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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Zukunft verboten

    Zukunft verboten

    Krieg, Sanktionen und inzwischen auch ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen den russischen Präsidenten – eine Frage, die derzeit oft gestellt wird, ist: Wie stabil ist das System Putin? Um diese Frage zu beantworten, lohnt zunächst der Blick in die Politikwissenschaft: Demnach hängt die Stabilität eines politischen Systems auch von dessen Legitimität ab, und diese wiederum vom Legitimitätsglauben, also dem Glauben an die Rechtmäßigkeit von Herrschaftsbeziehungen. Ein langlebiger Legitimitätsglaube ist nach Möglichkeit widerspruchsfrei und bietet bestenfalls eine Zukunftsvision. Beides ist im Putinismus nicht der Fall – darauf weisen zahlreiche Analysten schon seit dem Machtantritt des russischen Präsidenten hin. Was hält das System Putin dann zusammen? Was muss passieren, damit die Macht des Autokraten ins Wanken gerät? Und wie sehen mögliche Szenarien für die Zukunft aus?

    Zu diesen und anderen Fragen spricht der Journalist Pawel Kanygin mit der Politikwissenschaftlerin Ekaterina Schulmann auf dem YouTube-Kanal Prodolshenije Sledujet (dt. Fortsetzung folgt).

    Pawel Kanygin: Putin und der chinesische Präsident haben sich in Moskau getroffen zu Gesprächen, die für Russland nicht viel gebracht haben dürften. Wie sehen Sie das, Ekaterina, stimmt es, dass dieses Treffen eher China und seinen Ambitionen als Gegenspieler der USA genützt hat? Welche Rolle fällt in dieser Konstellation Russland zu? Wird Russland zu Chinas kleinem Bruder? Oder zum Satelliten?

    Ekaterina Schulmann: Ganz offensichtlich ist dieser Besuch aus China für die russische Seite momentan innenpolitisch extrem wichtig. Gerade erst hat der Internationale Strafgerichtshof einen Haftbefehl gegen den Präsidenten und die Ombudsfrau für Kinderrechte erlassen. Das war eine derart unerwartete, schockierende Nachricht für den Politikbetrieb im Land, dass die Propagandamaschine gar nicht wusste, wie sie sie vermitteln soll. Also wurde beschlossen, dieses Thema einfach auszusparen, weil die Wörter „Putin“ und „Haftbefehl“ in einem Satz ja dann doch zu beschämend sind. Der einzige Ausweg war, diese Nachricht mit irgendeiner anderen zu übertrumpfen: damit, dass das chinesische Staatsoberhaupt nach Russland kommt, unserem Tatverdächtigen die Hand schüttelt, ihn zu sich einlädt … So gibt er den russischen Staatsbürgern und, noch wichtiger, den Eliten zu verstehen, dass dieser Haftbefehl nicht so schlimm ist, dass er nicht in die internationale Isolation führt, sonst wäre ja nicht der Kollege aus China angereist und hätte wohlwollend eine Gegeneinladung ausgesprochen. Insofern ist der situative und kurzfristige Nutzen sehr groß.         

    Was meinen Sie, was bedeutet dieser Haftbefehl konkret für die Eliten? Sie nannten ihn beschämend, kommt das so an? Ist es eher beschämend oder eher etwas, das man ignorieren kann?

    Das ist überhaupt kein Widerspruch: Wenn man etwas Verletzendes zu Ihnen sagt, und Sie wissen keine Antwort darauf, dann können Sie es auch ignorieren. Natürlich wissen wir nicht so genau, was sich bei Einzelnen im Kopf abspielt, aber ausgehend von dem Wertesystem, das in diesen Kreisen herrscht, ist für sie der Internationale Strafgerichtshof irgendeine Unterabteilung des Washington-Obkom. Sie glauben, dass diese Richter Anrufe mit Anweisungen bekommen, wie und was sie genau zu tun haben, und es dann so machen.

    Gedankengänge: kurz und gerade, wie Bahnschwellen

    Die Idee einer unabhängigen Rechtsprechung und die Idee internationaler und supranationaler Organe sind unmöglich in die Köpfe der postsowjetischen Menschen hineinzukriegen. Sie sind nicht in der Lage und werden nie in der Lage sein, zu verstehen, was das ist. Daher denken sie eindimensional: Es gibt einen Internationalen Strafgerichtshof. Klar, dass über den die Amerikaner bestimmen, weil die Amerikaner die Herren über das ganze Universum sind. Dieser Internationale Strafgerichtshof hat bisher sechs Haftbefehle gegen amtierende oder ehemalige Staatsoberhäupter verhängt. Das waren alles Chefs von Staaten, die man nicht anders nennen kann als failed States. Gleichzeitig, denkt unsere Elite, haben die amerikanischen Präsidenten bombardiert, abgeschlachtet, geplündert und Unschuldige in Guantanamo gefoltert, so viel sie wollten, und keiner hat sich darüber beschwert. Und warum? In deren Logik: Weil die amerikanischen Präsidenten stark und mächtig sind und alle sie fürchten. Wer sind folglich die, die solche Haftbefehle bekommen? Die, die nicht stark und mächtig sind, die, die keiner fürchtet. Ist das gut?

    Ich kann es natürlich auch nicht hundertprozentig wissen, aber soweit man diese Leute nach jahrelanger Beobachtung durchschauen kann, sehen ungefähr so ihre Gedankengänge aus. Nicht lang, nicht komplex, ziemlich kurz und gerade, wie Bahnschwellen.   

    Heißt das, Putin verliert in ihren Augen quasi seine Legitimität, seinen Status als anerkannter und unhinterfragter Führer

    Na ja, nicht gleich die ganze Legitimität, die verliert man nicht so schnell. Es gibt kein einzelnes Ereignis, abgesehen vom physischen Tod, das die Macht des Präsidenten auslöschen würde. Das müsste schon eine ganze Kette solcher „bedauerlicher Missverständnisse“ und „zufälliger Pannen“ sein. Diese Kette hat schon relativ viele Glieder. Aber man weiß nie, welcher Strohhalm dem Kamel das Kreuz bricht. 

    Aber was muss passieren, damit die Macht des Autokraten ins Wanken gerät? Wie viele solcher Strohhalme müssen sich ansammeln, und was für welche?

    Das lässt sich mit der Stabilität einer Bank vergleichen. Bei keiner Bank ist das ganze Geld, das die Kunden eingezahlt haben. Es liegt nicht physisch dort. Die Kunden lassen ihr Geld auf dem Konto, weil sie überzeugt sind, dass das besser ist, als das Geld zu Hause aufzubewahren. Wenn eine Gruppe von Kunden sich dessen nicht mehr so sicher ist und ihr Geld abhebt, sehen das die anderen und heben ebenfalls ihr Geld ab – und die Bank geht pleite. Sie ist also so lange stabil, solange die Kunden ihr vertrauen, und das tun sie, solange sie vertrauen. Das ist ein bisschen mystisch. 

    Welcher Strohhalm bricht dem Kamel das Kreuz

    Legitimität ist in der Politikwissenschaft einer der umfangreichsten und schwierigsten Begriffe, weil er ein irrationales Element enthält. In Wirklichkeit weiß niemand, warum die einen Leute Befehle erteilen und die anderen ihnen folgen. Erklärungen dazu gibt es viele, aber wenn man ehrlich ist, dann stehen im Zentrum dieses Phänomens einige Rätsel. Also, der Wahrheit am nächsten kommt, dass die Macht Macht ist, solange die Menschen rundherum glauben, dass sie es ist. Genauso, wie eine Bank nicht alles Geld hat, das eingezahlt wurde, gibt es keinen Leader, der so viel Macht hat, dass er alles umsetzen könnte, was er eigentlich umsetzen müsste. Er kann es nur mithilfe anderer Menschen, aber nur, wenn die ihn tatsächlich für den Leader halten.

    Ich kann Ihnen nicht sagen, wie viele Strohhalme es braucht, um unserem Kamel das Kreuz zu brechen. Wir können nur erkennen, welches Ereignis sich als Strohhalm auf seinen Rücken legt, und welches ein Leckerbissen für ihn ist. Denn es gibt Phänomene und Ereignisse, die diese Legitimität füttern, und solche, die ihr schaden. Dieser Haftbefehl schadet ihr natürlich. Der Besuch aus China ist Futter. Was könnte hier eine Kettenreaktion auslösen? Wer wird der Kunde sein, der sagt: „Leute, wir sollten mal los. Hebt euer Geld ab, gleich wird das alles den Bach runtergehen.“ Was das sein wird, wissen wir nicht. 

    Wir haben viele historische Beispiele, wie in sehr autoritären und strengen Systemen Massenproteste angefangen haben. Das passiert nicht dann, wenn das System besonders böse Bösartigkeiten macht. Die wirken oft erst recht systemstärkend, weil sie die Menschen einschüchtern und keiner mehr Widerstand wagt. Aber die Kombination, der Eindruck einer Schwäche in der Führungsriege und gleichzeitig eine spezielle Gemeinheit, irgendeine Schweinerei, die manchmal gar nicht so groß sein muss – das kann so ein Trigger sein. 

    Was sind die offensichtlichen Strohhalme? Misserfolge aller Art an der Front zum Beispiel. Aber wie wir sehen, kann man sich aus Charkiw zurückziehen, aus Cherson, ohne dass groß etwas passiert. Doch eine Anhäufung derartiger Ereignisse, vielleicht wenn sie in einer kurzen Zeitspanne dicht aufeinander folgen, könnte vielleicht zu dem führen, was in Tolstois Krieg und Frieden beschrieben wird: Da schreit irgendein Soldat: „Das war’s, Leute!“ und rennt los, und alle rennen hinterher. 

    Die Empörung, die Unzufriedenheit mit der Situation muss also vom Volk ausgehen und nicht von den Eliten?

    Nein, im Gegenteil, so habe ich das nicht gemeint. In einer Autokratie ist natürlich die Position der Elite das Entscheidende. Solange sie dafür ist, den Status quo zu bewahren, wird sich dieser auch halten. 

    Am Beginn muss eine Schwäche stehen

    Andererseits ist gerade im Nachhinein oft schwer erkennbar, wer als Erster Alarm geschlagen hat, denn sobald die Staatsmacht zu schwächeln beginnt, fangen sofort die Proteste an. Wenn dann ein neues Regime kommt, sagt es, wir sind auf einer Welle des Volkszorns gekommen, das Volk hat den Tyrannen gestürzt, und nicht: Die Elite hat beschlossen, den Kopf des gealterten Diktators zu opfern, um sich die Verlängerung ihrer Position zu sichern. Das klingt nicht so schön, und für die Geschichtsbücher ist es auch nichts, deswegen, noch einmal, entsteht im Nachhinein der Eindruck, dem Volk sei die Geduld gerissen. Aber am Beginn muss eine Schwäche stehen, und erst danach kommen die Konsequenzen.  

    Wie lange kann man die Idee der [politischen – dek] Mobilisierung, der Geschlossenheit, der belagerten Festung noch bemühen? Dass die Eliten sich dicht um ihren Leader drängen müssen, weil sie im Westen geprügelt werden und Russland ihnen ein sicherer Hafen ist. 

    Das ist momentan tatsächlich das Schlüsselnarrativ, aber es mobilisiert nicht. Die Mobilisierung der Gesellschaft konnte nicht gelingen, weil unser politisches System seit 20 Jahren auf Entpolitisierung setzt, auf die Trennung von Bevölkerung und Regierung, auf die Verdrängung der Menschen aus der Politik, auf die Verfolgung jeglicher Vereinigungen, jeglicher sozialer Verbindungen. Warum wurden die NGOs so terrorisiert? Warum wurde die Zivilgesellschaft verfolgt? Warum Nawalnys Strukturen zerschlagen? Weil das eigenständige, netzartige Zusammenschlüsse waren, die von unten wuchsen. Das durfte nicht sein, Zusammenhalt darf es nur im Staat geben, nicht in der Gesellschaft. Das hilft beim Machterhalt, wie man sieht, auf sehr lange Zeit. Aber wenn man dann so gescheit ist, eine Situation zu schaffen, in der man eine Mobilisierung braucht, dann sieht man, dass die gar nicht mehr möglich ist.  

    Solange das Geld dafür da ist

    Unsere [Regenten – dek] haben das bereits verstanden und versuchen es auch nicht mehr. Stattdessen verkaufen sie genau diese Geschichte: Im Westen werdet ihr alle geprügelt und herabgewürdigt, haltet euch fern. Bleibt hier, wir tun euch nichts, und ihr verdient gutes Geld. Den Staatsbürgern sagen sie: Wir zahlen euch komplett alles, das Leben, den Tod, den Wehrdienst, die Kinder. Das ist dieser scheußlich klingende neue Gesellschaftsvertrag „Geld gegen Fleisch“ wie er in der Rede [Putins an die Föderationsversammlung – dek] artikuliert wurde: Ihr liefert uns lebende Ware, wir geben euch Geld. Und zwar so viel Geld, wie ihr noch nie gesehen habt. Bisher funktioniert das durchaus. Oder es heißt: Hier verdient ihr besser und schneller, mehr als im Westen, wir werden neue Gebiete erschließen, es wird Infrastrukturprojekte geben. Und, das wird zwar nicht ausgesprochen, schwingt aber irgendwie mit: Wir hören auf, euch wegen Korruption zu belangen, wir werden euch beschützen, und ihr werdet innerhalb Russlands und der freundlich gesinnten Länder absolut frei sein. Geht nur nicht in den Westen, da sind schlechte Menschen, Transparenz, Strafverfolgungen, allerlei unangenehme öffentliche Diskussionen. Das könnt ihr alles nicht brauchen.

    So ist also das Narrativ: Das ist ein Krieg, oder vielmehr eine Konfrontation mit dem Westen, die ewig und unüberwindlich ist. Wir sind zwei unterschiedliche Zivilisationen, daran wird sich nie etwas ändern. Aber das sei gut so, der richtige, natürliche Lauf der Dinge. Und wer betroffen ist, dem zahlen wir Geld, und dann wird es euch sogar besser gehen – was wolltet ihr denn mit diesem Verwandten, den keiner braucht? Geld ist doch viel besser. Also, so lautet das Angebot, der Gesellschaftsvertrag. Überzeugend? Absolut! Wie lange das anhalten kann? Da würde ich gern eine ganz einfache, plumpe Antwort geben: Solange das Geld dafür da ist. 

    Putin beschreibt Russland oder stellt es zumindest in öffentlichen Reden einerseits als mächtigen Staat dar, als Supermacht, und andererseits als Opfer des Westens. Was ist das für ein Doppeldenk? 
           
    Soweit ich das verstehe, ist das so gemeint: Ja, wir sind mächtig, reich und moralisch überlegen, und deswegen greift uns der Westen ständig an und wird uns immer angreifen, weil wir von Natur aus einander Feind sind. Aber wir sind so stark, dass er uns nie endgültig besiegen und in die Knie zwingen wird. Wir stehen immer wieder auf. Ohne dass wir uns je zur vollen Größe aufgerichtet hätten, sind wir so mächtig, dass der ganze kollektive Westen mit vereinten Kräften es nicht schafft, uns zu besiegen. Das ist, wie mir scheint, eine sehr vorteilhafte Darstellung des Geschehens, weil man niemanden besiegen und sich nirgendwo hinbewegen muss. Man kann jederzeit hinausgehen und sagen: Wir haben erfolgreich unsere einzigartige Zivilisation verteidigt, unsere Werte, sie konnten uns nicht versklaven, sie konnten uns nicht spalten. Seht nur, wir leben hier genauso wie vorher. Außerdem kann man sein eigenes An-der-Macht-Sein ebenfalls als permanenten Sieg hinstellen.  

    Die Rhetorik ist bei uns voller Angriffe, gleichzeitig geht es ständig darum, dass wir Opfer sind. Sind wir nun Opfer, oder sind wir am Gewinnen? Welches Bild entsteht in den Köpfen der Menschen, die sich das im Fernsehen anschauen? Und das mit dem sowjetischen Doppeldenk habe ich nicht grundlos gesagt — steht Putins Doppeldenk nicht in dessen Tradition?

    Der sowjetische Doppeldenk bestand darin, dass die Leute das Eine dachten, das Andere sagten und etwas Drittes taten. Und der postsowjetische Mensch, also die Generation, zu der ja unsere ganze Führungsriege noch gehört, kann nicht verstehen, dass es zwischen diesen drei Bereichen eine gewisse Beziehung geben muss. Wenn ihm vorgeworfen wird, dass er pausenlos lügt, dann versteht er nicht, was damit gemeint ist, weil er glaubt, dass das alle Menschen so machen. Die Verbindung zwischen Gedanken, Handlungen und Worten ist für ihn nicht klar, weil er in einer grundlegend anderen Kultur sozialisiert wurde, in der man sagt, was von einem erwartet wird, sich seinen Teil denkt und das tut, was einem je nach Situation nützt. Man hat also keine Prinzipien, keine Überzeugungen, kein irgendwie standfestes Denken. 

    Die unverfälschtesten Vertreter dieses Typus sind bei uns jene, die der Generation der sowjetischen Boomer angehören, geboren in den 1950er Jahren. Warum gerade die? Sie waren 1991 ungefähr 40, also bereits erwachsene Menschen, die fest im Leben stehen. Sie haben das gesamte Programm der sowjetischen Bildung durchlaufen und wurden bereits von Sowjetmenschen unterrichtet. Das ist eine sehr spezifische Generation, ihr wurde jede lebendige Verbindung zum vorherigen, vorsowjetischen Russland gänzlich abgeschnitten. Sie wuchsen vor dem Informationszeitalter auf, es gab für sie in vielerlei Hinsicht keine Möglichkeiten, sich auf eigene Faust weiterzubilden. Das sind die Leute, die uns regieren. Doppeldenk und dreifache Divergenz sind für sie absolut charakteristisch. 

    Keine Prinzipien, keine Überzeugungen, kein irgendwie standfestes Denken

    Was Sie angesprochen haben, das ist der öffentliche Diskurs, den die Menschen momentan vorgesetzt bekommen, in dem Russland Opfer und Sieger zugleich ist. Das erscheint tatsächlich unlogisch, aber ein öffentliches Narrativ dieser Art muss gar nicht mit Fakten überzeugen, sondern es muss emotional überzeugen. Das heißt, die Menschen wollen eine gemeinsame Emotion spüren, und die besteht darin, dass wir Angst haben und gleichzeitig stolz sind: Uns greifen alle an, aber wir leisten Widerstand, der niemals brechen wird. 

    Aber was Zukunftsaussichten angeht – das ist der größte Schwachpunkt. Anstelle der Zukunft gähnt die totale Leere, da ist nichts. Im öffentlichen Diskurs fällt nie ein Wort darüber, wie herrlich unser Leben sein wird, wenn wir siegen. Oder höchstens, dass wir die „Nazi-Regierung“ stürzen werden und das ukrainische Volk endlich aufwachen und erkennen wird, dass es in Wirklichkeit Teil des russischen Volkes sei. Und dann würden Russland und die Ukraine zusammen ein neues geopolitisches Zentrum bilden. Oder, dass wir uns mit China zusammentun und gemeinsam die USA besiegen, und dann … Es gibt dieses Bild der sogenannten multipolaren Welt, was immer das sein mag. Aber eine Vorstellung davon, wie toll diese multipolare Welt aussehen wird? Na gut, nun haben wir also die Hegemonie der USA gebrochen – und jetzt? Was kommt da noch so Großartiges auf uns zu?

    Anstelle der Zukunft gähnt die totale Leere

    Das ist ein ziemlich wichtiger Punkt, weil in der Öffentlichkeit oder überhaupt in der Politik oft das Fehlende wichtiger ist als das Vorhandene. Was nicht passiert ist, zählt oft mehr, als das, was passiert ist. Es lohnt sich, auf diese Lücken zu achten, sie sagen sehr viel aus. 

    Das Fehlen einer Zukunftsvision scheint mir sehr bedeutend. Meine Arbeitshypothese ist: Am effektivsten erreicht die aktuelle Propaganda Menschen derselben Alterskategorie wie unsere Regierung. Das sehen wir in allen Umfragen, bei jedem Thema. Das Alter ist der wichtigste Faktor, der die Meinung bestimmt, egal wozu. Vielleicht richtet sich dieser Diskurs an Menschen, die kein Bild der Zukunft entwerfen können, weil sie wissen, dass sie nicht mehr lange leben werden. Primitiv ausgedrückt. Daher brauchen sie auch kein solches Bild. Anders kann ich mir das nämlich nicht erklären. Die Sowjetmacht hat ein strahlendes Bild der Zukunft gemalt, Nazideutschland hat eine strahlende Zukunft versprochen, Mussolini hatte seine Idee vom neuen Rom, und in China gibt es die Idee der blühenden Gesellschaft. Egal, ob dieses Bild nun mehr oder weniger Details enthält, es kann auch nur ganz allgemein sein – aber es muss vorhanden sein. Bei uns hat man das Gefühl, es herrsche ein Verbot, als würden alle Sätze sofort unterbunden, in denen ein Verb im Futur vorkommt. 

    Aber was wird mit den Kindern passieren, mit den Jugendlichen, die man jetzt mit aller Kraft zu militarisieren und indoktrinieren versucht und denen man diese neo-sowjetische „Ideologie“ einimpfen will?

    Entgegen der landläufigen Annahme ist das, was Autoritarismus von Totalitarismus unterscheidet, nicht die Intensität der Repressionen. Schulbildung mit dem Ziel, die Kinder zu ideologisieren, ist aber ein Merkmal des Totalitarismus.

    Wohin kann das führen? Noch sind wir in der heißen Phase eines Konflikts, von dem noch keiner erschöpft ist. Daher braucht es keine langen Erklärungen. Man kann sagen, wir wurden angegriffen, wir wehren uns. Bisher ist das Fehlen einer halbwegs einprägsamen, halbwegs zusammenhängenden ideologischen Botschaft kein Problem. Aber wenn man sich zehn Jahre halten und eine ganze Generation von Schülern von der ersten bis zur zehnten Klasse indoktrinieren will, dann wird man allein mit der Geschichte, dass der Westen immer schon gegen uns war, nicht weit kommen. Da braucht es schon so etwas wie den sowjetischen Diskurs. 

    Der sowjetische Diskurs war etwas Ganzes, er war vielseitig und harmonisch zugleich. Er hatte eine philosophische Komponente für die Gebildeten – den Marxismus. Er hatte einen Teil, den wir heute Memes nennen würden — einprägsame, bunte Bilder und Sprüche, die jeder in der Sowjetunion kannte. Dazwischen gab es eine große Menge unterschiedlicher ideologischer Produktion – Malerei, Lieder, das Ballett Der helle Weg, allerlei Bücher, Gedichte, Prosa. Der sowjetische Mensch war komplett von Ideologie umgeben, er verwendete sie, war durchdrungen von ihr. 

    Durchdrungen von der Ideologie

    Wir haben bisher nichts Vergleichbares. So etwas können Sie erzeugen, wenn Sie a) die Zeit dafür haben und b) ein solches Monopol auf den öffentlichen Raum haben, so dass die Menschen, die lesen, schreiben, singen, malen oder tanzen wollen, gar keine andere Wahl haben, als zu Ihnen zu kommen und dieses ideologische Produkt zu schaffen. Bei uns ist die Situation noch anders: Wie viel Zeit wir haben, wissen wir nicht. Von der Zeit hängt hier tatsächlich vieles ab. Ein solches Monopol wie in der Sowjetunion besteht bisher auch nicht, weil die Menschen, die ihre kreativen intellektuellen Erzeugnisse verkaufen wollen, trotz allem die Wahl haben. Sie können sie irgendwo anders verkaufen oder angesichts der unklaren Lage erst mal gar nicht verkaufen und sagen: „Wisst ihr was, ich werde mir nicht gleich ein Z auf die Stirn malen, ich warte mal ab.“

    Noch gelingt es also nicht, die Jugend für diese neue Vergangenheit zu begeistern und an das sowjetische Gepäck anzuknüpfen? 

    In der Tat, wenn wir uns die Umfragen ansehen, dann sehen wir, dass jede Generation, die jünger als 65 ist, sich immer weiter vom [vorgegebenen – dek] normativen Ideal entfernt, dem offiziellen Diskurs immer weniger zustimmt. Die Gruppe der 18- bis 24-Jährigen ist in dieser Hinsicht am schlimmsten. Sie sind für den Staat vollends verloren, daher versucht er, sie lieber schnell zu vertreiben oder umzubringen oder in die Emigration zu zwingen, weil er sie nicht brauchen kann: Sie nehmen nicht an, was er ihnen beibringen will. Aber wir haben zehn Jahre mit einer relativ hohen Geburtenrate hinter uns, in den „goldenen Putinjahren“, als die Geburtenrate höher war als davor und danach. Das war der Zeitraum zwischen 2004 und 2014, zehn Jahre, in denen die Menschen daran glaubten, dass das Leben besser geworden ist, und etwas mehr Kinder bekamen … Wir haben also gar nicht so wenig Jugendliche: Die Älteren werden bald 18, die Jüngeren wurden gerade eingeschult, die 2016 Geborenen zum Beispiel. Während bei den 18- bis 24-Jährigen nichts mehr zu machen ist, kann man es mit diesen sehr wohl noch versuchen. Wenn man die irgendwie indoktriniert und dafür diese zehn Jahre zur Verfügung hat, dann hat man in zehn Jahren eine beträchtliche Zahl junger Leute, die, so der Plan, diesem Kurs treu sind. Und im Unterschied zur geburtenschwachen Kohorte der 1990er Jahre, mit der man jetzt [in der Ukraine – dek] zu kämpfen versucht, werden sich mit denen vielleicht sogar besser Kriege führen lassen. Und das ist eine Perspektive, die man angesichts der aktuellen Ereignisse nicht aus den Augen verlieren sollte, das wäre gefährlich.   

    „Im Unterschied zur geburtenschwachen Kohorte der 1990er Jahre, mit der man jetzt zu kämpfen versucht, werden sich mit den Jüngeren vielleicht sogar besser Kriege führen lassen.Und das ist eine Perspektive, die man angesichts der aktuellen Ereignisse nicht aus den Augen verlieren sollte, das wäre gefährlich.“ / Foto © Riccky 1409/Wikimedia unter CC BY-Sa 4.0

    Aber da muss man erstmal die nächsten zehn Jahre durchhalten. Grob geschätzt hat Putins Regime und Putin selbst … na ja, zehn, fünfzehn Jahre vielleicht noch. Was und wer kann die Nachfolge antreten? Wie kann die nächste Regierung aussehen, das nächste Regime, das in zehn, fünfzehn Jahren an die Macht kommt? Oder gehen wir immer noch davon aus, dass alles beim Alten bleibt?

    Alles, was wir als Antwort auf diese Frage tun können, ist mögliche Szenarien beschreiben und sie dann nach Wahrscheinlichkeit ordnen. Das Wahrscheinlichste ist immer das Trendszenario: Was auch immer Sie prognostizieren, am ehesten bleibt alles ungefähr wie bisher. Wie beim Wetter, in 85 Prozent der Fälle bleibt es morgen ungefähr so wie heute. Aber wenn das in 100 Prozent der Fälle so wäre, dann gäbe es keine Jahreszeiten. Genauso ist es hier: Unser Trendszenario ist so lange das Wahrscheinlichste, bis etwas Anderes passiert. Und dann löst sich der ganze Trend in Luft auf.  

    Ganz unwahrscheinlich ist dieses Szenario nicht

    Er verschwindet nicht gänzlich, das Vergangene wirkt immer auf die Zukunft, aber trotzdem. Sehen wir uns also dieses Trendszenario genauer an. Angenommen, das aktuelle politische Regime zieht diese – manchmal militärische, manchmal nicht-militärische – Konfrontation noch zehn Jahre in die Länge. Oder eigentlich noch zwei Amtszeiten des Präsidenten, sechs plus sechs. In dieser Zeit schaffen wir eine neue, vom Westen isolierte Wirtschaft, die zum Osten hin offen ist, bilden mit China irgendeine Art gemeinsamen Wirtschaftsraum, bauen neue Pipelines, neue Straßen, unsere Städte in Sibirien erleben einen Aufschwung, weil durch sie der ganze Verkehr läuft. Wir kämpfen irgendwie auf niedriger Flamme gegen die Ukraine oder ringen um eine Trennlinie. Na, wir machen aus uns eine Art Riesen-Donbass und haben diese acht Jahre, die zwischen 2014 und 2022 lagen, nun eben von 2024 bis irgendwann nach 2030. Inzwischen isolieren wir den Informationsfluss endgültig, etablieren die Plattform Rutube, schalten YouTube aus, transponieren alle auf unsere eigenen Plattformen, und die russische Bevölkerung vergisst mit der Zeit, dass es eine andere Medienrealität gibt, dass es Hollywoodfilme gibt, andere Lieder, andere Informationen, eine andere Literatur. Wir konsumieren das Eigene. In dieser Zeit perfektionieren wir auch unsere Gespräche über das Wichtige, erschaffen irgendeinen Ideologen, der uns eine Ideologie produziert, und folgen dieser in unserer Erziehung.         
       
    Unter Bedingungen der Isolation und womöglich ohne die Gelegenheit zu sehen, wie es auch anders ginge, erziehen wir zehn Jahre lang die Kinder, die wir geboren haben, als wir noch Geld hatten. Und dann, dann haben wir eine junge Generation, die wir einsetzen können, dazu noch die aus China bezogenen Ressourcen – und damit ziehen wir wieder in den Krieg. In dem wir sehr viel mehr Erfolg haben. In der Ukraine passiert in der Zwischenzeit aus irgendeinem Grund gar nichts, der Westen ist wie immer von allem müde, und da installieren wir in Kyjiw unsere prorussische Regierung. Des Weiteren kann man dann schon die Macht auf ein glänzendes Nachfolgeteam übertragen, das den dreifachen Staat aus Russland, Belarus und der Ukraine regiert. Na, wie gefällt Ihnen dieses Bild?

    Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, Ekaterina. Das will ich, wenn ich ehrlich bin, nicht mehr erleben.

    Das, was ich hier beschrieben habe, ist das Wunschszenario derjenigen, die jetzt an der Macht sind. Sie sehen hier Merkmale eines Trendszenarios – es soll alles so weitergehen, es soll uns nichts passieren, die Front soll standhalten, die Öleinnahmen nicht versiegen … Und wir bereiten uns in dieser Zeit, in dieser Pause der Geschichte, auf den nächsten rüstungsindustriellen und militärischen Kraftakt vor. Das heißt, hier haben wir ein Element eines Trendszenarios, das, ich wiederhole, sehr oft vorkommt, weil große Systeme, große soziale Körper diese Kraft der Trägheit besitzen und sich gewissermaßen selbst in die Zukunft fortschreiben. Aber es gibt auch Elemente, die sozusagen der Phantasie angehören, die davon ausgehen, dass die ganze Außenwelt einfach einschläft, während wir uns hier vorbereiten, und sich außer uns niemand wappnet.   

    Ich muss sagen, ganz unwahrscheinlich ist dieses Szenario nicht. Sie können sich wahrscheinlich genauso gut wie ich eine Konstellation der Ereignisse vorstellen, in der genau das passiert. Warum auch nicht? Noch einmal, alles, was wir tun können, ist, unsere Szenarien nach Wahrscheinlichkeit zu ordnen. 

    Am Ende [des Interviews] fragen wir immer alle: Wann sehen wir uns persönlich? In Russland, natürlich. Das heißt, Sie nennen uns ein Jahr, einen Monat oder vielleicht sogar ein genaues Datum und einen Ort, und wir gucken mal, ob wir das hinbekommen.

    Okay, also, nach dem Krieg um 18:00, ja? Meine vagen Schätzungen haben zwar nicht wirklich Hand und Fuß, aber trotzdem … Ich würde sagen, ab 2024 … Da fängt der Boden schon an nachzugeben, da sinken wir schon ein. Deswegen, lieber Pawel … Also, 2024 ist natürlich sehr mutig. Sagen wir, 2025, irgendwann im März. In der Redaktion der Novaya Gazeta … 

    Einverstanden, Potapow-Gasse Nummer drei. Vielen Dank, liebe Ekaterina, es war mir ein Vergnügen.    

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  • Podcast Prodolshenije Sledujet #1: Alles düster

    Podcast Prodolshenije Sledujet #1: Alles düster

    Können Sanktionen Putin stoppen? McDonalds, Zara, H&M haben in Russland dichtgemacht, und das ist erst der Anfang. Worauf man sich noch vorbereiten sollte – das kommentiert Journalist Pawel Kanygin in der neuesten Folge des Podcast Prodolshenije Sledujet und fragt:Ist das die Vergangenheit, oh Verzeihung, die Zukunft, zu der die Staatsführung unter Wladimir Putin die russischen Bürger verdammt hat, indem sie einen Krieg in Europa losgetreten hat?“

    Kanygin war lange Jahre Korrespondent der Novaya Gazeta, für die er auch 2014 aus dem Osten der Ukraine berichtet hat. Für seine investigativen Recherchen, unter anderem zum Abschuss der MH17, wurde er mehrfach ausgezeichnet. Auf YouTube betreibt er den Podcast Prodolshenije Sledujet (dt. „Fortsetzung folgt“). dekoder hat die aktuelle Ausgabe untertitelt und bietet Kontext:

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    „Hoffentlich zumindest keine neuen Kriege. Dann doch lieber den orthodoxen Sowok als Nordkorea.“ Andrej Loschak schrieb schon 2018 über Putins Ideologen und einen „höllischen Brei, der sich da in den Köpfen zusammenbraut.“

    Mehr über Tschetschenien in unserer Gnose von Marit Cremer.


    Deutsche Untertitel von Jennie Seitz und Ruth Altenhofer/dekoder.org
    Der Podcast Prodolshenije Sledujet auf YouTube
    Original veröffentlicht am: 30.05.2022

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  • „Sie sehen die Dinge einseitig!“

    „Sie sehen die Dinge einseitig!“

    32 Minuten dauerte die Autofahrt, auf der die Menschenrechtsbeauftragte des russischen Präsidenten Tatjana Moskalkowa, die Fragen des Novaya Gazeta-Korrespondenten Pavel Kanygin beantwortete. Oder eben auch nicht beantwortete: „Schwule und politische Gefangene – sind das etwa die brennendsten Fragen?“, sagt die russische Menschenrechtsbeauftragte und einstige Generalmajorin der Polizei im Interview zu Kanygin. Hier, wie auch an anderen Stellen, offenbart sich ein grundlegend unterschiedliches Verständnis dessen, was eigentlich mit „Menschenrechten“ gemeint ist.

    Das Interview, das die Novaya Gazeta in der vergangenen Woche veröffentlichte, schlug aber auch aus anderen Gründen hohe Wellen: Nicht nur, dass Moskalkowa während des Gesprächs unvermittelt vom „Sie“ zum „Du“ wechselt, die Namen renommierter Menschenrechtsorganisationen offensichtlich nicht auf dem Schirm hat, schließlich den Fahrer bittet anzuhalten und kurz darauf das Interview abbricht. Sondern sie wandte sich, wie Kanygin berichtet, eine Stunde später nochmal an ihn mit der Bitte, das Interview nicht zu veröffentlichen, da sie darin „einen schlechten Eindruck“ mache. Die Novaya Gazeta, die das gesamte Gespräch schließlich abdruckte, berichtet außerdem von „nicht-öffentlichem“ Druck, der auf die Redaktion ausgeübt worden sei. Und veröffentlichte das Gespräch – mit dem Hinweis, Staatsbeamte seien verpflichtet, über ihre Tätigkeit zu informieren. Zuvor war der Menschenrechtsbeauftragten drei Tage Zeit gegeben worden, das verschriftlichte Interview zu autorisieren. Eine Möglichkeit, von der sie aber keinen Gebrauch gemacht hatte.

    Pavel Kanygin: Die Tätigkeit als Menschenrechtsbeauftragte ist ein ganz neues Arbeitsfeld für Sie. Wie fühlen Sie sich in der Position?

    Tatjana Moskalkowa: Das ist eine rhetorische Frage. Die Antwort lautet: Es ist schwierig. Denn es ist ein neues Leben, ein anderer Blickwinkel auf die Geschehnisse, die ich in meiner bisherigen Laufbahn eben anders wahrgenommen habe.

    Dabei gehören Sie doch zu den Silowiki.

    Ich habe zehn Jahre in der Abteilung für Begnadigung des Präsidiums des Obersten Sowjets der RSFSR gearbeitet. Neun Jahre in der Duma. Das alles waren sehr wichtige soziale Erfahrungen für mich, denen nun ein besonderer Wert zukommt, wenn es darum geht, meinen Platz und meine Rolle im System zum Schutz der Menschenrechte zu verstehen und den Menschen nützlich zu sein. Und effektiv Menschen zu schützen, die in eine schwierige Lebenslage geraten sind. Menschen, die sich der Willkür, dem Bösen und der Unmöglichkeit widersetzen, im Kampf mit einem stärkeren Gegner ihr Recht zu verteidigen. Dank meiner Erfahrung und Kommunikationsfähigkeit ist mir diese Chance zuteil geworden.  

    In Russland hat es sich ergeben, dass die Idee vom Schutz der Menschenrechte im Antagonismus steht zur Regierung und zum System. Folgen daraus keine moralischen Widersprüche für Sie?

    Man verwechselt den Menschenrechtsrat oft mit einer Organisation für Menschenrechte. Der Menschenrechtsrat ist ein Staatsorgan. Es ist ein Organ, das sich quasi zwischen der Gesellschaft und dem Staat befindet.

    Unter den Menschenrechtlern ist die Menschenrechtsbeauftragte vielleicht sogar der größte Menschenrechtler

    Es spricht mit den Regierungsorganen in einer für sie verständlichen Sprache und schafft entsprechende Umstände, damit diese Organe nicht nur hören, sondern auch zuhören.

    Sie sehen sich also nicht als eine Menschenrechtlerin der Gesellschaft?

    Doch, genau das tue ich. Unter den Menschenrechtlern ist die Menschenrechtsbeauftragte vielleicht sogar der größte Menschenrechtler.

    Wie würden Sie die gegenwärtige Situation der Menschenrechte in Russland beschreiben?

    Ich denke, es gibt derzeit viele Verstöße im Land, die sowohl System- als auch Einzelcharakter tragen. Diese Verstöße lassen sich im sozialen Bereich wie auch im Bereich des Strafrechts und des allgemeinen Rechts beobachten … Aber der Fortschritt in unserem Bereich, im Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft ist nicht zu übersehen. Wenn wir unsere Zeit mit früheren historischen Abschnitten vergleichen, sehen wir einen Fortschritt!

    Meinen Sie wirklich, dass man die Gesetze, die die Regierung in den vergangenen Jahren verabschiedet hat, als Fortschritt bezeichnen kann?

    Welche zum Beispiel?

    Gesetze, für die auch Sie gestimmt haben. Beispielsweise das NGO-„Agentengesetz“ oder das Demonstrationsgesetz, das Dima-Jakowlew-Gesetz, das diskriminierende LGBT-Gesetz, das die sogenannte Propaganda von Homosexualität verbietet …

    Propaganda von Homosexualität? So ein Gesetz gibt es bei uns nicht. Sie meinen vielleicht das Gesetz zum Verbot von Kinderpornografie.

    Das Gesetz haben Sie auch unterstützt. Aber mir geht es um das Ganze.

    Lassen Sie uns ganz konkret sprechen. Wenn es Ihnen um Minderheiten geht, dann können Sie selbst sehen, dass die sexuellen Minderheiten seit 2012 und bis heute in keiner Weise in ihren Rechten beschnitten wurden.

    Sagen Sie mir doch, wo genau man LGBT einschränkt, dann können wir weiterreden

    Sie haben nicht aufgehört zu existieren. Man hindert sie nicht daran zu tun, was sie tun. Sagen Sie mir doch, wo genau man sie einschränkt, dann können wir weiterreden.

    Im Ausdruck ihrer Lebensform, im Familienrecht, in ihrem Recht, sich als gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft zu bezeichnen.

    Das alles gibt es nicht. Nennen Sie mir Beispiele für Beschränkungen ihrer Rechte. Vielleicht haben Sie ja recht und ich übersehe irgendwelche Vorgänge, die mit der Umsetzung der Gesetze verbunden sind.

    Gut. Was ist zum Beispiel damit, dass LGBT ihre gemeinnützigen Organisationen nicht anmelden dürfen? Sich nicht versammeln und keine Veranstaltungen durchführen dürfen? Keine Kinder adoptieren dürfen?

    Adoptieren dürfen sie nicht, nein. Was den Rest betrifft, so weiß ich, dass in Sankt Petersburg gerade erst eine Demonstration stattgefunden hat. Und man dafür gesorgt hat, dass sie nicht mit dem Tag der Fallschirmjäger zusammenstoßen. Damit die Interessen der unterschiedlichen sozialen Gruppen nicht aufeinanderprallen. Auch die LGBT existieren und führen Demonstrationen durch. Niemand engt sie ein.

    Anders gefragt: Sie sind bereit sich für die Rechte von sexuellen Minderheiten einzusetzen? Können sie mit Ihrer Hilfe und Unterstützung rechnen?

    Im Fall von Verstößen gegen ihre Rechte, werde ich natürlich alle Mittel ergreifen, um diese Verstöße zu beheben. Kennen Sie denn Fälle, in denen jemand aufgrund von LGBT-Zugehörigkeit in seinem Recht auf Bildung eingeschränkt worden wäre? Einen Arbeitsplatz nicht bekommen hätte? Oder an einer Universität nicht angenommen worden wäre?

    Solche Fälle gibt es ist massenweise, Tatjana Nikolajewna.

    Ich habe in meiner ganzen Amtszeit als Menschenrechtsbeauftragte noch kein einziges solches Gesuch bekommen. Und das ist die Wahrheit. Es ist die Wahrheit.

    Ehe wir das Thema LGBT abschließen, würde ich gern noch eine Sache spezifizieren. Als in der Duma über das „Antischwulen-Gesetz“ diskutiert wurde, weiß ich, dass unter anderem Sie sich dafür eingesetzt haben, den Paragraphen zur Strafbarkeit von Unzucht zwischen Männern wieder ins Strafgesetzbuch aufzunehmen. Hat sich Ihre Position seitdem geändert?

    Nein! Ich habe niemals … Das ist völliger Unsinn! Sie können sich die Mitschriften der Duma besorgen und sich selbst davon überzeugen.

    Sie haben in einem Interview darüber gesprochen.

    Nein, ich habe mich nie öffentlich für eine Wiedereinführung der Strafbarkeit von Unzucht zwischen Männern eingesetzt. Denn meinen Überzeugungen nach bin ich Demokratin und schätze alle Errungenschaften der 1990er Jahre, die wir erkämpft haben: die Aufhebung des Eisernen Vorhangs, die Menschenrechte, die Abschaffung des Einparteiensystems, ein freies Parlament und auch den Verzicht auf die Strafbarkeit von Unzucht zwischen Männern.

    Tatjana Moskalkowa / Foto © CC BY-SA 3.0
    Tatjana Moskalkowa / Foto © CC BY-SA 3.0

    Aber ein Mensch kann trotzdem seine eigene Meinung haben. Dem einen gefällt Rot, dem anderen Schwarz. Ich gehöre nicht zu denen, die gleichgeschlechtliche Beziehungen ausweiten wollen, aber auch nicht zu denen, die sie unterbinden wollen. Das ist ein sensibler Bereich, allerdings bin ich eine Anhängerin von traditionellen Beziehungsformen.

    Gut. Lassen wir dieses sensible Thema. In diesem Jahr wurden unter Ihrem Vorsitz staatliche Förderungen an unterschiedliche NGOs vergeben. Die Menschenrechts-NGOs wurden jedoch weitestgehend ignoriert. Gesellschaftliches Verdikt, Für Menschenrechte oder Memorial bekamen keine Förderung. Bei der Moskauer Helsinki-Gruppe gab es Schwierigkeiten. Aber dafür haben die Nachtwölfe Geld bekommen. Wie erklären Sie das?

    [Pause] Die Arbeit der Vergabestelle ist folgendermaßen aufgebaut: Alle Anträge auf Förderung werden Experten vorgelegt. Es gibt Kriterien, anhand derer die Experten Punkte vergeben. Wenn ein Projekt nicht den Förderkriterien entspricht, erhält die Organisation eine niedrige Punktzahl.

    Auch die Förderkommission ist an das Urteil der Experten gebunden. Wenn eine Organisation eine niedrige Punktzahl erhalten hat, dann hat die Kommission kein Recht, ihr eine Förderung zu geben. Wenn eine Organisation schon mal eine Förderung bekommen hat, muss sie erst einmal einen Bericht über die Verwendung vorlegen. Sobald ein Bericht vorliegt, kann sie sich wieder bewerben …

    Könnten Sie trotzdem etwas zur Situation der konkreten NGOs sagen, die ich genannt habe?

    Pawel, ich kann Ihnen nachher zu jeder einzelnen Organisation etwas sagen. Heißt sie genau so – Helsinki-Gruppe? Und ihr Antrag wurde abgelehnt?

    Sie heißt Moskauer Helsinki-Gruppe.

    Das ist der genaue Name? Und ihr Antrag wurde abgelehnt?

    Man sagt, es hätte Probleme gegeben.

    Da ist doch Alexejewa dabei? Letztendlich haben wir ihr doch eine Förderung gegeben, eine recht große sogar. Das kann ich Ihnen mit Sicherheit sagen. Wer also noch? Für Menschenrechte von Ponomarjow. Ich werde nachfragen. Vielleicht hat er keinen Bericht über die letzte Förderung eingereicht. Und er hat sogar Geld für andere Organisationen bekommen, wo er ebenfalls als Organisator eingetragen ist.

    Oder wollen Sie etwa behaupten, dass Ponomarjow keine Förderungen bekommt? Oder Alexejewa nicht? Ich kann Ihnen zeigen, wieviel sie vom Staat bekommen! Das ist nicht wenig!

    Von einer Organisation wurde der Antrag abgelehnt, weil sie nämlich im vergangenen Jahr 22 Millionen aus dem Ausland bekommen hat. Dieser eine Fond, der mit „M“ anfängt …

    Memorial?

    Wahrscheinlich, ja. Der Staat berücksichtigt doch alles und rechnet alles mit ein. Diese Organisation hat bereits genug, womit sie arbeiten kann. Und was die Nachtwölfe betrifft, schauen wir uns deren Projekt doch erst einmal genauer an.

    Eine Lasershow auf der Krim?

    Ach was. Sehen wir uns doch deren Antrag an. Sogar Sie, die Novaya Gazeta, könnten sich mit einem Projekt bewerben, obwohl sie eine Zeitung sind und wir Ihnen nicht einfach so Geld zuteilen dürften. Aber wenn Sie beispielsweise ein Projekt zur Resozialisierung von Strafgefangenen vorschlagen und das parallel unter Ihrem Label betreiben würden – warum sollte man sich das nicht anschauen? [Die Moskauer Helsinki-Gruppe bekam vom Staat 4,2 Millionen Rubel Unterstützung. Die Nachtwölfe erhielten die Präsidenten-Förderung von einer anderen Vergabestelle, die allerdings keine Menschenrechts-Mittel vergibt – Anm. d. Novaya Gazeta]

    Eine Frage zum sogenannten Jarowaja-Paket. Neulich haben Sie es folgendermaßen kommentiert: Es beunruhige Sie, dass die Altersgrenze der Strafmündigkeit bei den Extremismus-Paragraphen auf 14 Jahre herabgesenkt wurde. Was ist mit den anderen Regelungen? Beunruhigen sie Sie nicht?

    Die anderen Regelungen dieses Gesetzes sind ratifiziert, in Kraft getreten und zeigen ihre Wirkung. Und seitdem ist bei mir noch keine einzige Beschwerde eingegangen. Sicher, einige sprechen sich dagegen aus, aber das Gesetz wurde bereits verabschiedet. Und Gesetz ist Gesetz.

    Aber kritisieren darf man es?

    Das darf man. Auch ich habe mich dazu geäußert. Der Menschenrechtsrat wird die Situation beobachten, um Informationen zu sammeln und zu verstehen, wie diese Regelungen wirken und ob die Bedenken berechtigt sind, die von Menschenrechtsorganisationen und anderen Gegnern dieses Gesetzes vorgebracht werden. Vielleicht müssen dann tatsächlich dringende Veränderung in das Gesetz eingebracht werden.

    Was sagt Ihnen denn Ihre Intuition?

    Das ist keine Kategorie, derer ich mich in diesem Fall bedienen würde.

    Sie haben sich für Ildar Dadin eingesetzt, haben eine Revision seines Urteils gefordert. Viele haben Ihre Initiative sehr positiv aufgenommen …

    Was meine Initiative betrifft, ist das allerdings nicht ganz zutreffend. Bei mir ist ein Gesuch seines Anwalts eingegangen. Und solange das Gericht noch keine endgültige Entscheidung getroffen hat, verfügt die Menschenrechtsbeauftragte über die Möglichkeit, ein Gesuch an das Gericht zu richten, was ich auch getan habe. Das Oberste Gericht wird den Fall weiter prüfen. Andere Mittel hat die Menschenrechtsbeauftragte derzeit nicht.

    Sind Sie mit der Position der Menschenrechtler einverstanden, Ildar Dadin sei ein politischer Gefangener?

    Ich habe meine Position diesbezüglich mehr als einmal deutlich gemacht: Ich unterstütze den Gebrauch des Begriffs „politischer Gefangener“ nicht. Ich finde nicht, dass dieser Begriff dem russischen Rechtssystem angemessen ist.

    Der Begriff ‚politischer Gefangener‘ ist dem russischen Rechtssystem nicht angemessen. Ich unterstütze den Gebrauch dieses Begriffs nicht

    Den Begriff gibt es also nicht, aber die Menschen schon?

    Was soll das heißen? Wen würden Sie in Russland denn einen politischen Gefangenen nennen?

    Ich habe Ihnen doch gesagt, dass viele Menschen Ildar Dadin für einen politischen Gefangenen halten. Man hält auch den unglückseligen Mochnatkin …

    Für welche Verbrechen sitzen sie denn ein? Für Verbrechen, die im Strafgesetzbuch festgeschrieben sind.

    Aber die Gesetze sind in den vergangenen Jahren enorm verschärft worden. Beispielsweise das Demonstrationsgesetz.

    Das Demonstrationsgesetz hat sich verändert. Aber man muss sich in jedem einzelnen Fall die Beweislage ansehen und welche Verstöße begangen wurden. Was [im Fall von Dadin] überhaupt vorlag – ein Angriff auf die öffentliche Ordnung, auf die Rechte anderer Menschen oder auf die Grundprinzipien des Staates. Es wurde allerdings von der ganzen Gesellschaft als eine gesellschaftlich gefährliche Tat eingestuft.

    Dimitri Medwedew hat gern immer wieder betont, dass es in Russland notwendig sei, von der Bestrafung durch Freiheitsentzug Abstand zu nehmen, solange ein Mensch nicht das Leben, die Gesundheit oder das Eigentum anderer gefährdet hat. Was bei Dadin zutrifft. Unterstützen Sie diese Herangehensweise?

    Wenn du zwei administrative Rechtsverstöße begangen hast, ist das nach unserer Rechtsprechung ein administratives Präjudiz, das zu einer strafrechtlichen Angelegenheit wird. Wie es auch im Fall von Dadin geschehen ist.

    Lassen Sie uns irgendwo parken und Plätze tauschen, ich muss ein paar Anrufe machen

    (Wendet sich an den Fahrer.) Lassen Sie uns irgendwo parken und Plätze tauschen, ich muss ein paar Anrufe machen.

    Kann ich noch ein paar Fragen stellen?

    Pascha, das sind doch sicherlich schon genug von diesen Fragen, um das Bild zu zeichnen, das ihr zeichnen wollt.

    Warum sagen Sie das? Ich habe noch viele Fragen, zu denen ich gern ihre Meinung hören würde …

    Die haben sie schon gehört. Sie sehen die Dinge einseitig. Weil es Sie gar nicht interessiert, wie beispielsweise die Rechte von Menschen verteidigt werden, denen gekündigt wurde, und vieles mehr. Es interessiert Sie nur ein kleiner Ausschnitt – die Schwulen und diese …

    Sie sehen die Dinge einseitig. Es interessiert Sie nur ein kleiner Ausschnitt – die Schwulen und diese …

    Politischen Gefangenen?

    Politischen Gefangenen, genau. Golubyje ist übrigens ein schönes Wort. Alles andere interessiert Sie gar nicht, der riesige Bereich von Problemen … Was ist zum Beispiel mit den Wehrdienstleistenden, die vier Jahre lang keine Gehaltsanpassung bekommen? Oder mit alleinerziehenden Müttern oder den Müttern mit vielen Kindern, die in Moskau keine Wohnung bekommen und auf den Wartelisten nicht vorrücken?

    Mich interessiert alles, Tatjana Nikolajewna. Auch der Gefangenenaustausch mit der Ukraine und viele andere Themen …

    Ein Austausch stand nie zur Debatte. Es war die Rede von Übergabe, und noch nicht einmal von Übergabe, sondern von Transfer, von der Überführung verurteilter ukrainischer Bürger in die Ukraine. Und das wird noch verhandelt.

    Arbeiten Sie mit der Menschenrechtsbeauftragten der DNR Daria Morossowa zusammen?

    Das hat sich bisher nicht ergeben. Ich arbeite mit Lutkowskaja zusammen.

    Könnten Sie darauf genauer eingehen? Das ist interessant.

    Aber du fragst ja nicht. Du fragst nur was über LGBT und über die politischen Gefangenen. Sind das etwa die brennenden Fragen? Sie greifen sich einen Bereich der Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft heraus, und zwar einen sehr kleinen.

    Die Fragen, die du stellst, machen 2 Prozent der eingegangenen Gesuche aus. Nur 2 Prozent!

    Nehmen wir doch den Bericht für 2015 von Ella Pamfilowa. Die Fragen, die du stellst, machen 2 Prozent der eingegangenen Gesuche aus. Nur 2 Prozent! Und die restlichen – da wollen Menschen eine Wohnung, ein Dach überm Kopf, ein anständiges Gehalt, einen anständigen Urlaub, ein anständiges Gesundheitssystem. Wenn Personen mit nicht-traditioneller sexueller Orientierung unbedingt auf die Straße gehen möchten, verbietet es ihnen doch niemand …  

    Naja, sei’s drum. Warum regen Sie diese Fragen so auf? Lassen Sie uns über Barrierefreiheit sprechen. Darüber, dass für Rollstuhlfahrer in keiner einzigen Stadt unseres Landes ein normales Leben möglich ist. Oder über die Waisen, die dank des Dima-Jakowlew-Gesetzes in Kinderheimen dahinvegetieren. Bekommen Sie deswegen Beschwerden? Sind das Probleme mit Einzel- oder vielleicht doch mit Systemcharakter?

    Als ich für das Dima-Jakowlew-Gesetz gestimmt habe, war das Ziel, unsere Kinder vor Missbrauch in ausländischen Familien zu schützen. Wissen Sie, dass der Staat damals nichts über das Schicksal von über 600 Kindern herausfinden konnte, die adoptiert und ins Ausland gebracht wurden? Was ist mit diesen Kindern? Sind sie noch am Leben? Deswegen bereue ich überhaupt nichts, ich freue mich sogar darüber, dass wir dieses Gesetz verabschiedet haben.

    Als ich für das Dima-Jakowlew-Gesetz gestimmt habe, war das Ziel, unsere Kinder vor Missbrauch in ausländischen Familien zu schützen. Ich bereue überhaupt nichts

    Und was die Behinderten betrifft, schauen sie doch mal in die Oblast Wladimir, wie viele Rampen und Behinderteneingänge da gebaut wurden. Gerade jetzt vor den Wahlen gibt es ein ganzes Programm für sie. Nicht nur hier, sondern russlandweit. Natürlich rückt diese Frage immer mehr in den Vordergrund. Es wurden extra dafür Gelder bereitgestellt und Förderungen geschaffen. Ja, das ist noch zu wenig. Man wünscht sich immer, dass es mehr solcher Hilfen gäbe, und dafür werde ich kämpfen. Und auch für die Behinderten, die in geschlossenen Heimen leben. Und für viele andere.

    Wenn das so ist, sind wir bereit, Sie zu unterstützen.

    Das würde ich so nicht sagen – nach den Fragen, die Sie stellen. Du hast es noch nicht einmal geschafft, mir Beispiele zu nennen, wo diese LGBTs in ihren Rechten beschnitten werden … In der Gesellschaft finden solche Fragen zurzeit keine breite Unterstützung.

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