorge laut, Deutschland würde die staatliche Einheit um den Preis der Bündnistreue erlangen wollen. Doch zur Überraschung aller erklärte die Sowjetunion sowohl ihr Einverständnis zur deutschen Wiedervereinigung als auch zur NATO-Mitgliedschaft der Bundesrepublik. Auch wenn der britische Economist das entscheidende Treffen zwischen Helmut Kohl und Michail Gorbatschow im Juli 1990 in Gorbatschows Heimatregion Stawropol als „Stawrapallo“ bezeichnete11, bestand das Ergebnis gerade nicht in einem deutsch-sowjetischen Sonderweg. Vielmehr schien Deutschland die letzte Etappe des „langen Wegs nach Westen“ anzutreten.12

    Doch in der heutigen Rückschau müssen die deutsch-russischen Beziehungen der letzten 30 Jahre anders gewichtet werden: Zwar blieb Deutschland durch Mitgliedschaft in NATO, EU und in anderen supranationalen Organisationen fest „im Westen“ verankert. Gleichwohl wurde eine deutsch-russische „Modernisierungspartnerschaft“ integraler Bestandteil deutscher Ostpolitik in allen Bundesregierungen unter Kohl, Schröder und Merkel. Russland wiederum hofierte deutsche Unternehmen, deren Expertise und Kapital dringend für die Modernisierung der desolaten Wirtschaft benötigt wurde. Nord Stream 2 war nur das prominenteste Beispiel eines deutsch-russischen Sonderverhältnisses, das Deutschland in eine gefährliche Abhängigkeit von russischen Importen und russischem Einfluss besonders im Energiesektor brachte. Diese – insbesondere in Osteuropa misstrauisch beäugten und vielfach kritisierten – deutsch-russischen Beziehungen stehen in einem historischen Zusammenhang mit dem Vertrag von Rapallo.


    1. 1000dokumente.de: Der deutsch-russische Vertrag (Rapallo-Vertrag), 16. April 1922 ↩︎
    2. So etwa Müller, Rolf-Dieter (2011): Der Feind steht im Osten: Hitlers geheime Pläne für einen Krieg gegen die Sowjetunion, Berlin, S. 31 ↩︎
    3. Lutz, Martin (2011): Siemens im Sowjetgeschäft: Eine Institutionengeschichte der deutsch-sowjetischen Beziehungen 1917– 1933, Stuttgart ↩︎
    4. Perrey, Hans-Jürgen (1985): Der Rußlandausschuß der Deutschen Wirtschaft: Die deutsch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen der Zwischenkriegszeit: Ein Beitrag zur Geschichte des Ost-West-Handels, München ↩︎
    5. Hennes, Michael (1990): Zeitenwende – Deutschland, die Bündnisse und Europa, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 9/1990, S. 571 ↩︎
    6. Schulze-Wessel, Martin (2001): Rapallo, in: Francois, Étienne/Schulze, Hagen (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte, München, S. 537-551 ↩︎
    7. Heller, Ágnes/Fehér, Ferenc (1985): Osteuropa unter dem Schatten eines neuen Rapallo, in: Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, 15 (60) 1985, S. 17-51. Replik darauf: Süß, Walter (1985): „Rapallo“, Entspannungspolitik und Friedensbewegung: Eine Antwort auf F. Fehér und A. Heller, in: Ebd., S. 52-76 ↩︎
    8. Tolkunov, Lev (1987): Nicht die Politik der Stärke, sondern die Stärke der Politik, in: Hörster-Phillips, Ulrike u. a. (Hrsg.): Rapallo – Modell für Europa? Friedliche Koexistenz und internationale Sicherheit heute, Köln, S. 296-308 ↩︎
    9. Čubarjan,Alexander (1985): Der Weg Sowjetrusslands nach Rapallo (1917–1922), in: Ebd., S. 190-198 ↩︎
    10. Pohl, Manfred (1988): Geschäft und Politik: Deutsch-russisch/sowjetische Wirtschaftsbeziehungen; 1850–1988, Mainz, S. 110 ↩︎
    11. Encounter at Stavrapallo, in: The Economist 21.7.1990, S. 47-48 ↩︎
    12. Winkler, Heinrich-August (2000): Der lange Weg nach Westen. Bd. 2. Deutsche Geschichte vom „Dritten Reich“ bis zur Wiedervereinigung, München ↩︎

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  • Felix Edmundowitsch Dsershinski

    Felix Edmundowitsch Dsershinski

    Als Felix Edmundowitsch Dsershinski im Sommer 1926 an der Moskauer Kremlmauer bestattet wird, ehren ihn einige seiner Genossen mit einem besonderen Grabschmuck: Ihr Trauerkranz besteht nicht aus Blumen, sondern aus Gewehren, Handgranaten und Patronen. Nichts passt ihrer Ansicht nach besser zum „eisernen Felix“, dem gefürchteten Begründer der sowjetischen Geheimpolizei Tscheka.   
    Bis heute wird dieses ungewöhnliche Objekt stolz präsentiert – im Museum des russischen Geheimdienstes FSB in der Lubjanka, wo eine direkte Traditionslinie von Dsershinskis Kampf gegen die „Konterrevolution“ bis in die Gegenwart gezogen wird.  

    Foto © Arbeiter-Illustrierte-Zeitung, 1926/Wikimedia, Public Domain
    Foto © Arbeiter-Illustrierte-Zeitung, 1926/Wikimedia, Public Domain

    Der Werdegang des 1877 geborenen Felix Dsershinski (poln. Feliks Dzierżyński) war in vielerlei Hinsicht typisch für Berufsrevolutionäre im russischen Imperium. Der Sohn eines verarmten polnischen Adligen stammte aus der Peripherie des Reichs und fand bereits als Schüler Zugang zu sozialistischen Lesezirkeln. Nachdem er wegen „revolutionärer Aktivität“ des Gymnasiums verwiesen worden war, begann sein Aufstieg in der sozialistischen Bewegung – mit all dem, was für Männer und Frauen seines Schlags dazugehörte.1 Dsershinski führte nun das Leben eines Revolutionärs: Er organisierte Streiks, agitierte, konspirierte und wurde binnen weniger Jahre zu einem der wichtigsten polnischen Marxisten; Fraktions- und Richtungskämpfe inklusive. In einem Polizeibericht hieß es über den jungen Mann, „angesichts seiner Ansichten, Überzeugungen und seines Charakters, wird er in der Zukunft sehr gefährlich werden und zu jedem Verbrechen fähig sein“. Immer wieder wurde er verhaftet, verurteilt, verbannt und gefoltert. Die (Gewalt-)Erfahrungen, die er während seiner Haftzeiten machte, hatten seine Gesundheit weitgehend ruiniert und seinen Hass auf die „Bourgeoisie“ nur noch verstärkt. Als Felix Edmundowitsch nach der Februarrevolution 1917 freikam, hatte er insgesamt elf Jahre in Gefängnissen oder in der Verbannung zugebracht; länger als die meisten anderen führenden Bolschewiki. 

    Beginn des „Roten Terrors”

    In den Auseinandersetzungen des Revolutionsjahres unterstützte er Lenins kompromisslose Linie, die schließlich im Umsturz des Oktobers 1917 gipfelte. Kurz darauf wurde ihm die Aufgabe übertragen, die „Außerordentliche Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution und Sabotage“ aufzubauen, die sowjetische Geheimpolizei Tscheka.2 Der „zuverlässige proletarische Jakobiner“ Dsershinski übernahm den Auftrag und erklärte: „Glaubt nicht, Genossen, dass ich nach einer Art revolutionsadäquaten Gerechtigkeit suche. Wir können mit ‚Gerechtigkeit‘ nichts anfangen! Wir befinden uns im Krieg, und zwar an der grausamsten aller Fronten, denn der Feind ist maskiert auf dem Vormarsch, und es ist ein Kampf um Leben und Tod! Mein Vorschlag, meine Forderung zielt auf die Bildung eines Organs, das auf revolutionäre und unverkennbar bolschewistische Weise mit den Konterrevolutionären abrechnet!“3 

    Was Dsershinski hier formulierte, war letztlich das Programm des „Roten Terrors“, mit dem die Tscheka ab dem Frühjahr 1918 das Land überzog. Tatsächliche und vermeintliche Gegner des Regimes wurden ohne Verfahren inhaftiert, enteignet, gefoltert und ermordet. Zehntausende Menschen fielen diesem Terror zum Opfer. Je prekärer sich die militärische Lage für die Bolschewiki im Bürgerkrieg entwickelte, desto brutaler gingen die Tschekisten an der Spitze vor. Dabei konnten sie stets auf die Unterstützung Lenins zählen, der immer wieder radikalste Maßnahmen forderte. 

    Überall dort, wo die Tschekisten aktiv waren, kam es zu grausamen Taten. Eine der unzähligen furchtbaren Episoden des Terrors hielt die Petersburger Dichterin Sinaida Hippius in ihrem Tagebuch fest: „Neulich erschoß man Professor Boris Nikolski. Sein ganzer Besitz und die kostbare Bibliothek wurden konfisziert. Seine Frau wurde wahnsinnig. Es blieben eine Tochter von achtzehn und ein Sohn von siebzehn Jahren zurück. Dieser Sohn wurde neulich auf den »Wseobutsch« (Behörde für allgemeine Kriegsausbildung) zitiert. Er erschien. Der Kommissar erklärte ihm lachend (so witzig sind diese Kommissare!): »Wissen Sie, wo die Leiches ihres Herrn Papa ist? Wir haben sie an die Tiere verfüttert.«“4 
    Als der Terror immer weiter eskalierte, versuchten einige führende Bolschewiki dieser dramatischen Entwicklung Einhalt zu gebieten – ausgerechnet als sich Dsershinski im Herbst 1918 für einige Wochen inkognito in der Schweiz aufhielt. Doch Lenin hatte begriffen, dass die Revolution ohne Gewalt zum Scheitern verurteilt war. Deshalb hielt er seine schützende Hand über die Tscheka und ihren Anführer.

    Im Vergleich zu Lenin oder Stalin ist Dsershinski im heutigen Russland eher eine historische Randfigur / Foto © Maksim Blinov/Sputnik
    Im Vergleich zu Lenin oder Stalin ist Dsershinski im heutigen Russland eher eine historische Randfigur / Foto © Maksim Blinov/Sputnik

    Auch wenn viele seiner Männer zu brutalen Exzessen neigten und ihren Gewaltphantasien freien Lauf ließen, erschien der Überzeugungstäter Dsershinski stets beherrscht. Doch gerade seine scheinbare Ruhe wirkte auf viele Beobachter gefährlich. Der britische Diplomat und Agent Bruce Lockhart, der Dsershinski 1918 mehrfach begegnete, beschrieb ihn als „Mann mit korrekten Manieren und ruhiger Sprache, aber ohne einen Funken Humor in seinem Charakter. Das Bemerkenswerteste an ihm waren seine Augen. Tief eingesunken, loderten sie mit einem stetigen Feuer des Fanatismus. Sie zuckten nie. Seine Augenlider schienen gelähmt zu sein“.5 

    „Bester Freund der Waisenkinder“

    Dsershinski erhielt immer weitreichendere Kompetenzen und Aufgaben. Besonders markant – und von erheblicher Bedeutung für seine spätere Bewertung – war dabei sein Engagement als „bester Freund der Waisenkinder“. In der Sowjetunion lebten hunderttausende Kinder auf der Straße die durch Krieg, Revolution, Bürgerkrieg und Hunger entwurzelt waren. Sie mussten versorgt und untergebracht werden. Mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln und Methoden organisierte die Tscheka ab Beginn der 1920er Jahre Kinderheime und andere Einrichtungen. Doch ging es dabei nicht nur darum Leid zu lindern, sondern auf diese Weise sollten künftige Verteidiger des Kommunismus herangezogen werden. Der oberste Tschekist formulierte dies so: „Die Sorge um die Kinder ist das beste Mittel um die Konterrevolution auszurotten.“6 
    Mit den Jahren hatte Dsershinski immer neue Ämter erhalten: Im Frühjahr 1919 wurde er – parallel zu seinen bisherigen Verpflichtungen – zum Volkskommissar des Inneren ernannt, 1921 übernahm er das Amt des Volkskommissars für das Verkehrswesen und ab 1924 leitete er den Obersten Rat für Volkswirtschaft der UdSSR. 

    Nach dem plötzlichen Tod des „Eisernen“ im Juli 1926 – er war unmittelbar nach einer Rede auf dem ZK-Plenum zusammengebrochen – setzte die Legendenbildung ein. Stalin attestierte ihm, er habe eine „Hand aus Stahl“ gehabt und Majakowski dichtete: „Dem jungen Menschen, der sich am Scheideweg ein Vorbild fürs Leben sucht, dem empfehle ich ohne lange zu überlegen: ‚Lebe dem Genossen Feliks nach!‘“7
    Überall in der Sowjetunion wurden Straßen, Orte, Fabriken und Kommunen nach dem Verblichenen benannt und Denkmäler zu seinen Ehren errichtet.8 Im Stalinismus wurde Felix Edmundowitsch als Gründer der sowjetischen Geheimpolizei verehrt und als unerbittlicher Kämpfer gegen die Konterrevolution gefeiert. 

    Das Denkmal an der Lubjanka

    Stalins Nachfolger Nikita Chruschtschow inszenierte Dsershinski hingegen auf andere Weise. In den Jahren des Tauwetters galt er als das tugendhafte Gegenmodell zum exzessiven Terror der Stalinjahre und stand für die Rückbesinnung auf die „wahren“ Werten der Leninschen Revolution. Aus diesem Grund wurde im Dezember 1958 vor der Geheimdienstzentrale Lubjanka eine Statue enthüllt, die schnell zum bekanntesten Abbild des Tscheka-Gründers überhaupt werden sollte. Im Zusammenspiel mit der gelben Fassade des Lubjanka-Gebäudes wurde das Denkmal zu einem markanten – und von vielen Menschen bewusst gemiedenen – Punkt in der Topographie des sowjetischen Moskaus. Er symbolisierte wie kein anderer Ort den umfassenden Zugriff und die permanente Gewaltdrohung des Staates.

    Im Zuge der von Michail Gorbatschow initiierten Öffnungspolitik ab Mitte der 1980er Jahre wurde auch die Rolle Dsershinskis als Begründer des sowjetischen Terrorsystems zunehmend kritischer diskutiert. Ein sichtbares Zeichen des neuen Denkens war ein tonnenschwerer Felsbrocken von den Solowezki-Inseln, wo noch unter Dsershinskis Ägide ein Gefangenenlager errichtet worden war, das zum Ausgangspunkt des stalinschen Gulag-Systems wurde. Die Menschenrechtsorganisation Memorial platzierte den Stein im Oktober 1990 vor der Lubjanka – unweit der Dsershinski-Statue. Diese Form der Erinnerungskonkurrenz an Täter und Opfer des Terrors fand im August 1991 ihr Ende. Unmittelbar nach dem gescheiterten Putsch gegen Gorbatschow forderte eine wütende Menge den Sturz des Dsershinski-Denkmals. Doch anstatt die elf Tonnen schwere Skulptur vom Sockel zu reißen, wurde sie sorgfältig demontiert und abtransportiert. Die Statue fand einen neuen Standort im Skulpturengarten nahe der Neuen Tretjakow-Galerie. Bis heute. 

    Am 23. August 1991 wurde das Denkmal Dsershinski vor der Lubjanka sorgfältig demontiert und abtransportiert / Foto © Igor Mikhalev/Sputnik
    Am 23. August 1991 wurde das Denkmal Dsershinski vor der Lubjanka sorgfältig demontiert und abtransportiert / Foto © Igor Mikhalev/Sputnik

    Im Vergleich zu Lenin oder Stalin ist Dsershinski im heutigen Russland eher eine historische Randfigur, die von den einen als „eiserner“ Held verehrt, von den anderen hingegen als grausamer Mörder verabscheut wird. Von größerer Bedeutung als der Täter Dsershinski ist denn auch die Debatte um sein Denkmal. Viele Menschen verstanden die ikonischen Bilder der Demontage als Symbol für das Ende der Sowjetunion. Zugleich machte das Ende der Statue deutlich, dass die offene Rebellion gegen den Staat nicht nur denkbar, sondern möglich war. Unter diesen Umständen ist die Frage, was mit der Leerstelle im Herzen Moskaus geschehen soll, hochpolitisch.

    Seit drei Jahrzehnten ist der Platz, an dem die Statue gestanden hatte, physisch und symbolisch unbesetzt geblieben. Mehrfach gab es in der Vergangenheit Diskussionen darüber, was mit dem Ort geschehen sollte. War es sinnvoll, das alte Denkmal wieder aufzustellen? Sollte hier besser eine andere Figur der russischen Geschichte gewürdigt werden? Oder aber der Opfer des Kommunismus gedacht werden – wie es hier jedes Jahr am 30. Oktober, dem Gedenktag an die Opfer politischer Repressionen, der Fall ist? Ende Februar 2021 flammte die Debatte erneut auf. Dieses Mal konnten die Moskauer darüber abstimmen, ob Dsershinski auf den angestammten Platz vor der Lubjanka zurückkehren oder ob dort stattdessen ein Denkmal für den russischen Nationalhelden Alexander Newski errichtet werden sollte.9 Doch nach nur zwei Tagen beendete Moskaus Bürgermeister Sobjanin die Abstimmung mit dem Hinweis, es gebe momentan „aktuellere Fragen“.10 Und so bleibt der Platz vor der Geheimdienstzentrale vorerst weiter leer. Im Inneren der Lubjanka ist der „eiserne Felix“ ohnehin zu jeder Zeit traditionsbildend geblieben. 


    1. Umfassend: Lauchlan, Iain (2015): Young Felix Dzerzhinsky and the Origins of Stalinism, in: Kangaspuro, Markku/Oittinen, Vesa (Hrsg.): Discussing Stalinism: Problems and Approaches, Helsinki, S. 93-113 ↩︎
    2. Gründungsdokument: Auszug aus dem Protokoll Nr. 21 der Sitzung des Rates der Volkskommissare (SNK) [Gründung der Tscheka], 7. (20.) Dezember 1917, in: 100(0) Schlüsseldokumente zur russischen und sowjetischen Geschichte ↩︎
    3. zit. nach: Werth, Nicolas (1998): Ein Staat gegen sein Volk: Gewalt, Unterdrückung und Terror in der Sowjetunion, in: Courtois, Stéphane u. a. (Hrsg.): Das Schwarzbuch des Kommunismus: Unterdrückung, Verbrechen und Terror, München u. a., S. 71 ↩︎
    4. Hippius, Sinaida (1993): Petersburger Tagebuch, Berlin, S. 57-59 ↩︎
    5. Lockhart,Bruce (1933): Memoirs of a British Agent, London, S. 257 ↩︎
    6. Cirkuljarnoe pis’mo VČK črezvyčajnym komissijam o prinjatii sročnych mer po ulučšeniji žizni besprizornych detej, (posle 27.1.1921), in: F. Ė. Dzeržinskij – Predsedatel‘ VČK-OGPU, 1917-1926 ↩︎
    7. Majakowski, Vladimir: Chorosho! (1927), hier zitiert nach der Ausgabe: Majakowski,Wladimir (1957): Gut und Schön: Ein Oktoberpoem, übersetzt von Hugo Huppert, Berlin ↩︎
    8. Bis heute tragen mehr als 1300 Straßen in der Russischen Föderation den Namen Dsershinskis, vgl. dazu: Katalog adresow: Dzeržinskogo ↩︎
    9. The Moscow Times: A Vote on Restoring a Secret Police Chief’s Statue Opens Old Wounds in Russia ↩︎
    10. Meduza: Sobjanin predložil ostanovit‘ golosovanie o pamjatnike na Lubjanke – i ne vybirat‘ meždu Aleksandrom Nevskim i Feliksom Dzeržinskim. Das unabhängige Portal Meduza, das seinen Sitz im lettischen Exil hat, berichtete außerdem, die Abstimmung habe vor allem von Nawalny ablenken sollen – letztlich hätten aber größtenteils kremlloyale Bürger ihre Stimme abgegeben: Počemu vlasti peredumali stavit‘ pamjatnik na Lubjanke ↩︎

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  • Hungersnot in der Sowjetunion 1932/33

    Hungersnot in der Sowjetunion 1932/33

    „Als meine ganze Familie [aufgrund von Hungerödemen] begann anzuschwellen, brachte ich meine Tante und ihre zwei Kinder zu meinem Vater. Während des gesamten Weges sah ich Menschen, die sich die Straße zum Getreidespeicher entlangschleppten. Dabei lasen sie aus dem Staub Körner auf, die nur sie selbst erkennen konnten. Einige unter ihnen brachen zusammen und starben auf der Stelle. Sie wurden auf die Seite geschafft und niemand beachtete sie mehr. Ist es ein Wunder, dass meine Haare begannen zu ergrauen, als ich vierzehn Jahre alt war?“, so erinnert sich der Ukrainer Iwan Alexijenko an das Jahr 1933, als die Hungersnot in der Sowjetunion ihren Höhepunkt erreichte. 

    1932/33 kam es überall im Land zu Versorgungsengpässen, doch in der Ukraine, in Kasachstan, dem Wolgagebiet, dem Nordkaukasus und anderen Regionen der Sowjetunion herrschte eine dramatische Hungerkatastrophe, der insgesamt zwischen fünf und sieben Millionen Menschen zum Opfer fielen.1 Die meisten Menschen starben in der Ukraine, wo rund 3,3 Millionen Tote zu beklagen waren. In der Ukraine ist der Holodomor heute integraler Bestandteil der nationalen Erinnerungskultur und gilt als Genozid. Diese Klassifizierung ist jedoch umstritten.

    Vielfach brachen Gemeinschaften angesichts der verheerenden Bedingungen auseinander / Foto © Zentrales Staatsarchiv der Republik Kasachstan für Film- und Fotodokumente sowie Tonaufnahmen
    Vielfach brachen Gemeinschaften angesichts der verheerenden Bedingungen auseinander / Foto © Zentrales Staatsarchiv der Republik Kasachstan für Film- und Fotodokumente sowie Tonaufnahmen

    Die Hungersnot der Jahre 1932/33 war eine direkte Folge der stalinschen „Revolution von oben“.  Mit der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, der Verfolgung der sogenannten Kulaken und immer höheren Ablieferungsquoten auf Getreide und Fleisch hatten die Bolschewiki die sowjetische Landbevölkerung seit 1928 permanent unter Druck gesetzt. 

    Der Weg in den Hunger 

    Die meisten Bauern fügten sich in ihr Schicksal und versuchten in den Kolchosen die ihnen auferlegten Pläne zu erfüllen. Wer ins Kreuzfeuer der Dekulakisierungskampagne geriet, wurde stigmatisiert, verbannt, verhaftet oder gar erschossen. Vielerorts erhoben sich Bauern und setzten sich gegen die Zumutungen des Staates zur Wehr. In diesen Auseinandersetzungen um die Zukunft des sowjetischen Dorfes setzten sich die Bolschewiki schließlich durch, weil sie mit einer Mischung aus rücksichtsloser Gewalt und Anreizen für ihre Anhänger operierten.2

    Die gute Ernte des Jahres 1930 schien den Befürwortern eines radikalen Kollektivierungskurses recht zu geben. Doch diese Erfolge kamen nicht wegen, sondern trotz des Umbaus der sowjetischen Landwirtschaft zustande. Bereits ein Jahr später zeichneten sich in einigen Regionen ernsthafte Versorgungsengpässe ab. Die Planer in Moskau focht das nicht an: Sie legten für 1932 noch höhere Ablieferungspläne für Kolchosen und die verbliebenen Einzelbauern fest. Ein erheblicher Teil der Ernte sollte nicht der Versorgung der eigenen Bevölkerung dienen, sondern ins Ausland exportiert werden, um das ehrgeizige sowjetische Industrialisierungsprogramm zu finanzieren. 

    Als im Verlaufe des Jahres 1932 deutlich wurde, dass die Ernte dramatisch hinter den Erwartungen zurückbleiben würde, nahm das Verhängnis seinen Lauf. Die Verantwortlichen in den Republiken und Regionen taten alles in ihrer Macht Stehende, die exorbitanten Vorgaben zu erfüllen. Dabei schreckten die Beschaffungskommandos oftmals auch nicht davor zurück, Futtergetreide für das Vieh und Saatgut zu beschlagnahmen. Damit aber verurteilten sie die Menschen faktisch zum Hungertod.3

    Hunger als Instrument der Herrschaftsdurchsetzung 

    Alle Versuche, die Planziele zu erreichen erwiesen sich als nutzlos. Auch deshalb zeigten sich die führenden Bolschewiki davon überzeugt, dass die Landbevölkerung bewusst „Sabotage“ betrieb und begriffen den Hunger als eine Form des Widerstands. Stalin selbst erklärte, manche Bauern würden lieber hungern, als ihre Ernte abzuliefern.3 Diese Wahrnehmung trug entscheidend dazu bei, dass die Hungerkrise zur Katastrophe wurde, denn die Lösung konnte unter diesen Umständen nicht in Hilfslieferungen, sondern nur in noch stärkerem Druck liegen. 

    Vor allem in der Ukraine, aber auch in anderen Regionen agierten die sowjetischen Funktionäre jetzt mit offenem Terror. Ganze Regionen wurden von der Außenwelt abgeriegelt, Familien und ganze Dörfer unter Arrest gestellt und den Menschen das letzte Getreide genommen.5 Dort, wo Getreide in betroffene Gebiete geschickt wurde, erwiesen sich die Lieferungen oft als unzureichend, und sie kamen außerdem oft nicht den bedürftigsten, sondern den leistungsfähigsten und loyalsten Personen zugute. Individuelles Überleben war vielfach an die Akzeptanz des sowjetischen Herrschaftsanspruchs gebunden. Auch wenn die Hungersnot nicht bewusst geplant und intendiert war, instrumentalisierten die führenden Bolschewiki um Stalin die Katastrophe für ihre Interessen: Sie erwies sich als mächtiges Instrument zur Herrschaftsdurchsetzung und Disziplinierung der Bevölkerung. 

    Die gesellschaftlichen Konsequenzen des Hungers 

    Die Hungersnot beeinflusste alle Bereiche menschlicher Existenz. Der dauerhafte Nahrungsmangel wirkte sich nicht nur gravierend auf die Körper der Hungernden aus, sondern auch auf soziale Zusammenhänge. Vielfach brachen Gemeinschaften angesichts der verheerenden Bedingungen auseinander. Hatten die meisten Bauern zu Beginn der Hungerkrise noch Anteilnahme gezeigt und Betroffenen geholfen, änderte sich dies, als immer größere Gruppen Mangel litten. Viele Menschen verloren das Vertrauen zueinander, Diebstahl und Morde waren an der Tagesordnung. Manchmal fiel auch das letzte Tabu, und es kam zu Fällen von Kannibalismus. Die Gesellschaft zerfiel.

    Die Gewalt nahm endemische Ausmaße an. In einem – wohl irrtümlich veröffentlichten – Leserbrief in einer Zeitung der kasachischen Stadt Akmolinsk hieß es etwa über die kasachischen Hungerflüchtlinge, die man als Otkotschewniki bezeichnete: „Der Rote Markt ist eröffnet worden, den man nur deshalb rot nennen kann, weil dort täglich rotes Blut fließt. In Gruppen oder allein reißen die Otkotschewniki den Händlern und Käufern die Lebensmittel aus den Händen und natürlich schlagen die Bestohlenen sie dafür bis aufs Blut, bis zur Bewusstlosigkeit, und manchmal schlagen sie sie tot.“

    Ganze Regionen wurden von der Außenwelt abgeriegelt, Familien und ganze Dörfer unter Arrest gestellt / Foto © Foto © Zentrales Staatsarchiv der Republik Kasachstan für Film- und Fotodokumente sowie Tonaufnahmen
    Ganze Regionen wurden von der Außenwelt abgeriegelt, Familien und ganze Dörfer unter Arrest gestellt / Foto © Foto © Zentrales Staatsarchiv der Republik Kasachstan für Film- und Fotodokumente sowie Tonaufnahmen

    Doch die Jahre des Hungers waren nicht nur eine Zeit des Gesellschaftszerfalls, denn auf sich allein gestellt konnte kaum jemand in dieser Krise bestehen. Viele Menschen taten sich in häufig verwandtschaftlich organisierten Überlebensgemeinschaften zusammen, innerhalb derer Zusammenhalt und gegenseitige Solidarität hoch waren.6

    In den meisten Regionen der Sowjetunion endete die Hungersnot im Herbst 1933; nicht zuletzt auch deshalb, weil die Parteiführung den Druck auf die Kolchosbauern in begrenztem Maße lockerte. Das massenhafte Sterben mochte vorüber sein, doch die demographischen und sozialen Folgen dieser Katastrophe blieben noch lange Zeit spürbar. 

    Genozid-Debatte 

    In der Sowjetunion durfte niemand vom Hunger sprechen. Das verordnete Schweigen endete erst in den späten 1980er Jahren, als im Zuge von Perestroika und Glasnost die „weißen Flecken“ der sowjetischen Geschichte thematisiert (und skandalisiert) wurden. Insbesondere in der Ukraine begannen viele Überlebende des Hungers nun damit, ihre Erlebnisse öffentlich zu artikulieren. 

    Diese Zeitzeugen fanden Gehör, weil die Erinnerung an den Hunger hier trotz aller Tabus stets präsent geblieben war und als Beleg für die antiukrainische Politik der Bolschewiki galt und gilt. Diese These verband sich mit dem vor allem von ukrainischen Emigranten in Nordamerika immer wieder geäußerten Überzeugung, beim Holodomor handele es sich um einen Genozid an der ukrainischen Nation. Im spannungsreichen russisch-ukrainischen Verhältnis seit 1991 wurde die Hungersnot von beiden Seiten immer wieder für tagespolitische Auseinandersetzungen instrumentalisiert. 

    Historiker wurden zu wichtigen Akteuren in diesen Debatten. Dabei besteht weitgehend Konsens darüber, dass die bolschewistische Führung um Stalin für die Hungersnot verantwortlich war. Der Konflikt entzündet sich jedoch an der Frage, ob sich im Handeln der sowjetischen Führer eine konkrete Vernichtungsabsicht erkennen lässt. Während dies für ukrainische Historiker unzweifelhaft feststeht,7 argumentieren viele ihrer russischen Kollegen, dass es sich bei der Hungersnot der Jahre 1932/33 um ein gesamtsowjetisches Phänomen handelte, von dem nicht allein die Ukraine betroffen war.  Auch unter „westlichen“ HistorikerInnen ist die Genozidfrage durchaus umstritten.8 

    Große Unterschiede lassen sich hinsichtlich der Bedeutung des Hungers in den nationalen Historiographien ausmachen: Während der Holodomor eines der zentralen Themen der ukrainischen Geschichtswissenschaft nach 1991 wurde (und bis heute ist), spielt die Hungersnot in Russlands Geschichtswissenschaft eine eher untergeordnete Rolle.9  

    In vielen aktuellen Arbeiten zum Hunger in der Sowjetunion steht die Genozid-Debatte nicht im Zentrum: Hier geht es etwa um die Rolle und Verantwortung von Funktionären auf der mittleren Ebene, lokale Dynamiken des Hungers oder um die gesellschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Hungersnöte.10Auch die Diskussion um die Opferzahlen dauert an.

    Erinnerungsdiskurse

    Die historiographische Auseinandersetzung mit der Hungersnot lässt sich von ihrer politischen Instrumentalisierung längst nicht mehr trennen. In der Ukraine ist der Holodomor ein zentraler Bestandteil der nationalen Identität, der seit 2006 offiziell als Genozid gilt und dessen Leugnung unter Strafe steht. Die Würdigung der Hungertoten durch ukrainische Politiker enthält meist auch eine antirussische Stoßrichtung, die seitens russischer Politiker entschieden zurückgewiesen wird. Eine spezifische russische Erinnerungskultur für die Opfer der Hungersnot gibt es nicht. 

    In Kasachstan, wo in Relation zur Gesamtbevölkerung die meisten Menschen während der Hungersnot starben, versuchten sowohl Staat als auch Historiker, Konflikte mit Russland über diese Frage zu vermeiden. Rund 1,7 Millionen Kasachen kamen hier ums Leben; etwa ein Drittel der ethnischen Kasachen. Dennoch spielte die Hungersnot in Kasachstan jahrzehntelang kaum eine Rolle, sieht man einmal von einer Phase zu Beginn der 1990er Jahre ab. Zu groß schien der kasachischen Führung das Risiko eines Konflikts mit Russland und zu besorgt war sie angesichts der multiethnischen Bevölkerungszusammensetzung Kasachstans. Erst in den letzten Jahren änderte sich dies und die Hungersnot wurde zum Gegenstand offizieller kasachischer Erinnerungsdiskurse. Die Schuldfrage tritt dabei zugunsten der Betonung menschlichen Leids in den Hintergrund.11

    Die Konflikte und widerstreitenden Positionen in Politik und Geschichtswissenschaft der betroffenen Staaten finden ihre Entsprechung in „westlichen“ Debatten. Mehrere Staaten – allen voran die USA –  haben den Holodomor offiziell als Genozid anerkannt und damit im ukrainisch-russischen Streit eindeutig Partei ergriffen. Unter dem Eindruck des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine hat die Diskussion auch in Deutschland an Dynamik gewonnen. Der Bundestag hat am 30. November 2022 eine Resolution verabschiedet, wonach der Holodomor als „Menschheitsverbrechen“ anerkannt wird, aus heutiger Perspektive liege „eine historisch-politische Einordnung als Völkermord nahe“. Ein Ende der Debatten um den genozidalen Charakter des Holodomor ist indes nicht zu erwarten.


    1. Die Opferzahlen sind umstritten. Es kursieren auch wesentlich höhere Angaben, die teilweise von mehr als zehn Millionen Opfern allein in der Ukraine ausgehen. Die genaue Zahl der Hungertoten wird sich nicht ermitteln lassen, da die Toten vielfach nicht registriert wurden. ↩︎
    2. Zur Kollektivierung der sowjetischen Landwirtschaft und den Konflikten zwischen Staat und Bauern: Fitzpatrick,Sheila (1996): Stalin’s Peasants: Resistance and Survival in the Russian Village after Collectivization, New York; Viola, Lynne (2009): The Unknown Gulag: The Lost World of Stalin’s Special Settlements, New York ↩︎
    3. Der bekannte Dissident Lew Kopelew beteiligte sich als junger Mann an solchen Expeditionen in ukrainische Dörfer und hat in seinen Memoiren darüber berichtet. Kopelew, Lew (1981): Und schuf mir einen Götzen: Lehrjahre eines Kommunisten, München ↩︎
    4. So beschrieb Stalin seine Sicht der Dinge in einem Brief an den sowjetischen Schriftsteller Michail Scholochow, vgl. Werth, Nicolas (2002): Ein Staat gegen sein Volk: Das Schwarzbuch des Kommunismus: Sowjetunion, München, S. 143 ↩︎
    5. ausführlich: Applebaum, Anne (2017): Red Famine: Stalin’s War on Ukraine, New York, S. 186-221 ↩︎
    6. Kindler, Robert (2014): Stalins Nomaden: Herrschaft und Hunger in Kasachstan, Hamburg, S. 239-262 ↩︎
    7. Zentrale Positionen ukrainischer Historiker sind leicht zugänglich in: Sapper, Manfred/Weichsel, Volker (Hrsg.) (2004): Vernichtung durch Hunger: Der Holodomor in der Ukraine und der UdSSR (Osteuropa 12/2004) ↩︎
    8. zusammfassend: Applebaum, Red Famine, S. 320-362 ↩︎
    9. Eine Ausnahme stellen etwa die Arbeiten des wichtigsten russischen Experten zum Thema dar, vgl.: Kondrashin, Viktor (2008): Golod 1932-1933 godov: Tragedija rossijskoj derevni, Moskva ↩︎
    10. vgl. bspw.: Cameron, Sarah (2018): The Hungry Steppe: Famine, Violence, and the Making of Soviet Kazakhstan, Ithaca ↩︎
    11. Kindler, Stalins Nomaden, S. 338-348 ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Der Friedensvertrag von Brest-Litowsk

    Der Friedensvertrag von Brest-Litowsk

    Lenin hatte hoch gepokert. Aber hatte er auch gewonnen? Nach der Unterzeichnung des Friedensvertrags von Brest-Litowsk am 3. März 1918 wusste dies zunächst niemand so genau. Der Krieg mit den Mittelmächten war beendet, und Russland schied als Kriegspartei aus dem Ersten Weltkrieg aus.

    Scheinbar hatten die Bolschewiki damit eines ihrer wichtigsten Ziele erreicht: Frieden. Ohne diesen Friedensschluss werde die Revolution scheitern, denn die zerfallende russische Armee könne dem überlegenen deutschen Militär nichts entgegensetzen, hatte Lenin seine zögernden Genossen zuvor wieder und wieder beschworen.

    Doch besiegelte der Vertrag nicht zugleich auch das Ende der Bolschewiki? Schließlich verzichtete Russland auf mehr als ein Viertel seines europäischen Territoriums, 60 Millionen Menschen, einen großen Teil seiner Industriebetriebe, der agrarisch nutzbaren Flächen sowie wichtige Teile des Eisenbahnnetzes. Hinzu kam, dass die Ukraine bereits einige Wochen zuvor, am 9. Februar 1918, einem separaten Friedensvertrag mit den Mittelmächten, dem sogenannten Brotfrieden, zugestimmt hatte, durch den sich Deutschland und Österreich-Ungarn den Zugriff auf Getreide und andere Ressourcen gesichert hatten.

     Deutschland, seine Verbündeten und Russland unterzeichnen am 15.12.1917 in Brest-Litowsk ein Waffenstillstandsabkommen / Foto © Deutsches Bundesarchiv
    Deutschland, seine Verbündeten und Russland unterzeichnen am 15.12.1917 in Brest-Litowsk ein Waffenstillstandsabkommen / Foto © Deutsches Bundesarchiv

    Für die Mittelmächte bedeuteten die beiden Abkommen zunächst einen Triumph. Der Krieg im Osten war beendet, und in Ostmitteleuropa entstand 1918 ein ebenso gigantisches wie kurzlebiges Imperium unter vorwiegend deutscher Kontrolle. Die eroberten Territorien, Ressourcen und Menschen sollten es den Mittelmächten ermöglichen, den Krieg im Westen erfolgreich fortzusetzen.

    Die Verhandlungen in Brest-Litowsk hatten bereits Ende 1917 begonnen und erstreckten sich mit Unterbrechungen bis Anfang März. Die Bolschewiki, die im Dezember 1917 erst wenige Wochen an der Macht waren, unternahmen hier ihre ersten diplomatischen Gehversuche. Ihnen gegenüber standen erfahrene Diplomaten und Militärs aus Deutschland und Österreich-Ungarn.

    Schon äußerlich waren die Unterschiede erheblich: Hier trafen adlige Diplomaten und Offiziere in eleganten Uniformen und Anzügen, behängt mit Orden und Auszeichnungen, auf schlecht gekleidete Revolutionäre, die zum Teil erst vor Kurzem aus der Verbannung in Sibirien zurückgekehrt waren. Zur russischen Delegation gehörten zunächst auch „Repräsentanten“ der Revolution: jeweils ein Bauer, ein Soldat, ein Matrose und ein Arbeiter. Die Abgesandten aus Petrograd verweigerten sich allen diplomatischen Gepflogenheiten.

    Verhandlungen möglichst in die Länge ziehen

    So gegensätzlich wie die beteiligten Personen waren auch die Ziele, die sie in den Verhandlungen erreichen wollten: Den Mittelmächten ging es vor allem darum, so schnell wie möglich einen Siegfrieden zu schließen, der ihnen Territorien und Güter, vor allem Getreide, Kohle und Vieh, sichern sollte. Die Bolschewiki verfolgten hingegen andere Absichten. Als klar wurde, dass die Forderungen der Bolschewiki nach einem Frieden ohne Annexionen und Kontributionen für die Mittelmächte nicht annehmbar sind, sollte Brest-Litowsk als Propagandaplattform für den Revolutionsexport dienen. Aus diesem Grund bestand die sowjetrussische Delegation auch darauf, die internationale Öffentlichkeit ununterbrochen über die Gespräche zu informieren. Ihr Verhandlungsführer Leo Trotzki erinnerte sich später: „In die Friedensverhandlungen traten wir mit der Hoffnung ein, die Arbeitermassen Deutschlands und Österreich-Ungarns wie auch der Ententeländer aufzurütteln. Zu diesem Zweck war es nötig, die Verhandlungen möglichst in die Länge zu ziehen.“

    Weder Krieg noch Frieden

    Doch je länger die Verhandlungen andauerten, desto stärker wuchs die Ungeduld der deutschen Militärs, dem „Palaver“ der Diplomaten ein Ende zu setzen. Als der deutsche General Hoffmann im Januar 1918 erklärte, das russische Beharren auf dem Selbstbestimmungsrecht der Völker entbehre jeglicher Grundlage und ultimative Gebietsforderungen erhob, erbat Trotzki eine Verhandlungspause.

    Bild © Furfur/wikimedia
    Bild © Furfur/wikimedia

    In Petrograd traf er auf die Führung der Bolschewiki, die gespalten war zwischen jenen, die eine Fortsetzung und Ausweitung des Krieges zu einem revolutionären Bürgerkrieg forderten, und denjenigen, die für eine Annahme der Friedensbedingungen eintraten. Trotzki überzeugte seine Genossen, aus dem Krieg auszutreten, ohne einen Vertrag zu unterzeichnen: „Weder Krieg noch Frieden“ lautete seine Parole, als er im Februar an den Verhandlungstisch zurückkehrte.

    Doch was im Kreise der führenden Bolschewiki wie ein geglückter Kompromiss zwischen streitenden Fraktionen ausgesehen hatte, erwies sich als strategischer Offenbarungseid. Nachdem sich die Unterhändler der Mittelmächte von ihrer ersten Überraschung erholt hatten, nahmen die Militärs die Einladung zum ungehinderten Vormarsch dankend an. Innerhalb weniger Tage drang die deutsche Armee immer weiter nach Osten vor und bedrohte schließlich Petrograd. In höchster Not unterzeichnete die sowjetrussische Seite schließlich einen Vertrag, dessen Bedingungen sie einige Wochen zuvor noch als unannehmbar zurückgewiesen hätte. Lenin setzte diese Entscheidung mit dem Argument durch, dass sich nur so die Revolution – und damit die Hoffnung auf ihre Ausbreitung nach Westen – retten lasse.

    Perspektiven und Konsequenzen

    Die Reaktionen auf den Friedensschluss fielen unterschiedlich aus. In Russland mochten nur wenige Lenins Deutung folgen, dass die Revolution den Frieden als „Atempause“ zwingend benötigt hatte. Zu schwer wogen in den Augen der meisten die Verluste. Die Linken Sozialrevolutionäre, die bis dahin mit den Bolschewiki eine Koalitionsregierung gebildet hatten, zogen ihre Volkskommissare unter Protest zurück. Und auch unter den Kommunisten zweifelten selbst führende Kader an der Richtigkeit der getroffenen Entscheidungen: Viele hätten es bevorzugt, einen „revolutionären Krieg“ zu entfesseln, was angesichts der militärischen Situation nichts anderes als Selbstmord bedeutet hätte.

    Für die Gegner der Bolschewiki war die Sache ohnehin klar: Das Abkommen sei für Russland entehrend. In Deutschland waren die Meinungen gleichfalls geteilt. Während die Reichsleitung und konservative Schichten jubelten, da die Fortsetzung des Krieges gegen die Entente nun gesichert schien, warnten andere vor den unabsehbaren Konsequenzen des Abkommens: Was, wenn Russland künftig wieder erstarken und Revanche nehmen würde? Hätte man sich nicht mit Blick auf das von allen Vertragspartnern immer wieder betonte „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ entgegenkommender zeigen müssen?

    Bereits kurz nach Unterzeichnung des Vertrags zeigte sich, dass der Triumph der Mittelmächte keineswegs so eindeutig war, wie zunächst angenommen: die – zumindest rudimentäre – Besatzung und Verwaltung der eroberten Gebiete erforderte einen hohen personellen Aufwand und die Hoffnungen, die insbesondere in den Vertrag mit der Ukraine gesetzt worden waren, erfüllten sich nur teilweise: Die Lieferungen von Getreide, Vieh und anderen Rohstoffen liefen allenfalls schleppend an. Nicht selten bedurfte es zunächst erheblicher Investitionen, um im Krieg zerstörte Infrastrukturen wieder in Gang zu bringen.

    Momentaufnahme im dynamischen Prozess

    Der Vertrag von Brest-Litowsk war eine Momentaufnahme in jenem gewaltsamen und dynamischen Prozess, der die politische Ordnung Osteuropas grundlegend veränderte. Zunächst einmal trug das Abkommen entscheidend zum Sieg der Bolschewiki im russischen Bürgerkrieg bei, der 1918 in vollem Umfang ausbrach. Ohne die Bedrohung aus dem Westen konnten sie ihre militärischen Ressourcen ausschließlich für den Kampf innerhalb des Landes einsetzen. Vor allem dafür hatte sich Lenins hoher Einsatz gelohnt. Hinzu kam, dass im Vertrag von Versailles vom Mai 1919 die Verpflichtungen des Brest-Litowsker Abkommens annulliert wurden.

    Doch nicht nur für die Zukunft der Sowjetunion war der Vertrag entscheidend. Er trug wesentlich zur Entstehung unabhängiger Staaten bei: Polen, Lettland, Estland, Litauen und Finnland standen (zumindest für zwei Jahrzehnte) nicht länger unter russischer beziehungsweise sowjetischer Herrschaft. Anders verhielt es sich im Fall der Ukraine, die unter dem militärischen Schutz der Mittelmächte nur einige Monate formal unabhängig blieb.

    Die sowjetische und auch die russische Historiographie folgten in ihren Bewertungen des Vertrags weitgehend der bereits von Lenin vorgegebenen Linie: Das Abkommen sei mit erheblichen Opfern verbunden gewesen, zu denen es keine Alternative gegeben habe, da andernfalls eine totale Niederlage gedroht hätte.

    Deutsche Historiker haben sich neben einer minutiösen Rekonstruktion der Ereignisse am Verhandlungstisch unter anderem mit der Frage beschäftigt, ob Kontinuitätslinien zwischen dem Abkommen von 1918 und dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939 bestanden.

    In jüngster Zeit hat sich die Forschung verstärkt dem lange Zeit vernachlässigten Einfluss Brest-Litowsks auf die Staaten und Gesellschaften Ostmitteleuropas zugewandt und den Zusammenhang zwischen den Verhandlungen dort und jenen in Versailles betont. Damit wird deutlich: Die Geschichte des Vertrags von Brest-Litowsk ist nicht in erster Linie eine deutsch-russische, sondern eine europäische Geschichte. 


    Zum Weiterlesen
    Baumgart, Winfried (1966): Deutsche Ostpolitik 1918: Von Brest-Litowsk bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, Wien
    Chernev, Borislav (2017): Twilight of Empire: The Brest-Litovsk Conference and the Remaking of East-Central Europe, 1917-1918, Toronto
    Haffner, Sebastian (1988): Der Teufelspakt: Die deutsch-russischen Beziehungen vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg, Zürich
    Schattenberg, Susanne (2011): 1918 – Die Neuerfindung der Diplomatie und die Friedensverhandlungen in Brest-Litovsk, in: Stadelmann, Matthias/Antipow, Lilia (Hrsg.): Schlüsseljahre: Zentrale Konstellationen der mittel- und osteuropäischen Geschichte: Festschrift für Helmut Altrichter zum 65. Geburtstag, Stuttgart, S. 273-292

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    Historische Debattenschau: Friedensvertrag von Brest-Litowsk

  • Das Revolutionsjahr an der Peripherie

    Das Revolutionsjahr an der Peripherie

    Vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs im Jahr 1914 war das Russische Imperium das größte Land der Welt. Es erstreckte sich vom Königreich Polen bis zur Pazifikküste: Ein Vielvölkerreich, in dem über einhundert unterschiedliche ethnische Gruppen lebten. Russen selbst stellten dabei nur knapp die Hälfte der Gesamtbevölkerung. In vielen Regionen des Imperiums waren seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert Nationalbewegungen entstanden, die größere Autonomierechte einforderten und immer stärkeren Zulauf erhielten.

    Als im Zuge der Februarrevolution 1917 die Monarchie in sich zusammenfiel, schienen die Türen des russischen „Völkergefängnisses“, von dem nicht nur Karl Marx und Wladimir Lenin gesprochen hatten, endlich offen zu stehen. Überall im multiethnischen russischen Imperium artikulierten jetzt nationale Unabhängigkeitsbewegungen ihre Forderungen. Die Entwicklungen in den einzelnen Regionen verliefen dabei höchst uneinheitlich und waren abhängig von den Bedingungen vor Ort. Deshalb war das Jahr 1917 nicht nur das Jahr der Revolutionen in den Zentren des russischen Staates, sondern es war auch das Jahr, in dem etablierte Ordnungen an den Peripherien des Imperiums ihre Funktion verloren.

    Nach der Abdankung des Zaren Nikolaus II. im März 1917 hatten die Vertreter der Provisorischen Regierung und des Sowjets die Macht in der russischen Hauptstadt Petrograd übernommen. Doch auch sie waren nicht im Stande, die nationalen Revolutionen an den Rändern des Reiches zu kontrollieren, geschweige denn sie zu steuern. Immer neue politische Krisen, die Belastungen des fortdauernden Krieges und des Niedergangs der Wirtschaft nahmen die Protagonisten der „Doppelherrschaft“ derart in Beschlag, dass sie der Erosion des Imperiums vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit schenkten.

    Ohnehin verfügten sie nicht über die Machtmittel, um die Unabhängigkeitsbewegungen wirkungsvoll einzuhegen und lokale Konflikte zu befrieden. Sie konnten nur noch versuchen, das vollständige Auseinanderbrechen des Staates zu verhindern. Die Ereignisse in der Ukraine und in Zentralasien stehen beispielhaft für die komplizierten Dynamiken  des Jahres 1917 an der Peripherie.

    Unabhängigkeitsbewegung in der Ukraine

    Besonders einflussreich war die Unabhängigkeitsbewegung in der Ukraine. Als in Kiew Anfang März 1917 das Ende der Monarchie bekannt geworden war, formierte sich binnen weniger Tage die Zentralrada (dt. Rat) als Vertretung nationaler ukrainischer Interessen. Worin diese genau bestehen sollten, war dabei zunächst keineswegs ausgemacht. Denn obgleich es bereits seit dem 19. Jahrhundert eine starke ukrainische Nationalbewegung gegeben hatte, gelang es ihren Vertretern kaum, die bäuerliche Bevölkerungsmehrheit für ihre Ideen zu begeistern.

    1917 änderte sich dies. Die „nationale Frage“ rückte von nun an immer stärker in den Vordergrund ukrainischer Politik. Die lauter werdenden Autonomieforderungen hatten eine mobilisierende Wirkung und waren geeignet, die Rada als politische Institution zu legitimieren. Zugleich führte dies zu einer Radikalisierung politischer Unabhängigkeitsdiskurse.

    In der Ukraine rückte die „nationale Frage“ immer mehr in den Vordergrund. 1917 demontieren Arbeiter in Kiew ein Denkmal Stolypins, der als russischer Reformer bekannt war / Foto © unbekannt/The Historical Encyclopedia of Kyiv, Wikimedia
    In der Ukraine rückte die „nationale Frage“ immer mehr in den Vordergrund. 1917 demontieren Arbeiter in Kiew ein Denkmal Stolypins, der als russischer Reformer bekannt war / Foto © unbekannt/The Historical Encyclopedia of Kyiv, Wikimedia

    In Petrograd stießen die ukrainischen Autonomieforderungen parteiübergreifend auf Unverständnis und Ablehnung. Als die Zentralrada im Juni die Selbstbestimmung der Ukraine innerhalb einer Föderation zur zentralen Forderung erhob, erklärte die Provisorische Regierung, es handele sich dabei um „einen Akt der offenen Revolte“, und die Presse sah darin einen „Dolchstoß in den Rücken der Revolution.“1 Ein eilig ausgehandelter Kompromiss führte zwar zu einer Regierungskrise in Petrograd, vermochte aber den weiteren Staatszerfall zunächst abzuwenden.

    Revolution in Zentralasien

    Eine gänzlich andere Dynamik entwickelte sich in Zentralasien. Zunächst schien der Übergang in die neue Zeit hier weitgehend reibungslos zu funktionieren. Nach dem Vorbild der Hauptstadt entstanden in Taschkent und anderen Städten Doppelstrukturen aus lokalen Eliten, die sich der Provisorischen Regierung unterordneten, und Sowjets.

    Obgleich sich beide Seiten in vielfältigen Konflikten miteinander befanden, waren sie sich in einem Punkt stets einig: Die Revolution war eine Angelegenheit der Europäer, in der es für die indigene Bevölkerung keinen Platz geben sollte.

    Auch nach dem Ende des Zarenreiches sollte die etablierte Ordnung der Kolonialgesellschaft erhalten bleiben. Doch die revolutionären Ereignisse in den Städten vollzogen sich vor dem Hintergrund einer akuten Versorgungskrise, die schließlich in eine Hungersnot mündete und weite Teile der Region erfasste. Zugleich verschärften sich auf dem Land die Auseinandersetzungen zwischen europäischen Bauernsiedlern und der indigenen Bevölkerung. Diese Gewaltausbrüche waren zumindest teilweise eine direkte Folge des Aufstands von 1916 gegen die russische Kolonialmacht.

    Den Programmen und Absichten der unterschiedlichen Parteien kam in dieser akuten Krisensituation kaum Bedeutung zu. Wichtiger war es, dass die europäischen Bauernsiedler in den Vertretern des Sowjets ihre Repräsentanten sahen, wenn sie gegen Muslime vorgingen, die den weitaus größten Teil der Bevölkerung stellten. Damit wurde der Gegensatz zwischen Kolonisierern und Kolonisierten zum zentralen Konfliktfeld in Zentralasien.

    „Rechte der Völker Russlands“

    Nachdem die Bolschewiki um Lenin im Oktober 1917 die Macht übernommen hatten, widmeten sie eine ihrer ersten öffentlichen Deklarationen den „Rechten der Völker Russlands“. Darin hieß es unter anderem, dass alle Nationalitäten, das Recht auf „freie Selbstbestimmung, bis hin zur Loslösung und Bildung eines selbstständigen Staates“2 erhalten sollen.

    Diese Deklaration war einerseits konsistent mit den Grundzügen der bolschewistischen Nationalitätenpolitik wie sie maßgeblich von Joseph Stalin ausgearbeitet worden war.3 Andererseits diente sie vor allem taktischen politischen Zielen. Denn so sollten nicht nur Teile der Unabhängigkeitsbewegungen dazu bewogen werden, die Revolution der Bolschewiki zu unterstützen, sondern auch Konflikte innerhalb der heterogenen Nationalbewegungen geschürt werden.

    Das ukrainische Beispiel zeigt, dass die neue Regierung um Lenin gar nicht daran dachte, ihre Ankündigung in die Tat umzusetzen und die Ukraine in die Unabhängigkeit zu entlassen. Vielmehr ging es ihr darum, sie als Sowjetrepublik an sich zu binden. Demgegenüber erklärte die Zentralrada Anfang 1918 die Unabhängigkeit. Doch diese Episode endete bereits nach wenigen Tagen; Ende Januar besetzten rote Einheiten Kiew. Es bedurfte des Friedensvertrags von Brest-Litowsk und der Bedrohung durch die deutsche Armee, damit die sowjetische Regierung die Unabhängigkeit der Ukraine im März 1918 widerwillig anerkannte. Gestützt auf deutsche Waffen endete dieses Experiment nach dem Zusammenbruch des Deutschen Kaiserreiches.

    Gewalteskalationen des Bürgerkriegs

    Wie überall auf dem Territorium des ehemaligen Imperiums schufen die Ereignisse des Jahres 1917 auch in der Ukraine und in Zentralasien die Voraussetzungen für die Gewalteskalationen des Bürgerkriegs. In beiden Regionen entwickelte sich dieser Konflikt auf unterschiedliche Art und Weise, führte aber zu ähnlichen Ergebnissen.

    In der Ukraine spielten zunächst die Armeen der Mittelmächte eine erhebliche Rolle. Dennoch reichte die Macht der Kiewer Machthaber kaum über die Stadtgrenzen hinaus. Auf dem Lande agierten ganz unterschiedliche Gewaltakteure, die sich vielfach nicht in die Dichotomie von Weißen und Roten einordnen ließen.

    Nach Jahren des Kampfes trugen die Bolschewiki in der Ukraine und in Zentralasien schließlich den Sieg davon. Sie profitierten dabei von der Zerrissenheit ihrer Gegner, von ihrem kompromisslosen Gewalteinsatz und von der Bereitschaft größerer Bevölkerungsschichten, sich den Vertretern der Sowjetmacht als dem vermeintlich geringeren Übel anzuschließen. Doch die Bolschewiki konnten sich nicht in allen Teilen des ehemaligen Imperiums durchsetzen. Finnland, Polen und die baltischen Staaten wurden in Folge des Ersten Weltkriegs und der Revolution zu unabhängigen Staaten.

    Der Sieg der Roten Armee im Bürgerkrieg konnte die  Konflikte an den Peripherien des Sowjetstaates zunächst nicht dauerhaft einhegen. Daran änderte auch die Gründung nationaler Republiken ab Mitte der 1920er Jahre nichts.4 Während der Kampagnen zur Zwangskollektivierung der Landwirtschaft ab 1928 brachen sie mit größter Vehemenz erneut auf.5

    Als die Sowjetunion 1991 zerfiel, wurden die Protagonisten der Unabhängigkeitsbewegungen in vielen der nun souveränen Staaten zu Nationalhelden stilisiert. Auch heute gilt die oft nur einige Monate dauernde Phase staatlicher Eigenständigkeit nach 1917 – etwa im Falle der Ukraine – als wichtiger Bezugspunkt in der Nationalgeschichte.  


    Zum Weiterlesen
    Happel, Jörn (2016): Die Revolution an der Peripherie, in: Heiko Haumann (Hg.): Die Russische Revolution 1917, Wien, S. 91-104
    Zentralasien
    Khalid, Adeeb  (2015): Making Uzbekistan: Nation, Empire, and Revolution in the Early USSR, Ithaca
    Teichmann, Christian (2016): Macht ohne Grenzen: Stalins Herrschaft in Zentralasien: 1920-1950, Hamburg
    Ukraine
    Kappeler, Andreas (2014): Kleine Geschichte der Ukraine, München
    Schnell, Felix (2012): Räume des Schreckens: Gewalt und Gruppenmilitanz in der Ukraine 1905–1933, Hamburg

    1. Zitate bei Penter, Tanja (2017): Die Oktoberrevolution in der Peripherie: Das Beispiel Ukraine, in: Jahrbuch für historische Kommunismusforschung 2017, Berlin, S. 87-103, hier: S. 95 ↩︎
    2. Deklaration der Rechte der Völker Rußlands, 2. (15.) November 1917 ↩︎
    3. Stalin, J. W. (1945/1913): Marxismus und nationale Frage, Moskau ↩︎
    4. zur sowjetischen Nationalitätenpolitik: Martin, Terry (2001): The Affirmative Action Empire: Nations and Nationalism in the Soviet Union, 1923–1939, Ithaca ↩︎
    5. dazu: Schnell, Felix (2012): Räume des Schreckens: Gewalt und Gruppenmilitanz in der Ukraine, 1905–1933, Hamburg, S. 411–430; Edgar, Adrienne (2004): Tribal Nation: The Making of Soviet Turkmenistan, Princeton, S. 167–196 ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Russland im Ersten Weltkrieg

    Russland im Ersten Weltkrieg

    Russland sei nicht in der Lage, einen längeren Krieg durchzustehen. Davon war der einflussreiche konservative Politiker Pjotr Durnowo fest überzeugt. Im Februar 1914 warnte er in einer Denkschrift an Zar Nikolaus II. eindringlich vor den möglichen Folgen: „Die Unruhen werden damit beginnen, dass man die Regierung für alle Katastrophen verantwortlich macht. […] Die besiegte Armee, die ihre zuverlässigsten Männer verloren hat und von der primitiven bäuerlichen Gier nach Land mitgerissen wird, wird zu demoralisiert sein, als dass sie als Bollwerk für Gesetz und Ordnung dienen könnte […] und Russland wird in hoffnungslose Anarchie stürzen, deren Ausgang nicht vorauszusehen ist.“1

    Drei Jahre später sollten Durnowos Befürchtungen Realität werden. Im Ersten Weltkrieg zerfiel das Russische Imperium. Den Belastungen eines modernen Krieges war es nicht gewachsen.

    Der russische Staat war den Belastungen eines modernen Krieges nicht gewachsen / Foto © ITAR-TASS
    Der russische Staat war den Belastungen eines modernen Krieges nicht gewachsen / Foto © ITAR-TASS

    Zunächst schien nichts auf ein solches Szenario hinzuweisen. Wie überall in Europa, so löste der Beginn des Krieges auch in Russland Begeisterung aus. Als sich Zar Nikolaus II. am 2. August 1914, dem Tag der russischen Kriegserklärung, in der Öffentlichkeit zeigte, jubelten ihm die Menschen enthusiastisch zu. In den Zeitungen wurde der sichere Sieg beschworen, Intellektuelle glaubten, es beginne eine Zeit der nationalen Erneuerung und das russische Parlament, die Duma, erklärte seine Selbstauflösung, um der Regierung nicht „im Wege zu sein“.

    Russland verfolgte zu Beginn des Krieges ambitionierte Ziele. Von besonderer Bedeutung waren dabei die Eroberung Konstantinopels und der Meerengen. Darüber hinaus beanspruchte das Imperium Teile Ostpreußens, Galiziens sowie weitere Gebiete für sich. Und nicht zuletzt sollten die russischen Kriegsziele den Anspruch unterstreichen, Schutzmacht aller Slawen zu sein.  

    Krieg führen

    In den ersten Tagen und Wochen konnten russische Truppen eine Reihe von Erfolgen erzielen. Doch bereits Ende August 1914 gelang es den Deutschen bei der Schlacht von Tannenberg, die nach Ostpreußen eingedrungene russische Armee zu besiegen. Auch an den anderen Fronten in Galizien und den Karpaten kam es nach anfänglichen spektakulären Erfolgen zu Rückschlägen. Besser sah es indes an der dritten russischen Front im Mittleren Osten aus, wo das Imperium wichtige Siege über das Osmanische Reich errang.2

    Der Bewegungskrieg der ersten Kriegsmonate machte bald etwas festeren Frontlinien Platz, ohne freilich in einen Stellungs- und Grabenkrieg wie im Westen Europas zu münden. Bis zum Ende des Krieges kam es immer wieder zu großen Offensiven.

    Von Beginn an litt die Armee unter erheblichen Problemen, denn auf einen längeren Abnutzungskrieg war Russland nicht vorbereitet. Zu den verheerenden Verlusten an Menschen und Material kamen große Schwierigkeiten mit dem Nachschub. Die Verkehrsnetze waren nicht in der Lage, den immensen Bedarf der Truppen zu bewältigen. Immer wieder fehlte es an genügend Waffen, Munition und warmen Uniformen. Krankheiten breiteten sich in der Truppe aus. Gleichzeitig sank die Moral der Soldaten, unter denen die Überzeugung wuchs, sie würden sinnlos geopfert. Den überlegenen Ressourcen der Mittelmächte hatte die russische Armee in den kommenden Jahren trotz einer Reihe begrenzter Erfolge letztlich kaum noch etwas entgegenzusetzen. 

    „Innere Feinde“ und Führungskrise

    Im Krieg gerieten nationale Minderheiten unter Verdacht, mit den Feinden gemeinsame Sache zu machen. Als erstes traf es die in Russland lebenden Deutschen. In vielen Städten kam es zu antideutschen Ausschreitungen, die sowohl „deutsche“ Firmen trafen, aber auch vor der deutschen Botschaft nicht Halt machten. Die russische Hauptstadt Sankt Petersburg wurde in Petrograd umbenannt, und zahlreiche baltendeutsche Offiziere mussten ihren Abschied nehmen.

    Vor allem deportierten die Behörden hunderttausende Deutsche aus den westlichen Reichsteilen nach Sibirien und Zentralasien. Dies war jedoch nicht nur Ausdruck einer weit verbreiteten „Germanophobie“, sondern Teil des Bemühens von Militär und Regierung, in frontnahen Regionen ethnisch homogene Gebiete zu schaffen. Neben den deutschen Kolonisten wurden daher auch Teile der jüdischen Bevölkerung ins Landesinnere umgesiedelt.3 Im Verlaufe des Krieges wurden mehrere Millionen Menschen entwurzelt und vertrieben. Ein ganzes Imperium befand sich auf der Flucht, wie der Historiker Peter Gatrell es einmal formuliert hat.4

    Militärische Niederlagen und innere Krisen ließen das Vertrauen in die Führung zunehmend schwinden. Deshalb entschied sich Zar Nikolaus II. im August 1915, das Oberkommando über die Armee zu übernehmen. Doch dieser Schritt trug mehr als alles andere dazu bei, das Vertrauen in die Autokratie zu untergraben. Denn von nun an war der Herrscher, der von Militärangelegenheiten wenig verstand, persönlich verantwortlich für das Schicksal an den Fronten. 

    Krieg und Revolution

    Je länger der Krieg dauerte, desto deutlicher traten die strukturellen Schwierigkeiten zutage, die das Imperium schon seit langer Zeit plagten. Deshalb war der Krieg zwar nicht die einzige Ursache, wohl aber ein wesentlicher Auslöser für die Revolutionen des Jahres 1917. Der russische Staat zeigte sich den Belastungen eines modernen Krieges nicht gewachsen. Besonders betroffen war die Zivilbevölkerung. Ab 1915 nahmen Streiks, Demonstrationen und Hungerunruhen immer mehr zu. Im Winter 1916/17 erreichte die Krise ihren Höhepunkt, und es war schließlich eine Demonstration verzweifelter Frauen, die Brot für sich und ihre Familien forderten, aus der die Februarrevolution entstand.

    Die neuen Machthaber in Provisorischer Regierung und Sowjet übernahmen von der zarischen Regierung die Verantwortung für den Krieg. Dem Petrograder Sowjet gelang es durch den berühmten Befehl Nr. 1, der unter anderem festlegte, dass in allen Einheiten Soldatenkomitees gegründet werden und Soldaten weitgehende Mitspracherechte erhalten sollten, die Loyalität der Soldaten zu sichern. Zugleich trug dieser Befehl entscheidend dazu bei, die Disziplin innerhalb der Armee zu untergraben. Vielerorts begehrten die Soldatenräte gegen ihre Offiziere auf, setzten sie ab und wählten neue. Vor allem aber hofften die Frontsoldaten darauf, dass die Revolution ein Ende des Krieges bringen würde.

    Die Frage von Frieden und Krieg sollte in den kommenden Monaten zu einem Problem von entscheidender Bedeutung werden. Die Zusage der Provisorischen Regierung an die Alliierten, dass Russland seine Verpflichtungen erfüllt und nicht aus dem Krieg ausscheiden werde, löste nicht nur Demonstrationen und Streiks aus, sondern führte auch zu einer Regierungskrise.

    Sommeroffensive 1917

    Gleichzeitig gab es eine zweite Bewegung, die den Krieg als Ausdruck des „nationalen Geistes“ der Revolution begriff. Eine massive Offensive gegen die deutschen Stellungen, die am 1. Juli (18. Juni nach Julianischem Kalender) begann, sollte den Kampfgeist der Truppen heben und zugleich den Weg zum Frieden ebnen. Der russische Kriegsminister Alexander Kerenski erzeugte mit seinen flammenden Reden Begeisterungsstürme. Angesichts der scheinbaren Euphorie schlugen die Befürworter des Unternehmens alle Warnungen in den Wind: Zahlreiche Einheiten weigerten sich, zur Offensive anzutreten, und es häuften sich die Berichte über Meutereien und Desertationen. Als der Angriffsbefehl gegeben wurde, brach die Sommeroffensive schließlich rasch in sich zusammen.

    Die Niederlage war nicht nur ein militärisches Desaster, sondern sie trug direkt zu weiteren Krisen bei, als die Bolschewiki einen halbherzigen Aufstandsversuch unternahmen und der General Lawr Kornilow einen (bis heute umstrittenen) Putschversuch wagte.

    Es waren vor allem die Bolschewiki, die vom innenpolitischen Chaos profitierten, weil sie sich als einzige politische Kraft kompromisslos für ein sofortiges Ende des Krieges aussprachen. Unmittelbar nachdem sie im Oktober die Macht an sich gerissen hatten, forderten sie in ihrem ersten Dekret die sofortige Beendigung aller Kampfhandlungen und einen Frieden ohne jede Annexion. Die Mittelmächte ließen sich davon jedoch nicht beeindrucken und setzten ihren Vormarsch fort. Weil die Bauernsoldaten in Scharen die Armee verließen, sahen sich die neuen Machthaber gezwungen, in formale Friedensverhandlungen einzutreten. Nach langwierigen und komplizierten Gesprächen wurde im März 1918 der Vertrag von Brest-Litowsk unterzeichnet. Die Hoffnung der Bevölkerung auf ein Ende der Gewalt sollte sich als trügerisch erweisen. Der Staatenkrieg ging nahtlos in den Bürgerkrieg über, der erst 1921/22 endete.

    Vergessener Krieg

    In der Sowjetunion und in Russland spielte der Erste Weltkrieg in Erinnerungskultur und Geschichtspolitik lange Zeit nur eine untergeordnete Rolle. In der sowjetischen Geschichtsschreibung galt der „imperialistische Krieg“ als ebenso verhängnisvolle wie logische Konsequenz des Kapitalismus. Auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion gab es deshalb keine offiziellen Denkmäler, die an die Jahre 1914 bis 1917 erinnerten. Seine Relevanz bestand vor allem darin, zentral für die Vorgeschichte des Jahres 1917 zu sein. Hingegen bewahrte die Bevölkerung in vielen Regionen die Erinnerung an den „deutschen Krieg“.

    Nach dem Zerfall der Sowjetunion veränderte sich der Umgang mit dem Ersten Weltkrieg in Russland zunächst kaum. Eine eigenständige Erinnerung an die Jahre 1914 bis 1917/18 gab es praktisch nicht.5 Der Erste Weltkrieg war auch deshalb lange Zeit Russlands „vergessener“ Krieg, weil er mit dem „Makel“ des erfolglosen Krieges behaftet war.

    Erst in den letzten Jahren veränderte sich die Position der staatlichen Geschichtspolitik. 2012 wurde ein Gedenktag für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs eingeführt. Zugleich argumentieren staatsnahe Historiker, die Geschichte dieses Krieges zeige, dass Uneinigkeit und Revolution zum Staatszerfall und in die Katastrophe führen würden.6 Mit dem 100. Jahrestag des Kriegsausbruchs 2014 gewann die Memorialisierung noch einmal an Dynamik: So wurden sowohl in Moskau als auch in anderen russischen Städten mehrere Denkmäler und Gedenkorte für die Helden und Gefallenen des Ersten Weltkriegs enthüllt.7


    Zum Weiterlesen
    Figes, Orlando (1998): Die Tragödie eines Volkes: Die Epoche der Russischen Revolution 1891–1924, Berlin
    Gatrell, Peter (1999): A Whole Empire Walking: Refugees in Russia during World War I, Bloomington
    Gatrell, Peter (2005): Russia’s Great War: A Social and Economic History, Harlow
    Holquist, Peter (2002): Making War, Forging Revolution: Russia’s Continuum of Crisis, 1914–1921, Cambridge MA
    Sanborn, Joshua (2014): Imperial Apocalypse: The Great War and the Destruction of the Russian Empire, Oxford
    Sapper, Manfred/Weichsel, Volker (Hrsg.) (2014): Totentanz: Der Erste Weltkrieg im Osten Europas, in: Osteuropa 2-4, Berlin 

    1. zit. nach: Figes, Orlando (1998): Die Tragödie eines Volkes: Die Epoche der Russischen Revolution, 1891–1924, Berlin, S. 272 ↩︎
    2. Überblick bei: Sanborn, Joshua A. (2014): Russian Empire, in: Daniel, Ute/Gatrell, Peter/Janz, Oliver/Jones, Heather/Keene, Jennifer/Kramer, Alan/Nasson, Bill (Hrsg.): 1914–1918-online: International Encyclopedia of the First World War, Freie Universität Berlin ↩︎
    3. ausführlich: Gatrell, Peter (1999): A Whole Empire Walking: Refugees in Russia during World War I, Bloomington, S. 23-25 ↩︎
    4. ebd. ↩︎
    5. Cohen, Aaron J. (2003): Oh, That: Myth, Memory, and World War I in the Russian Emigration and the Soviet Union, in: Slavic Review 62 1, S. 69-86 ↩︎
    6. Deutschlandfunk: Russlands vergessener Krieg ↩︎
    7. Eine Auflistung der Gedenkorte findet sich auf Wikipedia ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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    Historische Presseschau: Oktober 1917

    „Geknallt hätte es sowieso“ – Teil I

  • Oktoberrevolution 1917

    Oktoberrevolution 1917

    Eine Woche vor jenem Ereignis, das als „Oktoberrevolution“ in die Geschichte eingehen sollte, notierte der Schriftsteller Maxim Gorki: „Eine unorganisierte Menge, die kaum weiß, was sie will, wird sich auf die Straße wälzen, und in ihrem Gefolge werden Abenteurer, Diebe und professionelle Mörder ‚die Geschichte der russischen Revolution machen‘.“1 Gorkis Furcht vor einer Gewaltexplosion sollte sich bewahrheiten. Die Geschichte der russischen Revolution und des daraus resultierenden Bürgerkriegs war eine Geschichte blutiger Konflikte und brutaler Auseinandersetzungen.

    Die radikalsten unter den russischen Sozialisten, die Bolschewiki unter ihrem Führer Wladimir Lenin, waren dabei die treibenden Kräfte. Ihr Staat, die Sowjetunion, entstand aus der erbarmungslosen Gewalt, mit der sie ihren Herrschaftsanspruch durchsetzten und die Bevölkerung des Vielvölkerreichs unterwarfen. Ungeachtet dessen verbanden Menschen in aller Welt mit dem Staatsbildungsprojekt der Bolschewiki das Versprechen auf eine bessere Zukunft. In dieser Perspektive markierte die Oktoberrevolution den Beginn einer neuen Zeitrechnung.

    Zu Beginn des Jahres 1917 befand sich das Russische Imperium in einer tiefen Krise. Der seit 1914 andauernde Erste Weltkrieg überforderte das Land in wirtschaftlicher und militärischer Hinsicht. Im Februar gingen in der russischen Hauptstadt Petrograd die Menschen auf die Straße und forderten eine bessere Versorgung mit Lebensmitteln. Die Unruhen weiteten sich rasch aus und führten innerhalb weniger Tage zum Sturz des letzten russischen Zaren: die Februarrevolution in Russland. Nach der Abdankung Nikolaus‘ II. etablierte sich in Petrograd die sogenannte „Doppelherrschaft“. Formal übernahm eine Provisorische Regierung die Amtsgeschäfte, bis eine konstituierende Versammlung über die Zukunft des Reiches entscheiden sollte. Doch die Regierung war abhängig von den Räten der Arbeiter und Soldaten, den Sowjets. Diese verstanden sich als Vertreter jener, die die Revolution „gemacht“ hatten.

    Im Verlaufe des Jahres 1917 radikalisierten sich die Sowjets zusehends angesichts der immer weiter um sich greifenden sozialen und militärischen Krise. Die Bolschewiki, die vor dem Ausbruch der Februarrevolution noch eine wenig bedeutende radikale Splittergruppe waren, profitierten davon. Ihre klaren Forderungen nach Brot, Frieden und Land wirkten anziehend auf viele, deren Hoffnungen sich nach der Februarrevolution nicht erfüllt hatten. Gleichzeitig wurden sie immer wieder als Handlanger der Deutschen bezeichnet; ein Verdacht der durch die spektakuläre Reise Lenins in einem verplombten Waggon durch die feindlichen Linien erhärtet wurde. Doch die öffentliche Meinung interessierte Lenin wenig. Er setzte auf den gewaltsamen Umsturz.

    Mythos vom Ansturm auf das Winterpalais

    Am 7. November 1917 war es soweit. Nach mehreren Tagen kaum verhüllter Vorbereitungen besetzten Soldaten und bewaffnete Arbeiter strategisch bedeutende Gebäude in der russischen Hauptstadt. Die Provisorische Regierung gebot schließlich nur noch über das Winterpalais am Ufer der Newa. Anders als die bildstarke Mythologisierung durch Sergej Eisensteins Film Oktober nahelegt, gab es keinen Ansturm der revolutionären Massen auf das Gebäude. Die wenig motivierten Verteidiger des Gebäudes ließen sich ohne große Gegenwehr entwaffnen. Lenin proklamierte vor dem in der Nacht zusammengetretenen Zweiten Allrussischen Sowjetkongress die Sowjetmacht. Denjenigen moderaten Sozialisten, die gegen diese Anmaßung protestierten, rief Leo Trotzki hinterher, sie sollten dorthin gehen, wo sie hingehörten: „Auf den Kehrichthaufen der Geschichte.“

    Der Bolschewik, Ölgemälde von Boris Kustodijew (1920) © Gemeinfrei
    Der Bolschewik, Ölgemälde von Boris Kustodijew (1920) © Gemeinfrei

    In ihren ersten Beschlüssen griff die neue Regierung, der sogenannte Rat der Volkskommissare populäre Forderungen auf. Die bolschewistischen Machthaber erklärten sich zu sofortigen Friedensverhandlungen ohne jede Vorbedingung mit den Mittelmächten bereit, sie verfügten, dass der Boden jenen gehören sollte, die ihn bearbeiteten, und sie sprachen den Nationalitäten des russischen Imperiums das Recht auf Selbstbestimmung zu. Einige Zeit später wurden überdies die Nationalisierung der Banken sowie die Einführung der Arbeiterkontrolle in den Fabriken dekretiert. Indes verschärfte sich die Krise immer mehr: Der Krieg mit den Mittelmächten dauerte an, die Wirtschaft lag am Boden und die staatliche Ordnung war in weiten Teilen des Imperiums zusammengebrochen. Die Erosion etablierter Hierarchien führte in die Anarchie. Wie Gorki es prophezeit hatte, versank Russland in einem Chaos aus Gewalt, unkontrollierter Massenmigrationen, Epidemien, Versorgungsschwierigkeiten und militärischen Rückschlägen. Rasch wurde die Lage zu einer Bedrohung für die Bolschewiki selbst. Für die meisten Zeitgenossen im In- und Ausland stand deshalb fest, dass die neue Regierung bald der Vergangenheit angehören würde.

    Doch die Bolschewiki konnten sich behaupten, weil sie radikaler und entschlossener als ihre Gegner vorgingen. Die im Januar 1918 zusammengetretene Verfassunggebende Versammlung ließen sie bereits nach einem Tag schließen, unliebsame Zeitungen wurden verboten und gegen massiven Widerstand in den eigenen Reihen war Lenin sogar bereit, den Mittelmächten weitreichende territoriale Zugeständnisse zu machen, um eine „Atempause“ für den Kampf im Inneren zu gewinnen. Das Regime errichtete eine brutale Gewaltherrschaft, die sich gegen tatsächliche und imaginierte Feinde richtete. Abertausende Menschen fielen dem Roten Terror zum Opfer und die Angst vor Repressionen trieb unzählige Angehörige der ehemaligen Eliten in die Emigration. Rücksichtslosigkeit war schließlich auch der Schlüssel für den Sieg im 1918 ausbrechenden Bürgerkrieg, der drei Jahre dauerte.  

    „Doch die Bolschewiki konnten sich behaupten, weil sie radikaler als ihre Gegner vorgingen.“ © Gemeinfrei
    „Doch die Bolschewiki konnten sich behaupten, weil sie radikaler als ihre Gegner vorgingen.“ © Gemeinfrei

    Handelte es sich beim Umsturz der Bolschewiki um eine Revolution oder war er nichts anderes als ein Putsch? Der Streit darüber ist so alt, wie das Ereignis selbst und er ist bis heute mehr als ein akademisches Problem: Hängt doch die Legitimität des gesamten sowjetischen Projekts nicht zuletzt von der Antwort auf diese Frage ab. Für die sowjetische Geschichtsschreibung war die Sache klar. Hier resultierte die „Große Sozialistische Oktoberrevolution“ zwingend aus der Februarrevolution und markierte den Beginn einer neuen Ära in der Menschheitsgeschichte; den Triumph der unterdrückten Klassen über die kapitalistischen Ausbeuter. Dagegen wurde mehrfach eingewandt, dass der Oktober eine radikale Abkehr von den demokratischen Prinzipien des Februars darstellte und direkt in die Diktatur der Bolschewiki führte. Weitere Forschungskontroversen um die Revolutionen von 1917 entzündeten sich unter anderem daran, ob das Ende des Imperiums systemisch bedingt oder ob der Erste Weltkrieg entscheidend für die Ereignisse von 1917 war. In jüngerer Zeit sind die beide Revolutionen des Jahres 1917 zudem als Teil eines „Kontinuums der Krise“ (Peter Holquist) zwischen 1914 und 1921 interpretiert worden.2 In dieser Perspektive waren die Revolutionen eine Zeit kurzlebiger Hoffnungen und Utopien, vor allem aber waren sie Teil einer umfassenden sozialen und kulturellen Krise.


    1. Gorki, Maxim (1972): Unzeitgemäße Gedanken über Kultur und Revolution, Frankfurt/Main, S. 87 ↩︎
    2. Holquist, P. (2002): Making War, Forging Revolution. Russia’s Continuum of Crisis, 1914-1921, Cambridge ↩︎

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