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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Häusliche Gewalt in Russland

    Häusliche Gewalt in Russland

    Seit bald zehn Jahren, spätestens seit 2016, ist „häusliche Gewalt“ Dauerthema in russischen Medien. Damals zeichnete sich eine Entkriminalisierung von Gewalt im familiären Kontext ab, die 2017 Realität wurde. Menschenrechtsorganisationen und Fraueninitiativen weisen seit Jahren auf den fehlenden Opferschutz hin. Häusliche Gewalt ist ein weit verbreitetes Problem in Russland und wird dennoch weithin als Normalität akzeptiert. „Bjot – snatschit ljubit“ (dt: „Er schlägt, also liebt er“) ist ein althergebrachter, weit verbreiteter Spruch. Allein in den Jahren 2021-2022 sind in Russland fast 1000 Frauen von ihren Partnern oder nahen Verwandten getötet worden. Das ist mehr als ein Femizid pro Tag – und dabei noch eine Rechnung ohne Dunkelziffer. 

    Mit der Rückkehr kriegstraumatisierter russischer Soldaten aus den Kämpfen gegen die Ukraine in ihre Familien hat sich die Situation weiter verschärft, zumal bereits wegen häuslicher Gewalt verurteilte Straftäter unter ihnen sind. Überraschend scheint nun die Regierung selbst das Thema angehen zu wollen: Im Juni 2024 haben gleich zwei Parteien Gesetzesentwürfe vorgelegt, die das Problem der häuslichen Gewalt lösen wollen. Im Dezember kam noch ein Gesetzesvorschlag1 hinzu, der Geldstrafen für das Rechtfertigen häuslicher Gewalt vorschlägt. Entschieden und verabschiedet ist indes nichts davon.  

    In ihrer Gnose wirft die Theologin und Russland-Expertin Regina Elsner einen Blick in die Entwicklung häuslicher Gewalt und die gesellschaftlichen Debatten darum im Russland der vergangenen zehn Jahre. 

    Moskau im Februar 2017: „Er schlägt, also sitzt er ein“ – Protest gegen häusliche Gewalt und einen Gesetzentwurf, der die möglichen Strafen dafür abschwächen sollte. Foto © Sergei Fadeichev/TASS 

    Internationale Übereinkommen wie die Istanbul-Konvention definieren häusliche Gewalt als „alle Handlungen körperlicher, sexueller, psychischer oder wirtschaftlicher Gewalt, die innerhalb der Familie oder des Haushalts oder zwischen früheren oder derzeitigen Eheleuten oder Partnerinnen beziehungsweise Partnern vorkommen“. Die überwältigende Mehrheit der Opfer von häuslicher Gewalt weltweit sind Frauen. Russland hat neben Aserbaidschan als einziges Land des Europarates die Istanbul-Konvention nicht unterzeichnet und verfügt nach wie vor über kein Gesetz und keine juristische Definition von häuslicher Gewalt. Zudem ist es 2022 aus der Europäischen Menschenrechtskonvention ausgestiegen. 

    Viele Beobachter sehen Anzeichen dafür, dass Russlands Krieg gegen die Ukraine die häusliche Gewalt bzw. Gewalt konkret gegen Frauen innerhalb der russländischen Gesellschaft weiter normalisiert. Traurige Berühmtheit erlangte etwa der Fall Wladislaw Kanjus: Dieser hatte 2020 seine Freundin Vera Pechtelowa erschlagen und wurde dafür zu 17 Jahren Straflager verurteilt. Nach einem halben Jahr wechselte er in den Kriegsdienst. Dank seiner Begnadigung muss er nicht einmal mehr das Schmerzensgeld von vier Millionen Rubel an die Familie zahlen.2 Seit 2023 ist er frei.  

    Eine ähnliche Geschichte ereignete sich mit dem ehemaligen Polizisten Wadim Techow3: Er tötete seine Frau, wurde verurteilt, zog in den Krieg und kehrte zurück in deren Heimatstadt – in der nach wie vor die Schwester der Verstorbenen wohnte. Einheitliche Strategien – wie etwa obligatorische psychologische Betreuung – mit dem Umgang traumatisierter Kriegsheimkehrer gibt es in Russland keine. Ebenso fehlt es an Programmen zur Gewalt-Vorbeugung. 

    Statistiken und ihre Dunkelziffern 

    Bis 2016 wurden in Russland Übergriffe in Familien nach dem allgemeinen Strafrecht behandelt. Der Versuch, für häusliche Gewalttaten einen eigenen Strafbestand zu schaffen, scheiterte. Im Gegenteil: Seit 2017 werden erste und einmalige Übergriffe in Familien nur als Ordnungswidrigkeiten eingestuft und demnach mit kleineren Geldstrafen oder gemeinnütziger Arbeit bestraft.  

    Die Daten offizieller Umfragen bis 2017 zeigten bereits einen Anstieg von strafrechtlich verfolgten Gewalttaten auf 64.421 Fälle im Jahr 2016, davon 92 Prozent gegen Frauen. Aufgrund der Entkriminalisierung Anfang 2017 ging die Zahl in dem Jahr auf 34.007 zurück, für 2018 wurden 21.390 Fälle gemeldet. Eine Studie unabhängiger Medien von 2019 ergab, dass sich fast 80 Prozent der wegen Mordes verurteilten Frauen in Russland gegen Gewalt von Familienangehörigen gewehrt hatten. Da sie oft der körperlichen Stärke des Mannes ausgeliefert sind, greifen sie zur Abwehr zu Messern, was ihnen später als Überschreitung der Notwehr angelastet wird.  

    Für die Jahre 2021 und 2022 berichtet4 das russische Onlinemedium Verstka mit Verweis auf Daten des russischen Innenministeriums, dass 2021 448 Frauen durch ihre Partner oder nahe Verwandte getötet wurden, im Jahr 2022 – 447. Nach Polizeiangaben für den Zeitraum 2021 bis Juni 2023 waren 74 Prozent der Betroffenen häuslicher und familiärer Straftaten Frauen. Die Täter waren in 80 Prozent der Fälle Männer. 

    Da der russische Staat sich weigert, häusliche Gewalt als eigenständiges Problem (unter allen anderen Gewaltverbrechen) zu betrachten, werden keine Daten zur Zahl der Opfer veröffentlicht. Ein Zusammenschluss mehrerer Frauenrechts-Organisationen hat daher alle Gerichtsurteile zur Tötung von Frauen zwischen 2011 und 2019 systematisch ausgewertet. Über den Zeitraum von neun Jahren zählten sie 18.547 Verfahren. In zwei von drei Fällen waren die Frauen Opfer häuslicher Gewalt. In 53 Prozent der Fälle war der Partner der Täter. Nimmt man den Durchschnitt dieses Zeitraums, kommt man zu dem Ergebnis, dass in Russland jedes Jahr mehr als 1300 Frauen von ihren Partnern oder Familienangehörigen getötet werden. Ins Verhältnis zur Bevölkerungszahl gesetzt, ist die Gefahr, vom eigenen Partner umgebracht zu werden, in Russland damit sechsmal so hoch wie in Deutschland (im Schnitt etwa 130 Opfer im Jahr). 

    Statistisch ist die Situation kaum einzuholen, die Dunkelziffer dürfte um ein Vielfaches höher sein. Die Mehrzahl gewaltsamer Übergriffe im familiären Kontext wird nicht gemeldet, zahlreiche Anzeigen werden kurze Zeit später von den Opfern wieder zurückgezogen. Die Gründe dafür sind vielfältig: ein geringes Vertrauen in die Polizei; die weit verbreitete Vorstellung, dass physische Gewalt zur Normalität gehöre; ein fehlendes Bewusstsein von persönlichen Grenzen und der Unzulässigkeit, diese auch psychisch zu übertreten; sowie schließlich der fehlende Schutz vor dem Täter nach einer möglichen Anzeige. Die Beweislast liegt beim Opfer, eventuelle Geldstrafen oder der Lohnausfall fallen auf das Familienbudget zurück und setzten die Opfer zusätzlich unter Druck. 

    Oft nimmt die Polizei Anzeigen auch nur entgegen, wenn schwere Verletzungen oder Lebensgefahr vorliegen, viele Opfer häuslicher Gewalt haben vor einer Eskalation mehrfach erfolglos Hilfe gesucht. 

    Diese Umstände sind in Russland vor allem durch den Fall der drei Schwestern Chatschaturjan im Jahr 2018 bekannt geworden. Diese hatten ihren Vater getötet, nachdem dieser sie mehrere Jahre lang psychisch und körperlich misshandelt sowie sexuell missbraucht hatte. Nachbarn, Verwandte, Pädagogen und Polizei waren jahrelang informiert, handelten jedoch nicht. Nach der Tat wurden die Schwestern zunächst ohne Rücksicht auf die Umstände wegen vorsätzlichen Mordes angeklagt, erst der massive Protest der Bevölkerung und das Eingreifen des Oberstaatsanwalts führten zu einer Herabstufung auf Notwehr.  

    Dieser Fall sowie weitere erfolgreiche Klagen von Opfern vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte haben schließlich zur Ausarbeitung eines neuen Gesetzes zur Prävention von häuslicher Gewalt geführt, dessen Entwurf im November 2019 veröffentlicht wurde und zu breiten Diskussionen führte. Es trat jedoch nie in Kraft.  

    Im April 2024 flammte die Debatte wieder auf, als im Nachbarland Kasachstan der ehemalige Wirtschaftsminister seine Frau ermordete und zu 24 Jahren Haft verurteilt wurde. Der zentralasiatische Staat verschärfte daraufhin seine Gesetzgebung. In Moskau kommentierte die Duma-Abgeordnete Nina Ostanina – die sich in ihrem Amt um Familien, Frauen und Kinder kümmern soll –, die im russischen Strafgesetzbuch festgelegten Gesetze seien ausreichend, um Frauen zu schützen.5 Überhaupt würde die Mehrheit der Frauen eine weitere strafrechtliche Regulierung häuslicher Gewalt ablehnen. Stattdessen solle man sich eher darum kümmern, die Kinder richtig zu erziehen – dann würde auch kein Missbrauch entstehen, ist Ostanina überzeugt. 

    Im Juni 2024 wiederum legten die Parteien LDPR und Nowyje Ljudi Gesetzentwürfe vor, die häusliche Gewalt eindämmen und speziell auch Männer schützen sollten. Nun unterstützte auch Ostanina die Initiative.6 Die Menschenrechtsbeauftragte Tatjana Moskalkowa rief zudem auf, überall im Land staatliche Krisenzentren einzurichten.  

    „Traditionelle Familienwerte“ 

    Die Gesetzentwürfe gegen häusliche Gewalt werden sowohl von Menschenrechts- und Frauenorganisationen als auch von Vertretern der sogenannten „traditionellen Werte“ kritisiert. Organisationen, die sich seit vielen Jahren für einen effektiven Schutz vor häuslicher Gewalt einsetzen, sehen in den Vorlagen eine Farce. Die Entwürfe klammerten teils physische Gewalt aus (da diese bereits im Strafrecht verhandelt sei), beziehen sich nur auf verheiratete Personen und Paare mit Kindern, zielten in erster Linie auf einvernehmliche Einigung und damit den Erhalt der betroffenen Familie. Damit würde den Opfern erneut ein wirkungsvoller Schutz vorenthalten.  

    Ausgenommen seien damit kinderlose Frauen, die in nicht registrierten Beziehungen leben, und auch geschiedene Frauen, die vom ehemaligen Partner angegriffen werden. Gänzlich außerhalb der Diskussion bleibe außerdem die katastrophale Situation von Frauen im Nordkaukasus7 und damit die Frage nach der Durchsetzung von russischer Gesetzgebung insgesamt. 

    Das Ziel einer Versöhnung und der Bewahrung der Familie kommt allerdings jenen konservativen Kräften entgegen, die in jeglichen Gesetzen gegen häusliche Gewalt eine feindliche Attacke gegen das Institut der Familie an sich fürchten. Dazu gehören vor allem Patriarch Kirill (Gundjajew), orthodoxe Gruppierungen und offizielle kirchliche Strukturen wie die Patriarchale Kommission für Familie, Mutterschaft und Kindheit, die bis 2020 unter der Leitung des erzkonservativen Priesters Dmitri Smirnow stand, sowie das Allrussische Volkskonzil oder der Orthodoxe Frauenbund bis hin zu dem orthodoxen Oligarchen Konstantin Malofejew und seinem Medienimperium Tsargrad

    In deren Argumentation gefährde jedes Eingreifen in den „heiligen Raum der Familie“ die Stärkung der russischen Demografie und damit das Bestehen des russischen Volkes. Unter dem Vorwand der Menschenrechte würden radikale feministische Ideologien die staatliche Familienpolitik unterwandern, deren Ziel die Stärkung eines positiven Familienbildes sein müsse. Gesetze gegen häusliche Gewalt würden jedoch den gegenteiligen Eindruck vermitteln, Familien und Männer seien per se nur eine Gefahr für Frauen und Kinder. Leichte körperliche Züchtigung und die Unterordnung der Kinder unter die Eltern gehört in ihrer Vorstellung zum traditionellen Familienkonzept.  

    Dahinter verbirgt sich auch die Überzeugung, dass individuelle Menschenrechte, hier der Schutz von Frauen oder Kindern, nie über die Rechte der Gemeinschaft gestellt werden dürfen. Dieser Grundsatz wurde 2008 in einem Grundlagenpapier8 der Russischen Orthodoxen Kirche zu den Menschenrechten formuliert und dominiert seitdem den orthodoxen Umgang mit Menschenrechtsthemen. Durch die Priorität von patriarchaler Familie, Kirche und Staatsgewalt in der kirchlichen Argumentation bleibt ihre grundsätzliche Haltung gegen „tatsächlich stattfindende Gewalt“ unglaubwürdig.  

    „Ausländische Propaganda“ 

    Kirchliche und staatliche Gegner der rechtlichen Maßnahmen zur Prävention und Verfolgung häuslicher Gewalt arbeiten vor allem auch mit dem Vorwurf, ausländische Akteure und Ideologien würden damit gegen russische Traditionen vorgehen. Es sei der „kollektive Westen“9, der von außen versuchen würde, Russland „zweifelhafte“ Normen aufzuzwingen. Damit stigmatisieren sie vor allem die Arbeit der nichtstaatlichen Organisationen, die sich für den rechtlichen Schutz, Notunterkünfte und psychologische Beratung für die Opfer häuslicher Gewalt einsetzen.  

    Neben bekannten NGOs wie den Zentren ANNA und Sestry und der Anwaltsvereinigung Prawowaja Iniziatiwa zählen dazu auch einige kirchliche Einrichtungen. Ohne einen grundlegenden gesetzlichen Schutz können diese Zentren jedoch nur punktuell unterstützen, sie stehen immer in der Kritik, gegen die „russische Tradition“ zu arbeiten. Viele von ihnen sind inzwischen außerdem zu „ausländischen Agenten“ erklärt worden, da sie häufig durch ausländische Spenden finanziert wurden. 

    Die bisherige Nicht-Umsetzung der Gesetzvorschläge von 2019 und 2024 bedeutet, dass russische Frauen in naher Zukunft keinen rechtlichen Schutz vor häuslicher Gewalt erwarten können. Da Russland kein Rechtssaat ist, stellt sich aber auch die Frage, inwieweit ein solches Gesetz überhaupt wirksam wäre. So oder so – die Opfer häuslicher Gewalt in Russland werden zahlreich und weiterhin schutzlos bleiben.


     

    1. Forbes.ru, 11.12.2024: Novye ljudi predložili vvesti v Rossii štrafy za propagandu domašnego nasilija ↩︎
    2. Radio Swoboda, 15.11.2023: Ubijcu Very Pechtelevoj osvobodili ot vyplaty kompensacii semʹe ↩︎
    3. Tscherta, 31.08.2023: „Dyšatʹ stalo legče“: kak smertʹ na vojne ostanovila domašnee nasilie ↩︎
    4. Verstka, 23.05.2024: MVD: v 2021–2022 godach v Rossii 895 ženščin ubili v rezulʹtate domašnegonasilija 80% vsech prestuplenij v semʹe i bytu soveršali mužčiny ↩︎
    5. News.ru, 15.04.2024: Nazvany pričiny, počemu v Rossii do sich por net zakona o domašnem nasilii ↩︎
    6. RBC.ru, 19.06.2024: V Dume prizvali «zaščititʹ obščestvo» ot vernuvšichsja s fronta osuždennych ↩︎
    7. Antonova, Siražudinova (Proekt Pravovaja iniciativa, 2018): „Ubitye spletnjami“. Ubijstvaženščin po motivam „česti“ na Severnom Kavkaze. Otčet po rezulʹtatam kačestvennogo sociologičeskogo issledovanija v respublikach Dagestan, Ingušetija i Čečnja (Rossijskaja Federacija) ↩︎
    8. Bischofskonzil der Russischen Orthodoxen Kirche Moskau, 24. – 29. Juni 2008: Grundlagen der Lehre der Russischen Orthodoxen Kirche über Würde, Freiheit und Rechte des Menschen
      Uertz/Schmidt (Hg.), 2008: Die Grundlagen der Lehre der Russischen Orthodoxen Kirche über die Würde, die Freiheit und die Menschenrechte. Veröffentlicht in deutscher Sprache durch das Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Moskau ↩︎
    9. Patriaršaja komissija po voprosam semʹi, zaščity materinstva i detstva (https://pk-semya.ru), 03.06.2024: Iniciativa programmy po borʹbe s domašnim nasiliem opasna dlja semej ↩︎

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  • „Die politische Gefahr wiegt schwerer als das christliche Gewissen“

    „Die politische Gefahr wiegt schwerer als das christliche Gewissen“

    Nach dem Tod von Alexej Nawalny in der Strafkolonie „Polarwolf“ haben die russischen Behörden alles unternommen, damit sich seine Beerdigung nicht in eine große Demonstration der nicht Einverstandenen verwandelt. Zunächst weigerten sich die Behörden, seiner Mutter den Leichnam zu übergeben, und drohten, ihn anonym zu bestatten, wenn sie nicht einer Beerdigung abseits der Öffentlichkeit zustimmt. Dann suchten die Familie und Nawalnys Unterstützer drei Tage lang vergeblich nach einer Kirche und einem Friedhof für die Beisetzung und erhielten nur Absagen. Bis schließlich eine kleine Gemeinde in einem Moskauer Außenbezirk einwilligte. Auch fand sich lange kein Bestattungsunternehmen, das bereit war, den Sarg mit dem Toten auf seinem letzten Weg zu transportieren.

    Die Theologin Regina Elsner von der Universität Münster erklärt, wie dieser Umgang mit einem Verstorbenen in der Russisch-Orthodoxen Kirche aufgenommen wird und was die Tradition eigentlich vorsieht. 

    Wer in den vergangenen Wochen in Russland des Toten Alexej Nawalny gedenken wollte, wie hier in Sankt Petersburg, musste mit Festnahmen rechnen. Keine Kirche war bereit, das orthodoxe Totengedenken für den Oppositionsführer abzuhalten / Foto © IMAGO / SOPA Images

    dekoder: Warum war es so schwer, eine Kirche für Nawalnys Beisetzung oder für einen Abschiedsritus zu finden? 

    Regina Elsner: Das ist so schwer, weil die offizielle Struktur der Russisch-Orthodoxen Kirche inzwischen vollständig Teil des politischen Systems ist und alles vermieden werden soll, was Menschen die Möglichkeit gibt, würdevoll von Alexej Nawalny Abschied zu nehmen. Es gibt mit Sicherheit Gemeinden oder auch Priester, die grundsätzlich dazu bereit wären. Es steht aber auch fest, dass es nicht nur für das Begräbnis, sondern auch schon für Trauerfeiern überhaupt, also für das Totengedenken und das Gebet, keine Erlaubnis gab, das offiziell in Kirchen zu machen. In der Orthodoxie gibt es festgelegte Riten, die nach dem Tod folgen: ein Totengedenken am Tag selbst, ein Totengedenken am dritten und am neunten Tag, und noch einmal eines am 40. Tag nach dem Tod. Es hat aber keine einzige offizielle Trauerfeier in einer Kirche in Russland stattgefunden. Das kann nur bedeuten, dass es ein Verbot gibt, das in den Kirchen abzuhalten. Priester und Gläubige laufen Gefahr, bestraft zu werden, wenn sie sich dabei zeigen.

    Ein Priester in Petersburg wollte gleich, nachdem die Nachricht von Nawalnys Tod bekannt wurde, einen Ritus für ihn abhalten. Wer war das? 

    Das war Grigori Michnow-Waitenko. Der ist nicht Priester der Russisch-Orthodoxen Kirche, sondern einer Abspaltung, der Apostolischen Orthodoxen Kirche, die es seit einigen Jahren gibt. Er ist dann selbst verhaftet worden. Auch Menschen, die sich mit ihm versammelt hatten, wurden Überprüfungen unterzogen, einigen wurde mit Haft gedroht. Das ist ein gutes Beispiel dafür, was passiert, wenn Kirchen oder wenn Priester sich bereit erklären, ein Ritual für einen Oppositionellen abzuhalten. 

    Welche Voraussetzungen gibt es denn für ein orthodoxes Begräbnis?

    Die einzige Voraussetzung, die es für ein kirchliches Begräbnis gibt, ist die Taufe. Andere Bedingungen gibt es nicht. Es muss niemand regelmäßig im Gottesdienst gewesen sein, regelmäßig gebeichtet haben oder sonst irgendetwas. Und jeder Priester wäre eigentlich in der Lage, das Ritual zu feiern. Aber inwieweit er verpflichtet ist, es zu tun, das ist natürlich noch einmal eine andere Frage. Das gebietet zunächst das Gewissen. Und eigentlich gebietet es auch der Glaube, dass jemand, der stirbt, in Würden beerdigt wird. Aber in einer totalitären Situation, wie wir sie in Russland zurzeit haben, heißt das eben nichts. Da wiegt die politische Gefahr schwerer als das christliche Gewissen. 

    Was ist es denn für eine Gemeinde, in der schließlich die Aussegnung stattfindet? 

    Die Gemeinde liegt weit außerhalb am Rand von Moskau. Der Gemeindepriester ist niemand, der für eine kritische Haltung bekannt wäre, sondern einer, der ganz klar den Krieg unterstützt. Und das gilt mit Sicherheit auch für die weiteren Priester, die es in der Gemeinde gibt. Ich bin mir derzeit noch nicht einmal sicher, ob dieses Begräbnis wirklich stattfinden wird. Denn ich weiß von Leuten, die Gemeindemitglieder kennen, dass nichts angekündigt ist und sie nicht davon ausgehen, dass dieser Priester dies unterstützen wird. Es gibt Berichte, dass Personen, die im Kirchenchor die Liturgie begleiten wollen, unter Druck gesetzt wurden, nicht zu kommen. Wenn man bedenkt, dass das eine Kirche ist, die fest an der Seite des Regimes steht, kann man davon ausgehen, dass es ein sehr unauffälliges, schnelles Begräbnis sein wird. Gleichzeitig muss man wohl damit rechnen, dass dennoch viele Menschen kommen werden und dass es deswegen auch Festnahmen und Provokationen geben wird, vor denen die Gemeinde keinen Schutz bieten wird. 

    Wurde die Gemeinde möglicherweise sogar vom Staat ausgewählt, weil sie weit außerhalb liegt und der Friedhof dann auch an einem Ort liegt, wo nicht täglich Menschen hinpilgern werden und Blumen niederlegen? 

    Man muss davon ausgehen, dass das definitiv mit Erlaubnis der Kirchenleitung passiert ist. Wir sehen ja, dass sich keine andere Gemeinde bereit erklärt hat. Wenn es ein Verbot gibt, dann ist diese Entscheidung bestimmt Chefsache des Patriarchats. Und die Lage spricht dafür, dass man das erst mal dafür aussucht, um die Leute möglichst nicht in Massen anzuziehen. Es könnte auch passieren, dass man die Leute da hinlockt und am Ende die Beerdigung am anderen Ende der Stadt stattfindet, wo eben keiner mehr so schnell hinkommt.

    … So wie bei der Landung Nawalnys auf dem Rückweg aus Berlin. Als die Maschine im letzten Moment an einen anderen Flughafen umgeleitet wurde? 

    Ja genau. 

    Wie ist denn die Stimmung in der Kirche? Da gibt es ja auch andere, progressivere Kräfte. Wie halten die das eigentlich aus? Denn das ist ja schon ein, muss man sagen, höchst unchristliches Verhalten. 

    Der Umgang mit dem toten – ermordeten – Nawalny hat tatsächlich nochmal gläubige Menschen mobilisiert. Als noch nicht klar war, ob der Körper des Verstorbenen herausgegeben wird und seine Mutter erpresst wurde, einem Begräbnis im engsten Familienkreis zuzustimmen, da gab es einen Aufschrei, der für die Verhältnisse der letzten zwei Jahre unter Kriegszensur bemerkenswert war. In einem öffentlichen Appell erinnerten die Unterzeichner an die christlichen Werte Russlands, und mahnten, dass es sich für ein christliches Land gehört, einen Verstorbenen christlich begraben zu können. 

    Wer hat den Aufruf gestartet?

    Den ersten Brief haben hauptsächlich Menschen unterschrieben, die in Russland leben, darunter auch orthodoxe Geistliche. Inzwischen sind es knapp 5000 öffentliche Unterschriften unter diesen Briefen, viele davon auch aus dem Ausland. Aber die erste Initiative haben russische Gläubige und russische Priester und Geistliche ergriffen. Es gab ein paar Varianten, dieses Unbehagen oder auch den Protest oder den Widerstand dezent auszudrücken: Es gab den Aufruf, Gebetsanliegen für den Verstorbenen oder für den ermordeten Alexej – also ohne Nachnamen – in Kirchen zu schicken. In orthodoxen Kirchen kann man ja Zettel für den Priester abgeben, damit dieser im Gottesdienst für diese Person betet. In den Tagen nach Nawalnys Tod gab es Massen solcher Bitten, für ihn zu beten. Und das, obwohl es Denunziationen gab und Personen überprüft wurden, nachdem sie solche Zettel abgegeben hatten. Es gab Schlangen vor großen Kirchen in Russland zum Gebet, die jeweils von der Polizei beobachtet wurden. Außerdem gab es im Ausland Totengedenken, die online übertragen wurden, an denen haben viele Zuschauer aus Russland teilgenommen. Man sieht also, dass das eine Form ist, Widerstand auszudrücken, ohne wirklich öffentlich gegen den Staat oder gegen diese Regierung aufzutreten. Da hat sich etwas Bahn gebrochen. 

    In Moskau gibt es die Gemeinde Kosmas und Damian. Die hat während der Proteste nach Nawalnys Rückkehr Leuten, die vor der Polizei geflüchtet sind, Schutz geboten. Wie ist die Situation dort? 

    Kosmas und Damian war lange Zeit eine der bekannten progressiven Gemeinden. Einer ihrer Priestermönche, Giovanni Guaita, ein gebürtiger Italiener, ist aber inzwischen abberufen und nach Spanien versetzt worden. Ein anderer Priester, der eigentlich für eine eher kritische Haltung bekannt war, ist inzwischen auf Linie еingeschwenkt. Ein weiterer Priester, der sehr bekannt war, auch für seine Unterstützung für Nawalny und für die Proteste, Alexej Uminski, ist vor einem Monat entlassen worden und ausgereist. Die großen Figuren, die innerkirchlich ein Gegengewicht hätten darstellen können, wurden in den letzten Monaten auffälligerweise alle aus dem Land getrieben.

    Was wissen wir eigentlich über die Bedeutung des Glaubens für Alexej Nawalny? 

    Nawalny hat früher von sich gesagt, er sei kein Christ, er hat sich eigentlich atheistisch positioniert. Das hat sich aber spätestens mit der Verhaftung geändert. In den Monaten der Haft hat er in seinen Auftritten vor Gericht immer wieder mit dem Christentum und der Bibel argumentiert. Das ist auch deswegen interessant, weil er dadurch zu so einer Identifikationsfigur für viele wurde, die glaubwürdige christliche Vertreter in Russland vermissen. Dass dann jemand wie er sozusagen das Ethos vertritt – nicht die Kirchlichkeit, mit der man eben nichts zu tun haben will, sondern das Ethos – das macht ihn zu einer Schlüsselfigur in diesen Debatten um die Kirche und um Orthodoxie unter den Bedingungen der Diktatur.

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  • Die Griechisch-Katholische Kirche in Belarus

    Die Griechisch-Katholische Kirche in Belarus

    Die Griechisch-Katholische Kirche hat in der Religionslandschaft Osteuropas eine besondere Bedeutung. Sie pflegt einen orthodoxen Ritus, erkennt aber gleichzeitig den Papst von Rom als höchstes Kirchenoberhaupt an. Sie entstand im 16. Jahrhundert in Osteuropa durch den Zusammenschluss von orthodoxen Bischöfen mit der römisch-katholischen Kirche; diese Union von Brest (1596) war eine bedeutende religionspolitische Zäsur für Teile Osteuropas.

    Vorausgegangen waren politische Veränderungen in der Region: Im Kampf zwischen dem orthodox geprägten Moskauer Reich und dem römisch-katholischen Polen-Litauen wurden ab dem Mittelalter mehrfach die Grenzen verschoben und das änderte auch die jeweilige religiöse Zugehörigkeit der herrschenden Eliten. Für die orthodoxe Kirchenleitung auf dem Gebiet des heutigen Belarus erschien die Verbindung mit der katholischen Kirche als eine Möglichkeit, sich mit den katholischen Herrschern von Polen-Litauen gut zu stellen. Die religiöse Zugehörigkeit wurde mit politischen Loyalitäten verbunden, was bis heute besonders in Zeiten gesellschaftlicher Unruhen, wie den Protesten in Belarus, die es zuletzt 2020/2021 gab, neue Relevanz erfährt.

    Ihar Kandratsev wurde wegen seiner Aktivitäten wiederholt vorübergehend festgenommen. So wie am 2. November 2022, als Silowiki den Priester kurz vor Beginn des abendlichen Gottesdienstes direkt aus seiner Kirche in Brest abholten.1 Er war im Protestjahr 2020 mit seiner öffentlichen Kritik am Lukaschenka-Regime bekannt geworden, zeigte sich bei zahlreichen Demonstrationen und trat auch als Redner auf. In einem Interview im Herbst 2020 bezeichnete er die offensichtlichen Fälschungen der belarusischen Präsidentschaftswahl als einen „Krieg gegen Gott“. So habe er „nach all diesen Verhaftungen von Kandidaten und normalen Bürgern (…) beschlossen, meine bürgerliche Position zum Ausdruck zu bringen“2. Bis heute gerät der Geistliche, der weiterhin in Belarus geblieben ist, immer wieder dafür unter Druck. Ende 2022 wurde auch die zentrale Homepage der Kirche (carkva-gazeta.by) als „extremistisches“ Medium gesperrt, die Kandratsev gemeinsam mit dem Journalisten Ihar Baranouski betreut. Beide erhielten mehrere Tage Ordnungsarrest. In seinem Monitoring hat das Netzwerk der belarusischen Oppositionsbewegung, „Christliche Vision“ für das Protestjahr 2020 mehrere Fälle von weiteren griechisch-katholischen Gläubigen und Priestern dokumentiert, die politisch verfolgt wurden.3 Sie hatten sich mit den friedlichen Demonstranten solidarisiert, öffentlich die staatliche Gewalt und den Wahlbetrug kritisiert. 

    Die Belarusische Griechisch-Katholische Kirche (BGKK) steht der Diktatur von Aljaksandr Lukaschenka nicht erst seit 2020 kritisch gegenüber und wahrt – trotz der gewachsenen Repressionen – weiterhin die Distanz. Sie bietet, wenn auch einen kleinen, so zumindest einen gewissen Rückzugsraum für Andersdenkende. Historisch ist die Belarusische Griechisch-Katholische Kirche eng mit der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche verbunden. Mit circa 8000 Gläubigen und 16 Gemeinden (Stand 2021) ist die Kirche in Belarus allerdings eine Minderheit, selbst im Vergleich zur römisch-katholischen Kirche, der knapp sieben Prozent der belarusischen Bevölkerung angehören.
    Die Mehrheitsgesellschaft hängt der Belarusischen Orthodoxen Kirche an, deren Leitung als Teil des Moskauer Patriarchats die Politik Lukaschenkas und Putins unterstützt. Die orthodoxen Geistlichen nutzten den historischen Konflikt zwischen orthodoxem Osten und katholischem Westen immer wieder, um die Belarusische Griechisch-Katholische Kirche als inneren Feind zu diffamieren. Mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine hat sich das zusätzlich verschärft.
     

    Bis 1837 griechisch-katholisch, seither orthodox: das Ljadenski-Kloster rund 50 Kilometer östlich von Minsk / Foto © Lusssiya unter CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons

    Das entscheidende Konzil von Ferrara-Florenz

    Dieser Konflikt rührt an der historischen Genese der griechisch-katholischen Kirche in Belarus – die bis ins frühere Königreich Polen-Litauen zurückreicht. Seinerzeit gehörten Gebiete der späteren Ukraine und des späteren Belarus, also der westliche Teil der vormaligen Kyjiwer Rus‘, zu Polen-Litauen. Lange Jahre hatte sich Rom bemüht, die orthodoxen Bischöfe in Polen-Litauen, das katholisch geprägt war, von einer Vereinigung zu überzeugen. Bei dem wichtigen Konzil von Ferrara-Florenz 1438, das solch eine Wiedervereinigung der katholischen und der orthodoxen Kirche anstrebte, spielte Metropolit Isidor von Kyjiw und der ganzen Rus’ eine wichtige Rolle. Er hatte die Union auch als Reformansatz ausdrücklich unterstützt und war ein bedeutender Vermittler zwischen der Orthodoxen Kirche und Rom. Das brachte ihm Kritik vom Moskauer Großfürst ein, der die Unionspläne als Vereinigung mit dem größten Feind der wahren Orthodoxie ansah. Nach dem Konzil und Isidors Ernennung zum römischen Vertreter für die gesamte Region reiste er durch die ostslawischen Gebiete, um alle orthodoxen Gläubigen von der Union zu überzeugen. Während man die Union in Polen-Litauen und Galizien begrüßte, wurde Isidor in Moskau allerdings verhaftet und als Oberhaupt der Metropolie von Kyjiw abgesetzt. Es waren die Nachfolger Isidors in Kyjiw, die unabhängig von Moskau die Union schließlich 1596 in Brest besiegelten – auch gegen Widerstand innerhalb der eigenen Priesterschaft.4 

    Kirchliche Zugehörigkeit und politische Macht 

    Neben dem großen erhofften Ziel, das getrennte Christentum wieder zu einen, sahen die orthodoxen Bischöfe in Polen-Litauen durch die Union eine Möglichkeit, mit den katholischen Bischöfen im litauischen Königreich rechtlich gleichgestellt zu werden. Alle nicht-katholischen Religionsgemeinschaften waren zuvor immer wieder der Willkür der polnisch-litauischen Herrscher ausgesetzt; neben Jahren der Toleranz gab es aber auch Jahre stärkerer Unterdrückung und Ausgrenzung. Rom erlaubte der neuen Kirche den Erhalt des orthodoxen Ritus, das traditionelle Glaubensleben und auch ein eigenes Ostkirchenrecht, das etwa im Unterschied zu der römisch-katholischen Kirche den Priestern eine Ehe zugestand. Allerdings verstand Rom die Union anders als die orthodoxen Bischöfe als Unterordnung unter den Papst, und nicht als Vereinigung zweier gleichwertiger Traditionen.

    Dass weite Teile der orthodoxen Bischöfe die Union von Brest trotzdem begrüßten, war zugleich Ausdruck einer gewachsenen Entfremdung von Moskau. Kyjiw und die westlichen Gebiete der früheren Rus’ hatten – andersrum – auch für Moskau zunehmend an Bedeutung verloren, obschon sich die Kirche offiziell weiterhin als Kirche der ganzen Rus’ bezeichnete. Hintergrund ist, dass die russischen Fürsten lange zuvor damit begonnen hatten, das Machtzentrum schrittweise nach Norden zu verschieben, und nach der Zerstörung Kyjiws durch die Mongolen zog auch der Metropolit von Kyjiw und der ganzen Rus’ als Kirchenoberhaupt zunächst nach Wladimir (im Jahr 1299) und dann nach Moskau (im Jahr 1325). 

    Nachdem Konstantinopel im Jahr 1453 an die Osmanen und damit an den Islam gefallen war, vertrat Moskau den Anspruch, als einziges orthodoxes Reich der Welt den wahren Glauben zu bewahren – und diesen etwa gegen die katholischen Polen, Litauer und Schweden im Westen zu verteidigen. Der Mutterkirche in Konstantinopel warf man vor, durch die Unionsgespräche auf dem Konzil von Ferrara-Florenz Schwäche zu zeigen und schließlich die Würde als orthodoxe Hauptstadt endgültig verloren zu haben. Die Unterstützung der Union von Brest durch die Bischöfe, die mit Isidors Nachfolgern der Kirche in Konstantinopel unterstanden, war für Moskau damit ein doppelter Verrat – am orthodoxen Glauben und an der Zugehörigkeit zum Herrschaftsraum der Rus‘.

    So kam es mit den Auseinandersetzungen um die Union für Moskau zum endgültigen Bruch mit der griechischen Orthodoxie, die ausgehend von der Rus‘ über Jahrhunderte die religiöse Landkarte der Ostslawen geprägt hatte. In der Folge baute Moskau ein eigenes Patriarchat auf.

    Zwischen Herrschaftsreligion und Opposition gegen Moskau

    Die orthodoxe Bevölkerung im Osten und Süden des Königreiches Polen-Litauen blieb indes weiterhin Konstantinopel unterstellt, lehnte die neue griechisch-katholische Kirche jedoch – anders als die orthodoxen Bischöfe – mehrheitlich ab. Die Sorgen der Menschen waren nicht unbegründet. Die Union von Brest drängte die Orthodoxie auf dem Gebiet von Polen-Litauen stark zurück. Die Herrscher lösten schrittweise die orthodoxen Strukturen im Königreich auf. Nur wenige alte Klöster und Bruderschaften besonders im Süden konnten sich halten, darunter das im 11. Jahrhundert gegründete Kyjiwer Höhlenkloster, das sich mehrfach gegen die Übernahme durch die Unierte Kirche wehrte und bis heute als geistliches Zentrum der Orthodoxie gilt.

    Weil er den Katholizismus mit Zwang durchsetzte, wurde er von wütenden Witebskern ermordet – später für seine anti-orthodoxe Haltung verehrt: Jasafat (Josaphat) Kunzewitsch / Bild © Public domain via Wikimedia Commons

    Auf dem Territorium des heutigen Belarus konnte sich die Union fast vollständig durchsetzen: Dabei spielte der griechisch-katholische Erzbischof von Polazk, Jasafat (Josaphat) Kunzewitsch (1580–1623), eine wichtige Rolle. Er zog als begabter Prediger viele Menschen an und setzte später rigoros und gemeinsam mit der Staatsgewalt die Union gegen die orthodoxe Bevölkerung, etwa mit Hilfe von Enteignungen, durch. In der Folge wurde er 1623 von wütenden orthodoxen Gläubigen in Witebsk ermordet, 1643 durch Papst Urban VIII. selig- und 1867 als Märtyrer durch die katholische Kirche heiliggesprochen. Er war damit der erste katholische Heilige aus einer griechisch-katholischen Kirche.
    Mit der Ausbreitung des Russischen Reiches ab dem 18. Jahrhundert gewann seine offen anti-orthodoxe Haltung posthum eine bedeutende symbolische Kraft für den Widerstand gegen die russische Vorherrschaft in der Region. Daraus erklärt sich seine Popularität unter den Gläubigen, die sich auch heute deutlich von Russland absetzen wollen. Seine rigorose Haltung wird dabei selten kritisch reflektiert. Er gilt als Schutzheiliger der Ukraine und des mehrheitlich in der Ukraine verbreiteten Basilianer-Ordens, wird jedoch auch vor allem von der römisch-katholischen Kirche in Polen und Litauen verehrt. Im heutigen Belarus spielt er als Heiliger hingegen eine weniger sichtbare Rolle. Der Grund dafür dürfte in der staatlich unterstützten Dominanz der Russischen Orthodoxen Kirche in Belarus liegen. 

    Verdrängung und Verbot durch Russland 

    Mit der Ausdehnung des Moskauer Großfürstentums beziehungsweise des Russischen Reiches wurde die griechisch-katholische Kirche in den westlichen Gebieten wieder zurückgedrängt – zunächst wurde sie in Kyjiw (ab 1648) und später in den Gebieten um Witebsk und Polazk (nach der ersten Teilung von Polen-Litauen 1772) sowie Minsk, Sluzk, Zhitomyr und Braclaw (nach der zweiten Teilung von Polen-Litauen 1793) verboten und die Gemeinden in die russisch-orthodoxe Kirche zwangseingegliedert. Durch diese Politik verschwand die griechisch-katholische Kirche auf dem Gebiet des heutigen Belarus bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts fast vollständig. Im 20. Jahrhundert praktizierten die verbliebenen griechisch-katholischen Gläubigen ihren Glauben schließlich über Jahrzehnte nur noch im Untergrund, da nun nicht nur ihr Glaube, sondern auch ihre nationale Identität als Angriff auf die Ideen der Sowjetunion angesehen wurde.

    Eine kleine Gemeinschaft konnte sich überdies in den Gebieten bilden, die zeitweise zu Polen gehört hatten. Als Belarus im Zweiten Weltkrieg von Hitler-Deutschland besetzt war, wurde die Glaubensgemeinschaft für die Zwecke der Nazis instrumentalisiert. Die deutschen Besatzer ließen das durch die sowjetischen Herrscher unterdrückte Glaubensleben als Teil der Kriegsführung wieder zu, es durften Liturgien gefeiert und Kirchbauten genutzt werden. So konnte sich diese Gemeinschaft für ein paar Jahre wieder konsolidieren. Allerdings stand sie nachfolgend unter dem Verdacht, mit Hitlerdeutschland kollaboriert zu haben und so wurden sie mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs erneut durch die sowjetische Armee und durch die Zwangseingliederung in die Russische Orthodoxe Kirche zerschlagen. 

    Einige Gemeinden konnten immerhin in Polen und im westlichen Exil weiter existieren. In der BSSR war die griechisch-katholische Kirche ebenso verboten wie in der Ukrainischen SSR. Glaubenstraditionen und der religiöse Widerstand gegen politische Instrumentalisierung wurden jedoch im Untergrund bewahrt und prägen das postsowjetische Selbstbewusstsein: Vertreter der griechisch-katholischen Kirche bleiben gegenüber der autoritären Herrschaft Aljaksandr Lukaschenkas kritisch und verweigern sich gleichzeitig der Vereinnahmung durch nationalistische oder pro-europäische Strömungen.

    Kirche prägt belarusische Kultur und Identität

    Die systematische Unterdrückung durch die russische Politik und Kirche hat, ähnlich wie im Fall der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche, eine besondere konfessionelle Identität geprägt. Die Erfahrung, Spielball von imperialer Religionspolitik zu sein, gibt den Gläubigen – bis heute – ein besonderes Bewusstsein ihrer lokalen und kirchlichen Zugehörigkeit: So pflegt die Belarusische Griechisch-Katholische Kirche die Liturgie in belarusischer Sprache. Das Oberhaupt der Kirche, Siarhiej Hajek, betont die Bedeutung des ersten ostslawischen Bibeldruckers Francisk Skorina, der ursprünglich aus Polazk kam. Die Kirche ist auch ein wichtiger Antrieb für die belarusische Übersetzung liturgischer Texte. Für die Ausbildung von Geistlichen ist die Belarusische Griechisch-Katholische Kirche wiederum eng mit der Schwesterkirche in der Ukraine verbunden.
    In gesellschaftspolitischen Fragen positioniert sie sich heute in Gemeinschaft mit der römisch-katholischen Bischofskonferenz von Belarus. Das bedeutet auch, dass sie moraltheologisch sehr konservative Ansichten vertritt und etwa die Pro-Life-Bewegung und Anti-Gender-Positionen unterstützt.

    Hoffen auf eigenes Bistum

    Seitdem die Belarusische Griechisch-Katholische Kirche mit dem Ende der Sowjetunion wieder offiziell anerkannt ist, ist die Gemeinschaft jedoch so klein geblieben, dass der Vatikan lange keine eigene Kirchenstruktur einrichtete. Die Gemeinden unterstanden seit 1991 den römisch-katholischen Bischöfen und einem sogenannten Apostolischen Visitator mit Sitz in Lublin. Erst im März 2023 und als Stärkung der Kirche im Zuge der wachsenden politischen Repressionen in Belarus erhob der Vatikan die Kirche zu einer eigenen Apostolischen Administratur. Damit wurde die Hoffnung genährt, dass sie in naher Zukunft als eigenständiges Bistum anerkannt wird.5 Die Belarusische Orthodoxe Kirche kritisierte diesen Schritt umgehend als Affront gegen die Mehrheitskirche und wertet dies als Einmischung in innere Angelegenheiten. Für die belarusische Orthodoxie des Moskauer Patriarchats ist die Griechisch-Katholische Kirche eine kirchenpolitische Konkurrenz, auch deswegen werden in der Auseinandersetzung historische Feindbilder aktualisiert, mit der die griechisch-katholische Kirche als Gefahr aus dem Westen verfemt und eine gezielte Unterwanderung der eigenen Zivilisation unterstellt wird.6 Mit ähnlichen Vorwürfen versuchte die Orthodoxe Kirche, die Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche seit dem Maidan zu diskreditieren. Gerade gegen diese zivilisatorische Grenzziehung zwischen Ost und West hat sich die Griechisch-Katholische Kirche seit ihrer Entstehung immer gewehrt.


    ANMERKUNG DER REDAKTION:

    Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.


    1. charter97.org: V Breste zaderžali svjaščennika greko-katoličeskoj cerkvi ↩︎
    2. gazetaby.com: Otec Igorʹ iz Bresta: «Neskolʹko milicionerov skazali, čto im stydno» ↩︎
    3. Christian Vision ↩︎
    4. Zur Union von Brest: Wooden, A.K. (2021): A Brief History of the Union of Brest and Its Interpretations, in: Latinovic, V./Wooden, A.K. (eds): Stolen Churches or Bridges to Orthodoxy? Pathways for Ecumenical and Interreligious Dialogue ↩︎
    5. Nachrichtendienst Östliche Kirchen, 6.4.2023: Belarus: Apostolischer Administrator für griechisch-katholische Kirche ernannt ↩︎
    6. Charter97.org: Mitropolit Veniamin razzhigaet v Belarusi… ↩︎

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  • Zeugen Jehovas

    Zeugen Jehovas

    Im April 2017 hat das Oberste Gericht der Russischen Föderation die Organisation der Zeugen Jehovas in Russland als extremistisch eingestuft. Damit hat es der Klage des Justizministeriums stattgegeben. Der Gerichtsvorsitzende Wjatscheslaw Lebedew betonte dabei, dass die Entscheidung kein Akt religiöser Verfolgung sei, vielmehr sei sie deshalb gefallen, weil die Religionsgemeinschaft „in gesetzeswidrige Handlungen verstrickt war“. 
    Viele Menschenrechtler, aber auch UN-Vertreter und ausländische Politiker sehen das anders: Die Verhaftungen und Verurteilungen von Zeugen Jehovas in Russland seien eklatante Verstöße gegen die Religionsfreiheit – und hätten systematischen Charakter. Im April 2019 saßen 21 Angehörige der Glaubensgemeinschaft in Untersuchungshaft.

    Dem Verbot der Organisation im Jahr 2017 war eine gerichtliche Untersuchung vorausgegangen. Sie beklagte vor allem die „extremistischen“ Inhalte in den Publikationen der Organisation: in erster Linie die Lehre von der Überlegenheit der eigenen Religion, was von den beteiligten Experten als „Entfachen von Hass gegen andere Weltanschauungen“ und damit als Tatbestand des Extremismus gewertet wurde. Darüber hinaus entspräche die tatsächliche Tätigkeit nicht den im Statut angegebenen Zielen, so der Vorwurf, der sich auch gegen die hierarchischen Strukturen der Organisation und gegen die Gefährdung der eigenen Mitglieder etwa durch das Blut- und Organtransfusionsverbot richtet.1

    Alle 395 Gemeinden (Stand 2017) sowie das administrative Zentrum wurden liquidiert, der Besitz enteignet und den Mitgliedern sämtliche Aktivitäten verboten. Die Religionsgemeinschaft legte Einspruch ein, doch schon im Juli 2017 wurde dieser zurückgewiesen. Seit August 2017 stehen alle registrierten Gemeinden der Zeugen Jehovas auf der Liste extremistischer Organisationen.

    Bereits vor den abschließenden Gerichtsbeschlüssen2 begannen in einigen Regionen willkürliche Hausdurchsuchungen, gewaltsame Angriffe auf Versammlungsräume und Privatwohnungen sowie gezielte Diskriminierung von Schulkindern und Wehrpflichtigen. Seit Inkrafttreten des Verbots kam es zu 90 Verhaftungen, 21 Personen befanden sich im April 2019 in Untersuchungshaft. Nach Angaben der Religionsgemeinschaft führten die russischen Behörden 406 Hausdurchsuchungen in Privathaushalten oder Räumen der Gemeinschaft durch, knapp 100 Personen stehen unter Hausarrest oder Ausreiseverbot.3

    Im Juni 2019 äußerte erstmals die russische Ombudsfrau für Menschenrechte, Tatjana Moskalkowa, Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Verfolgung, viele nationale und internationale Menschenrechtsorganisationen haben ein Ende der Verfolgung gefordert.4

    „Antisowjetisch und potentiell gefährlich“

    Die Geschichte von Diskriminierung und Unterdrückung von Zeugen Jehovas in Russland begann nach der Oktoberrevolution 1917. Zum Ende des 19. Jahrhunderts herrschte noch eine relativ große religiöse Toleranz: Vor allem im Westen des Landes konnten die Anhänger der Religionsgemeinschaft damals weitgehend frei wirken. Nur wenige Jahre nach der Erstausgabe war ihre Zeitschrift Der Wachtturm verkündigt Jehovas Königreich (Storoshewaja Baschnja wosweschtschajet Zarstwo Iegowy) auch in Russland erhältlich. Und 1913 registrierten die russischen Behörden die Zeugen Jehovas offiziell als Bibelforscher. 

    Wie alle religiösen Gemeinschaften wurden die Zeugen Jehovas unter der bolschewistischen Herrschaft unterdrückt und teilweise verbannt. Da sie sich konsequent aller politischen Aktivitäten enthielten und sich dem Parteibeitritt sowie dem Wehrdienst verweigerten, wurde die Religionsgemeinschaft von den staatlichen Organen als „antisowjetisch“ und „potentiell gefährlich“ eingestuft. Ihre zahlreichen Mitglieder und deren Familien wurden systematisch deportiert. Den Höhepunkt der Umsiedlungen bildete die „Operation Nord“ im April 1951: Mehr als 8500 Menschen wurden aus den westlichen Sowjetrepubliken deportiert, in erster Linie aus der Ukrainischen SSR. Die Deportationen führten unter anderem zu einer Ausbreitung der Religion nach Sibirien, Zentralasien und in den Fernen Osten. 1965 wurde ihr Rückzug zwar erlaubt, doch viele Gläubige blieben an den Orten ihrer Verbannung.

    Rehabilitierung während der Perestroika

    Zum Ende der 1980er Jahre lockerte sich der Umgang mit Religionsgemeinschaften, davon profitierten auch die Zeugen Jehovas. 1991 erhielten sie die offizielle staatliche Registrierung und gründeten in Sankt Petersburg das administrative Zentrum der Organisation. 1996 wurden die Zeugen Jehovas gemeinsam mit allen anderen Gläubigen rehabilitiert, die unter der sowjetischen Verfolgung gelitten hatten. Außerdem verpflichtete sich der Staat, die betroffenen Religionsgemeinschaften beim Wiederaufbau ihrer Strukturen zu unterstützen. Gleichzeitig zählten die Zeugen Jehovas mit dem neuen Religionsgesetz von 1997 zu den sogenannten „nicht-traditionellen Religionsgemeinschaften“ in der Russischen Föderation. Zwar setzten die Behörden damit zusätzliche administrative Hürden, die Zahl der Zeugen Jehovas wuchs aber laut eigenen Angaben kontinuierlich auf über 170.000 und insgesamt 395 Gemeinden im Jahr 2017.

    Diskriminierung und Unterdrückung

    Doch währte die Blütezeit der Religionsgemeinschaft nicht lange: Ab 2009 häuften sich in russischen Medien Meldungen über Verhaftungen, Verbote von Schriften und Übergriffen gegen die Zeugen Jehovas. 2012 gab es gesetzliche Verschärfungen im Bereich der Extremismusbekämpfung, die indirekt auch die Religionsfreiheit betrafen. Dies hatte direkte Auswirkungen auf kleinere Religionsgemeinschaften wie die Zeugen Jehovas: Besonders ihre Missionstätigkeit durch Predigten und Publikationen wurde Ziel häufiger Überprüfungen. Auf lokaler Ebene wurden schon ab 2009 verschiedene Schriften der Zeugen Jehovas als extremistische Literatur eingestuft und verboten. In verschiedenen Regionen wurden bereits vor 2017 Verbote der Gemeinschaft als extremistische Organisation verhängt. 

    Unter den derzeit verhafteten und angeklagten Gläubigen befinden sich auch Ausländer. Am bekanntesten ist der Fall des dänischen Predigers Dennis Christensen, der 1995 nach Russland kam und seitdem in verschiedenen Städten am Aufbau von Gemeinden mitgewirkt hat, zuletzt in Orjol. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm die Gründung und Unterstützung einer extremistischen Organisation vor, er wurde im Februar 2019 zu sechs Jahren Lagerhaft verurteilt. Im Februar 2019 wurde außerdem bekannt, dass sieben Zeugen Jehovas im nordrussischen Surgut während der Befragung gefoltert wurden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte forderte Russland zur medizinischen und juristischen Aufklärung auf, eine Reaktion des zuständigen Gerichts steht jedoch noch aus. Zunehmend berichten zudem russische Medien von Fällen, in denen „extremistische“ Literatur bei Hausdurchsuchungen untergeschoben wird, um so die Anklage zu stützen.

    Aus mehreren Ländern ist bekannt, dass viele Zeugen Jehovas aus Russland in den letzten Jahren um Asyl gebeten haben. In Finnland wurden bisher 90 Prozent der Gesuche mit der Begründung abgelehnt, dass nicht grundsätzlich alle Mitglieder der Gemeinschaft von Verfolgung bedroht seien.5 Aus anderen Ländern sind bisher keine Zahlen bekannt, allerdings wird auch dort jeder Fall weiterhin entsprechend individueller Kriterien bewertet. Dies hat zur Folge, dass die Situation in Russland nicht als systematische religiöse Verfolgung anerkannt wird, obwohl zahlreiche russische sowie internationale Menschenrechtsorganisationen mehrfach darauf hingewiesen haben.

    Rolle der Russisch Orthodoxen Kirche

    Die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) gehört seit vielen Jahren zu den lautesten Stimmen für eine gesetzliches Einschränkung der Tätigkeit sogenannter nicht-traditioneller Weltanschauungen. Sie profitiert gleichzeitig am stärksten von den Einschränkungen der Missionstätigkeit anderer Religionen, mit denen sie oft in finanzieller und methodischer Hinsicht nicht konkurrieren kann. Die Mehrzahl der Anzeigen wegen angeblicher Verletzung religiöser Gefühle kommen von orthodoxen Gläubigen oder Geistlichen, die so gegen kritische Stimmen vorgehen wollen. Darüber hinaus fühlten sich radikale orthodoxe Aktivisten bei ihren Angriffen gegen Andersdenkende durch die Gesetze legitimiert.6

    Der Leiter des kirchlichen Außenamts Metropolit Ilarion betonte, dass die ROK selbst keinen direkten Einfluss auf die Entscheidung zur Einstufung der Zeugen Jehovas als extremistische Organisation genommen habe.7 Allerdings sind Vertreter der ROK in allen beratenden Gremien – meistens als Vorsitzende – vertreten, so im 1998 gegründeten Expertenrat zur Durchführung religionswissenschaftlicher Expertise beim Justizministerium der Russischen Föderation, dem Rat für die Zusammenarbeit mit religiösen Organisationen und dem Interreligiösen Rat der Russischen Föderation. Der Expertenrat zur Durchführung religionswissenschaftlicher Expertise beim Justizministerium der Russischen Föderation ist für die Bewertung religiöser Organisationen zuständig. Viele Beobachter kritisieren den Expertenrat wegen tendenziöser Tätigkeit und verweisen darauf, dass er maßgeblich von Vertretern russisch-orthodoxer Einrichtungen geprägt ist. Von 2009 bis 2015 wurde der Rat von Alexander Dworkin geleitet, dem führenden „Sektenkenner“ und Bekämpfer sogenannter nicht-traditioneller Religionen in der ROK. Der aktuelle stellvertretende Vorsitzende, Roman Silantjew, ist gleichzeitig Leiter des Menschenrechtszentrums der größten russisch-orthodoxen NGO – dem Weltweiten Russischen Volkskonzil.

    Das Verbot der Zeugen Jehovas fand bei den Vertretern der Kirchenleitung einstimmige Unterstützung. So unterstrich Roman Silantjew, dass sie „die größte extremistische Organisation in Russland“ sei, die außerdem unter Verdacht stehe, Spionage zu betreiben.8 Auch Metropolit Ilarion begrüßte das Verbot der „totalitären Sekte“: ihre extremistische Tätigkeit liege in der „Manipulation der Wahrnehmung“ und der „Zerstörung der Psyche der Menschen“, so der Geistliche.9 Die offizielle Seite des kirchlichen Außenamts zitiert auch die Russische Assoziation zum Schutz der Religionsfreiheit: Diese Organisation streitet jegliche Verfolgung von religiösen Minderheiten in Russland ab und hält die Informationen darüber für „amerikanische Propaganda“.10

    Zu den offensichtlichen Verstößen gegen die Religionsfreiheit der Zeugen Jehovas schweigt die Orthodoxe Kirche. Dieses Schweigen steht im krassen Kontrast zu ihrem internationalen Einsatz gegen die Einschränkung der Religionsfreiheit. So betonte der Interreligiöse Rat der Russischen Föderation unter Vorsitz der ROK seit 2017 schon mehrmals die „zahlreichen Fakten der Verletzung der Rechte von Gläubigen in der Ukraine“11 und geißelte den „Genozid an Christen im Nahen Osten“.12 Zur Unterdrückung der Zeugen Jehovas oder anderer Religionsgemeinschaften in Russland selbst verlor der Rat bislang aber kein Wort. Dieses selektive Rechtsverständnis verdeutlicht mehr als manche rhetorischen Gleichklänge die fehlende Distanz der ROK zur russischen Führung.


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  • Bystro #5: Schisma in der orthodoxen Kirche?

    Bystro #5: Schisma in der orthodoxen Kirche?

    Ein schneller Überblick über den Wunsch der ukrainisch-orthodoxen Kirche, von Moskau unabhängig zu werden, und über die potentiellen Folgen – in fünf Fragen und Antworten. Einfach durchklicken.
     

    1. 1. Warum will die ukrainisch-orthodoxe Kirche eigenständig werden? Und was meint „Autokephalie“ überhaupt?

      Es ist nicht so eindeutig, wer genau die Autokephalie – also die kirchliche Eigenständigkeit – möchte. Es gibt nicht die eine ukrainisch-orthodoxe Kirche, sondern drei. 
      Die Ukrainische Orthodoxe Kirche (UOK) war bis vor wenigen Tagen die einzige, die von der Welt-Orthodoxie anerkannt war. Sie gehört zum Moskauer Patriarchat, hat jedoch offiziell aktuell keine Unabhängigkeit gefordert. Die Ukrainische Orthodoxe Kirche des Kiewer Patriarchats (UOK-KP) spaltete sich 1992 von der UOK ab und forderte schon damals die Autokephalie. 
      Die Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche (UAOK) gibt es sogar schon seit den 1920er Jahren: Sie ist im Ausland anerkannt („kanonisch“), in der Ukraine jedoch nicht. 
      Die UOK-KP und die UAOK fordern nun gemeinsam mit vielen Gläubigen der UOK (aber eben nicht mit der UOK selbst) und vielen Politikern eine weltweit anerkannte und von Moskau unabhängige, eigenständige Orthodoxe Kirche. Dadurch wollen sie vor allem den ideologischen Einfluss aus Moskau einschränken und auf eine eigenständige Weise das geistliche Erbe der Kiewer Rus und ihre Gesellschaft gestalten. 

    2. 2. Und was stört das Moskauer Patriarchat daran?

      Die Russisch-Orthodoxe Kirche (ROK) stört das Durchgreifen des Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel in der Ukraine. Denn seit dem 17. Jahrhundert wurde die Moskauer Zuständigkeit dort immer respektiert. Nachdem Moskau seit 26 Jahren die Lage der ukrainischen Kirchen faktisch ignoriert hat, ist dieses Durchgreifen aber durchaus nachvollziehbar. 
      Nun droht der ROK großer Bedeutungsverlust: Eine unabhängige Orthodoxe Kirche in der Ukraine macht das gesamte Narrativ der Heiligen Rus fragwürdig. Der Moskauer Anspruch auf die politische, moralische und geistliche Deutungshoheit über die Ukraine (und Belarus) wird mit der Autokephalie haltlos. Das Gewicht des Moskauer Patriarchats innerhalb der Welt-Orthodoxie erklärte sich bislang daraus, dass die ROK die relative Mehrheit aller orthodoxen Gläubigen vereinte. Durch das Wegbrechen der ukrainischen Gläubigen wird auch die Bedeutung der ROK abnehmen. 

    3. 3. Kritiker werfen der Russischen Orthodoxen Kirche vor, immer mehr zum Werkzeug des russischen Staates zu werden. Stimmt das?

      Die Situation in der Ukraine zeigt, dass das Moskauer Patriarchat sich dermaßen eng mit dem russischen Staat verstrickt hat, dass es jetzt nur wenig eigenen Entscheidungsspielraum hat. Über viele Jahre und in vielen Bereichen waren sich die Interessen von Staat und Kirche einfach sehr nah und haben sich zum Teil auch ergänzt: So waren die Umsetzung der sogenannten Machtvertikale und der Stabilisierung auch im Interesse der Kirchenführung. Auch bei Feindbildern, moralischem Konservatismus sowie bei Einschränkung von Pluralität passt kaum ein Blatt zwischen Kirchenleitung und Staat. Die ROK hätte Möglichkeiten gehabt, als Mutterkirche selbst die Autokephalie der ukrainischen Kirche zu gestalten, aber eine unabhängige Kirche als Ausdruck einer unabhängigen Ukraine widerstrebt der politischen und ideologischen Linie Moskaus radikal.

    4. 4. Was bedeuten all diese Vorgänge für die Orthodoxe Kirche insgesamt?

      Es ist sicher eine große Krise für die Orthodoxie und zeigt, wie sehr ungeklärte technische Zuständigkeitsfragen sowie die Bindung an nationale Grenzen und Identitäten die Einheit der Kirche gefährden. 
      Der Ökumenische Patriarch Bartholomäus unterstützt das Streben der ukrainischen Gläubigen nach einer eigenständigen Kirche und ebnet kirchenrechtlich den Weg dafür. Deswegen hat das Moskauer Patriarchat nun den Bruch mit Konstantinopel verkündet. Dieser einseitige Bruch ist vor allem für die russischen Gläubigen außerhalb Russlands eine Herausforderung, denn sie dürfen nun nicht mehr in Kirchen des Patriarchats von Konstantinopel an der Eucharistie teilnehmen, und das obwohl es keinen Unterschied in der Glaubenslehre gibt. Sämtliche Dialoge, gemeinsame Gottesdienste und Bischofskonferenzen der orthodoxen Kirchen im Ausland werden ohne Vertreter der ROK stattfinden. Insgesamt bewegt sich die ROK damit in die Isolation. 
      Innerhalb der Orthodoxie ist allerdings nicht absehbar, ob andere Kirchen den Schritten Moskaus folgen werden, und auch das Ökumenische Patriarchat hat die Gemeinschaft mit Moskau nicht beendet.

    5. 5. Droht ein Schisma? Was genau bedeutet das, und was wäre daran so schlimm?

      Das ist schwer abzusehen, bisher ist die Drohung mit dem Schisma eher eine rhetorische Form des Machtkampfes zwischen Moskau und Konstantinopel. Grundsätzlich erfordert ein Schisma genauso wie ein Anathema (ein Kirchenbann) dogmatische Gründe. Nach wie vor geht es hier aber um technische beziehungsweise kirchenrechtliche Probleme, in der Glaubenslehre gibt es dagegen keinen Dissens. 
      Es ist zu hoffen, dass alle Beteiligten dies im Blick behalten, denn ein Schisma ist vor allem eine Tragödie für die Gläubigen sowie für die Glaubwürdigkeit der Kirche.




    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Autorin: Regina Elsner
    Veröffentlicht am: 17.10.2018

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