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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Droht ein Winterkrieg?

    Droht ein Winterkrieg?

    Schon lange schwelt der Konflikt im Asowschen Meer, am vergangenen Sonntag ist die Lage eskaliert: Russische Grenzboote haben ukrainische Marineschiffe gerammt und beschossen. 
    Beide Seiten beschuldigen sich gegenseitig, die Ukraine wirft Russland Aggression vor, Russland beschuldigt die Ukraine der Provokation. Kiew hat unterdessen ein 30-tägiges Kriegsrecht verhängt.

    Der renommierte russische Militärexperte Pawel Felgengauer jedenfalls hält in seinem Kommentar in der Novaya Gazeta die Begründung Moskaus, die ukrainischen Schiffe hätten nicht die benötigte Genehmigung gehabt, für vorgeschoben. Denn dann hätte man sie beispielsweise einfach nach Odessa zurückschicken können. 

    Felgengauer wirft deshalb eine Reihe weiterer Fragen auf – und vermutet andere Hintergründe.

    Warum wählt die ukrainische Militärflotte solche Routen? Die Ukrainer bauen in Berdjansk einen Marinestützpunkt, zu dessen Schutz sie in Mykolajiw gebaute Schiffe überführen.
    In Moskau fürchtet man ernsthaft, dass nach Berdjansk – sollte der dortige Ausbau zu einer Militärbasis gelingen – NATO-Schiffe auf Freundschaftsbesuch kommen könnten, die in der Flachwasserzone des Asowschen Küstenbereichs einsetzbar und mit Lenkwaffen großer Reichweite ausgestattet sind, geschützt durch moderne Raketen- und Luftabwehrsysteme.



    Militärische Strukturen im Kaukasus, auf der Krim, dem Schwarzen Meer und am Bosporus sind mit Stützpunkten in Syrien und einem Marineverband im Mittelmeer derzeit in einer höchst wichtigen strategischen Süd-West-Ausrichtung konzentriert. Dies soll vor allem den verlässlichen Schutz Sotschis großräumig gewährleisten – das zweite und häufig auch das erste politische Zentrum von Land und Militär. Und ausgerechnet da ist der vermeintliche Gegner nun auf die Idee gekommen, einen Keil in die Grundfesten dieser ganzen Strategie zu treiben und einen Stützpunkt in Berdjansk zu errichten.

    Die Ukraine hat als Reaktion auf die Ereignisse in mehreren Regionen für 30 Tage das Kriegsrecht eingeführt. Präsident Petro Poroschenko bezieht sich dabei nicht nur auf den Vorfall von Kertsch, sondern vor allem auf geheimdienstliche Erkenntnisse, wonach ein Angriff der russischen (prorussischen) Kräfte an der südlichen Flanke der Donezker Front möglich ist. Dessen Ziel sei es, Mariupol und Berdjansk einzunehmen.

    Seit Sommer 2015 gab es im NATO-Hauptquartier und im Pentagon recht viele Diskussionen über einen solchen Vorstoß, um einen sogenannten „Landkorridor zur Krim“ durchzubrechen. Nach Eröffnung der Krim-Brücke schien dieser Korridor nicht mehr aktuell zu sein, aber nun ist plötzlich unklar, ob entweder der Marinestützpunkt in Berdjansk Moskau so sehr in Schrecken versetzt hat, oder ob an der Krim-Brücke ernsthafte Probleme aufgetaucht sind, die man vorerst geheim hält, oder ob vielleicht das eine wie das andere zutrifft.

    Es ist nicht auszuschließen, dass in naher Zukunft ein Winterfeldzug beginnen könnte, um die Ukraine endgültig von der Asowschen Küste zu verdrängen.

    Das Ziel einer solchen Operation könnte sich auf den Küstenabschnitt bis Berdjansk beschränken. Oder bis Melitopol, Henitschesk und Tschonhar ausdehnen, falls der „Landkorridor zur Krim“ tatsächlich benötigt wird. In jedem Fall müssten, wenn denn – Gott bewahre! – eine solche Entscheidung überhaupt getroffen würde, massenhaft reguläre russische Truppen herangezogen werden. Insbesondere, wenn man wie 2014/2015 vorgibt, dass da Donezker Aufständische selbst angreifen und es daher keine aktive Luftunterstützung gibt.

    Natürlich würde der Westen protestieren und weitere Sanktionen verhängen, aber das würde [in Russland – dek] vor allem den wirtschaftsliberalen Block des gegenwärtigen Regimes erzürnen, die sogenannte „Friedenspartei“. Ein weiterer Misserfolg für diese wäre ein zusätzlicher Bonus für ihre Gegner aus der sogenannten „Kriegspartei“. Auch würden die westlichen Staatsoberhäupter kein vernichtendes Totalembargo auf russisches Gas und Öl verhängen. Erst recht nicht im Winter, wo man auch zu Sowjetzeiten aus den gleichen Gründen kein solches Embargo verhängt hat – den Preisschock und einen wirtschaftlichen Abschwung vor den Wahlen kann niemand im Westen gebrauchen.

    Die Ukrainer müssten sich da alleine verteidigen oder darauf hoffen, dass sich der Generalstab des ukrainischen Militärs geirrt hat, oder dass Moskau es sich anders überlegt und es keinen Winterkrieg geben wird. Oder im Extremfall darauf hoffen, dass nachdem [russische – dek] Truppen die wichtigsten Aufgaben erledigt haben werden (wie nach Debalzewe 2015) westliche Mittelsmänner dabei helfen, eine weitere Waffenruhe zu vereinbaren, eine Art drittes Minsker Abkommen

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  • Zitat #2: „Gewaltsame Deals“

    Zitat #2: „Gewaltsame Deals“

    Vorgestern hat Trump Russland gedroht, in Syrien „smarte“ Lenkwaffen einzusetzen. Nicht einmal eine Stunde später ruderte er zurück und sagte, dass es für die USA „easy“ wäre, Russlands darbender Wirtschaft zu helfen. Der Journalist und Militärexperte Pawel Felgengauer erklärt in der Novaya Gazeta, wie ein solcher Deal „Hilfe statt Raketen“ aussehen könnte:

    Mit „smarten Lenkwaffen“ drohte Trump Russland –  Pawel Felgengauer hält dies für einen „gewaltsamen Deal“ / Foto © Gage Skidmore/flickr.com
    Mit „smarten Lenkwaffen“ drohte Trump Russland – Pawel Felgengauer hält dies für einen „gewaltsamen Deal“ / Foto © Gage Skidmore/flickr.com

    [bilingbox]Die Sanktionen werden „easy“ aufgehoben. Russland bekommt Investitionen und Technologien, und die langjährige wirtschaftliche Stagnation wird dadurch beendet. Dafür muss man [Russland – dek] aber Assad aufgeben genauso wie die Donbass-Republiken. Und wir müssen die Minsker Vereinbarungen vollständig erfüllen. Erst dann werden alle zufrieden sein. Andernfalls werden Raketen abgeschossen. […]

    Ja, als man sich in Moskau im November 2016 über Trumps Wahlsieg gefreut hatte, hat man sich einen zukünftigen Pakt, der die Spannungen mit den USA löst, anders vorgestellt. Anscheinend sind gewaltsame Deals grundlegend für Trumps Geschäftserfahrungen, ähnlich wie in Russland. Wenn es um Immobilien geht, dann kann es sein, dass eine solche Art der Übereinkunft funktioniert, und wenn sie es nicht tut – dann schreibt man einfach die Verluste ab und fängt irgendwas Neues an. Im Fall zweier atomarer Supermächte können die Verluste allerdings tatsächlich massiv ausfallen. In den USA sind viele davon überzeugt, dass Trump völlig fehl am Platze ist. Wie gefährlich das [diese Fehlbesetzung – dek] ist, ist nun auch in Moskau angekommen, wo er versucht, Russland gewaltsam zum Frieden zu zwingen.~~~Санкции будут сняты «легко», Россия получит инвестиции и технологии, многолетняя экономическая стагнация закончится, но надо «сдать» Асада. Еще, очевидно, надо «сдать» донбасские республики — безусловно, выполнить Минские соглашения, и всем будет хорошо. В случае отказа — полетят ракеты. […]
    Да, не таким представлялся будущий пакт с Трампом по глобальному разрешению противоречий с США, когда в Москве радовались в ноябре 2016-го его победе. Но, похоже, в бизнес-опыте Трампа именно такой силовой способ заключения сделок, схожий с российским, — основной. Если дело касается недвижимости, такой способ договариваться может работать, а не выйдет, то потери можно списать и браться за что-то другое. В случае двух ядерных сверхдержав потери могут оказаться вправду капитальными. В США многие уверены, что Трамп попал совсем не на свое место. Теперь, когда он пытается силой принудить Россию к миру, и до Москвы дошло, насколько это опасно.[/bilingbox]


    In ganzer Länge erschien der Artikel am 13.04.2018 in der Novaya Gazeta unter dem Titel Tramp samedlennowo dejstwija (dt. „Trump mit Zeitzündung“). Das russische Original lesen Sie hier.

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  • Ein Waffenstillstand ohne Chancen

    Ein Waffenstillstand ohne Chancen

    Ist das in München geschlossene Abkommen über einen Waffenstillstand in Syrien umsetzbar? Besteht von Seiten der Kriegsparteien überhaupt der Wunsch nach seiner Umsetzung? In welchen Rollen finden sich nun Russland, Europa, die USA? Der Militärexperte der Novaya Gazeta, Pawel Felgengauer, analysiert die Dynamik des Konflikts.

    Bereits im Oktober hatte Felgengauer prognostiziert, Russland strebe mit seinem Eingreifen ein „Jalta 2.0“ an, eine neue Kräfteaufteilung zwischen Ost und West – eine Einschätzung, die in München sicherlich nicht an Aktualität verloren hat.

    Bei der Sitzung der Syrien-Kontaktgruppe (International Syria Support Group ISSG) in München verkündeten die Teilnehmer, dass in Syrien bis kommenden Freitag ein Waffenstillstand in Kraft treten soll. Gleichzeitig sollen Hilfslieferungen für die bedürftige Bevölkerung beginnen und die Friedensverhandlungen in Genf wieder aufgenommen werden.

    Der Waffenstillstand bezieht sich nicht auf Terrororganisationen wie den Islamischen Staat, die Al-Nusra-Front und einige andere bislang nicht offiziell benannte Organisationen. Eine Liste solcher Organisationen muss noch von der UNO bestätigt werden. Außerdem wird es eine Arbeitsgruppe mit US-amerikanisch-russischem Vorsitz geben, um gewisse „Modalitäten“ des künftigen Waffenstillstandes sowie den Еinsatz von Waffen zu regeln. Kurz: Wen man bombardieren darf, wen nicht und was man mit der umfassenden humanitären Katastrophe in der Region konkret tun soll.

    Diese Aufgabe ist nicht zu stemmen. Jeder dauerhafte Waffenstillstand erfordert ausgearbeitete, detaillierte, gemeinsam vereinbarte und anerkannte Regeln. Man braucht ein System für Monitoring und Untersuchungen von Zwischenfällen, man braucht zahlreiche gut bewaffnete Friedenstruppen, und das Wichtigste: Man braucht einen starken Wunsch und politischen Willen seitens der Konfliktparteien, die Kampfhandlungen wirklich zu beenden. Heute gibt es in Syrien nichts davon, dafür aber von alters her reichlich gegenseitigen Hass und Wunsch nach Rache.

    Heute gibt es in Syrien nichts von dem, was für einen Waffenstillstand nötig wäre, dafür reichlich gegenseitigen Hass und Wunsch nach Rache.

    Es ist offensichtlich, dass das unkonkrete Münchener Communiqué absolut nicht ausreicht, um irgendeinen Waffenstillstand zu erreichen, geschweige denn aufrechtzuerhalten. Im Donbass, zum Beispiel, gelingt es seit über einem Jahr nicht, einen dauerhaften Waffenstillstand einzuhalten; in Bergkarabach finden ständig lokale Kämpfe statt. In Abchasien, in Südossetien und in Transnistrien wird zwar schon lange nicht mehr geschossen, aber von einer grundlegenden politischen Lösung ist man nach wie vor weit entfernt.

    Wird Syrien ein neues Tschetschenien? 

    Das Regime von Baschar al-Assad betrachtet alle bewaffneten Gegner als Terroristen. Die mit praktisch jedem verfeindeten IS-Truppen halten sich in einem mehr oder weniger eingegrenzten Gebiet auf, doch die Kämpfer der Al-Nusra-Front zum Beispiel sind hier und da verstreut, ändern ihre Positionen im Laufe der Kämpfe und gruppieren sich immer wieder neu. Aus der Luft einen Terroristen von einem Oppositionskämpfer zu unterscheiden ist beim besten Willen nicht möglich. Auf Seiten der Assad-Unterstützer herrscht ebenfalls ein Chaos, bestehend aus Resten der zerfallenen Armee und unterschiedlichen Volksmilizen, die sich nach religiös-ethnischen Prinzipien zusammensetzen, aus brutalen Freiwilligenkommandos und zahlreichen ausländischen Söldnern, insbesondere iranischen Militärangehörigen und Kämpfern der libanesischen Hisbollah.

    In einer solchen Lage hat der ausgerufene Waffenstillstand kaum Erfolgschancen. Der Iran und die Russische Föderation investieren weiterhin riesige Geldsummen und nehmen Menschenverluste in Kauf, um das marode, bankrotte, ja bereits vom eigenen Volk verschmähte Assad-Regime zu retten.

    Das langfristige Ziel von Moskau und Teheran besteht darin, einen Sieg im Bürgerkrieg zu erringen, jegliche bewaffnete Opposition zu zerschlagen und aus dem Staatsgebiet herauszudrängen, und Syrien zu einem gemeinsamen iranisch-russischen Protektorat mit strategisch wichtigen Militärstützpunkten zu machen. Eine Art Tschetschenien, wie es nach der Zerschlagung der Unabhängigkeitskämpfer und Islamisten unter Putin entstanden ist.

    Vielleicht wird es in Syrien eine neue Führungsfigur geben, in der Art eines Ramsan Kadyrow. Assad ist schließlich keine unersetzliche Instanz.

    Europa gespalten, Kerry konziliant

    Europa will zwar, dass in Syrien zumindest irgendeine Ordnung wiederhergestellt wird, ist aber gänzlich uneinig, wie dies zu erreichen ist. Laut Quellen aus Brüssel ist die EU völlig gespalten: Frankreich, Großbritannien, Schweden und Dänemark weigern sich vehement, etwas mit Assad zu tun zu haben, und fordern, mit allen Mitteln die Opposition zu unterstützen. Bulgarien, Rumänien, Spanien und Tschechien wären bereit, mit Assad einen Dialog zu führen. Deutschland ist unentschlossen. Alle sind entsetzt über die Flüchtlingsströme und einige sind sogar einverstanden mit Moskau, das „einen nach dem anderen bombardiert“.

    Die offizielle politische Linie Washingtons, vertreten durch Außenminister John Kerry, beruht darauf, in Bezug auf die Syrien-Krise unter allen Umständen Berührungspunkte mit Moskau zu suchen, was zu zusätzlichem Zwist innerhalb der EU führt.

    Nur wenn man die Bevölkerung Syriens auf ein Drittel reduziert, wird der Rest sich dem Regime wieder fügen.

    Bloß keinen Druck, keine potenziellen Drohgebärden, nur unermüdliche Suche nach Kompromissen mit „Freund Sergej“ Lawrow). Assad verkündete denn auch gleich als Reaktion auf den Münchener Waffenstillstandsbeschluss, dass er ganz Syrien zurückerobern will, was jedoch „Zeit kosten kann“. Im Übrigen nicht nur Zeit: Man müsste noch bis zu einer Million Menschen ums Leben bringen, zusätzlich zu den bereits 470 Tausend Opfern, und bis zu 10 Millionen weitere in die Flucht schlagen. Denn nur indem man die Bevölkerung Syriens (vor dem Krieg lebten dort 23 Millionen Menschen) auf ein Drittel reduziert, kann man den Rest dazu bewegen, sich dem Regime wieder zu fügen.

    Die militärische Logik zwingt zum Weiterbomben

    Nach Meinung der Europäer haben sich die ersten 100 Tage russischer Luftschläge als kaum effektiv erwiesen: Die wenigen, demoralisierten Reste der syrischen Armee waren weder willens noch imstande, die russischen Bombardements zu nutzen und entschieden vorzustoßen. Daher haben Assads iranische Verbündete für die jetzige Offensive im Norden von Aleppo eine schlagfertige Truppe aus gut geschulten Kämpfern der Hisbollah sowie aus Söldner-Trupps aufgestellt, die aus irakischen und afghanischen schiitischen Freiwilligen unter dem Kommando von Generälen und Offizieren der iranischen Revolutionsgarde bestehen.

    Die radikalen schiitischen Kräfte kämpfen schon lange im Irak, Libanon und in Afghanistan gegen die Sunniten, die auch in Syrien die Bevölkerungsmehrheit bilden. Diese Kämpfer sind hochreligiös und neigen oft zu äußerster Grausamkeit, nicht weniger übrigens als ihre sunnitischen Gegner. Allerdings verfügt Assad nur über eine kleine Anzahl solch schlagfertiger Kräfte. Er muss bei Aleppo jetzt zügig handeln: die syrischen Oppositionskämpfer und radikalen Islamisten hinter die türkische Grenze drängen, und die unzuverlässige sunnitische Zivilbevölkerung am besten gleich mit. Je mehr, desto besser.

    Lawrow hat Kerry um den Finger gewickelt, sie haben ein unverbindliches Stück Papier unterschrieben – es lief sogar noch besser als bei Minsk II.

    Bei Schließung der Grenze zur Türkei kann die Überwachung der zurückeroberten Gebiete örtlichen Kräften übertragen werden, die allerdings eher unzureichend ausgebildet sind. Die starken Streitkräfte werden dann wohl an andere Fronten verlegt, vor allem Richtung Damaskus und südlich davon, um die jordanische Grenze dichtzumachen. Den von Oppositionellen besetzten Teil von Aleppo wird Assad ebenfalls möglichst schnell in seine Gewalt bringen, solange dort Panik herrscht. Ansonsten steht eine Belagerung bevor, die sich über Wochen oder gar Jahre hinziehen könnte, wie es in Sarajewo während des Bürgerkrieges der Fall war. Insbesondere wenn dort, wie im Lawrow-Kerry-Plan vorgesehen, ein humanitärer Korridor zur Versorgung der Stadt eingerichtet wird.

    Die militärische Logik verlangt somit, dass die russische Luftwaffe weiter bombt und Assad mit seinen Verbündeten weiter angreift, unter welchem Vorwand auch immer: Die Opposition selber halte keine Feuerpause ein, es handele sich bei ihr um Terroristen etc.

    Lawrows Strategien verfangen, direkte Konfrontation dabei immer wahrscheinlicher

    Nebenbei bemerkt erledigte Lawrow in München die ihm vom Kreml gestellte Aufgabe mit Bravour. Er hat Kerry um den Finger gewickelt und ein unverbindliches Stück Papier unterschrieben, das eine Menge Interpretationsraum bietet. Es lief sogar noch besser als bei Minsk II.

    Lawrow rief sogar das US-Militär zu enger Zusammenarbeit auf: „Wir haben einen gemeinsamen Feind.“ Das ist eher nicht so: Die Übereinkunft zu Syrien ist mit Kerry erreicht worden, nicht mit den USA oder dem Pentagon.

    Dessen Chef Ashton Carter erklärte, während in München verhandelt wurde, den Journalisten in Brüssel höflich, dass er Kerry viel Erfolg wünsche, seine – Carters – Aufgabe aber bestehe darin, „der russischen Aggression entgegenzutreten“ und gegen den IS mit Streitkräften der eigenen Koalition anzugehen. Dass er sich von Kerry nichts sagen lässt, hat Carter ja schon öfter unter Beweis gestellt.

    Jetzt, zum Ende ihrer Amtszeit, ist die Regierung Obama schwach, und das sollte eigentlich den russischen Strategen in die Hände spielen. Dennoch könnten Zeit und Kraft, die sie in die Verhandlungen mit Kerry investiert haben, sich als verschenkt erweisen. Das russische Militär und seine Verbündeten rücken rasch in Richtung der türkischen Grenze vor, ein direkter militärischer Zusammenstoß wird immer wahrscheinlicher, wobei Lawrow sich überzeugt zeigt, dass Washington den Einmarsch türkischer oder anderer arabisch-sunnitischer Kräfte nach Syrien nicht zulassen wird.

    Kerry allerdings hat sich dahingehend schon abgesichert, indem er in einem Interview in München erklärte: Sollten Assad, Russland und der Iran die getroffenen Vereinbarungen unterwandern, „wird die Weltgemeinschaft nicht dasitzen und blöd zusehen, sondern aktiv werden, um den Druck auf sie zu erhöhen.” Es könnten auch Bodentruppen zum Einsatz kommen. Nach dem Motto: Ich habe damit nichts zu tun, löffelt die Suppe selber aus, hat Kerry getan, was er konnte.

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  • Ein neues Jalta auf den Trümmern Syriens?

    Ein neues Jalta auf den Trümmern Syriens?

    Die USA konnten bei der Bekämpfung des IS zwar Teilerfolge verbuchen, jedoch keine Lösung des Konflikts herbeiführen. Russland seinerseits bereitet mit ungewöhnlicher Offenheit Militäraktionen in Syrien vor und führt sie inzwischen auch durch. Das deutet auf Strategien hin, die über den lokalen Konflikt hinausreichen. Pawel Felgengauer, ein auf Außenpolitik und Streitkräfte spezialisierter Analytiker der Novaya Gazeta, stellt die Frage: Was steht hinter dem sogenannten Putin-Plan? Hofft der Kreml, auf den Trümmern Syriens und auf dem Rücken derer, die vor dem Chaos fliehen, eine Neudefinition der Einflusssphären durchzusetzen, ähnlich den Ergebnissen der Konferenz von Jalta?

    Der Aufbau eines russischen Truppenkontingents in Syrien ist die erstaunlichste militärische Geheimoperation dieser Art der letzten 60 Jahre. Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums waren Russland bzw. die UdSSR zwischen 1945 und 2000 an 46 lokalen Konflikten verschiedener Art beteiligt, was mit wenigen Ausnahmen in aller Stille, ohne jede Verlautbarung abgewickelt wurde. Nach Syrien wurden jetzt den gewagtesten Schätzungen zufolge ein paar hundert Marine-Infanteristen, Vertragssoldaten und Experten, einiges neues Militärgerät und vielleicht an die zehn Flugzeuge und Hubschrauber entsendet, und diesmal hat man allerhand Informationen durchsickern lassen bzw. in die ganze Welt herausposaunt, als würden dort schon kampfbereite Divisionen stehen.

    Ganz anders im Februar und März 2014, als mehrere zehntausend Mann und mehrere hundert Stück Militärgerät auf die Krim gebracht wurden, und es kein ununterbrochenes Durchsickern und keine Enthüllungen gab; die Leute rätselten herum, was das dort für Männchen seien, während Wladimir Putin bestritt, dass es sich um die eigene Armee handelte. Offizielle Personen in Russland leugnen für gewöhnlich jegliche Beteiligung an irgendwelchen regionalen Kriegen und wiederholen mit versteinerten Mienen die Geschichte von den mehreren tausend Fahrzeugen oder anderem Militärgerät und den Hunderten von Waggons voller Munition, die von den Volksmilizen als Trophäen erbeutet worden seien.

    Heute erklären eben jene offiziellen Personen in Bezug auf Syrien ausweichend: Es soll dort wohl tatsächlich Soldaten, Experten und Militärberater geben, aber „bislang“ sind sie nicht im Einsatz, und die Waffen und die Munition – die schicken wir aufgrund früherer Verträge, was wir auch weiterhin tun werden. Zum russischen Luftwaffenstützpunkt in Latakia erklärt man im Generalstab: „Momentan existiert ein solcher nicht, aber in Zukunft ist alles möglich“, und falls die Syrer uns darum bitten, können wir ihnen Truppen schicken.

    Moskau versucht also, mit allen Mitteln den Anschein zu erwecken, es bereite in Syrien einen konzentrierten offensiven Truppeneinsatz vor, der dem für das Regime von Präsident Baschar al-Assad und seine schiitischen Verbündeten unglücklichen Verlauf des Bürgerkriegs eine entscheidende Wende geben soll. Es ist gut möglich, dass einige der zahlreichen Informationslecks, durch die die Nachrichten über die russische Militärpräsenz in Syrien gesickert sind, eigens organisiert oder gesponsert wurden – als Teil des informationellen Versorgungsprogramms eines dreisten strategischen Manövers, das den langjährigen syrischen Verbündeten retten und zugleich im Hinblick auf den Westen das allgemeine Konfrontationsniveau senken soll.

    Konturen einer Koalition

    Seit Juni ist Moskau dabei, für den sogenannten Putin-Plan für den Nahen Osten zu werben: die Bildung einer breiten Koalition zum Kampf gegen den in Russland verbotenen Islamischen Staat (IS). Diese Koalition soll laut Putin die bewaffneten Streitkräfte der Assad-Regierung und die irakische Armee einbeziehen, außerdem „alle, die bereit sind, einen wirklichen Beitrag zum Kampf gegen den Terror zu leisten oder dies bereits tun“, also kurdische Milizen, Kämpfer der radikal-schiitischen libanesischen Hisbollah, die schon seit mehreren Jahren an Assads Seite kämpft, sowie in Syrien und im Irak agierende Gruppierungen der iranischen Wächter der islamischen Revolution.

    Im August versuchte Sergej Lawrow bei einem Gespräch mit dem US-Außenminister John Kerry und seinen arabischen Kollegen in Doha (Katar) für den Plan einer Anti-IS-Koalition zu werben, doch ohne Erfolg. Die sunnitischen Regime einschließlich Saudi-Arabiens und der Türkei wollen keinerlei Beziehungen mit Assad aufnehmen, den sie des Massenmordes an der sunnitischen Bevölkerung in Syrien beschuldigen. Putins Plan drohte zu versanden, und die Rede vor der UN-Vollversammlung am 28. September, auf der eine breite Koalition gegen den IS Hauptthema werden sollte, hätte unbemerkt bleiben können und die amerikanischen Behörden hätten den Besuch ignorieren können – u. U.auch  durch die Ausstellung eines beschränkten Sondervisums wie bei Valentina Matwijenko, zumal der offiziellen Delegation auch Alexej Puschkow angehört, gegen den die USA individuelle Sanktionen verhängt haben.

    Inzwischen hat sich die Situation entscheidend verändert. Die Nachrichten über einen möglichen Ausbau der russischen Militärpräsenz in Syrien haben heftige Meinungsverschiedenheiten innerhalb der US-amerikanischen Regierung ausgelöst, und bislang setzt sich der Standpunkt von Außenminister Kerry durch, den auch Obama unterstützt: Mit den Russen ist dringend Verständigung zu suchen. Nun wird der Putin-Besuch in New York tatsächlich alles andere als eine Routinevisite.

    Amerika in der Sackgasse

    Die US-amerikanische Strategie im Kampf gegen den IS gründet sich seit mehr als einem Jahr auf Luftangriffe der koalierten westlichen und arabischen Luftstreitkräfte, die den zerstreuten Bodentruppen diverser politischer, ethnischer und religiöser Färbung helfen sollen, den Gegner zu stoppen und zu zerschlagen. Die syrischen, irakischen und iranischen Luftstreitkräfte bombardieren den IS zusätzlich, unabhängig von der amerikanischen Koalition. Dem IS mit vereinten Kräften Einhalt zu gebieten ist im Großen und Ganzen geglückt.

    Die intensive Rund-um-die-Uhr-Beobachtung, Luft- und kosmische, optische und Radaraufklärung sowie die ständigen gezielten Angriffe bringen dem IS Verluste bei, die auch die höchste Führung der Terrorgruppe betreffen. War das Kriegführen in den Wüsten des Nahen Ostens bei Luftüberlegenheit des Gegners schon früher, zu Zeiten Erwin Rommels oder Moshe Dajans, nicht einfach, so ist es heute, wo die Angriffe hochpräzise geworden sind, extrem schwierig. Der IS bekommt längst keine bedeutenden Angriffstruppen mehr zusammen, ist nicht mehr in der Lage, Feuermittel zu massieren. Es besteht keine reale Gefahr, dass der IS „bis nach Mekka, Medina oder Jerusalem“ vorrückt, wovon Putin kürzlich in Duschanbe sprach. Die IS-Milizen verteidigen erbittert die bereits eingenommenen Städte, aber ein Angriff hat nur dann Erfolg, wenn die irakischen oder die Assadschen Truppen aus irgendeinem Grund das Weite suchen.

    In den vom IS eroberten Gebieten im Osten Syriens und im Nordwesten des Iraks wird die Terrorgruppe von den dort lebenden arabischen Sunniten unterstützt, zumindest wollen diese nicht von kurdischen Truppen befreit werden und ebenso wenig von iranischen, libanesischen, irakischen oder syrischen Schiiten oder Alawiten. Die kurdischen Einheiten (Peschmerga) halten eine enge operativ-taktische Verbindung zu den amerikanischen bzw. alliierten Luftstreitkräften und haben es geschafft, den IS in Nordsyrien und im Nordirak entscheidend zurückzudrängen, doch vor Gegenden mit überwiegend arabisch-sunnitischer Bevölkerung machten sie Halt. Mit den irakischen schiitischen Volksmilizen kooperieren die amerikanischen Luftstreitkräfte unmittelbar auf dem Gefechtsfeld zwar nicht, da die Iraner mit ihnen zusammen kämpfen, doch im Großen und Ganzen koordinieren sie die Aktionen. Die irakischen Schiiten haben den IS aus Bagdad abgedrängt, doch in die sunnitischen Gebiete des Iraks eindringen konnten sie nicht. Mit den syrischen Regierungstruppen kooperieren die US-Luftstreitkräfte in Syrien überhaupt nicht. Assads Truppen und seine Verbündeten haben sich in den letzten Monaten zurückgezogen und Niederlagen eingesteckt.

    Die US-amerikanische Politik in der Region befindet sich offenkundig in einer Sackgasse, Obama wirft man zu Hause Unentschlossenheit und strategische Unüberlegtheit vor. In dieser Situation war das dreiste Vorgehen der russischen Führung taktisch erfolgreich: Kerry rief mehrfach bei Lawrow an, um herauszufinden, welche Absichten die Russen in Syrien verfolgen, dann telefonierte Pentagon-Chef Ashton Carter beinahe eine Stunde lang mit Sergej Schoigu. Die persönliche Unterredung mit Schoigu war die erste seit seinem Amtsantritt [im Februar – dek] und nach der Ukrainekrise und der allgemeinen Verschlechterung der Beziehungen der erste Kontakt überhaupt zwischen den Verteidigungsministern der beiden Länder seit mehr als einem Jahr. Carter und Schoigu vereinbarten, die Gespräche fortzusetzen, um eventuelle künftige Schläge gegen den IS von russischer und amerikanischer Seite abzustimmen und etwaigen amerikanisch-russischen Streitigkeiten vorzubeugen, die sich aus den russischen Waffenlieferungen samt der Entsendung von Experten und Militärberatern ergeben könnten. Aus dem Verteidigungsministerium verlautete, beide Seiten seien „in den meisten erörterten Fragen der gleichen oder ähnlicher Meinung“.

    Kerry erklärte in London, Amerika sei froh, wenn Russland sich dem Kampf gegen den IS anschließe, Assad müsse gehen, aber über den konkreten Zeitpunkt und die Bedingungen bzw. die „Modalitäten“ seines Abgangs könne man sich verständigen. Obama bestehe, so Kerry, auf einer politischen Lösung des Syrienproblems, und es wäre großartig, wenn das Assad-Regime Verhandlungen aufnehmen würde und wenn Russland oder der Iran „oder sonst jemand“ dabei behilflich wäre. In Moskau trafen sich der US-amerikanische Botschafter John Tefft und der stellvertretende Leiter des russischen Außenministeriums Michail Bogdanow, um das Syrienproblem zu erörtern. Weiteren Informationen zufolge hat in Moskau außerdem ein Treffen zwischen russischen und ausländischen Spionen, also dem CIA und dem russischen Auslandsgeheimdienst SWR, zum Datenaustausch über den IS stattgefunden.

    Der Boden für einen Besuch Putins in den USA scheint bereitet. Dieser Tage in Duschanbe hat Putin auf dem Gipfel der Organisation des Vertrags über Kollektive Sicherheit (OVKS), soweit man das beurteilen kann, die Hauptthesen seiner bevorstehenden Rede vor der UN-Vollversammlung vorgetragen: Alle sollten jetzt geopolitische Ambitionen außen vor lassen, sich Doppelmoral sparen, der breiten Koalition gegen den IS beitreten und gemeinsam Assad als natürliche Alternative zum islamistischen Übel unterstützen. Die zukünftige breite Koalition müsse ein Mandat des UN-Sicherheitsrates erhalten, das die Anwendung militärischer Gewalt gegen den IS in Syrien und im Irak gestattet, und dann könne sich auch Russland an den Operationen beteiligen. Auf der Basis dieses frischgebackenen Kampfbündnisses kann man dann auf Beruhigung des mit den USA und dem Westen bestehenden Konflikts wegen der Ukraine hoffen, was die Aufhebung der Sanktionen impliziert. Putin schlägt weiter vor: „eine vollständige Bestandsaufnahme der euroatlantischen Probleme und Differenzen“, die Schaffung eines Systems „gleichberechtigter und unteilbarer Sicherheit“, die Einhaltung der Grundprinzipien des internationalen Rechts sowie „die Verankerung gesetzlicher Bestimmungen, nach denen die Begünstigung staats- und verfassungsfeindlicher Umstürze und die Förderung radikaler und extremistischer Kräfte unzulässig ist“. Das heißt, die verfeindeten Parteien sollen „juristisch bindende Garantien“ geben, friss Vogel oder stirb, damit es nie wieder irgendwelche Maidans oder Farbrevolutionen gibt.

    Ein neues Jalta?

    Hier wird offenbar eine Art neues Abkommen für die zukünftige euroatlantische Ordnung vorgeschlagen, quasi ein neues Jalta: Jalta 2.0. Im Jahr 1945, beim ersten Jalta, Jalta 1.0, legten die Staatschefs der UdSSR, der USA und Großbritanniens die Grundprinzipien der Nachkriegsordnung fest, wobei sie den Kontinent im Wesentlichen in Einflusszonen aufteilten. In den USA und in Europa, vor allem in Mittel- und Osteuropa (der ehemaligen sowjetischen Zone), gilt Jalta 1.0 als eines der Schandkapitel der Geschichte und wird dort in einer Reihe mit der Aufteilung der Tschechoslowakei in München 1938 und dem Ribbentrop-Molotow-Pakt von 1939 gesehen. In der Russischen Föderation fällt die Bewertung anders aus: Im Februar, beim 70. Jahrestag von Jalta 1.0, sprach der Duma-Präsident Sergej Naryschkin vom Gipfel der Diplomatie und von „ehrenhaften Entscheidungen“ und von garantiertem Frieden in Europa „beinahe bis zum Ende des 20. Jahrhunderts“.

    Jalta 2.0 in der einen oder anderen Form, mit klaren Regeln für das zwischenstaatliche Verhalten, mit festgeschriebenen und garantierten Interessenssphären – das ist ein lang gehegter Kremltraum, der heute erreichbar scheint, dank dem IS, dank den Tausenden syrischen Flüchtlingen in Europa, aus denen Millionen werden können, wenn der Konflikt im Nahen Osten sich weiter ausbreitet. Um dem ersehnten Ziel näherzurücken, wurden die Kampfhandlungen im Donbass ohne irgendeine Aussicht auf weitere Offensivaktionen eingefroren. Natürlich ist die Ukraine als solche strategisch ungleich wichtiger als Syrien, doch ausgerechnet dieses scheint nun eine potentielle Brücke zur Beilegung aller Differenzen. Dafür ist Moskau bereit, sich an einem fernen Krieg zu beteiligen, zumal, wenn es gelingt, das Assad-Regime zu retten, und sei es auch ohne Baschar al-Assad selbst.

    Zu Beginn der 80er Jahre wurden sowjetische Kampftruppen nach Syrien gebracht – an die 9000 Militärangehörige. Zahlreiche Militärberater und Experten nahmen im Libanon gemeinsam mit Syrern an Kämpfen gegen Israelis und Amerikaner teil: Mehrere Dutzend Offiziere und drei Generäle kamen ums Leben, Hunderte Menschen wurden verletzt. Eine solche Truppe in Gefechtsbereitschaft zu versetzen wäre heute schwierig, zudem wäre sie nicht zu unterhalten. Es spielt keine Rolle mehr, ob gewollt oder nicht, geheim ist die Aufstellung von russischen Truppen und Material in Syrien nicht, und die Versorgungs- bzw. Nachschubwege können behindert oder gänzlich gesperrt werden. Kerry und Obama wollen heute, wie schon in der Vergangenheit, auf keinen Fall in eine militärische Eskalation im Nahen Osten verwickelt werden und sind bereit, russische Hilfe anzunehmen, jedoch ausschließlich gegen den IS. Etwaige Angriffe auf die syrische Opposition werden dazu führen, dass vom Weißen Haus ein Vergeltungsschlag gefordert wird, und zwar sowohl in Washington als auch in den arabischen Hauptstädten. Selbst wenn die von Putin angestrebte breite Koalition zusammenkommt, werden der Westen, die USA, die Araber und die Türken versuchen, die Aktionen Russlands in diesem Rahmen streng auf die Konfrontation mit dem IS zu beschränken.

    Um das Assad-Regime zu retten, braucht man nicht 6 Flugzeuge und 500 bis 1000 weitere Soldaten, sondern 100.000 – und tausend Stück Militärgerät mit Hunderten Flugzeugen und Hubschraubern. Vor gut zwei Jahren sind an die 5000 hervorragend ausgebildete und bewaffnete Kämpfer der Hisbollah zur Unterstützung Assads nach Syrien und zum Einsatz gekommen, dazu an die 15.000 Freiwillige aus dem Iran und dem Irak. Im April 2014 erklärte der Hisbollahführer Scheich Hassan Nasrallah: „Die Gefahr, dass das syrische Regime fällt, ist vorüber, und auch eine Teilung Syriens droht inzwischen nicht mehr.“ Damit war die Hisbollah allerdings gründlich im Irrtum: Die syrischen Kämpfer haben sie aufgerieben, und die Teilung Syriens ist keine Gefahr mehr, sondern Realität. Die syrischen Alawiten – das ist die schiitische Strömung, zu der Assads Familie gehört und die zusammen mit den syrischen Christen die Spitze der Armee und Geheimdienste bildet – kämpfen weiter, doch sind das weniger als 25 % der Bevölkerung. Die Kurden (9 %) arbeiten mit den Regierungskräften zusammen, aber die Sunniten – das sind 60 % der Bevölkerung – bilden den Grundstock des Widerstands. Das Land und seine Wirtschaft sind durch den seit viereinhalb Jahren andauernden Bürgerkrieg zerstört. Die Regierung Assads hat keinerlei Kontrolle mehr über die Ölförderung. Von 21 Millionen Syrern sind 7,6 Millionen Binnenvertriebene, 4 Millionen sind aus dem Land geflohen, mehr als 300.000 Menschen wurden nach Schätzungen der UNO getötet.

    Einige hundert oder selbst zweitausend russische Soldaten, Militärberater und Experten werden daran nichts Wesentliches ändern, und die Luftangriffe von ein paar russischen Su-25-Kampfjets werden dem Krieg keine entscheidende Wende geben. In der Nähe des neuen russischen Stützpunkts in Latakia werden die Assadschen Truppen von der im März gegründeten Allianz Armee der Eroberung zerschlagen, die sich zum großen Teil aus verschiedenen Islamisten zusammensetzt, aber mit allen Kräften der Opposition zusammenarbeitet und sich dem IS entgegenstellt. Die säkularen Kräfte der Opposition – die Freie Syrische Armee (FSA), die sich aus ehemaligen Assadschen Offizieren und sunnitischen Soldaten gebildet hat, dominiert unter den Oppositionskräften südlich von Damaskus, und in der bevölkerungsmäßig zweitgrößten Stadt Aleppo hat sich in diesem Sommer eine Einheitsfront gebildet, die etwa zur Hälfte aus Islamisten und mit der FSA verbundenen Kämpfern besteht.

    Im Sommer hat die Armee der Eroberung die Stadt Idlib und die gleichnamige, an Latakia angrenzende Provinz eingenommen. Kürzlich tauchten Informationen über möglicherweise mit russischer Hilfe durchgeführte Luftangriffe der Regierungstruppen auf Palmyra auf, wo sich der IS verschanzt hat, außerdem auf die Stadt Idlib. Ein Kommandeur der Eroberungsarmee hatte auf Twitter die „ungläubigen Russen“ eingeladen, nach Syrien zu kommen: „Wir haben hier Tausende Chattabs für euch.“ (Emir Ibn al-Chattab war ein bekannter Feldkommandant arabischer Herkunft in Tschetschenien, der 2002 bei einer Geheimdienstoperation getötet wurde.) Das Vorgehen Russlands in Syrien ist außerordentlich riskant. Bislang läuft alles leidlich, aber aus Jalta 2.0 wird wohl kaum etwas werden, und Syrien wird für das vergleichsweise kleine russische Kontingent bald zu einer glühenden Pfanne: Die Verluste werden schmerzlich, und das Assad-Regime zu retten wird auch nicht gelingen.

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