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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • The New Times: Crowd vs. Willkür

    The New Times: Crowd vs. Willkür

    „Ihr habt sie doch nicht mehr alle“ – das war das Signal, so meint der russische Journalist Alexander Pljuschtschew, das die Bürger an die Staatsmacht senden wollten, als sie bei einem Blitz-Crowdfunding mehrere Millionen Rubel für The New Times sammelten.

    Dem kremlkritischen Onlinemagazin war Ende Oktober eine Strafe in Höhe von 22,25 Millionen Rubel (rund 290.000 Euro) auferlegt worden – die höchste Strafe, die je gegen ein russisches Medium verhängt wurde. Begründet wurde die Entscheidung mit nicht vorschriftsgemäßer Deklaration von ausländischen Einkünften. Chefredakteurin Yevgenia Albats bezeichnete den Fall als ohnehin verjährt und sieht eine politische Motivation. Die Zeitung kündigte Berufung an.

    Dank des Crowdfundings muss The New Times nun keine Schließung befürchten. Pawel Aptekar kommentiert die Soli-Aktion auf Vedomosti.
     

    Die erfolgreiche und rasante Spendenaktion, die gestartet wurde, damit das Magazin The New Times die auferlegte Geldstrafe bezahlen kann, zeigt eine enorme Solidarität der Bürger. Für die ist der Kampf gegen staatliche Ungerechtigkeit offensichtlich wichtiger als politische oder persönliche Divergenzen mit den Opfern der Staatsmacht.

    Die Unterstützung von bestimmten Menschen oder Organisationen ist im heutigen Russland für viele Bürger eine Art freiwillige Steuerzahlung, ihr persönlicher Beitrag im Kampf gegen bürokratische Willkür. 

    Eine freiwillige Steuerzahlung

    Das Onlinemagazin The New Times hat innerhalb von nur vier Tagen 26,8 Millionen Rubel [rund 350.000 Euro – dek] an Spenden gesammelt. Das ist eine erheblich höhere Summe als die geforderte Strafe von 22,25 Millionen Rubel [rund 290.000 Euro – dek].
    Die Spendensumme ist ein Rekord, sowohl was die Höhe als auch die Zeit betrifft, innerhalb der sie gesammelt wurde – die Entscheidung des Gerichts ist noch nicht einmal rechtskräftig (die Berufungsprüfung ist für den 20. November angesetzt). 

    Der Unternehmer und Mäzen Boris Simin, Sohn des Gründers des Fonds Dinastija Dimitri Simin, nannte das gesammelte Geld ein „Lösegeld für einen Banditen, der einem das Messer noch gar nicht an die Gurgel hält“.

    20.000 Groß- und Kleinspender, die sich nicht scheuten, ihre Namen zu nennen – das sind mehr als alle Abonnenten des Magazins. Der Wunsch, dass das Oppositionsmedium seine Arbeit weitermachen  kann, trifft sich dabei mit dem Bestreben, die Staatsmacht zu ärgern: Die Erzürnten haben buchstäblich mit dem Rubel abgestimmt. 

    Mit dem Rubel abgestimmt

    Der Erfolg der Kampagne kann natürlich umschlagen in neue hohe Geldstrafen für Aktivisten, oppositionelle Medien und Non-Profit-Organisationen. Aber allein die Tatsache des Erfolgs eines solchen politischen Crowdfundings, nach all den Charity-Aktionen, lässt hoffen. Denn die Geschichte des Magazins, das – bildlich gesprochen – Geld für eine dringende OP benötigt, ist wichtig, aber nicht einzigartig. Die Organisation Transparency International Russia hat kürzlich innerhalb von acht Tagen eine Million Rubel gesammelt – eine Summe, die die Organisation nach einem Gerichtsentscheid aufbringen musste, als Entschädigungszahlung an den Rektor der Bergbauuniversität Wladimir Litwinenko. 
    Doch es gelingt nicht nur bei dringenden Zahlungsforderungen, Geld zu sammeln, sondern auch für die alltägliche Arbeit von Organisationen – unter anderem für den Fonds für Korruptionsbekämpfung von Alexej Nawalny, die Gefangenenorganisation Rus Sidjaschtschaja (dt. „Einsitzende Rus“) und für Mediazona.

    Die Spender stehen nicht immer voll hinter denen, denen sie helfen, aber der Wunsch nach Gerechtigkeit und Solidarität mit denen, die vom Staat verfolgt werden, ist stärker als die unterschiedlichen Ansichten. 
     

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Bürokratisches Verbrechen

    Bürokratisches Verbrechen

    In Russland werden offenbar systematisch Archivmaterialien über die Opfer stalinistischer Verbrechen zerstört. Bekannt sind nur einzelne Fälle; weder die Zielrichtung noch das Ausmaß der Zerstörung ist bislang klar.

    Das Vorgehen russischer Behörden wurde nur zufällig entdeckt. Berichten zufolge erging 2014 eine geheime Anweisung, alle „verjährten“ Registrierkarten von Personen ab 80 Jahren zu vernichten. Offizielle Stellen widersprechen den Vorwürfen und behaupten, dass es sich nur um Einzelfälle handeln könne. 
    Bei einem kleinen Teil der Gesellschaft ließ die Meldung Alarmglocken schrillen, einen Großteil lässt sie bislang kalt. Bei Umfragen bekunden ohnehin nur rund zwölf Prozent der Menschen in Russland ein großes Interesse für Stalinsche Säuberungen, auch das Fußballfest lässt es gerade wohl schwinden.

    Steckt da gezielte Geschichtspolitik dahinter? Und warum sind historische Quellen wichtig für die Gesellschaft? Diese Fragen stellte Pawel Aptekar für Vedomosti.

    Ein einzigartiger historische Fundus an Informationen – die Registrierkarten der Häftlinge / Foto © gulagmuseum.org
    Ein einzigartiger historische Fundus an Informationen – die Registrierkarten der Häftlinge / Foto © gulagmuseum.org

    Einige regionale Informationszentren des Innenministeriums vernichten Registrierkarten von Lagerhäftlingen. Auf das Problem aufmerksam wurde der Historiker Sergej Prudowski. Bei einer Aktenanfrage zum Lageraufenthalt eines Häftlings in Magadan wurde ihm von den dortigen Innenbehörden mitgeteilt, dass die angeforderten Dokumente  vernichtet worden seien. Und zwar gemäß einer mit dem Vermerk „Nur zum Dienstgebrauch“ versehenen zwischenbehördlichen Anordnung vom Februar 2014. Laut Kommersant ging diese Anordnung an das Innenministerium, das Justizministerium, das Katastrophenschutzministerium, das Verteidigungsministerium, den [gnose-7771FSB[/gnose], die Drogenaufsichtsbehörde, die Zollbehörde, den FSO (Föderaler Dienst zur Bewachung der Russischen Föderation), den Auslandsnachrichtendienst, die Staatsanwaltschaft und den staatlichen Kurierdienst.

    In welchem Maßstab die Anweisung umgesetzt wurde, ist bislang unbekannt. Prudowski sagt: „Vor  zwei Jahren habe ich vom Informationszentrum des Innenministeriums in Komi noch ausführliche Auskünfte aus Akten und Registrierkarten ehemaliger Häftlinge erhalten.“

    Einzigartiger historischer Fundus

    Die Registrierkarten der Häftlinge sind ein einzigartiger historischer Fundus an Informationen über Menschen, die zur Strafverbüßung in Lager  geschickt wurden. De facto befindet sich in den Archiven des FSB und in den Staatsarchiven also eine Fortführung der Akten der Repressierten. „Die Registrierkarten ergänzen die Prozessakten um Informationen über den Aufenthaltsort, die Verlegungen und durch zusätzliche Vermerke: die ausgeführte Zwangsarbeit, Krankheiten und Strafen während der Haftzeit“, so Prudowski.

    Derartige Anordnungen würden wohl kaum die Geschichtspolitik des Staates widerspiegeln, meint Nikita Sokolow, Begründer der Freien Historischen Gesellschaft. „Die Staatsorgane, insbesondere das Rossarchiv und das Verteidigungsministerium befassen sich aktiv mit der Digitalisierung von Dokumenten. Anschließend werden die Materialien im Netz frei zugänglich gemacht und ermöglichen so jedem Interessierten, die dokumentierten Ereignisse zu den eigenen mythisch verklärten oder politisch gefärbten Versionen ins Verhältnis zu setzen.“

    Widersprüchliche Signale

    Doch die Signale von oben sind widersprüchlich. Hochrangige Politiker fordern eine Erziehung zum Stolz auf die eigene Geschichte und rechtfertigen Stalin, um kurze Zeit später an der Enthüllung eines Denkmals für die Opfer der Repressionen teilzunehmen und die Repressionen als eine Tragödie zu bezeichnen, die sich nicht wiederholen dürfe. Diese Doppelzüngigkeit ermöglicht auch solche absurden Transformationen wie die Umgestaltung des Museums der Geschichte politischer Repressionen Perm-36 in ein Museum über die Lageraufseher.

    Dieser Vorfall hat der Gesellschaft gezeigt, was für ein begrenztes, bürokratisches Verständnis die Archivangestellten des Innenministeriums von ihrer Arbeit haben: Für sie sind die Registrierkarten keine Dokumente von unschätzbarem Wert, sondern einfach nur vergilbtes Papier.
    Erstaunlich, dass in Zeiten, wo man über große Erfahrung in der Digitalisierung von historischen Dokumenten verfügt, diese vernichtet werden, ohne auch nur eine Kopie zu erstellen. Das würde wohl kaum viel Zeit, Personal oder Mittel in Anspruch nehmen. Es geht um Registrierkarten – ein Blatt Papier, nicht um umfangreiche Akten.
    So ein Umgang mit historischen Materialien macht diese „Arbeit“ zu einem Verbrechen – sei es auch ohne Vorsatz – an der vaterländischen Geschichte und am Gedenken an die Opfer, denen man in öffentlichen Reden neuerdings so gern Respekt bekundet. 

    Oleg Chlewnjuk, Historiker und Verfasser zahlreicher Bücher über den Großen Terror, sagt: „Bedenkt man, um welche Dokumente es sich handelt und welche Bedeutung das Thema hat, ist ein solches Vorgehen unvernünftig.“ Die heimliche Anordnung offenbart tatsächlich ein tiefschürfendes Problem: den Konflikt zwischen dem, was die Silowiki für die staatlichen Interessen halten, und der gesellschaftlichen Forderung nach Zugang zu wichtigen Informationen. Derartige Säuberungen müssen, selbst wenn sie auf staatliche Anweisung hin geschehen, transparent sein und mit Erklärung von Zielen und Motiven erfolgen. 

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Die unbemerkten Flüchtlinge

    Die unbemerkten Flüchtlinge

    Nur ein kleiner Teil der Menschen, die zur Zeit global auf der Flucht sind, reist nach Russland ein. Die wenigsten von ihnen erhalten Flüchtlingsstatus. Aus Syrien sind über die letzten Jahre ganze drei Flüchtlinge in Russland registriert worden. Tausende Menschen aus verschiedenen Ländern leben jedoch in einer unklaren Rechtslage, wofür auch politische Gründe eine Rolle spielen. Pawel Aptekar von Vedomosti gibt einen Überblick.

    Die mit dem Zustrom von Flüchtlingen nach Europa verbundene Krise zwingt, den Blick auf Russland lenken. Da scheint es zunächst, Russland könnte bei der Aufnahme von Flüchtlingen ruhig Engagement zeigen – es wäre eine Friedensgeste, wir würden unseren Nachbarn helfen, wir würden den Vorwürfen, Konflikte zu unterstützten, konkrete Taten zur Rettung von Konfliktopfern entgegenstellen. Doch dies erweist sich als allzu schwierig.

    Auch nach Russland kommen Flüchtlinge, doch von den Hundertausenden, die wegen Krieg und Verfolgung ihre Heimat verlassen haben, haben nur einige wenige den Flüchtlingsstatus. Tausende Menschen beantragen vergeblich Asyl, viele von ihnen sind gezwungen, über Jahre mit halblegalem Status zu leben oder andere Möglichkeiten aufzutun, ihren Aufenthalt in Russland zu legalisieren.

    Nach Angaben der Föderalen Migrationbehörde (FMS) sind in Russland nur 816 Flüchtlinge registriert, davon 385 Menschen afghanischer und 285 ukrainischer Herkunft. Die Menschenrechtlerin Swetlana Gannuschkina erklärt, im ganzen Jahr hätten lediglich 2 Menschen syrischer Herkunft den Flüchtlingsstatus erhalten. Das FMS hat im Laufe mehrerer Jahre 3 syrische Flüchtlinge registriert. Die geringe Zahl der offiziell anerkannten Flüchtlinge ist dem komplizierten Verfahren geschuldet. Der Antragsteller muss den Antrag und weitere Unterlagen selbst oder mit Hilfe eines Übersetzers in russischer Sprache ausfüllen. Für die Sachverhandlung sind zwei Monate angesetzt, doch häufig zieht sich das Verfahren in die Länge. Im Jahr 2013 wurden 1977 Anträge gestellt, 2014 waren es 6976 und in den ersten sieben Monaten des Jahres 2015 850. Als Flüchtlinge anerkannt wurden jeweils lediglich 64, 19 und 81 Menschen.

    Mit dem Zustrom von Flüchtlingen aus der Ukraine wurde ein vereinfachtes Verfahren zum Erhalt eines zeitweiligen Asyls eingeführt. 2014 wurden von der Föderalen Migrationsbehörde 276.764 Anträge geprüft, in den ersten Monaten des Jahres 2015 weitere 112.805. Über 90 Prozent davon wurden bewilligt.

    Der zeitweilige Asylstatus erlaubt es, die ursprüngliche Staatsbürgerschaft zu behalten. Viele Ukrainer wollen später in ihr Land zurückkehren. Doch die Syrer etwa können nirgendwohin zurück. Fachleute und Menschenrechtler gehen davon aus, dass es einen informellen politischen Beschluss gibt, diese Menschen nicht als Flüchtlinge zu legalisieren, um so den Bau neuer Unterbringungszentren zu umgehen. Russland hat die UN-Flüchtlingskonvention und das Zusatzprotokoll unterzeichnet, die die aufnehmenden Staaten verpflichten, den Flüchtlingen Unterkunft und entsprechende Mittel zur Verfügung zu stellen.

    Es bestehen offensichtliche bürokratische Schwierigkeiten. Das an Friedenszeiten gewöhnte System des Föderalen Migrationsamtes ist dem infolge der Konflikte in der Ukraine und in Syrien wachsenden Flüchtlingszustrom offenkundig nicht gewachsen. Es ist fehler- und korruptionsanfällig geworden, man wartet auf Befehle von oben. Die Wirtschaftskrise hat die Chancen der Migranten auf reale Hilfe verringert, insbesondere in den Regionen, wo man sie hinschickt und sie in Obhut der lokalen Behörden stellt. Bei der Unterbringung der Migranten aus der Ukraine wird kaum berücksichtigt, ob sich dort Chancen auf einen Arbeitsplatz finden, oftmals werden sie in heruntergekommenen Wohnungen untergebracht, erklärt die Wirtschaftswissenschaftlerin und Meinungsforscherin der Moskauer Staatlichen Universität Olga Tschudinowskich. Von der einheimischen Bevölkerung werden die Flüchtlinge oft feindselig aufgenommen, da man sie als Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt und beim Beziehen staatlicher Hilfen betrachtet.

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