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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Das ist ein Krieg, in dem die Bevölkerung nur verlieren kann“

    „Das ist ein Krieg, in dem die Bevölkerung nur verlieren kann“

    Im postapokalyptischen Moskau des Jahres 2033 fristen die Menschen ihr Leben in den Schächten der Metro, einzelne Stationen sind Staaten: kapitalistische, kommunistische, faschistische. In seiner Metro-Reihe zeichnet der russische Autor Dmitry Glukhovsky eine finstre Dystopie, die Bestseller wurden auch international zu einem Riesenerfolg. In seinem jüngsten Roman Outpost beschreibt er Russland nach einem Bürgerkrieg in naher Zukunft. Die deutsche Übersetzung stammt von den beiden dekoder-Übersetzerinnen Jennie Seitz und Maria Rajer.

    Heute gehört Glukhovsky zu den lautstärksten unabhängigen Stimmen in Russland. Er äußert sich regelmäßig zu aktuellen Fragen und gilt als ein scharfzüngiger Kritiker des Systems Putin. In der aktuellen Kollektivschuld-Debatte argumentiert er, dass nicht alle Russen Täter seien – und dass der russische Krieg gegen die Ukraine Putins Krieg sei. Meduza hat den Autor zu seinem Standpunkt interviewt, Glukhovsky hat die Fragen schriftlich beantwortet. 


    Update vom 8. Juni 2022: Unterschiedlichen Medienberichten zufolge wurde Glukhovsky in Russland zur Fahndung ausgeschrieben. Dem Bestseller-Autor wird die „Diskreditierung der russischen Armee“ vorgeworfen wegen eines Instagram-Posts vom 12. März, in dem der Beschuss von Mariupol zu sehen ist und Putin beinahe das Wort „Krieg“ in den Mund nimmt. Der entsprechende Paragraph des russischen Strafrechts sieht bis zu zehn Jahre Haft vor.  

    Pawel Merslikin: Wenn ich Sie richtig verstehe, vertreten Sie den Standpunkt, dass dieser Krieg ein Krieg Putins und nicht Russlands oder der russischen Bevölkerung ist. Warum glauben Sie, dass die Mehrheit der Russen diesen Krieg nicht unterstützt? Unterstützung kann es ja in vielen Abstufungen geben. Man kann morgens und abends Hymnen auf Putin und Schoigu singen, man kann aber auch schweigend zustimmen.

    Dmitry Glukhovsky: Wie wir bei der Sitzung des Sicherheitsrats gesehen haben, gab es nicht einmal in Putins engstem Umfeld einen Konsens zum Krieg. Die Entscheidung wurde hinter verschlossenen Türen getroffen, am Volk vorbei, das diesen Krieg nicht wollte, und sogar abseits des Großteils der politischen Klasse. Alle wurden vor vollendete Tatsachen gestellt. Um sich von ihrer persönlichen Verantwortung für den Krieg und die daraus resultierenden Verbrechen reinzuwaschen, haben die Entscheidungsträger danach begonnen, zuerst die ganze politische Klasse mit Blut zu beschmieren, dann die gesamte Bürokratie und schließlich, mittels TV-Propaganda, das ganze Volk.   

    Die Bevölkerung unterstützt, wie mir scheint, den Krieg aktiv zu etwa zehn Prozent – das ist ein reaktionäres, obskures Element, im Grunde faschistisch, auch wenn sie sich selber Patrioten nennen. Der Rest sucht entweder Zuflucht bei der Kriegs-Psychotherapie, um die post-covidale Depression loszuwerden, glaubt das Märchen von der Fortsetzung des Großen Vaterländischen Kriegs tatsächlich oder nickt einfach zustimmend, damit sie ver*** noch mal endlich ihre Ruhe vor den Umfragen haben. Diese Umfragen werden nämlich manchmal vom FSO durchführt, und so werden sie auch überall wahrgenommen.

    Widerstand gegen das Böse bedeutet das Risiko, allzu viel zu verlieren: mindestens die Arbeit, schlimmstenfalls die Freiheit

    Im Grunde ist jedes Unterlassen von Widerstand gegen das Böse eine Unterstützung des Bösen. Nur bedeutet Widerstand gegen das Böse in der persönlichen Überlebensstrategie eines durchschnittlichen Menschen das Risiko, allzu viel zu verlieren: mindestens die Arbeit, schlimmstenfalls die Freiheit. Der Gewinn hingegen ist schwammig: ein reines Gewissen.
    Ob es da nicht einfacher ist, sich zu sagen: Das ist nicht mein Bier, ich habe da keinen Einfluss drauf, so eindeutig ist es auch wieder nicht, dass die Ukrainer gut sind, überhaupt ist das alles das Werk der USA, wir wurden da reingezogen, wir hatten keine Wahl, mich geht das nichts an, und ich lebe weiter wie bisher? Und schon ist das Böse kein so großer Dorn mehr im Auge, und die kognitive Dissonanz ist ohne große Verluste überwunden.  

    Aber wenn morgen Frieden eintritt, werden alle, außer die zehn Prozent Reaktionäre, erleichtert aufatmen. Man kann den Russen Passivität und Obrigkeitshörigkeit vorwerfen, man muss aber auch bedenken, dass die Staatsmacht jede neue Generation gezielt politisch kastriert und den Menschen einbläut, dass nichts von ihnen abhängt und sie mit Protesten niemals irgendwas erreichen werden, außer sich Probleme einzuhandeln. 

    Man kann den Russen Passivität und Obrigkeitshörigkeit vorwerfen, man muss aber auch bedenken, dass die Staatsmacht jede neue Generation gezielt politisch kastriert

    Der ukrainische Maidan hat zweimal gesiegt – und das ukrainische Volk hat ein Gefühl der eigenen Macht und Rechtmäßigkeit bekommen. Bei uns sind Proteste immer niedergeschlagen worden oder von selbst im Sand verlaufen. Wir haben nicht das Gefühl, etwas verändern zu können. Wenn die Menschen gegen den Krieg protestieren und ihre Freiheit aufs Spiel setzen, dann nicht weil sie hoffen, ihn stoppen zu können, sondern weil sie sonst das Gefühl haben, Kollaborateure zu sein, die nichts unternommen haben.      

    Die Position „Das ist ausschließlich Putins Schuld, die Menschen können gar nichts dafür“ wird sehr oft von russischen Intellektuellen vertreten. Meinen Sie nicht, dass das auch eine Spritze Gegenpropaganda ist, um sich selbst zu beruhigen? Weil es viel leichter ist, in einer Welt mit einem einzigen Bösewicht zu leben als in einer mit zig Millionen – die dazu noch mit dir in einem Land leben?   

    Eben diese zig Millionen Bewohner meines Landes brauchen eine Therapie. Sie leben in Armut und Hoffnungslosigkeit, werden von ihrer Regierung täglich erniedrigt, verblödet und aufgehetzt. Ja, sie sind unglücklich und verärgert, aber eigentlich ärgern sie sich über die Regierung: Die verspricht ihnen seit 20 Jahren ein besseres Leben, selber lebt sie aber wie die Made im Speck, verprasst Milliarden für Yachten und goldene Klobürsten und überlässt die Menschen im Grunde ihrem Schicksal, sowohl in der Pest als auch im Krieg. Aber der Zorn verfehlt wegen eines Knicks im Rückgrat sein Ziel. Die emotional ungefährlichere Strategie ist es, jene zu hassen, die man ungestraft hassen darf. Im gegebenen Fall also die Ukrainer und den Westen.     

    Unsere Leute muss man füttern, trösten und aufklären, nicht zu Mittätern erklären und einen Vernichtungskrieg gegen sie führen. Das Ausmaß der Verantwortung des deutschen Volkes während der totalen Mobilisierung zum Kampf oder während der Massenhysterie der 1930er Jahre ist nicht dasselbe wie der Z-Fimmel und die V-Mimikry: Gott sei Dank sind heute beides nur Sofa-Krankheiten.       

    Unsere Leute muss man füttern, trösten und aufklären, nicht zu Mittätern erklären

    160.000 Soldaten und Offiziere sind am Krieg in der Ukraine beteiligt. Aber 140 Millionen Russen sind noch nicht mit ukrainischem Blut befleckt. Man muss ihnen die Möglichkeit geben, die Teilnahme an diesem Krieg zu verweigern – die tatsächliche und auch die emotionale.
    Putins Staatsapparat versucht, der ganzen Welt und dem Volk weiszumachen, dass dieser Krieg ein Krieg des Volkes ist, dass alle gemeinsam dafür einstehen und alle gemeinsam diese Suppe auslöffeln müssen. Aber jeder, dem das Schicksal Russlands nicht egal ist und der ihm wünscht, die imperiale Matrix möglichst bald hinter sich zu lassen und ein gesunder, moderner Staat zu werden, bewohnt von glücklichen Menschen, sollte sich Gedanken machen, wie man die Menschen aus diesem Bann befreien kann. Sie aus dem Bann befreien, statt sie zu Unmenschen zu erklären und sie bis aufs Blut zu bekämpfen. 

    Im Interview für Radio Swoboda erzählten Sie, wie Sie bei Ausbruch des Krieges überlegt hätten, ob Sie ihn sofort öffentlich verurteilen sollen. Und diese Überlegung hätte 30 Sekunden gedauert. Worüber genau haben Sie in diesen 30 Sekunden nachgedacht? Welche potentiellen Konsequenzen haben Sie gegeneinander abgewogen?

    Ich dachte, dass ich mich genau jetzt, in diesem Moment zur endgültigen politischen Emigration verdamme. Dass ich mich der Möglichkeit beraube, in Russland zu leben, solange Putin lebt. 

    Es gibt vieles, was mich an Moskau bindet. Freunde, geliebte Menschen, meine Kindheit. Die Kultur, die Luft, die Sprache. Meine Arbeit, gesellschaftliche Stellung, Eigentum. Der Gedanke, erst an meinem Lebensabend, oder vielleicht sogar nie, nach Hause zurückzukehren, ist sehr schwer zu ertragen. 

    Auf der anderen Waagschale liegt das Gefühl, ein Feigling und Verräter zu sein, klar zu begreifen, dass du dich gerade auf die Seite des Bösen stellst. Denn einen Eroberungs- und Bruderkrieg und die Bombardierung friedlicher Städte zu unterstützen, in denen deine Freunde vor den Raketen Schutz suchen, – das wäre mehr als schäbig. Erst recht, wenn du dir bewusst bist, dass die Gründe für diesen Krieg durchweg erlogen sind, und der Krieg selbst nicht nur bestialisch, sondern auch vollkommen sinnlos ist. 

    Wenn Sie kein erfolgreicher Schriftsteller wären, sondern ein ganz gewöhnlicher Bewohner einer russischen Kleinstadt mit einem Gehalt von 30.000 Rubel [400 Euro – dek], hätten Sie dann länger als 30 Sekunden überlegt?

    Schwer zu sagen. Seit ich erwachsen bin und bewusst nachdenke, habe ich versucht, mein Leben danach auszurichten, möglichst unabhängig vom Staat zu sein, um mir meine Freiheit zu bewahren – auch die Freiheit zu denken und frei zu sprechen. Die Tatsache, dass ich jetzt diese Freiheit habe und sie nutzen kann, dass ich immer noch diskutieren, den Krieg Krieg nennen und seine Beendigung fordern kann – das ist ein Ergebnis dieser Bemühungen.

    Die Bombardierung friedlicher Städte zu unterstützen, in denen deine Freunde vor den Raketen Schutz suchen, – das wäre mehr als schäbig

    Aber natürlich bestimmt das Sein das Bewusstsein. Die Bewohner einer gewöhnlichen russischen Kleinstadt fordern keine Freiheit, weil ihre anderen, und zwar grundlegenden, Bedürfnisse nicht befriedigt sind: allem voran ihre Sicherheit, dann der Lebensunterhalt, ein gewisser Wohlstand, ein Leben in Menschenwürde, basale Grundrechte. 

    Wenn die Menschen sagen, dass sie sich Stabilität wünschen, dann meinen sie, dass sie Angst haben, dieses kleine bisschen zu verlieren, das sie haben. Vielleicht haben sie nicht einmal genug, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. 

    Sie sprechen viel über Propaganda und dass sie verantwortlich ist für das Geschehen. Wie erklären Sie es sich, dass die Propaganda die Menschen davon überzeugen konnte, die Russen würden die Ukrainer von Nazis befreien? 

    Das erkläre ich damit, dass die Menschen 20 Jahre lang auf die Ukraine vorbereitet wurden. Als Putin an die Macht kam, hat er, sobald er erkannte, dass die Ukraine ein alternatives Gesellschaftsmodell bietet, Kurs auf ihre Unterwerfung und Destabilisierung genommen. Russland hat sich in alle ukrainischen Wahlen eingemischt und sehr heftig auf die Maidan-Proteste reagiert. Zudem wurde 20 Jahre lang aktiv ein Siegeskult betrieben und befördert. Die Ukrainer wurden Stück für Stück zum Feind stilisiert: mal zu einem blutrünstigen, mal zu einem erbärmlichen. Während die Russen sich über das Erbe des Sieges definierten. Der Boden war also bereitet. 

    Propaganda lenkt die Menschen von ihren realen Problemen ab

    Die Propaganda arbeitet nicht im Interesse des Volkes. Sie lenkt die Menschen von ihren realen Problemen ab, an denen die Regierung Schuld trägt. Sie beschützt die Regierung vor dem Volk. Das tut sie, indem sie Nebelkerzen von erfundenen und aufgebauschten Konflikten wirft und so die Wirklichkeit verhüllt.

    Sie arbeitet mit psychischen und emotionalen Bedürfnissen der Bevölkerung, indem sie ihr eine Psychotherapie aus der Hölle verpasst. Der Mensch ist im realen Leben rechtlos und erniedrigt, also suggeriert man ihm die Größe der Nation, deren Teil er sei. Er ist verbittert und frustriert, also zeigt man ihm ein Objekt, auf das er seine Wut richten kann. Er verspürt Unsicherheit und Panik, also erklärt man ihm, er sei direkt von seinem Sofa aus an einer großen Mission beteiligt, die seine Entbehrungen und Leiden rechtfertigt.

    Der Mensch ist im realen Leben rechtlos und erniedrigt, also suggeriert man ihm die Größe der Nation, deren Teil er sei

    Deswegen ist die Abhängigkeit von der Propaganda auch so groß, sie ist regelrecht eine emotionale Droge. Deswegen nehmen die Menschen diese fetten, hässlichen und selbstgefälligen Visagen, diese triefenden Lügenorakel von Perwy und Rossija auch so positiv auf, geradezu als wären es ihre TV-Verwandten aus Fahrenheit 451. Andernfalls würden Angst, Panik und Zorn von den Menschen Besitz ergreifen und sie auf die Straße treiben. Der große und ewige Krieg gegen den Westen, der Verrat durchs Brudervolk und ein Russland, das sich von den Knien erhebt und rächt – das sind die Trigger und Klischees bei dieser Therapie.

    Viele Intellektuelle, Historiker, Politologen, Soziologen sagen, der Hauptgrund für den Krieg sei sowjetisches Ressentiment. Die Menschen würden sich nach einer starken Heimat sehnen. Sie würden dem Westen zeigen wollen, wo der Hammer hängt. Sogar dann, wenn sie die Sowjetunion gar nicht selbst erlebt haben. Würden Sie dem zustimmen?

    Die Konfrontation der Menschen in Russland mit dem Westen und der Ukraine kommt daher, dass sie das eigene Leben ständig mit dem Leben dort vergleichen. Aber diese Konfrontation ist nicht im Interesse der Menschen, sie haben nichts davon. Der Staat wiederum weiß, dass seine Bürger ihr unzulängliches Leben zwangsläufig mit dem „dort drüben“ vergleichen werden, solange nicht ein eiserner Vorhang das Ganze hermetisch abschließt. Und die Menschen werden sich zurecht fragen, warum ihr Lebensstandard nicht nur im Vergleich zum Westen, sondern auch zur Ukraine so niedrig ist. Warum die Bevölkerung nicht nur im Westen sondern auch in der Ukraine einen Regierungswechsel herbeiführen kann, während man bei uns schon allein durch den Gedanken daran riskiert, dass es bei dir an der Tür klingelt.

    Hier schafft die Konfrontation Abhilfe. Weil wir nicht sie sind. Weil sie Schwule haben und wir Vater-Mutter-Kind. Weil unsere Großväter gekämpft haben und sie die Nachfahren von Faschisten sind. Weil wir das Ballett und die Olympiade haben. Raketen, Raketen und noch mal Raketen. Weil alle Angst vor uns haben. Weil wir die Allergrößten sind, darum. Weil alle uns zugrunde richten und unser Öl unter sich aufteilen wollen, Abyrwalg! Weil Russland keine wirtschaftliche Supermacht ist, sondern eine militärische, weil wir die Unseren nicht im Stich lassen, ich will nichts hören, ich will nichts hören, ich will nichts hören! Überhaupt, wie kann man Ozeanien mit Ostasien vergleichen, bei uns leben richtige Menschen, und da drüben Unmenschen.

    Man muss sich die eigene Armut irgendwie erklären, das eigene Elend rechtfertigen. Nur wie? Mit der eigenen Einzigartigkeit. Die Geschmacklosigkeit, Korrumpiertheit und Unglaubwürdigkeit des heutigen Regimes kann nur durch die stilistische Unfehlbarkeit und die furchteinflößende Reputation Russlands in seiner letzten Inkarnation wettgemacht werden. Ja, wir sind Zwerge, aber wir stehen auf den Schultern von Titanen. Ganz einfach.

    In welchem Maße macht es überhaupt Sinn, die Ursachen für die aktuellen Ereignisse in der Sowjetzeit zu suchen?

    Die Wurzeln der Ereignisse liegen in der imperialistischen Vergangenheit und dem imperialistischen Wesen des russischen Staates. Haben Sie sich nie gefragt, wie das geht, dass bei einer rechtsextremen Demo in ein und derselben Kolonne Porträts von Nikolaus II. und Josef Stalin zu sehen sind? Der Erste gewissermaßen der Kerkermeister des Zweiten, der Zweite der Henker des Ersten? Das ist tatsächlich überhaupt kein Widerspruch. Als Persönlichkeit interessiert der eine wie der andere die Russen nur am Rande, ihre ursprüngliche Bedeutung für die patriotische Bewegung ist rein symbolisch. Beide symbolisieren das russische Imperium auf dem Gipfel seiner Größe, auch wenn dieses Imperium in neuem Gewand daherkommt, mit bolschewistischem Rebranding, und nicht auf Konservierung, sondern auf Modernisierung abzielt. Aber das ist für die meisten gar nicht mehr wichtig. Wichtig ist, welche Gebiete wir uns einverleibt, wen wir unterworfen haben, wen gezwungen, in der Schule Russisch zu lernen.

    Alle Probleme, Komplexe und strukturellen Missstände resultieren genau aus Russlands imperialistischen Wesen

    Weil es in Wirklichkeit keine patriotische, sondern eine imperialistische Bewegung ist. Weil uns, im Gegensatz zu Frankreich und England, die Epoche des Postkolonialismus erst noch bevorsteht. Weil unsere Kolonien unmittelbar an das Mutterland angrenzen, mit ihm verwachsen sind, und sie zu verlieren heißt, Russland selbst zu zerreißen. Deswegen ist dieses Thema tabu, mit sieben Siegeln verschlossen, Russland kann sich nicht offen eingestehen, dass es bis zum heutigen Tage imperialistisch ist. 

    Im Gegenteil, unter der Flagge des antiimperialistischen Kampfes hat Russland den Einfluss Europas in den ehemaligen Kolonien unterwandert. Aber alle Probleme, Komplexe und strukturellen Missstände resultieren genau aus diesem imperialistischen Wesen. Daher rührt auch die Hysterie im Hinblick auf die Ukraine und der Wunsch, sich mal Georgien, mal Kasachstan, mal Armenien unter den Nagel zu reißen.

    Die Propaganda verkauft diesen Krieg als eine Fortsetzung des Großen Vaterländischen Krieges. Was denken Sie, sollte der Siegeskult der letzten 10 bis 15 Jahre die Gesellschaft auf den Krieg vorbereiten? Oder bedient sich die Regierung einfach eines bequemen Narrativs, um ihr Vorgehen zu rechtfertigen?

    Die Regierung muss den Menschen ein Gefühl von Stolz auf ihr Land, auf die Heimat einflößen; denn Stolz berauscht und betäubt. Gründe, stolz zu sein, hat Putins Russland den Menschen kaum gegeben: nur die Krim und die Olympiade in Sotschi. Aber der olympische Sieg entpuppte sich am Ende als Betrug, er roch nach abgestandenem Urin.
    Auch die Krim ist ein zweifelhafter Triumph: der Sieg Kains über Abel – der jüngere Bruder schwächelt, und wir rammen ihm das Messer in den Rücken.
    Davor waren die Tschetschenienkriege, eine Katastrophe mit unklarem Ausgang, davor – der Zerfall der UdSSR, davor – Afghanistan, ebenfalls ein Reinfall. Und davor gab es lange nichts, nur die Zeit der Stagnation.

    Die Regierung muss den Menschen ein Gefühl von Stolz auf ihr Land, auf die Heimat einflößen; denn Stolz berauscht und betäubt

    Stolz könnte man auf Gagarins Flug sein – das wäre ein guter Grund, positiv und inspirierend, aber da kommt man nicht drumherum, einen Vergleich zur ver*** Idiotie der heutigen Leitung von Roskosmos zu ziehen und sich traurig und resigniert zu fragen, warum unsere Raketen heute nicht mehr fliegen (abgesehen von denen, die in ukrainischen Wohnhäusern einschlagen).

    Und damit hat es sich. Bleibt nur der Große Sieg. Seine Größe darf man nicht anzweifeln, sie ist heilig, geheiligt durch das Blut unserer Vorfahren: Die Opfer waren gigantisch, fast jede Familie hat jemanden verloren. Da hatte man ihn also gefunden, den Zement, der die letzte Amtsperiode Putins zusammengehalten hat. Und genauso, wie Schoigu sich Shukows Uniform überzieht, verkleidet sich auch der Staat. Er spricht und handelt immer mehr wie ein Schwerverbrecher, dabei durchlebt er natürlich eine schwere Persönlichkeitskrise: Sie wollen sich als Auserwählte und Helden fühlen, nicht als mittelmäßige Korruptionäre. In der altbekannten Pyramide der menschlichen Bedürfnisse hat unsere „Elite“ ihre Grundbedürfnisse längst gestillt, sich den Wanst mit Euromilliarden vollgeschlagen, und jetzt will sie die Herrscherin über die Meere sein.

    Dieser Stuss wurde irgendwann erfunden, um das Volk von Armut und Hoffnungslosigkeit abzulenken

    Zunächst kam die Krise der Selbstachtung, als man von Europa und den USA wollte, dass sie Russland unverzüglich als ebenbürtig anerkennen. Und jetzt sind wir, original nach Abraham Maslow [und seiner Bedürfnispyramide], beim Thema Selbstverwirklichung angelangt, bei der Verwirklichung unserer wahren Bestimmung; und siehe da, die Bestimmung ist genau die, die man dem Volk zehn Jahre lang eingeflößt hat: Krieg spielen. Oh weh, leider den Großen Vaterländischen. Und diese durchgeknallten Parasiten, denen in ihrem fortgeschrittenen Alter irgendwo tief drinnen aufgegangen ist, dass sie gelangweilte Banditen sind, haben selbst den Mist geglaubt, den sie dem Volk aufgetischt haben. Dass der Große Vaterländische Krieg nie aufgehört hat, dass sie die Nachkommen der Sieger sind, dass der Faschismus sein Haupt erhebt, dass sie die Heldentaten ihrer Großväter zu Ende bringen müssen.

    Dieser Stuss wurde irgendwann erfunden, um das Volk von Armut und Hoffnungslosigkeit abzulenken. Die Zyniker dachten, sie könnten im Fernsehtrog jeden Mist verfüttern. Das Problem ist, dass es bei uns keinen Intelligenztest gibt, um in die „Elite“ aufgenommen zu werden, und diese Elite ist dasselbe Lumpenproletariat und dieselbe Parteinomenklatur wie eh und je – aufgeladen mit den imperialen Komplexen und ebenjenem Chauvinismus.

    Die Elite ist dasselbe Lumpenproletariat und dieselbe Parteinomenklatur wie eh und je – aufgeladen mit imperialen Komplexen

    Deshalb hat die Elite selber dem Fernseher geglaubt. Die Zyniker wurden verblödet. Die „Eliten“ sind in eine phantastische Realität umgezogen, in der die Massen schon lebten. Noch schlimmer war, dass eine militärisch geprägte Religiosität ein Zeichen für Loyalität zu Putin wurde, und die Staatsbeamten fingen an, sich darin zu überbieten. Dennoch glaube ich, dass die Rhetorik vom Großen Vaterländischen Krieg nichts weiter ist als PR-Untermalung für eine imperiale Eroberungskampagne, der Versuch, sie reinzuwaschen und vor Kritik zu schützen, indem man ihr einen Heiligenschein aufsetzt.

    Sie halten diesen Krieg in vielerlei Hinsicht für einen Kolonialkrieg. Jetzt redet man schon offen davon, Russlands nächstes Ziel könnte Transnistrien sein. Was glauben Sie, ist Putin wirklich von der Idee einer neuen UdSSR besessen? Oder versucht er, mit diesem Krieg seine eigenen Probleme zu lösen? Länger im Amt zu bleiben? 

    Ich glaube, Putin kämpft in erster Linie gegen das Gefühl an, in der Geschichte eines großen Landes nur ein unbedeutender Mensch zu sein. Wie wir wissen, studiert er mit Begeisterung die Geschichte Russlands und muss sich natürlich mit seinen Vorgängern messen – zumal er schon länger im Amt ist als viele von ihnen. Er arbeitet daran, seinen Namen in die russische Geschichte einzuschreiben.     

    Putin, Gorbatschow, Chruschtschow, Stalin, Lenin, Nikolaus II., Alexander III., Katharina die Große, Peter der Große – und wofür stehe ich, was habe ich gemacht? Man soll mich bitte als den in Erinnerung behalten, der die Länder, die Gorbatschow verloren hat, wieder eingesammelt hat. Als jener Mann, der versucht hat, die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts zu korrigieren – den Zerfall der Sowjetunion!   

    Zumal das Volk, das sich nach der Ästhetik der Größe der Sowjetunion sehnt, der kommunistischen Leidenschaftlichkeit und dem sozialistischen Sozialpaket, nach zwei Jahrzehnten Idealisierung des Sowok durch das Staatsfernsehen ähnliche Träume hat.    

    Wird Russland diesen Krieg verlieren?

    Russland hat diesen Krieg schon verloren. Schweden und Finnland wollen in die NATO, die Allianz reicht nun direkt an Russlands Grenzen heran. Die USA und Europa sagen sich von russischen Energiequellen los. Wirtschaftlich hat das Land durch die Sanktionen einen schweren Schlag erlitten. 

    Putin hat Russland in Zugzwang gesetzt und damit sich selbst, denn wenn die russischen Geschichtsbücher einmal nicht mehr von den Rotenberg-Brüdern gedruckt werden, sondern von unabhängigen Verlagen, dann wird da über Putin nichts Gutes mehr drinstehen. 

    Meine große Angst ist, dass Putins Abdanken derart schwere tektonische Prozesse auslöst und unser Land erschüttert, dass die territoriale Integrität und die Existenz des ganzen Landes bedroht sein werden. Und natürlich ist das ein Krieg, in dem die Bevölkerung nur verlieren kann.

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    FAQ #4: Kriegsverlauf in der Ukraine

  • Wieso ist Stalin heute so populär?

    Wieso ist Stalin heute so populär?

    Den Befehl Nr. 00447 hat NKWD-Chef Nikolaj Jeschow am 30. Juli 1937 unterzeichnet. Mit diesem Befehl Über die Operation zur Repression ehemaliger Kulaken, Krimineller und anderer antisowjetischer Elemente begann die umfassendste Massenoperation des Großen Terrors unter Stalin. Hunderttausende wurden auf seiner Grundlage verhaftet, ein Großteil davon erschossen.

    80 Jahre später feiert Stalin eine Art Revival: Einer Umfrage des Lewada-Instituts zufolge halten 38 Prozent aller Russen Stalin für die herausragendste Persönlichkeit aller Zeiten – vor Staatspräsident Putin und vor dem Nationaldichter Alexander Puschkin. Nach wie vor verbinden viele Stalin mit dem Sieg über Hitlerdeutschland. Aber erklärt das allein die große Popularität?

    „Die Ent-Stalinisierung“, so schreibt Meduza, „kümmert in Russland heute kaum einen: die Gesellschaft verhält sich zu Stalin entweder gleichgültig oder gar wohlwollend.“

    Von führenden Wissenschaftlern und Experten wollte Meduza deshalb wissen: Hat denn überhaupt eine Ent-Stalinisierung stattgefunden in Russland? Oder warum ist die Figur Josef Stalin nach wie vor so populär?

    Juri Saprykin

     

    © Mark Nakoykher/Wikipedia unter CC BY-SA 4.0
    © Mark Nakoykher/Wikipedia unter CC BY-SA 4.0
    Juri Saprykin (geb. 1973) ist ein russischer Journalist. Bekannt geworden ist er durch seine Arbeit als Chefredakteur bei dem Online-Magazin Afisha.ru. 2011/2012 war er maßgeblich an der Organisation der Protestreihe Sa tschestnyje Wybory (dt. Für freie Wahlen) am Bolotnaja-Platz beteiligt. Von 2011 bis 2014 war er Chefredakteur der Mediengesellschaft Afisha-Rambler. 2015 wechselte er zur Moscow Times, wo er als Redaktionsleiter tätig ist..

    Zu Sowjetzeiten war Stalin wie Solschenizyn: irgendwas Verbotenes

    In Russland hat die Ent-Stalinisierung schon einmal stattgefunden. Ich erinnere mich an meine Kindheit, die mit der späten Ära der Stagnation zusammenfiel – damals klang das Wort „Stalin“ in etwa so wie „Solschenizyn“. Das war etwas Verbotenes, das nirgendwo und in keinster Weise zur Sprache kommen durfte. 

    Die politische Strategie der geschwächten Kommunistischen Partei bestand darin, Stalin komplett zu vergessen, einfach auszuradieren. Für jemanden, der Ende der 1970er bis Anfang der 1980er Jahre aufwuchs, existierte diese historische Figur gar nicht.

    Verbotene Volkshelden

    Stalin sah man, neben seinem gelegentlichen Auftauchen in irgendwelchen Kriegsfilmen, vor allem auf kleinen Porträt-Bildchen – hinter der Windschutzscheibe des nächstbesten Autos. Fernfahrer hängten sich bald Stalin, bald Wyssozki in ihre Fenster. Das waren damals Figuren ein und derselben Kategorie: verbotene Volkshelden. In diesem Sinne verkörperte Stalin weder Repressionen noch Massenmorde, sondern eine Ordnung, die dem einfachen Menschen in der späten Sowjetunion fehlte.

    Natürlich wusste niemand von den Repressionen, das Thema kam gar nicht erst auf. Doch es dachte auch keiner an Stalin als den großen Staatsmann, das war längst aus den Geschichtsbüchern gestrichen.

    Wunsch nach starker Führung

    Seit kurzem ereignet sich etwas Unerfreuliches in Russland: die Re-Stalinisierung. Diese schleichende Entwicklung geht einzig und allein auf den Wunsch der Obrigkeit zurück. Es gibt keine Nachfrage nach Stalin-Denkmälern seitens des Volkes, niemand schreibt dem Präsidenten Briefe: „Bringen sie uns Stalin zurück!“ Es handelt sich hier um eine bewusste Politik der Regierung: Das Pflanzen eines zarten Stalin-Kults als gewissen Orientierungspunkt – danach strebt die derzeitige Staatsmacht, das sei gut, dem solle man nacheifern.


    Ella Panejach

     

    © tv2.today
    © tv2.today
    Ella Panejach (geb. 1970) ist eine renommierte Soziologin aus Sankt Petersburg. Nach ihrem Studium der Politikwissenschaft, des Managements und der Finanzen in Sankt Petersburg promovierte sie 2005 an der Universität Michigan, USA. Seit 2015 ist Panejach Dozentin an der Europäischen Universität Sankt Petersburg.

     

     

     

    Sie sagen ,Stalin‘ und meinen: Wir wollen weniger Ungleichheit

    Die erste Ent-Stalinisierung scheiterte, weil es unmöglich war, die Schuldfrage anständig auseinanderzudividieren. Unter Chruschtschow hat sich die sowjetische Regierung in der Nachfolge Lenins positioniert. Doch tatsächlich lässt sich das System Stalins nicht von den ersten Jahre der Sowjetherrschaft trennen.

    Von Anfang an lag der Überwindung des Personenkults eine Lüge zugrunde: nämlich, dass es einen guten Bolschewismus und Kommunismus gegeben habe, aber dann sei Genosse Stalin gekommen und habe alles kaputt gemacht.

    Nur einen Teil des Traumas durfte man zulassen

    Das heißt, einen Teil des Traumas durfte man zulassen, einen anderen wiederum nicht. So musste die Liquidierung des Adels und der Bourgeoisie als Klasse weiterhin befürwortet werden, während die Verfolgung sowjetischer Beamter als Verbrechen und Ausschweifung gelten konnte. Die Tragödien im Zuge der Kollektivierung dagegen durften überhaupt nicht verurteilt werden, als hätte es sie nie gegeben.

    Während der Perestroika begann eine neue Phase der Ent-Stalinisierung. Es konnte darüber diskutiert werden, was wirklich passierte; die Archive wurden geöffnet, es kamen Möglichkeiten auf, diese Informationen auch zu veröffentlichen. Aber diese Tendenz ging einher mit dem relativ traumatischen Zerfall der Sowjetunion und einer tiefen Wirtschaftskrise. So wurden alle Bemühungen, die Vergangenheit zu bewältigen, in Verbindung gebracht mit den unbeliebten 1990er Jahren und der liberalen Politik, die für die Wirtschaftskrise verantwortlich gemacht wurde und so weiter. 

    Komplex historischer Mythen

    Für die Jugend heute geht es in dieser Geschichte nicht einmal um ihre Großväter, sondern um noch frühere Generationen, um Menschen, die sie nie erlebt haben. Das heißt also, dass dieses Trauma für sie kein lebendiges Gesicht hat. Ihr Verhältnis dazu ist weniger ein Verhältnis zu aktuellen, realen Ereignissen der jüngsten Vergangenheit als eher ein Verhältnis zu einem historischen Bild, zu einem bestimmten Komplex historischer Mythen.

    Was hat es mit Stalin heute auf sich? Für den Großteil seiner Bewunderer steht Stalin beispielsweise für effektive Führung, obwohl schon längst belegt ist, dass er kein guter Staatenlenker war. Er steht auch für den Kampf gegen Korruption, doch die gab es auch in der UdSSR, wie Historiker ja wissen.

    Stalin steht auch dafür, dass es in der UdSSR wesentlich weniger Ungleichheit gab als heute. Das ist schon etwas realistischer. 
    Der mythische Stalin verkörpert für seine Befürworter eine Gesellschaftsform, in der die Ungleichheit (und vor allem der demonstrative Luxus der Oberschicht) wesentlich geringer war als in ihrer gegenwärtigen Lebenswirklichkeit.

    Keiner will die Repressionen zurück

    Ich würde darauf achten, was die Leute eigentlich sagen wollen, wenn sie mit Stalin-Porträts auf die Straße gehen. Sie meinen damit nicht: „Wir wollen Repressionen; wir wollen, dass mehr Menschen ins Gefängnis kommen; wir wollen eine Zentralplanwirtschaft; wir wollen die Repression ganzer Völker; wir wollen, dass unsere Regierung einen weiteren Weltkrieg entfesselt.“ 

    Sie meinen damit: „Wir wollen weniger Ungleichheit; wir wollen weniger Korruption; einen sozialeren Staat als wir jetzt haben. Uns gefällt nicht, was wir haben, wir sind es leid, und um das zu artikulieren, wählen wir die Figur, die so grausam und abschreckend ist, wie möglich.“  In etwa das haben sie im Sinn, wenn sie Stalin zum besten Herrscher Russlands erklären.


    Ilja Wenjawkin

    © theoryandpractice.ru
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    Ilja Wenjawkin (geb. 1981) ist ein russischer Philologe und Historiker mit dem Forschungsschwerpunkt Sowjetische Kultur und Literatur. Neben seiner Forschung leitet er Bildungsprogramme der Diskussionsplattform InLiberty und ist Gründungsmitglied des Internetprojekts Proshito – einer elektronischen Sammlung sowjetischer Tagebücher.

     

     

     

    Die Ent-Stalinisierung ist noch nicht abgeschlossen


    Die Ent-Stalinisierung ist in Russland aus einer Reihe von Gründen nicht abgeschlossen. Üblicherweise wird als [wichtigster] Grund das Vorgehen der russischen Staatsmacht in den 1990er Jahren genannt: Die Aufarbeitung des sowjetischen Erbes war für Boris Jelzin kein substanzieller Teil seiner Agenda. Die Demonstrationen auf der Lubjanka einen Tag nach dem gescheiterten Putsch führten lediglich zur Demontage des Dsershinski-Denkmals. Niemand wagte es, die KGB-Zentrale selbst zu betreten, und weiterhin wurde das Fortbestehen dieser obersten repressiven Instanz des Landes am selben Ort wie vor 70 Jahren kaum noch in Frage gestellt. Im Grunde genommen ist der Versuch, einen offenen [gerichtlichen] Prozess gegen die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) zu führen, im Sande verlaufen.

    Kein fundamentaler Elitenwechsel

    Unter Jelzin hat außerdem kein fundamentaler Elitenwechsel stattgefunden. Zu einem großen Teil sind diejenigen an der Macht geblieben, die die Karriereleiter der UdSSR-Nomenklatura hinaufgestiegen waren. Am auffälligsten wurde die Elitenkontinuität erst unter Wladimir Putin, als klar wurde, dass 25 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion ehemalige Mitarbeiter des sowjetischen KGB und Mitglieder der KPdSU an der Spitze des Staates standen.

    Legitimation des heutigen Regimes

    Es stellt sich heraus, dass wegen des Fehlens einer eigenständigen Ideologie die sowjetische Vergangenheit eine wichtige Rolle für die Legitimation des aktuellen politischen Regimes spielt: Durch die kritische Auseinandersetzung mit Stalin und mit der sowjetischen Vergangenheit könnten die heutigen Machthaber in ernsthafte Bedrängnis geraten.

    Nach 1991 war das Bedürfnis nach Ent-Stalinisierung von Seiten der Gesellschaft nicht stark genug. Wie unlängst der Fall von Denis Karagodin zeigt, der im Alleingang die Namen derjenigen identifiziert hat, die an der Hinrichtung seines Vaters beteiligt waren, können konsequente und durchdachte Bemühungen auf privater Ebene sehr wirkungsvoll sein. Leider gibt es hier immer noch wenige Initiativen solcher Art.

    Gewalt als Norm

    Es ist wichtig zu verstehen, dass es nicht nur die Geschichte des Stalinismus an sich ist, die uns beschäftigt. Vielmehr werden damit auch wichtige Fragen über die Gesellschaftsordnung aufgeworfen, in der wir heute leben.

    Wenn wir heute über die Ent-Stalinisierung sprechen, meinen wir die Notwendigkeit der totalen Entautomatisierung der Gewalt: Wir müssen lernen, die Gewalt zu erkennen, die vielen gesellschaftlichen Institutionen inhärent ist, und aufhören, diese als etwas Normales hinzunehmen.

    In diesem Sinne ist der Kampf um die Rechte der Menschen in Heimen, Gefängnissen, im Militär und an den Schulen heute eine Fortführung der Ent-Stalinisierung der russischen Gesellschaft. Es ist nicht von grundlegender Bedeutung, ob wir Stalin erwähnen oder nicht, wenn wir darüber sprechen, dass keine Regierung dazu befugt ist, die Würde des Menschen mit Füßen zu treten. Dieser Kampf wird auf jeden Fall weitergehen, ob wir dabei auf die Geschichte verweisen oder nicht.


    Nikita Petrow

     

    © Rodrigo Fernandez/Wikipedia unter CC BY-SA 3.0
    © Rodrigo Fernandez/Wikipedia unter CC BY-SA 3.0
    Nikita Petrow (geb. 1957) ist ein russischer Historiker, zu dessen Forschungsschwerpunkten Verbrechen der sowjetischen Geheimdienste zu Zeiten des Großen Terrors gehören. Er arbeitet als stellvertretender Vorsitzender der Menschenrechtsorganisation Memorial, die sich für die historische Aufarbeitung der politischen Repressionen und für die soziale Unterstützung von Gulag-Überlebenden einsetzt.

     

    Jede Kritik an der Vergangenheit wird als Intrige des Westens dargestellt


    Die Ereignisse der sowjetischen Epoche liegen in der Vergangenheit, aber was beunruhigt uns heute? Uns beunruhigt, dass das Land im alltäglichen Leben noch immer nicht vom Gesetz regiert wird, dass die bestehenden Gesetze wie Imitate wirken.

    Es gibt eine Verfassung, die Rechte und Freiheiten garantiert, und es gibt den Alltag, in dem das alles mit Füßen getreten wird.

    Willkür statt Gesetze

    Wir sehen, wie wir zu den Praktiken zurückkehren, die es in der UdSSR gab, als der politische Wille der Führung und nicht das Gesetz den Alltag bestimmt hat. Von diesem Standpunkt gesehen ist die Ent-Stalinisierung eine Absage an eine solche Praxis, an die Regeln und Gewohnheiten der Willkür, die sich im sowjetischen System gebildet haben.

    Andererseits muss man juristisch einen klaren Strich ziehen unter die sowjetische Vergangenheit und sagen, dass die sowjetische Epoche nicht nur eine Epoche der Willkür war, sondern auch die eines totalitären und verbrecherischen Staates. Dieser Strich ist momentan noch nicht gezogen.

    Es tut sich was

    Wenn man Ent-Stalinisierung enger versteht als Gedenken an die Opfer der politischen Repressionen, dann tut sich da natürlich etwas. Allerdings im ständigen Widerspruch zu den Versuchen, Stalins Namen zurück auf die russische Landkarte zu bringen [durch die vorübergehende Umbenennung Wolgograds in Stalingrad – dek] oder das Thema 1945 zu forcieren und mit Stalins Persönlichkeit zu verknüpfen. Deswegen befürwortet der Staat nicht mal die vorsichtigsten Ent-Stalinisierungs-Programme.

    Leider haben sich der Staat und unser Volk als unfähig erwiesen, unter rechtsstaatlichen und demokratischen Bedingungen zu leben. Man ist ständig in alte Praktiken verfallen, weil man es so gewohnt ist und anders nicht kann. Das Primat des Staates vor den persönlichen Rechten ist heute die Visitenkarte des Kreml. Auch deswegen ist das Thema Ent-Stalinisierung so unbeliebt unter Russen. Mit Hilfe von Propaganda, Radio und Fernsehen hat man vielen Bürgern eingetrichtert, dass unsere Besonderheit in eine aggressive Xenophobie münden solle. Alle Versuche, die Vergangenheit zu kritisieren, werden als Intrigen des Westens dargestellt.

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  • „Heimat! Freiheit! Putin!“

    „Heimat! Freiheit! Putin!“

    Da stehen sie, Aktivisten der Nationalen Befreiungsbewegung (NOD), ein Grüppchen von 10, 15 Leuten, jeder von ihnen hält ein Schild in die Höhe, auf dem stehen Dinge wie „Heimat! Freiheit! Putin!“. Die NOD ist eine politische Randbewegung, ihre Mitglieder, darunter viele Rentner, halten an Putin als Leader fest, gleichzeitig aber hängen sie allerlei Verschwörungstheorien an, hauptsächlich der, dass alles Übel in Russland von den USA gesteuert sei. Politikwissenschaftler sprechen der NOD dennoch eine interessante Funktion zu: Als radikale Kraft lässt sie die Staatsmacht, gegenüber der sie sich stets loyal verhält, gemäßigt erscheinen.

    Viel ist über die NOD nicht bekannt. Um mehr herauszufinden, hat sich Bumaga-Journalist Pawel Merslikin ihr angeschlossen – für einen Monat. 

    I. WIE ICH DER NOD BEIGETRETEN BIN

    Petersburg, Uliza Lomonossowa. Hier, an der Ecke zur Uferpromenade der Fontanka, befindet sich eine Filiale der Russischen Zentralbank. Jeden Freitag von 16.30 bis 18.00 Uhr protestieren hier NOD-Aktivisten. Sie sind der festen Überzeugung, die Zentralbank arbeite für die „Feinde Russlands“.

    Anfang Mai sind sie nur zu dritt: eine füllige Dame in einem unförmigen Pelz und mit einer Mütze, an der eine große Fellblume prangt, sowie zwei ältere Herren in abgetragenen Daunenjacken. Der eine ist etwa 60, der andere wesentlich älter, er hat einen langen grauen Bart.

    „Wir sind Russland“, „Medien, hört auf zu lügen“, „Heimat! Freiheit! Putin“ – mit diesen und anderen Losungen stellen sich die NOD-Aktivisten auf die Straße / Illustrationen © Jekaterina Kassjanowa
    „Wir sind Russland“, „Medien, hört auf zu lügen“, „Heimat! Freiheit! Putin“ – mit diesen und anderen Losungen stellen sich die NOD-Aktivisten auf die Straße / Illustrationen © Jekaterina Kassjanowa

    Man sieht sie schon von weitem. Die NOD-Mitglieder verteilen Zeitungen mit einem Putin-Portrait auf dem Titelblatt. „Für Russlands Souveränität!“, rufen sie den Passanten hinterher und wedeln mit Fähnchen in den Farben des St. Georgs-Bandes. Die meisten Petersburger beachten sie kaum. Es sind vor allem Rentner, die auf die Aktivisten reagieren. Sie kommen auf das Dreiergespann zu und beginnen ein Gespräch über das Schicksal Russlands.

    „Was steht ihr denn hier rum?“, fragt eine ärmlich gekleidete Frau um die 65 die Aktivisten, wobei ihr Blick schnell von einem zum anderen springt.
    „Für Putin stehen wir hier. Zur Unterstützung.“
    „Na, wozu denn dann hier rumstehen? Sind doch sowieso alle für ihn. Meine Freunde und Bekannten, wir alle haben ihn gewählt.“

    Die NOD-ler nicken wohlwollend. Man kommt auf die neuesten Nachrichten zu sprechen. Die Aktivisten berichten von Nawalnys Film Nennen Sie ihn nicht Dimon. Sie sind überzeugt: Alles, was darin gesagt wird, ist Lüge.

    „Nawalny hat in den USA studiert. Er ist ein amerikanischer Agent. Es versteht sich doch von selbst, wessen Interessen er vertritt. Dabei zahlen wir den Amis auch so schon genug Abgaben. Eine Milliarde pro Tag, stellen Sie sich das mal vor!“, erklären die Aktivisten.
    „Eine Milliarde am Tag? Und warum?“
    „So sind nun mal unsere Gesetze.“

    Es sind vor allem Rentner, die auf die Aktivisten reagieren

    Nach beendeter Diskussion über die „Abgaben an die Amis“ und die „tote“ Jugend von heute bekommt die Rentnerin noch die offizielle NOD-Zeitung in die Hand gedrückt, in der erklärt wird, Russland sei eine Kolonie der USA, dann geht sie. Nun trete ich näher und sage, ich würde gern der Bewegung beitreten.

    Man reicht mir ganz selbstverständlich ein abgewetztes Plakat, das die Zentralbank auf­fordert, den Basiszins auf Null herabzusetzen. Eine Minute später stehe ich damit neben der Aktivistin Tatjana; sie hält ein Plakat, auf dem versichert wird, Lukaschenko arbeite mit den „Ukro-Faschisten“ zusammen.

    Es scheint, als hätten sich die NOD-ler heute nur versammelt, um mich willkommen zu heißen. Die Aktivisten wirbeln um mich herum, schütteln mir die Hand und lassen sich einer nach dem anderen mit mir fotografieren. Wenige Minuten später nennen mich die angestammten NOD-ler schon vertraulich Paschenka.

    Tatjana sagt zu ihren älteren Gleichgesinnten: „Da seht ihr es, die Jugend kommt. Wir stehen also nicht umsonst hier.“

    II. WIE NOD-AKTIONEN ABLAUFEN

    Wladimir hat von klein auf vom Meer geträumt. Doch Seefahrer zu werden klappte nicht. Im Laufe seines Lebens hat er ein Dutzend Berufe gewechselt: vom Anschläger bis zum Einrichter für medizinische Geräte. Heute ist Wladimir über 70, seit mehreren Jahren in Rente und hat nach eigener Aussage nur zwei große Aufgaben im Leben: den Enkel zur Schule zu bringen und in den Reihen von NOD für die Souveränität Russlands zu kämpfen. An den großen Traum vom Meer erinnert nur noch die in der Jugend gestochene Anker-Tätowierung auf seinem Handrücken.

    Zur NOD kam der betagte Petersburger vor etwa einem Jahr, nachdem er im Netz zufällig auf ihre Seite gestoßen war und ihr Programm regelrecht verschlungen hatte. Nun trifft man Wladimir immer donnerstags auf der Uliza Lomonossowa. Auch bei der traditionellen NOD-Sonntagsdemo ist er dabei.

    Bei drei der wöchentlichen Veranstaltungen stand ich Schulter an Schulter mit Wladimir. Sie folgten alle demselben Schema:

    Gegen 13.00 Uhr befestigten wir rasch ein mehrere Meter langes, abgewetztes Banner mit der Aufschrift: „Putin ist unser nationaler Leader“. Wir stellten uns dazu, griffen uns einen Stapel Propagandazeitschriften und versuchten sie zu verteilen. Wer keine Zeitungen verteilen wollte, konnte sich aus einem Haufen eines der alten, abgewetzten Plakate nehmen. So stand ich bei den Aktionen unter anderem mit Plakaten a là „USA, Finger weg von der Kiewer Rus“ oder mit einem riesigen Foto von Putin in Pelzmütze mit der Aufschrift „Wie geht’s unserem Alaska?“. Ein unangenehmes Gefühl.

    Weg mit der Fünften Kolonne – so lautet eine der Forderungen auf den Plakaten
    Weg mit der Fünften Kolonne – so lautet eine der Forderungen auf den Plakaten

    Für gewöhnlich kamen zu den Pikets drei bis sechs Leute. An guten Tagen waren es maximal 15 bis 20. Mehr aktive Mitglieder hat die Petersburger NOD offenbar gar nicht. Fast die Hälfte davon sind Rentner mit zu viel Freizeit und Sowjet-Nostalgie. Ansonsten trifft man bei den Aktionen noch eine Handvoll sehr bescheiden gekleidete Petersburger über 40 und ein paar patriotische Studenten.

    Ungeachtet ihrer Außenwirkung, sind die Aktionen der Bewegung von innen betrachtet ausgesprochen langweilig. Ihre Atmosphäre erinnert an einen Rentnerplausch auf der Datscha. Über Politik wird nicht diskutiert, meistens wird einfach geschwiegen. Wenn doch mal ein Gespräch aufkommt, geht es um Rückenschmerzen oder die guten Leistungen des Enkels in der Schule.

    III. WORAN GLAUBEN NOD-LER?

    Die ersten NOD-Aktivisten tauchten im Herbst 2012 auf russischen Straßen auf, kurz nach der Bolotnaja-Geschichte. Die Ideologie der Bewegung ist schnell zusammengefasst: An allem Übel in Russland sind die USA schuld.

    Es ist nämlich Amerika, das Gebühren anhebt und neue Steuerabgaben einführt, die Medien kontrolliert und die Staatsduma zwingt, Gesetze zu verabschieden, die Russland schaden. Amerika bringt auch die Schüler auf die Straßen. Außerdem glaubt man bei der NOD, der Maidan und der Konflikt im Donbass seien die Folgen eines im Grunde offenen Krieges, den die USA gegen Russland führen. Der Terror­anschlag in der Petersburger Metro sei nur ein Symptom dieses Krieges, so die feste Überzeugung in der Bewegung. Den Aktivisten zufolge sind amerikanische Geheimdienste an der Vorbereitung beteiligt gewesen.

    Mit der Theorie über die allmächtigen Feinde aus Amerika erklärt die NOD ausnahmslos alle Probleme in Russland, ohne dabei je von der offiziellen Linie der Regierung abzuweichen. Die protestierenden Fernfahrer erklärt man für geheime ukrainische Terroristen, die demonstrierenden Studenten für Satanisten, und korrupte Beamte für amerikanische Agenten.

    Die protestierenden Fernfahrer erklärt man für geheime ukrainische Terroristen, die demonstrierenden Studenten für Satanisten, und korrupte Beamte für amerikanische Agenten

    Die Aktivisten sind der Auffassung, die weitreichenden Befugnisse der USA seien gesetzlich verankert: Nach dem Zerfall der Sowjetunion habe Russland eine von „westlichen Beratern“ geschriebene Verfassung angenommen und sei zu einer Kolonie der USA geworden. Seitdem regiere Amerika das Land mithilfe der allgegenwärtigen Fünften Kolonne, der Zentralbank, der Medien und Oppositioneller wie Alexej Nawalny.

    Nur eine Handvoll Russen leiste Widerstand gegen die Okkupation, aber der wichtigste Kämpfer gegen die Amerikaner sei selbstverständlich Wladimir Putin, so die NOD-Mythologie. Während seiner 16 Jahre an der Macht habe er viel bewirkt. Doch Russland endgültig zu befreien, sei ihm schlichtweg physisch nicht möglich. „Die Amerikaner würden ihn gleich aus dem Weg räumen. Ja, auch die Staatsduma, in der sich die Fünfte Kolonne breitgemacht hat, würde das nicht zulassen“, erklären mir die NOD-ler anhand ihres Agit-Materials und nennen Putin einen Weltrevolutionär.

    Sie sehen nur einen Ausweg aus der Situation: Ein Referendum, mit dem die Verfassung geändert und das Primat des internationalen Rechts und der Verzicht auf Ideologie gestrichen wird. Außerdem: Putin muss uneingeschränkte Macht eingeräumt werden. Indem man beispielsweise Rechtsstrafen für Beamte einführt, die sich nach dem Willen der Amerikaner Putins Befehlen widersetzen.

    IV. WER DIE NOD ERFUNDEN HAT

    Gegründet wurde die NOD samt ihrer wirren Ideologie von Jewgeni Fjodorow, einem Dumaabgeordneten mit dem Aussehen eines Informatiklehrers.

    Wie er sagt, sei ihm immer schon klar gewesen, dass die Amerikaner Russland regieren. „Ja, die Duma verabschiedet nur Gesetze, die im Westen geschrieben wurden. Aber das hat mich nie davon abgehalten, meiner Arbeit nachzugehen. Genauso wenig wie es mich davon abgehalten hat, morgens aufzustehen und mich zu rasieren“, erzählt Fjodorow.

    Der NOD-Gründer sagt, es sei ihm immer schon klar gewesen, dass die Amerikaner Russland regieren

    Bekanntheit erlangte der Abgeordnete jedoch nicht durch seinen langjährigen Staatsdienst, sondern durch die Niederlagen, die er bei Debatten gegen Nawalny einstecken musste und bei denen erstmals der Slogan „Partei der Gauner und Diebe“ fiel. Außerdem noch durch die Gründung der NOD und durch einige aufsehenerregende Gesetzesvorhaben, die er initiiert hat. Darunter das Dima-Jakowlew-Gesetz, das Gesetz über ausländische Agenten, das Verbot von „Homosexuellenpropaganda“ und viele mehr. All diese Gesetze betrachtet er als Ergebnisse seiner Arbeit im „Hinterland des Feindes“ und als erste Schritte auf dem Weg zur Befreiung vom „amerikanischen Joch“.

    Dabei schreibt der Abgeordnete nicht wenige Veränderungen in der russischen Realität sich und seiner Bewegung zu. So hätten, wie der NOD-Anführer berichtet, Aktivisten mehrere Verschwörungen und Revolutionen in Russland verhindert, die Fünfte Kolonne bekämpft und wären sogar an Medienskandalen beteiligt gewe­sen. Sie hätten beispielsweise den Führungswechsel im Medienunternehmen RBC erwirkt.

    Auf dem Papier gibt es in der NOD ein „ideologisches Komitee“, eine Rechtsabteilung, Verantwortliche für humanitäre Spendensammlungen und Zusammenarbeit mit Unternehmern, eine Zeitung und sogar eine eigene, wenn auch wenig aktive Partei Nationaler Kurs. Allerdings tagen die Komitees laut Aussage der NOD-ler nur alle paar Monate. Die Bewegung werde eigentlich von gewöhnlichen Aktivisten aufrechterhalten.

    V. WER IST IN DER NOD?

    NOD-Gruppen sind derzeit in allen einigermaßen großen russischen Städten aktiv: Sie demonstrieren in Moskau und Nowosibirsk, halten Pikets vor der US-amerikanischen Botschaft in Petersburg ab oder tauchen zwecks Disput bei Aktionen der Opposition in Barnaul auf.

    Nicht selten arten diese Streits in Handgreiflichkeiten aus. Allein im letzten Jahr berichteten die Medien von NOD-Angriffen auf Alexej Nawalny, Ljudmila Ulitzkaja, den Petersburger Fotografen David Frenkel und sogar auf Schüler. Die NOD-ler weisen die Anschuldigungen zurück und behaupten, die Angreifer seien keine NOD-ler gewesen. Zudem betonen sie, sie würden ausschließlich mit gesetzeskonformen Mitteln für Russlands Wandel kämpfen.

    Insgesamt existieren in Russland mittlerweile über 200 NOD-Gruppen. Die Gesamtzahl der Aktivisten soll nach Angaben der Anführer der Bewegung bei über 160.000 liegen. Wobei  Fjodorow und seine Anhänger überzeugt sind: In Wirklichkeit sind es viel mehr. So zählen sie beispielsweise Wladimir Putin zu ihren Mitstreitern – ihn nennen sie den wahren Leader der Bewegung – und den Großteil der Silowiki.

    Die NOD sieht auch Wladimir Putin als ihren Mitstreiter – ihn nennen sie den wahren Leader der Bewegung – und den Großteil der Silowiki

    NOD-Aktivist zu werden ist ausgesprochen einfach. Es genügt ein Online-Formular auszufüllen oder bei einer der zahlreichen Aktionen zu erscheinen. In Petersburg finden zum Beispiel vier bis fünf NOD-Pikets pro Woche statt.

    Ein Neuling sollte allerdings keine aufsehenerregenden Großtaten erwarten. Die Aktivität der NOD beschränkt sich beinahe auf die täglich stattfindenden Aktionen von 3 bis 15 Personen mit Losungen wie „Heimat! Freiheit! Putin!“ oder „Unser Land, unsere Regeln!“, und hitzige Diskussionen neuester politischer Ereignisse in Sozialen Netzwerken.

    Waleri, ein kleiner, kräftiger Bauarbeiter von 55 Jahren, kommt regelmäßig zu den Aktionen, ungeachtet seiner gesundheitlichen Probleme und der mehrmonatigen Krankschreibungen. Bei der NOD ist er schon über ein Jahr, davor war er in einer anderen patriotischen Organisation mit verschwörungstheoretischer Schlagseite – der Partei Großes Vaterland (PWO) von Nikolaj Starikow.

    „Bei der PWO habe ich in der gesamten Zeit fast 50.000 Rubel [knapp 800 Euro – dek] ausgegeben, stell dir das mal vor!“, beschwerte er sich, während wir gemeinsam auf dem Newski mit einem Plakat zum Ruhme Putins standen. „Hier hingegen gibt es keine Monatsbeiträge, nichts.“

    Die Atmosphäre bei NOD erinnere an einen Rentnerplausch auf der Datscha, meint Journalist Pawel Merslikin
    Die Atmosphäre bei NOD erinnere an einen Rentnerplausch auf der Datscha, meint Journalist Pawel Merslikin

    Tatsächlich habe auch ich während meiner einmonatigen NOD-Mitgliedschaft gerade mal 500 Rubel [knapp 8 Euro – dek] ausgegeben: Zum 8. März haben wir für ein Weltfrauentagsgeschenk für eine der Aktivistinnen zusammengelegt.

    Die Finanz-Situation wirkt sich dennoch aus. Den Großteil der Agitationsmaterialien drucken die Aktivisten auf eigene Kosten, was dazu führt, dass sie jahrelang dieselben Plakate hochhalten und veraltete Zeitungen verteilen. Im März 2017 standen wir mit Materialien aus 2016 bei den Aktionen. 
    „Keine zentralisierte Finanzierung zu haben ist unser Prinzip. Die NOD ist eine Bewegung von unten nach oben“, erläutert Jewgeni Fjodorow. Wobei der Abgeordnete selbst womöglich durchaus über Finanzierungen verfügt.

    VI. WAS DIE NOD-FÜHRUNG MIT MILLIONENSCHWEREN FÖRDERUNGEN ZU TUN HAT

    Auf Anfrage von Bumaga hat die internationale Antikorruptionsorganisation Transparency International die Finanzierung der NOD analysiert.

    Die Experten stellten fest, dass russische regierungsfreundliche Bewegungen, die sich den Verzicht auf eine zentralisierte Finanzierung auf die Fahnen schreiben, ihre Gelder oftmals über ein gut entwickeltes Netz von nicht-öffentlichen, gemeinnützigen Organisationen und Stiftungen beziehen. Beispiele dafür sind Transparency zufolge das Projekt „Set“ oder Ofizery Rossii [dt. Offiziere Russlandsdek]. So ein Finanzierungssystem ermöglicht es, Umfang und Verwendung der erhaltenen Mittel zu verschleiern.

    Innerhalb der Organisationen, mit denen der NOD-Anführer Jewgeni Fjodorow in Verbindung steht, finden sich zudem einige, die Fördermittel vom Präsidenten erhalten. So hat zum Beispiel das Institut für Wirtschaft und Gesetzgebung, das auf Fjodorows offizieller Webseite oft Erwähnung findet, bereits drei Mal solche Förderungen erhalten.

    Fjodorow selbst räumt zwar ein, dass eine Verbindung zwischen ihm und den Fördermittelempfängern bestehe, hebt jedoch hervor, dass die NOD kein Geld von ihnen erhalten würde. Außerdem verfügt die NOD über zwei Spendenkonten, legt jedoch keinerlei Abrechnungen über die Finanzströme vor. Nach eigenen Angaben erhalte die NOD allein für die Unterstützung von Noworossija monatlich zwischen 47.000 [etwa 740 Euro – dek] und 329.000 Rubel [etwa 5.200 Euro – dek].

    Transparency stellt fest, dass an solch einem System de facto nichts illegal sei. Allerdings ermögliche es, Mittel nicht offenlegen zu müssen. Gleichzeitig betonen die Korruptionsgegner, dass die NOD keine hohen Geldsummen brauche, um ihre Aktivität auf dem bestehenden Level zu halten. Nach Einschätzung von Transparency reichten der Bewegung monatlich 300.000 [etwa 4700 Euro – dek] bis 400.000 [etwa 6300 Euro – dek] Rubel.

    Einer der Leiter der NOD-Gruppen stimmte dieser Einschätzung im Gespräch mit uns weitestgehend zu und nannte einen Richtwert von 200.000 Rubel [etwa 300 Euro – dek] im Monat.

    „Die Zentralverwaltung kann uns nur Bücher, Flyer, Plakate und Fahnen zur Verfügung stellen. Wobei wir den Großteil selbst herstellen: Beispielsweise schmeißen alle je 50 bis 100 Rubel [knapp 1 bis 2 Euro – dek] zusammen – für einfache Druckerpatronen, Papier und solche Sachen. Es gibt eine materielle Ebene, aber das ist nicht das Wichtigste. Ein Gehalt bekommt keiner“, hob er hervor.

    VII. WARUM ES DER NOD NICHT GELINGT, GROSSE MENSCHENMASSEN ZU MOBILISIEREN

    Der NOD gelingt es nicht, große Menschenmengen für ihre Aktionen zu mobilisieren. So war es auch am 18. März, als die Petersburger Aktivisten den Jahrestag der Krimangliederung feiern wollten. Es kamen keine 20 Personen, und es blieb bei einer Reihe von Einzelpikets auf dem Newski-Prospekt. Am darauffolgenden Tag veranstaltete die NOD eine weitere Demonstration auf der Malaja Sadowaja. Auch zu dieser Aktion kamen wieder nur dieselben 15 Leute.

    Wieder nur dieselben Aktivisten – wieder sind an allem Übel die Amis schuld, "Agenten des Westens, raus aus Russland" steht da etwa.
    Wieder nur dieselben Aktivisten – wieder sind an allem Übel die Amis schuld, „Agenten des Westens, raus aus Russland“ steht da etwa.

    Für das Scheitern der Krim-Aktion hatte man allerdings sofort eine Erklärung parat: Die Amerikaner sind schuld. „Die haben Poltawtschenko gesagt, es darf keine Massenveranstaltungen geben“, erklärte mir eine der Aktivistinnen und fügte hinzu, auch innerhalb der Bewegung gäbe es Spione, die verhinderten, dass man viele Aktivisten auf die Straße brächte. Dem stimmt auch Fjodorow zu, der immer wieder betont, es brauche noch ein, zwei Jahre bis zum „endgültigen Sieg der NOD“.

    Keine noch so große Oppositionsdemo vermag die NOD-ler zu entmutigen. „Da versammeln sich Nawalny-Kämpfer, Schwule, Weißbändchenträger und die Fünfte Kolonne. Natürlich können die diese Großaktionen als Sieg verbuchen. Aber sie gewinnen nur eine Schlacht, wir werden den Krieg gewinnen. Mit jeder unserer Aktionen rückt Russlands Souveränität näher. Es dauert nur noch ein Jahr. Wenn Putin 2018 wieder Präsident wird, ist Schluss mit den Amis“, erzählte mir der betagte Aktivist Waleri und machte sich nach einigen Klagen über Schmerzen in den Beinen und den Streit mit der Ehefrau gemächlich auf den Heimweg von seinem Einzelprotest.

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