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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Plötzlich, aber halbherzig gegen häusliche Gewalt

    Plötzlich, aber halbherzig gegen häusliche Gewalt

    Alle paar Jahre rauschen aufsehenerregende Fälle häuslicher Gewalt und Protestwellen dagegen durch Russland. 2016 berichteten Zehntausende per Internet-Flashmob #ЯнеБоюсьСказать  (#IchhabkeineAngstzusprechen) von ihren Gewalterfahrungen. Doch 2017 wurden mit Verweis auf „traditionelle Werte“ die Strafen für häusliche Gewalt gesenkt. 2018 machte der Fall Chatschaturjan Schlagzeilen, in dem drei Schwestern ihren Vater ermordet haben sollen, der sie jahrelang misshandelt hatte.  

    Seit Russlands umfassendem Überfall auf die Ukraine nun werden immer mehr Fälle von gewalttätigen Übergriffen bis hin zu Morden durch Soldaten bekannt, die von der Front zurückkehren. Doch diesmal scheint die Regierung das Thema selbst angehen zu wollen, bevor es zu hohe Wellen schlägt. So haben im Juni 2024 gleich zwei Parteien Gesetzesentwürfe vorgelegt, die das Problem der häuslichen Gewalt lösen wollen.  

    In der Gesellschaft kommt dieser Vorstoß gut an: Umfragen zufolge unterstützt eine deutliche Mehrheit von 89 Prozent solch ein Gesetz gegen häusliche Gewalt: 95 Prozent der Frauen, 83 Prozent der Männer. Dennoch ist mit Stand Ende Dezember 2024 in einem halben Jahr nichts weiter mit den Gesetzesentwürfen passiert.

    Das russische Onlinemedium Glasnaja, das sich auf soziale und Frauen-Themen spezialisiert, hat mit Expertinnen gesprochen, um herauszufinden, wie effektiv diese Vorschläge im Kampf gegen häusliche Gewalt wirklich sein könnten, würde man sie in der vorliegenden Form umsetzen. Einige Gesprächspartnerinnen werden aus Sicherheitsgründen nicht namentlich genannt. 

    © IMAGO / Depositphotos

    Im Juni 2024 haben russische Abgeordnete und Beamte überraschend angefangen, sich aktiv zum Problem der häuslichen Gewalt zu äußern. So legten die Parteien LDPR und Nowyje Ljudi Gesetzentwürfe vor, die dieses Problem lösen sollen. Nebenbei nahmen sie sich darin auch den Schutz von Männern vor häuslicher Gewalt vor. Die Menschenrechtsbeauftragte Tatjana Moskalkowa rief zudem dazu auf, überall im Land staatliche Krisenzentren einzurichten. 

    „Der Elefant im Raum lässt sich nicht verstecken“ 

    Dieses neue staatliche Interesse am Problem der häuslichen Gewalt könnte, so die von Glasnaja befragten Expertinnen, mit der um sich greifenden Diskussion über Gewaltverbrechen und Mordfälle an Frauen durch Militärangehörige zusammenhängen, die aus der Ukraine zurückkehren

    „Der Elefant im Raum lässt sich nicht verstecken“, meint eine Menschenrechtsaktivistin. „Die Behörden haben wohl beschlossen, das Problem selbst in die Hand zu nehmen, anstatt den Anstieg von Gewalt durch Militärangehörige und Zivilisten einfach totzuschweigen.“ 

    Es gibt aber auch andere Erklärungsansätze: So mutmaßte beispielsweise Verstka, der Kreml könnte Staatsbediensteten erlaubt haben, das Thema für PR-Zwecke und zum „Ruhigstellen der Gesellschaft“ zu nutzen. Dabei soll der Russisch-Orthodoxen Kirche, dem Hauptgegner des Gesetzes über häusliche Gewalt, zugesichert worden sein, dass man derartige Gesetzesinitiativen abprallen lassen würde. Auf jeden Fall wollen die Behörden wohl verhindern, dass in der Öffentlichkeit der Eindruck entsteht, die zunehmende Gewalt in russischen Familien sei auf die Rückkehr von Soldaten aus der Ukraine zurückzuführen. Verstkas Quellen zufolge soll der Kreml Politikern untersagt haben, solche Fälle öffentlich zu erwähnen. 

    Zwei Expertinnen betonten gegenüber Glasnaja aber auch, dass die Gesetzesentwürfe von LDPR und Nowyje Ljudi tatsächlich keine konkreten Vorschläge enthalten, um Gewalt durch Militärangehörige mit posttraumatischen Belastungsstörungen zu verhindern oder ihnen vorzubeugen. 

    Männerschutz statt „radikalem Feminismus“ 

    Warum in dem Entwurf nicht nur Frauen vor häuslicher Gewalt geschützt werden sollen, erklärte die Koautorin des Entwurfs, Sardana Awksentjewa von Nowyje Ljudi, folgendermaßen: „Ich glaube, es wird deutlich, dass der Gesetzentwurf nichts mit ‚radikalen Feministinnen‘ zu tun hat. Wie Sie sehen, können auch Männer Opfer von Übergriffen werden.“ Als Beispiel nannte sie den Fall des 37-jährigen Anton Jegowzew aus der Nähe von Moskau, der am 7. Juni im Treppenhaus seines Wohnhauses durch acht Messerstiche getötet wurde. Dem Aktivisten der Bewegung Sow narodow [Ruf der Völker], die traditionelle Werte propagiert, hatte ein Mann aufgelauert, der seit mehreren Jahren Jegowzews Ehefrau nachstellte. Laut ihrer Aussage hatte die Polizei bis dahin sämtliche Anzeigen ignoriert. Auch im LDPR-Entwurf ist die Rede davon, dass man Männer vor häuslicher Gefahr schützen müsse. 

    Unabhängige Frauen- und Menschenrechtsbewegungen sprechen bereits seit Jahren über das Problem der häuslichen Gewalt gegen Frauen. Eine Aktivistin sagte im Gespräch mit Glasnaja: Die Kritik an „radikalen Feministinnen“ sei auf das Bestreben des Staates zurückzuführen, sich die Agenda der verwundbaren Position der Frauen in der Familie zu eigen zu machen. Dieselben Ideen würden nun „von Leuten verbreitet, denen der Staat vertraut und die er kontrolliert“. 

    „Die Distanzierung von ausländischen Agenten und all jenen, die der Staat diskreditiert, erhöht die Chance, dass das Gesetz tatsächlich verabschiedet wird. Ich glaube nicht, dass auf diese Weise ein fiktives System geschaffen wird. Es ist schon gut, dass sie die Dinge endlich beim Namen nennen“, meint die Menschenrechtsaktivistin. 

    Andererseits könnte der Akzent auf dem Schutz der Männer auch von vornherein dem patriarchal gesinnten Teil der Gesellschaft die Luft aus den Segeln nehmen. Denn der wäre sicher auch gegen den Gesetzentwurf, selbst wenn er vom Staat initiiert würde, führt sie aus. 

    Mit diesem Fokus auf Männerschutz ignorierten die Abgeordneten schlicht die Realität, meint wiederum die Juristin und Expertin für geschlechtsspezifische Gewalt, Darjana Grjasnowa. Obwohl nach internationalen Standards, die in der Istanbul-Konvention festgelegt sind, häusliche Gewalt durchaus Menschen aller Geschlechter betrifft, seien Frauen doch „unverhältnismäßig stark betroffen“, betont die Anwältin. 

    „Rein populistischer Schachzug“ 

    Von den beiden vorgeschlagenen Gesetzesentwürfen befasst sich nur die Initiative von Nowyje Ljudi auch mit dem Problem des Online- und Offline-Stalkings. Grjasnowa verweist diesbezüglich auf die internationalen Standards zum Schutz von Frauen vor Belästigung: 

    • Stalking ist eine Straftat. 
    • Schutzmaßnahmen und einstweilige Verfügungen müssen das Opfer sofort schützen können. 
    • Das Opfer muss umfassende Unterstützung erhalten können. 

    In seiner momentanen Form entspricht der Gesetzentwurf diesen internationalen Standards allerdings nicht, so Grjasnowa. 

    Um auf ihre Initiative aufmerksam zu machen, hat Nowyje Ljudi die Initiative Stalkingu net [Nein zu Stalking – dek] ins Leben gerufen: Betroffene sollen den Abgeordneten hier per detaillierter Nachricht ihren Fall schildern, damit diese „die Situation verstehen und helfen können“. 

    Glasnaja hat eine Expertin gebeten, sich die Plattform genauer anzuschauen. Sie kam zu dem Schluss, dass es sich „nicht um ein Arbeitsinstrument mit transparenten Methoden, sondern um eine rein populistische Aktion“ handele. Unter anderem bemängelte sie, dass man auf der Internetseite keine Informationen zu den Experten und deren Kompetenzen finde, die in das Projekt involviert sind. 

    „Wir haben lange gezweifelt, ob es nach dem 24. Februar [2022, Tag des vollumfänglichen Angriffs Russlands auf die Ukraine – dek] überhaupt vorstellbar ist, dass wir wieder über ein Gesetz gegen häusliche Gewalt sprechen. Aber anscheinend will man doch eine gesellschaftliche Diskussion auslösen, damit es irgendwie damit weitergeht“, resümiert die Menschenrechtlerin. 

    Nur Schutz für feste Familien 

    Im Juni dann verkündete Leonid Sluzki, Vorsitzender der LDPR und früher einmal selbst der sexuellen Belästigung beschuldigt, dass ein Gesetzentwurf zur „umfassenden Regulierung häuslicher Gewalt“ der russischen Regierung und dem Obersten Gericht zur Begutachtung vorgelegt worden sei. Allerdings erntete auch diese Initiative bei Experten Skepsis. 

    Das wichtigste Manko bestehe darin, so die Anwältin Grjasnowa, dass es nur um Familienmitglieder und Paare mit Kindern gehe: „Dem Entwurf zufolge ergeben sich familiäre Beziehungen aus der Beziehung zwischen Eheleuten, Eltern und Kindern sowie aus der Verbindung von Personen, die ein gemeinsames Kind haben und zusammenleben. [Durch diese Formulierung] fallen ehemalige Ehegatten und Partner, die keine Kinder haben, [aus der Schutzregelung] heraus.“ 

    Der Gesetzentwurf erstreckt sich außerdem nicht auf kinderlose Frauen, die in einer nicht registrierten Beziehung leben, und auch nicht auf geschiedene Frauen, die den ehemaligen Gatten nach Auflösung der Ehe häuslicher Gewalt beschuldigen. Dabei meldeten laut Statistiken für die Jahre 1996 bis 2002 (aktuellere Daten gibt es nicht) Frauen in Russland öfter Gewalt durch Ehepartner, die nach der Scheidung erfolgt. Nach einer Statistik des Zentrums Nasiliu.net (Nein zu Gewalt) werden 40 Prozent der Gewaltverbrechen in Russland in der Familie begangen. 

    Ein weiteres Detail: Die Initiative der LDPR sieht vor, das Opfer vom Aggressor zu isolieren und nicht umgekehrt – den Aggressor vom Opfer, wie es in internationalen Dokumenten empfohlen wird, betont Grjasnowa. Und die Juristin Mari Dawtjan ergänzt, dass eine Isolierung des Opfers die Betroffene noch vulnerabler macht. Erst recht, da Art und Weise der Isolierung im Gesetzentwurf nicht geregelt werden.  

    Höhere Strafen für Verbrechen in der Ehe 

    Gegenwärtig wird im Strafgesetzbuch und im Gesetzbuch über Ordnungswidrigkeiten die Verantwortung für Gewalttaten nur allgemein definiert – ohne Feststellung einer erhöhten Verantwortung dafür, wenn die Tat innerhalb der Familie verübt wurde. Die LDPR fordert nun eine stärkere strafrechtliche Verantwortung für Familienmitglieder.  

    Das würde bei einer Vergewaltigung folgendermaßen wirken: Die Vergewaltigung einer Ehefrau, Mutter oder Frau, mit der der Mann ein gemeinsames Kind hat, wird zu einem besonders schweren Fall, wodurch sich die Gefängnisstrafe erhöht. Derzeit kann für eine derartige Vergewaltigung eine Haftstrafe von drei bis sechs Jahren verhängt werden. Dem Gesetzentwurf der LDPR zufolge sollen solche Taten mit 15 bis 20 Jahren Freiheitsentzug bestraft werden. 

    Die Anwältin Grjasnowa erläutert am Beispiel Mord: „Mord zum Beispiel wird gemäß Paragraf 105, Absatz 1 des Strafgesetzbuchs mit Freiheitsentzug bis zu 15 Jahren bestraft. In Absatz 2 dieses Paragrafen werden die qualifizierenden Merkmale aufgelistet, aufgrund derer Strafen ausgesprochen werden können, die bis lebenslänglich reichen: bei hilflosem Zustand oder Schwangerschaft [des Opfers], bei Mord mit besonderer Grausamkeit oder auf gemeingefährliche Weise. Die LDPR will dieses Verzeichnis erweitern und Taten gegen Kinder, Eltern, Eheleute und Personen, mit denen der Täter ein gemeinsames Kind hat, in Absatz 2 aufnehmen, die dann mit bis zu lebenslanger Haft bestraft werden können.“ 

    Eine Million für Verleumdung 

    Doch die Menschenrechtlerinnen kritisieren: Die Definition häuslicher oder sexualisierter Gewalt im Gesetzespaket der LDPR ist so schwammig, dass mehrere Arten der Gewalt, die in Russland verbreitet sind, unberücksichtigt blieben. Die Anwältin Dawtjan zählt auf: „Aus der Definition physischer Gewalt wurden Schläge herausgenommen, obwohl sie am stärksten verbreitet sind; und bei wirtschaftlicher Gewalt sind keine Bestimmungen zur Nichtzahlung von Alimenten enthalten.“ 

    Gleichzeitig will die LDPR auch Verleumdung im Bereich der Familien- und Alltagsbeziehungen kriminalisieren. Das könnte einen sehr starken „Abkühlungseffekt“ haben, ist Darjana Grjasnowa überzeugt: „Selbst ein paar Verfahren, die eröffnet würden, nachdem Betroffene von ihrer Geschichte berichteten, dürften ausreichen, um sie für immer verstummen zu lassen.“ 

    Die Strafe für Verleumdung soll eine Million Rubel bzw. das Arbeitseinkommen für bis zu einem Jahr oder gemeinnützige Arbeiten von bis zu 240 Stunden betragen. 

    Dabei können Betroffene auch jetzt schon wegen Verleumdung belangt werden: Es gibt ja den Paragrafen 128.1 des Strafgesetzbuches. Die Initiative der LDPR sei nun aber ein direkter Versuch, sowohl den Opfern wie auch den Menschenrechtlerinnen, die den Mut haben, über verübte Gewalt zu sprechen, den Mund zu stopfen, betont Grjasnowa. 

    Mangel an Frauenhäusern 

    Tatjana Moskalkowa, die Menschenrechtsbeauftragte beim russischen Präsidenten, hat bei ihrem jährlichen Bericht vor dem Föderationsrat vorgeschlagen, staatliche Krisenzentren (ähnlich Frauenhäusern – dek) einzurichten und diese aus dem Staatshaushalt zu finanzieren. Diese Praxis gebe es bereits in 16 Regionen. 

    In derselben Rede sagte Moskalkowa aber auch, dass die wenigen bestehenden staatlichen Zentren überlastet seien. Und sie berichtete, wie sie mit Kolleginnen zwei Moskauer Zentren für Opfer häuslicher Gewalt besucht habe und „sehr erstaunt“ gewesen sei, dass es in den Einrichtungen für 100 Personen keine freien Plätze gebe. 

    „Wenn man sich die Statistik der UNO in Erinnerung ruft, der zufolge jede dritte Frau im Laufe ihres Lebens von physischer und/oder sexualisierter Gewalt betroffen ist, wird deutlich, dass die staatlichen Zentren schlicht nicht die nötige Anzahl Betten bereithalten“, bestätigt die Anwältin Darjana Grjasnowa. 

    Die Standards des Europarates besagen, dass pro 10.000 Personen eine Familienschlafstätte bereitgehalten werden sollte – also ein Bett für die Mutter und ein Kind (oder mehrere Kinder, je nach der durchschnittlichen Anzahl der minderjährigen Kinder im Land). Legt man diesen Schlüssel für Russland an, müsste es hier mindestens 14.700 Plätze für Opfer häuslicher Gewalt geben. 

    2014 und 2015 gab es in Russland in 53 Regionen 95 staatliche oder private Frauenhäuser mit insgesamt 1.349 Plätzen. Das sind elfmal weniger als der Europarat empfiehlt. Sogar in Moskau werden zwölf Mal mehr Plätze für Frauen in Krisensituationen benötigt als jetzt in den städtischen Einrichtungen vorhanden sind (2400 statt jetzt 200). 

    Sicherheit nicht für alle 

    Einfach nur neue staatliche Frauenhäuser zu eröffnen, reicht nicht, um das Problem häuslicher Gewalt zu bewältigen. Auch die komplexen Hilfsangebote müssen verbessert werden, sagt Darjana Grjasnowa weiter. Beispielsweise werden Frauen in einigen staatlichen oder kommunalen Einrichtungen nur mit lokaler Meldebescheinigung und einem ganzen Paket von Dokumenten aufgenommen. Dazu gehören dann eine Überweisung vom Sozialamt, der eigene Pass, die Geburtsurkunde des Kindes, Ergebnisse einer Röntgenuntersuchung, der Impfpass oder eine Bescheinigung über die epidemiologische Umgebung von Mutter und Kind. 

    Im Moskauer Krisenzentrum zur Hilfe für Frauen und Kinder, von dem Moskalkowa wohl sprach, kann eine Frau in „auswegloser Lage“ aber auch einfach so aufgenommen werden. Die notwendigen Dokumente kann sie dann nachreichen. In den übrigen Fällen entscheidet innerhalb von 60 Tagen eine spezielle Kommission über die Unterbringung. 

    In nichtstaatlichen Frauenhäusern hingegen erfolgt die Aufnahme in der Regel ohne viele Papiere. Sogar Frauen mit HIV können aufgenommen werden, wenn sie Prep-Tabletten nehmen – in den staatlichen Schutzhäusern gelten sie als Epidemie-Gefahr. 

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    Ob freiwillig gemeldet oder eingezogen, ob Schweißer oder Student, Großstädter oder Dörfler – sie alle hat Russlands Krieg gegen die Ukraine an diesem Ort versammelt. Wo die Raucherpause das Highlight des Tages ist und die Einnahme von Neuroleptika Routine: die psychiatrische Abteilung der russischen Militärkrankenhäuser. Dort werden Soldaten mit diversen Diagnosen – von Schizophrenie bis PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung) – monatelang behandelt, bis die Medizinische Kommission entscheidet: ausmustern oder weiter kämpfen? Keiner will wieder an die Front. Manche sagen, da gehen sie lieber ins Gefängnis oder bringen sich um. 

    Für das russische Onlinemedium Nowaja Wkladka, das sich auf Veränderungen im Alltag in den russischen Regionen seit dem Überfall auf die Ukraine spezialisiert, hat eine Autorin eine Woche als „Ehrenamtliche“ in solch einem russischen Militärhospital verbracht. Als Journalistin hätte sie keinen Zutritt bekommen.  

    Alle Namen wurden geändert, um die beschriebenen Personen nicht zu gefährden. 

    Im Eingangsraum, wo Passierscheine für Besucher ausgestellt werden, stehen zwei Männer und sieben Frauen. Eine darf nicht rein: Der Patient, den sie besuchen will, hat keinen Schein für sie beantragt. Die Frau schnappt wütend die Einkaufstüten vom Discounter, die vor ihr auf dem Boden stehen. 

    „Das ist doch Schikane!“, ruft sie mit tränenerstickter Stimme. 

    „Jetzt bloß nicht heulen“, sagt die Frau hinter ihr in der Schlange streng.  

    „Ich heul ja nicht.“ 

    Auf einmal knattert ein Maschinengewehr: Im Fernseher an der Wand läuft ein Kriegsfilm. 

     

    „Man will nur noch kämpfen“ 

    Das Krankenhaus versinkt im Grünen. Alle zwanzig Meter eine Bank, auf der Männer sitzen: Dem Einen fehlt ein Bein, dem Anderen ein Arm, der Dritte hat den Kopf einbandagiert. 

    Am Eingang zur Psychiatrie rauchen die Patienten. Wer keinen Stuhl mehr bekommt, hockt sich auf ein Schaumstoffpolster auf dem Bordstein. Der Spezialschlüssel für die Station steckt in der Kitteltasche der Krankenschwester, die daneben steht und aufpasst. 

    Ein langer, hell beleuchteter Korridor, schummrige Zimmer, in denen die Vorhänge zugezogen sind. Die meisten Patienten verbringen den ganzen Tag am Handy. Nachrichten über den Krieg lesen sie keine: „Es wird überall gelogen.“ Neben manchen Betten stehen Rollstühle und auf den Fensterbrettern Wasserflaschen. 

    Auf der Psychiatrie sind etwa 80 Menschen, die meisten aus niedrigeren Rängen bis hin zu Unteroffizieren: Feldwebel, Gefreite, Leutnants. Manche sind erst seit kurzem hier, andere schon seit dem Frühjahr, als draußen noch Schnee lag. 

    Die Patienten sind unterteilt in „verschärftes“ und „strenges Regime“. Erstere dürfen sich frei im Krankenhaus bewegen, Zweitere nur in Begleitung, damit sie sich und anderen nichts antun. Nach jedem Besuch kontrollieren die Schwestern die persönlichen Sachen der Patienten auf spitze und scharfe Gegenstände, Alkohol und Drogen. 

    Als Ehrenamtliche begleitet man die „Strengen“ zu den Ärzten. Die Männer müssen sich auch einer militärärztlichen Untersuchungskommission unterziehen, die feststellt, ob sie weiterhin diensttauglich sind oder nicht. 

    Verpasst mir doch gleich eine Spritze, damit ich verrecke. 

    Im Flur ist es stickig, die Gesichter der herumlungernden Patienten glänzen verschwitzt. Viele tragen uniforme gestreifte Pyjamas mit Aufdruck „Russische Armee“. 

    Die Patienten beäugen mich finster. Ein großer, schlanker Kerl in Unterhemd und Jogginghosen bricht das Schweigen. Alexej – so sein Name – baut sich dicht vor mir auf und sieht mir von oben direkt ins Gesicht: 

    „Ich bin kerngesund. Aber für die Gesellschaft bin ich nicht normal, genau wie die Gesellschaft für mich. Verpasst mir doch gleich eine Spritze, damit ich verrecke. Wenn ich hier rauskomme, wird die ganze Menschheit sterben.“ 

    Alexej hängt sich ein weißes Handtuch um den Hals und zieht mit einem unheimlichen Grinsen daran: „Der Stoff ist feeest.“  

    Er ist einer von den „Strengen“, und manchmal wirkt er wirklich wahnsinnig. Die meisten Patienten verhalten sich hingegen ziemlich normal: Sie reden mit mir, stellen Fragen, interessieren sich für das Leben „in Freiheit“. Sie alle sind auf Neuroleptika. 

    Ich bringe Alexej und ein paar andere Patienten zur schapka (dt. Mütze) – so nennen die Patienten hier die Elektroenzephalografie [EEG, da wird die elektrische Aktivität des Gehirns gemessen und grafisch dargestellt – dek]. Neben mir läuft schweigend Sergej, ein Mann Ende zwanzig aus einer Stadt an der Wolga. Im Krieg war er Späher. Während er auf die schapka wartet, spielt er auf seinem Handy Schach. 

    Ein junger Mann wird auf seinem Bett durch den Flur gerollt. Sein linkes Auge verdeckt eine Mullbinde, anstelle des rechten Arms hat er einen Stumpf. Auch der Rest seines schmalen, tätowierten Körpers ist einbandagiert. Er versucht, die verbliebene Hand zu einer Faust zu ballen, aber es geht nicht – im linken Ellbogen steckt ein Splitter. 

    Als Nächster ist Ruslan dran, ein großer, stämmiger Kerl aus einer Republik im Nordkaukasus. Er wurde im September 2022 eingezogen; in der Psychiatrie ist er gelandet, weil er nicht mehr schlafen konnte. Er ist 28 Jahre alt. 

    Man sollte alle, die wollen, in den Krieg schicken,  
    und die anderen in Ruhe lassen.

    Auf die Frage, was sie gearbeitet haben, nennen alle Patienten sofort ihre Funktion im Krieg, als hätten sie kein Leben davor gehabt. „Leitender Chemiker“, antwortet Ruslan ohne Umschweife. „Chemiker“, erklärt er, seien die, die das Gelände von Minen befreien. „In Wirklichkeit war ich einfach im Sturmtrupp. Da hat dich keiner gefragt, wer oder was du bist. Man sagt dir stürmen, und du stürmst.“ 

    Ruslan sagt, nach so einem Sturm wolle man „immer nur noch immer weiterkämpfen“. Das zivile Leben sei ihm seitdem zu langweilig. 

    „Man sollte alle, die wollen, in den Krieg schicken, und die anderen in Ruhe lassen.“   

    Ruslan sagt, er sei in den Krieg gezogen, weil er mobilisiert wurde und weil seine Brüder schon dort seien. 

     

    Verloren in der Zeit 

    „Fertigmachen zum Rauchen!“, ruft die Krankenschwester und schließt die Tür auf. 

    Alle strömen zum Ausgang, auch die, die erst vor fünf Minuten draußen waren. Ihre Gummilatschen quietschen auf dem Linoleum. Im Flur riecht es nach Desinfektionsmittel, die Lüftung rauscht leise. Ein Priester kommt uns entgegen: Er besucht die, die die Kommunion empfangen oder auch einfach nur reden wollen. 

    Pjotr Pawlowitsch geht nicht mit rauchen: Er liegt mit einer Kompresse am Kopf in seinem Zimmer. Es ist sehr heiß. Er muss zur schapka, hat aber keine Kraft. Die ganz Schwachen werden mit einem Krankenwagen zwischen den Gebäudetrakten hin und her gefahren. Der Krankenwagen ist sauber und ordentlich, wie frisch vom Werk. Vorne beim Fahrer läuft leise Musik. 

    Schleichende Demenz: Die Erinnerungen kommen nie wieder. 

    Wie er hier in der Klinik gelandet ist, weiß Pjotr Pawlowitsch nicht mehr. Vielleicht war es im Herbst. Oder Frühjahr. Er studiert aufmerksam mein Gesicht und sagt: „Wir haben uns schon mal irgendwo gesehen.“ Er hat blaue Augen und lächelt abwesend; ich schätze ihn auf ungefähr 60. Er wirkt desorientiert, beim Laufen muss er sich an den Wänden abstützen. Mehrfach sagt er besorgt, er habe seine Papiere nicht dabei. Als wir die Treppe hinaufgehen, hakt er sich vorsichtig bei mir unter. 

    Pjotr Pawlowitsch stammt aus einem Dorf in Zentralrussland. Bevor er sich freiwillig zum Krieg meldete, war er Schweißer. Abends finde ich sein Profil auf Odnoklassniki. Den Fotos nach war er passionierter Angler, der gern mit seinem Fang posierte. 

    „Wie sind Sie hier in unserer Gegend gelandet? Zugeteilt? Ein Verlobter?“, fragt Pjotr Pawlowitsch schelmisch. Ihm ist nicht bewusst, dass er Hunderte Kilometer von seinem Zuhause entfernt ist. Immerhin gibt er zu, dass er vergessen hat, welches Jahr wir haben. „2024“, erinnere ich ihn. 

    Entsetzter Blick. Er denkt, das sei ein Witz. 

    Später erzählt mir die Krankenschwester, dass Pjotr Pawlowitsch Alkoholiker ist. Er habe eine schleichende Demenz, seine Erinnerung werde vermutlich nie wiederkommen. 

    Während sie die Medikamente auf Plastikdöschen verteilt, schallen aus einem Zimmer Schüsse herüber: Ein Patient spielt Ballerspiele auf dem Notebook (die Patienten dürfen ihre Handys und Laptops auf die Station mitbringen). 

     

    „Weil ich bescheuert bin“ 

    „Strenges Regime, aber schwach“, sagt die Krankenschwester über den 55-jährigen Wladimir. Ausgeblichenes T-Shirt, strahlend blaue Augen, die nicht zu seinem abgestumpften, verlorenen Blick passen. Wladimir warnt mich vor, er sei nach einem Knalltrauma auf dem linken Ohr taub. 

    Vor dem Krieg war Wladimir Lastwagenfahrer im russischen Fernen Osten. Für eine mehrtägige Fahrt nach Jakutien bekam er um die 220.000 Rubel [umgerechnet ca. 2.080 Euro – dek]. Den Vertrag bei der Armee unterschrieb er 2023, nach eigener Aussage aus patriotischen Beweggründen. Im Krieg – wojnuschka, wie er verniedlichend sagt – war er Minenräumer. Wie eine Mine funktioniert, habe er bei YouTube gelernt: „Ich habe einfach nach ‚Minen entschärfen‘ gesucht.“ Im Trainingslager habe man ihnen lediglich Poster mit verschiedenen Granatenmarken gezeigt, bevor sie an die Front geschickt wurden. 

    In der Oblast Saporishshja, wo er im Einsatz war, hätten ihnen die Kommandeure verboten, mit Einheimischen zu sprechen. 

    „Ich habe am Anfang auch gedacht, dass da lauter Banderowzy sind. Dann hab ich welche näher kennengelernt – die sind genau wie wir, keine Banderowzy! Wir haben eine Weile ein Haus von den Leuten da gemietet. Na ja, was heißt gemietet, wir haben da einfach gewohnt. Der Nachbar hat uns Eier für 50 Rubel [ca. 50 Cent – dek] das Stück verkauft, brachte Grünzeug aus seinem Garten.“ 

    Wenn du überleben willst, trinkst du nicht im Krieg.

    Wladimir erinnert sich, wie sie gleich in den ersten Tagen im freien Feld abgesetzt wurden. Die Kommandeure hätten ihnen befohlen, Erdbunker zu bauen, und sie einfach zurückgelassen. 

    „Wir hatten nicht einmal Spaten. Wir waren 20 Mann, jeder gab 5.000 [Rubel, ca. 50 Euro – dek] dazu, dann sind wir los, kauften einen Generator, eine Kettensäge, Schaufeln und fingen an zu graben.“ 

    Auf die Drohnen, erinnert sich Wladimir, zielten sie mit Maschinengewehren: „Drohnenabwehr hatten wir nicht, die kostet eine halbe Mille.“ Dann landete Wladimir in einem „Säufertrupp“. 

    „Sie soffen, ließen ihre Gewehre überall liegen, und ich sammelte sie ein und räumte sie auf. Die Magazine sind schwer, wenn du sie in die Taschen steckst, zieht es dir fast die Hosen aus. Wenn du überleben willst, trinkst du nicht im Krieg. Einmal habe ich im Verteilungspunkt was getrunken, und plötzlich – Luftalarm. Ich steh da und merke, dass ich in diesem Zustand zu nichts in der Lage bin. Wer säuft, den knallen sie gleich ab. Seitdem lass ich die Finger davon.“ 

    Wladimir meint, dass der Krieg noch lange gehen wird: „Putin will sich so viel Land wie möglich abzwacken.“ Dass er den Vertrag unterschrieben hat, bereut er.  

    „Wenn ich gewusst hätte, dass ich mit Mäusen unter der Erde leben würde, wäre ich nie in den Krieg gezogen. Ich wusste überhaupt nicht, wie das wird. Ich wusste nicht einmal, was sie mir zahlen.“ 

    „Warum sind Sie dann hin?“ 

    „Weil ich bescheuert bin.“ 

     

    Ruslan reist ab 

    Am nächsten Tag treffe ich im Flur Ruslan. Er hat eine Sonnenbrille auf. 

    „Wie sehe ich aus?“ 

    Ruslan wird heute entlassen. Er will zurück in seine Einheit und fragt mich, ob ich ihn zur Bushaltestelle begleite. Ich lehne ab. 

    Eine halbe Stunde später fragt er mich: 

    „Gibt es heute Flüge nach Mineralnyje Wody?“ 

    Ich schaue nach: Die Tickets kosten 30.000 Rubel [ca. 280 Euro – dek]. Ruslan seufzt. 

    „Kommen Sie mit?“ 

    Ich erzähle der Krankenschwester davon. Sie ist vehement dagegen:  

    „Auf gar keinen Fall! Er hat die Behandlung verweigert. Keiner weiß, in welchem Zustand er ist!“ 

    Als ich aus der Station komme, sitzt Ruslan auf einem Sitzpolster und raucht. Er erinnert sich nicht mehr an sein Angebot und verabschiedet sich ruhig. Ich sehe ihn nie wieder. 

     

    „Lieber in den Knast“ 

    Nur wenige Patienten der Psychiatrie wollen mit einem Priester sprechen, auch wenn es ihnen die Ehrenamtlichen regelmäßig anbieten. „Nach den Tabletten, die sie uns geben, prallt alles Heilige ab“, winkt einer der Männer ab, bittet aber dennoch um eine kleine Ikone des Heiligen Nikolaus von Myra. Ein anderer lacht: „Bei uns hier leben Dämonen.“ 

    Andrej dagegen – er stammt aus einer Kleinstadt im Ural – ist erst nach einem Gespräch mit einem Priester in den Krieg gezogen. Bevor er den Vertrag unterzeichnete, ging er in die Kirche, um Rat zu suchen: Soll er an die Front oder nicht? Der Priester sagte, man müsse „für seine Sache einstehen“ und das sei „eine gute Sache“. So reden viele Geistliche, meint Andrej. Wenn der Pater damals gesagt hätte, dass kämpfen nicht gut ist, hätte er Zweifel bekommen. Jetzt trägt Andrej die gestreifte Krankenhauskleidung, geht mit Krücken und hört Stimmen ukrainischer Spione, die „auf den Bäumen sitzen“. 

    In den Krankenakten, die wir Ehrenamtlichen manchmal von anderen Stationen holen sollen, stehen die militärische Spezialisierung und die Diagnose der Patienten: Granatenschütze, paranoide Schizophrenie; Sanitäter, psychopathische Schizophrenie. Heute begleite ich den 27-jährigen Pascha aus Kyjiw zum Urologen, er ist einer der „Strengen“. In seiner Akte steht: Posttraumatische Belastungsstörung. 

    „Ich bin Fernmelder, hab ich mir selbst beigebracht. Ich habe mich im Bataillon bis zum Chef des Fernmeldetrupps hochgedient. Mit 18 bin ich in die Donezker Volksrepublik (DNR) gezogen, um gegen Nazis zu kämpfen.“ 

    Paschas Verwandte leben in Kyjiw. „Meine Mutter und mein Stiefvater sind auf unserer Seite, die anderen für die ukropy. Mein Vater war früher bei der [ukrainischen] Staatssicherheit, wir reden nicht mehr miteinander. Er sagt: ‚Geh und verteidige deinen Putin.‘ Obwohl ich Putin doch gar nicht so toll finde. Ich kämpf natürlich nicht für ihn. Er hat so viel Leute auf dem Gewissen.“ 

    Wenn irgendwer Druck macht, fang ich total zu zittern an, der Kopf macht nicht mehr mit. 

    Ein Mann wird im Rollstuhl hereingeschoben. Ihm wurde vor kurzem ein Bein amputiert. Die Pflegerinnen diskutieren, wie sie ihn zum Ultraschall bringen sollen: „Sie haben ihm schon die Narkose gegeben, gleich ist er weg.“ Irgendwie wuchten sie ihn aufs Krankenbett. Der mit Mull verbundene Stumpf hängt in der Luft. 

    „Da wurde nichts genäht, einfach nur abgesägt“, erklärt der junge Mann. Mit einem Stöhnen legt er den Stumpf aufs Kissen: „Au, au, au, Scheiße, verdammt.“ 

    Pascha sitzt mit seinem Handy da, er scrollt durch TikTok. Nachrichten überspringt er: „Uninteressant.“ 2019 hatte er seinen Armeevertrag gekündigt, doch am 22. Februar 2022 lebte er in der DNR und wurde mobilisiert. „Vom Verteidigungsministerium gab es null Unterstützung. Meinen ganzen Lohn hab ich in diesen Scheißdienst gesteckt. Die Kommandeure hat das nicht interessiert“, erzählt Pascha. 

    Im Krieg bekam er Panikattacken: hatte ständig Angst, konnte kaum noch schlafen. Er erklärt sich seinen Zustand durch den Stress und „die permanente Erniedrigung durch Vorgesetzte“: 

    „Wenn irgendwer Druck macht, fang ich total zu zittern an, der Kopf macht nicht mehr mit. Seit drei Monaten schlucke ich Tabletten, die helfen kein bisschen. Ich liege richtig flach, voll depri. Ich kann mich kaum unterhalten, als ob mir das Hirn stehenbleibt, der Kopf schaltet sich ab. Ich kann mich schlecht konzentrieren. Ich komm mir vor wie ein Idiot. Manchmal würd ich am liebsten Tabletten fressen, damit’s ein Ende hat.“ 

    Paschas Frau lebt mit den beiden Kindern in Zentralrussland, in einer kreditfinanzierten Wohnung. Sie wünscht sich, dass Pascha entlassen wird. Er sagt, dass sei „nicht realistisch“: 

    „Entweder in den Knast oder wieder in den Krieg. Sollen sie mich doch einbuchten! Fünf Jahre, aber dafür überleb ich. Und wenn’s zehn sind, häng ich mich auf und aus. Da gibt’s keinen Ausweg außer Selbstmord. Ich habe versucht, diese Gedanken zu vertreiben, habe immer sofort ‘ne Tablette genommen, um mich zu beruhigen. Manchmal hab ich Aggressionen, das ist erst recht beschissen. Dann hab ich nur ein Ziel – töten. Und manchmal, da bin ich gut drauf, aber dann hab ich auf einmal Leichen vor Augen.“ 

    Pascha und ich kommen vom Urologen auf die Psychiatrie zurück. Alte, hohe Linden, Halbschatten. 

    „Hier lebt ein Eichhörnchen in den Baumkronen. Haben Sie’s gesehen?“, sage ich. 

    Zum ersten Mal seit anderthalb Stunden lächelt Pascha. Ich zeige ihm ein Foto, er betrachtet es lange, gerührt. Als wir ins Krankenhaus hineingehen, erlischt Paschas Gesicht wieder. 

     

    Witja will zu Mama 

    Am Morgen regnet es, die Raucher drängen sich unter dem Vordach zu einer dichten Traube. Ich gehe mit dem 33-jährigen Witja zum Augenarzt. Vorsichtig stellt er in Gummilatschen einen Fuß vor den anderen. Er hatte eine Kontusion, jetzt fühlen sich seine Beine steif an. Die Zähne sind schlecht, er redet undeutlich. 

    Witja ist vor einem halben Jahr freiwillig in den Krieg gezogen. Aus einem kleinen Dorf an der Wolga. Er sagt, er hatte dort ein gutes Leben. 2023 kamen zu Halloween verkleidete Kinder, und Witja gab ihnen Süßes. 

    Seine Arbeit in der Holzfabrik brachte ihm 60.000 Rubel im Monat ein. Nicht genug, um einen Kredit über 40.000 für die Sanierung des Hauses abzubezahlen. Also unterschrieb er den Vertrag beim Militär. Witjas Mutter ist bettlägerig. Als ihr Sohn in den Krieg zog, „bekam sie Löcher, die Haut löste sich auf.“ Keiner kümmert sich um sie, sagt Witja. Er bereut seine Entscheidung, will zurück zu seiner Mutter. 

    Ein Dutzend Wartende beim Augenarzt. Unter ihnen eine grauhaarige, hagere Dame von vielleicht 75 im Rollstuhl. Der Arzt kommt aus seinem Zimmer: 

    Spezialoperation, wer ist der Nächste?“ 

    „Und wann bin ich dran? Ich hab nicht mal gefrühstückt und warte immer noch“, sagt die Dame. 

    „Sie müssen warten. Wer war noch bei der Spezialoperation, kommen Sie!“ 

    Ein Mann mit Basecap und Unterhemd rollt in das Behandlungszimmer. Ihm fehlt der rechte Arm und das linke Bein. Als Nächster kommt Witja dran, der ein Bein nachzieht. 

     

    Über Leichen gehen 

    Kamil studierte in einer Regionalhauptstadt Tiermedizin. Ihm fehlte noch ein Jahr zum Abschluss. Im Sommer 2022 unterschrieb er bei der Armee. Seine Eltern waren dagegen. Die jüngeren Schwestern schenkten ihm zum Abschied Anhänger: ein Blümchen und ein Legomännchen. Er trägt sie als Armband. Kamil ist mit 26 der Älteste von fünf Geschwistern. 

    Kamil hat ein feines Gesicht, lange Wimpern. Zuerst sagt er, er sei in den Krieg gegangen um „zu helfen“. Dann meint er: Wenn er gutbezahlte Arbeit als Übersetzer gefunden hätte, wäre er wohl nicht gegangen. Er erzählt, dass er einige Jahre in Syrien, der Heimat seines Vaters, gelebt hat und gut arabisch spricht. Kamil hat paranoide Schizophrenie. 

    „Wäre nicht das Geld, wäre ich nicht gegangen. Aber wenn man ein paar Tausender dafür kriegt, dass man einer Oma über die Straße hilft – na klar“, lacht Kamil. Einen Teil des „Kriegsgeldes“ hat er im Fronturlaub verprasst, den Rest gab er seinen Eltern. 

    Kampferfahrung hatte Kamil keine, er hatte lediglich in Russland seinen Grundwehrdienst geleistet. Er sollte einen Zug kommandieren, eine eigene Untereinheit der Kompanie. Kamil hatte keine Ahnung, was das bedeutet, willigte aber ein. 

    Im November 2023 geriet er unter Beschuss und wurde durch Splitter schwer verletzt. Laufen und springen kann er nicht mehr, den Zeigefinger kann er nicht mehr bewegen. Vor kurzem rief ihn ein Kamerad von der Front an. Er sagte, er beneide alle, die Beine oder Arme verloren haben, denn die müssen nicht mehr kämpfen. 

    Kamil erzählt, dass er um neun Uhr morgens verwundet wurde. Den ganzen Tag lag er mit einem Maschinengewehrschützen in einem Nadelwald, sie schossen zurück auf die Ukrainer in 500 Metern Entfernung. Er erinnert sich, wie er „Lieder sang, Zigaretten rauchte“ und sah, wie „die Kugeln die Äste abknickten“. Neben seinen Kopf hatte er eine Granate gelegt. 

    „Ich dachte nicht, dass ich da lebend rauskomme.“ 

    Im Krieg gibt es viel Dreck, in jeder Hinsicht.

    Am Abend liefen die Männer übers Feld. Es kam ein „Vögelchen“ [eine Drohne – dek] geflogen und warf eine Granate ab. Der MG-Schütze wurde verwundet. Kamil gab ihm einen Klaps auf den Helm: Lauf weg! Als er allein war, gingen ihm Gebete durch den Kopf. Er schleppte sich zu seinen Leuten und wurde nach Rostow am Don gebracht. Ab da verloren ihn alle aus den Augen. Am dritten Tag rief ein Freund Kamils Eltern an: „Ihr Sohn ist gefallen.“ Die Mutter fiel im Supermarkt in Ohnmacht, der Vater schlachtete drei Hammel, als Qurban [arab. Opfergabe – dek] für den Verstorbenen. Zwei Tage später rief Kamil zu Hause an: „Ich bin noch am Leben.“ 

    „Im Krieg gibt es viel Dreck, in jeder Hinsicht. Einmal haben wir eine Stellung bezogen, und dort gehen die Gräben nur bis zur Hüfte und sind sehr klein. Was für eine Scheiße, warum haben die nicht weiter gegraben? Da sagt einer: Schau nach unten! Da sehen wir, dass wir über Leichen gehen. So viele, dass sie sich schon mit der Erde vermischt haben. Keiner hat sie geborgen. Die Leichen waren Russen.“ 

    Nach einem Moment des Schweigens fährt Kamil fort: „Ich habe in dem Krieg niemanden getötet.“ Auf die Frage, ob das für ihn wichtig sei, zuckt er mit den Schultern. Es sei schrecklich gewesen, als von den Vorgesetzten der Befehl kam: „Macht eure Leute zu 200ern“.  

    Kamil zufolge kam das so: Zwei aus der Kompanie hatten sich betrunken und ballerten herum. Die Kommandeure verprügelten die beiden einen ganzen Tag lang, bis ihre Gesichter ganz blau waren. Dann übergaben sie sie an Kamil, „ohne Schutzwesten, ohne Waffe, ohne alles.“ „Macht sie fertig“, hieß es, berichtet Kamil. 

    Ihm taten die Jungs leid; er besorgte ihnen irgendwie eine Uniform und schickte sie mit irgendeiner Aufgabe los. Einer fiel, einer überlebte. 

    Kamil möchte am liebsten nach Hause und sein Veterinärstudium abschließen. 

     

    „Das war’s Leute, ich bin raus.“ 

    Drei Krankenschwestern sitzen beim Tee und beschreiben ihre Arbeit. Die Mutter eines Patienten hat selbstgebackenen Kirschkuchen mitgebracht. 

    „Hier liegen solche Typen, schrecklich. Im Krankenhaus kann man auch alles kaufen: Drogen, Wodka, Nutten … Und so viele Löcher im Zaun! Wenn einer weglaufen will, kann man das nicht verhindern. Du gibst der Wache 500 Rubel, gehst raus, gibst dir die Kante und kommst zurück. Drogen- und Alkoholabhängige werden von der Gesundheitskommission als Kategorie D [untauglich – dek] eingestuft. Einige kehren nach dem Krankenhaus zum Stützpunkt zurück: Sie helfen den Sanitätern, hacken Holz … Waffen bekommen sie nicht mehr in die Hand. Die anderen kriegen Kategorie C [eingeschränkt tauglich – dek] – und zurück geht’s. Die sitzen hier sieben, acht Monate [suchen Vorwände, um nicht wieder in den Krieg zu müssen]: Der Popo juckt, ein Pickel auf der Nase … Dass einer vom Krieg nicht mehr alle Tassen im Schrank hat, gibt es hier nicht. Die drehen ab, weil sie sich irgendeinen Chemiescheiß reinziehen, oder wenn sie vorher schon schizo waren. Gibt’s irgendeinen Stress, macht’s sofort klick.“ 

    Die Krankenschwestern erinnern sich aufgeregt, wie im Winter ein 20-jähriger Patient abhaute, ein Mobilisierter. 

    „Er ging vor die Tür eine rauchen und sagte: ‚Das war’s Leute, ich bin raus.‘ Und ist einfach übers Eis verduftet.“ 

    „Genau, in Sneakers durch den Zaun. Er hatte ein Taxi bestellt, das stand schon bereit." 

    Die Krankenschwestern sagen, der junge Mann sei nach Hause gefahren, dort dann „voll auf Drogen abgestürzt“ und habe sich nach drei Monaten im Schuppen erhängt. Seine Mutter kam danach ins Krankenhaus und holte seine Sachen und den Pass ab. 

    Die Krankenschwestern verstummen, kauen ihren Kuchen. Eine stellt ihre Tasse zur Seite und schaut mir fest in die Augen: „Normale gibt‘s hier nicht – Normale ziehen nicht in den Krieg.“ 

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