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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Mediamasterskaja #1: Haben Frauen auch die Medien in Belarus bereits verändert?

    Mediamasterskaja #1: Haben Frauen auch die Medien in Belarus bereits verändert?

    „Wir brauchen keine starken Anführer – wir brauchen eine starke Gesellschaft.“ Dies sagte die Philosophin Olga Shparaga im August 2020 in einem Interview, kurz nachdem sich eine historische Protestwelle gegen die belarussischen Machthaber erhoben hatte. Das autoritäre System von Alexander Lukaschenko versucht bis heute diesen gesellschaftspolitischen Wandlungsprozess durch Gewalt und Repressionen aufzuhalten und zu stoppen. Viele wie Olga Shparaga, die die historischen Ereignisse in ihrem Buch Die Revolution hat ein weibliches Gesicht beschreibt, haben das Land mittlerweile verlassen und arbeiten von Vilnius, Warschau oder Berlin aus daran, die Silowiki in Belarus unter Druck zu setzen und die entstandene Oppositionsbewegung voranzutreiben.

    Mit unserer Podcast-Reihe Mediamasterkaja (dt. Medienwerkstatt) wollen wir den eingeleiteten Wandlungsprozess in Bezug auf die Medien kritisch begleiten und mit unterschiedlichen Akteuren erörtern. In der ersten Folge sind es Olga Shparaga und die Gender-Forscherin Lena Ogorelyschewa, die diskutieren, inwieweit die Rolle der Frauen bei den Protesten auch die belarussische Medienwelt bereits geprägt hat – oder wie das Auftreten einer Frau wie Swetlana Tichanowskaja das klassische Rollenverständnis auch von Medien und Journalisten in Belarus herausgefordert hat. Wir bringen einige Auszüge aus dem Podcast.

    Frauen wurden bei den Protesten schnell zu einem agierenden Kollektiv, hier am 11. August 2020 in Minsk / Foto © Olga Schukailo/tut.by
    Frauen wurden bei den Protesten schnell zu einem agierenden Kollektiv, hier am 11. August 2020 in Minsk / Foto © Olga Schukailo/tut.by

    Mediamasterskaja: Kann man sagen, dass Frauen eine Schlüsselrolle bei den Protesten von 2020 gespielt haben?

    Olga Shparaga: Durch die Märsche, die im August zusätzlich zu den großen Sonntagsmärschen begannen, wurden die Frauen dann in dem weiteren Protest zu einem agierenden Kollektiv, das natürlich nicht homogen ist. Wie ich in meinem Buch über die Revolution in Belarus schreibe, ist dieses weibliche Subjekt durch das Patriarchat gespalten. Ein Teil der Frauen begreift sich als feministisch, ein anderer nicht. Aber das ist ein normales Phänomen, das wir in modernen Gesellschaften überall auf der Welt beobachten können. Es hängt mit der Polarisierung der Gesellschaften zusammen, mit der ungleichen sozialen, ökonomischen, politischen Position von Frauen, auf die verschiedene Frauen, die sich in verschiedenen Situationen befinden, mit unterschiedlichem Bildungsgrad und Einkommen, unterschiedlich reagieren.

    Dass die Herausbildung eines kollektiven weiblichen Subjekts eine wichtige und neue Etappe war, sehen wir unter anderem daran, dass es ab dem dritten Frauenmarsch harte Repressionen und Festnahmen gab. Das führte dazu, dass die Organisatorinnen diese Form des Protests schließlich aufgeben mussten.

    Dennoch waren und sind die Frauen weiterhin im öffentlichen Raum präsent. In kleinen Gruppen, ja, aber sie sind sehr kreativ und beweisen nach wie vor, dass Frauen Führung übernehmen können, dass sie der Gesellschaft neue Formen des Protests und des Widerstands anbieten können. Sie beweisen, dass Frauen Verantwortung übernehmen, Leaderinnen sein und uns verschiedene Formen der Solidarisierung anbieten können.

    Hat die Aktivität der Frauen bei den Protesten das Bild von Frauen bereits verändert?

    Eine wichtige Etappe war, denke ich, die Schwesterlichkeit in den Gefängnissen, der Zusammenhalt unter Frauen. Sie schreiben darüber in ihren Briefen, wie zum Beispiel Julia Sluzkaja. Wir erfahren daraus, wie wichtig diese gegenseitige Unterstützung für die Frauen ist. Eine weitere wichtige Komponente, eine wichtige Dimension der Revolution von 2020 verbinden diverse Forscher heute mit dem Begriff der gegenseitigen Fürsorge. Fürsorge lässt neue soziale und horizontale Verbindungen entstehen – etwas, das in der belarussischen Gesellschaft sehr gefehlt und sich im Verlauf der Ereignisse herausgebildet hat. Hierfür waren oft Frauen die Impulsgeberinnen, sie bestimmten die Stoßrichtung. Von diesen Verbindungen hängt in meinen Augen die demokratische Zukunft von Belarus ab.

    Die Tatsache, dass ein Teil der belarussischen Gesellschaft derart überrascht war von der aktiven Position von Frauen, hängt natürlich mit den bestehenden Stereotypen zusammen. Diese Stereotype werden wiederum von den offiziellen Medien aktiv unterstützt. Denken wir nur an die Aussage von Lidija Jermoschina, dass Frauen Borschtsch kochen sollten, anstatt sich mit Politik zu beschäftigen. Leider sind solche Ansichten auch für die belarussische Zivilgesellschaft und die unabhängigen Medien charakteristisch. Wir wissen, mit welcher Art von sexistischen Äußerungen die Präsidentschaftskandidatin Tatjana Korotkewitsch 2015 konfrontiert war. Genau diese Stereotype und Vorstellungen waren der Grund dafür, dass ein Teil der belarussischen Gesellschaft die Frauenbewegung am Anfang nicht ernst genommen hat.

    Aber ich glaube, die Tatsache, dass die Aktivierung der Frauenbewegung in mehreren Etappen verlief und die Frauen ihre Fähigkeit, Führung zu übernehmen, Leaderinnen zu sein und als Team zu arbeiten auf jeder Etappe von einer neuen Seite entdeckt haben, hat die Sicht auf die Frauen verändert.

    Wie lässt sich die Sichtbarkeit von Frauen in Politik und im gesellschaftlichen Leben erhöhen?

    Warum werden Frauen so widerwillig in Geschichte, Politik und das öffentliche Leben einbezogen, warum werden sie immer auf die zweiten Ränge verwiesen? Weil in der belarussischen Gesellschaft patriarchale Denkmuster vorherrschen, also die Vorstellung, dass Männer Führungsrollen übernehmen können und sollen und Frauen im Hintergrund zu bleiben haben. Und das sehen wir leider nicht nur im staatlichen Kontext. Leider beobachten wir das auch innerhalb der Zivilgesellschaft.

    Zweitens müssen wir beachten, dass auch Kommentatoren, Redakteure von Internetportalen, Journalisten und Leiter von diversen Projekten die Hintergrundrolle der Frau mit deren individuellen Fähigkeiten in Verbindung bringen und nicht mit der sozialen Ordnung, den Stereotypen, die in der Gesellschaft vorherrschen. Daraus folgt, dass die leitenden Akteure – meist Männer, selten auch Frauen – nicht verstehen, wie wichtig es ist, dass Frauen einen würdigen Platz in der Gesellschaft einnehmen, einen Platz, den sie einnehmen können und wollen. Dass Frauen ihre Unterstützung brauchen, dass man die bestehenden Stereotype kritisieren muss.

    Wie können die Medien die Rolle der Frau stärken?

    Ich finde, noch vor einem oder mehreren Monaten haben wir mehr weibliche Expertinnen gesehen. Hervorzuheben wären da Walerija Kostjugowa, Katerina Schmatina oder Tatjana Tschulizkaja.

    Dass die Frauen aus dem öffentlichen Raum verschwunden sind, dass sie weniger werden, beweist meiner Meinung nach, dass wir bewusst daran arbeiten müssen und uns auf die Anwesenheit von Frauen fokussieren. Wir brauchen dringend ein Verständnis davon, dass die Abwesenheit von Frauen im öffentlichen Raum gesellschaftliche Gründe hat, und nicht etwa mit angeborenen oder individuellen psychologischen Besonderheiten von Frauen zusammenhängt. Das bedeutet nämlich, dass man dieses Problem beheben kann, indem man die Rahmenbedingungen ändert. Und diese Bedingungen können von den Redakteuren, Journalisten, Projektleitern selbst geändert werden. Es muss eine Politik geben, die die Gleichberechtigung der Geschlechter anstrebt.

    Aber das Wichtigste ist, glaube ich, dass das alles nicht geschehen wird, solange nicht die Projektleiter und Redakteure davon überzeugt sind, dass die Teilnahme von weiblichen Expertinnen, die Sichtbarkeit von Frauen im öffentlichen Raum sowohl für die Frauen als auch für die Gesellschaft als Ganzes wichtig ist. Die Wichtigkeit hat die Revolution von 2020 bewiesen, die Veränderungen, die in der belarussischen Gesellschaft passiert sind, ihre Aktivierung, das Entstehen von neuen sozialen Verbindungen, die Fortsetzung des Widerstands, den es natürlich nach wie vor gibt in der belarussischen Gesellschaft.

    Warum hat das Image, das Swetlana Tichanowskaja um ihre Person aufgebaut hat, den Belarussen so gefallen? 

    Lena Ogorelyschewa: Für das moderne Belarus mit seiner zwiespältigen Wahrnehmung der Genderfrage war die Figur Swetlana Tichanowskaja und ihre Image-Kampagne deshalb so erfolgreich, weil sie einerseits eine starke Führungspersönlichkeit ist, eine Leaderin, die vor Tausenden von Menschen auftreten konnte. Ich spreche jetzt von der Swetlana Tichanowskaja, wie wir sie während des Wahlkampfs erlebt haben.

    Sehr vielen Menschen hat sie als Leaderin imponiert, aber auf der anderen Seite war da auch ihre persönliche Geschichte, die ebenfalls maximal verbreitet wurde: Dass sie diese Führungsrolle quasi ungewollt übernommen hat, weil sie vor allem Ehefrau und Mutter ist. Dass sie das alles nur deshalb auf sich genommen hat, weil ihr Mann inhaftiert wurde. Das hat auch den Menschen gefallen, die sonst für traditionelle Werte einstehen, für die patriarchale Ordnung. Ein großer Teil der potentiellen Wählerschaft von [Sergej] Tichanowski hat sie unterstützt und gewählt, weil es gewissermaßen ein Kompromiss war: Ich unterstütze ja nicht eine Frau, sondern die Ehefrau von Tichanowski. Oder, ich unterstütze ja eigentlich Tichanowski, aber weil ich ihn nicht wählen kann, wähle ich seine Frau.

    Swetlana Tichanowskaja übernahm die Führungsrolle im Wahlkampf quasi ungewollt / Foto © tut.by
    Swetlana Tichanowskaja übernahm die Führungsrolle im Wahlkampf quasi ungewollt / Foto © tut.by

    Wenn wir uns unsere Kultur und die Frauenfiguren ansehen, die darin gepriesen werden, dann ist genau dieses Bild – die Frau als Mutter, ihre Bereitschaft, sich für irgendwelche gesellschaftlichen Ziele zu opfern – durchaus überlebensfähig und populär. Deshalb hat diese Geschichte sehr vielen Menschen, auch solchen, die sonst unpolitisch sind, imponiert.

    Die Leute sind auch der Schwäche von Swetlana Tichanowskaja gefolgt

    Auch die PR-Strategie war sehr erfolgreich, wiederum nicht unbedingt nach Lehrbuch, wie man einen politischen Leader aufbaut. Bei Tichanowskaja war alles umgekehrt: Sie hat ihre Schwäche in den Vordergrund gestellt, dass sie lieber Frikadellen braten würde. Und das war erfolgreich. Die Menschen sind ihr gefolgt. Unter anderem ihrer Schwäche. Manche haben darin eine Stärke gesehen. Manche sagten sich: Alles okay, das sind keine Feministinnen, die die Macht ergreifen, wenn alles vorbei ist, geht die Frau zurück zur Familie.

    Ja, jetzt ist natürlich alles anders. Sowohl ihr Image als auch die Art, wie sie sich positioniert. Sie wirkt wie eine unabhängige, starke Politikerin, deren Worte Autorität haben. Aber angefangen hat alles genau so. Leider kann man sich noch immer schwer eine Strategie vorstellen, die für eine weibliche Politikerin erfolgreicher wäre als die, die sie in dem Moment gewählt hat. Selbst in dem so fortschrittlichen Amerika sind die Leute nicht bereit, für Hillary Clinton zu stimmen. Lieber Trump als Hillary, zeigt uns die Praxis.

    In der ersten Zeit hat Swetlana Interviews gemieden. Ihr Erscheinungsbild unterschied sich sehr von dem, wie es heute ist. Aber dann, nachdem sich die Wahlkampfstäbe zusammengeschlossen hatten, wurde allen klar, dass Swetlana die einzige Alternative zur herrschenden Macht ist. Ob wir das wollen oder nicht, eine andere Alternative gibt es nicht.

    Auch danach wurde Tichanowskaja kritisiert, aber ich kann mich nicht an eine Flut von Artikeln erinnern, die sie immer noch ausgelacht oder kritisiert hätten für ihre, nun ja, nennen wir es Unprofessionalität. Langsam bildete sich eine Parallele heraus: Wenn du Tichanowskaja kritisierst, bist du für die Macht. Etwas dazwischen gibt es nicht.

    Ich denke, am Anfang haben die Medien sie manchmal gnädiger behandelt, waren vielleicht geduldiger mit ihren Schwächen als politische Anführerin. Wenn wir analysieren, was geschrieben wurde, dann überwiegen die Artikel, die Tichanowskaja begeistert lobten. Diese Begeisterung gab auch in den folgenden sechs Monaten den Ton an, nicht nur die Begeisterung der Journalisten, sondern auch die des Publikums, das ihr überwiegend wohlgesonnen war. Nur selten kamen kritische Äußerungen in ihre Richtung.

    Wie veränderte sich die Berichterstattung mit der Veränderung von Tichanowskajas Image?

    Sie wird jetzt als gestandene und unabhängige Politikerin beurteilt. Deshalb gibt es mittlerweile auch Artikel wie „Hier hätte das Tichanoswkaja-Büro vielleicht das tun können, und hier hätte es vielleicht besser anders gehandelt“. Eine interessante Tendenz, finde ich. Im ersten Moment hatte man Mitleid, im nächsten begann man an sie zu glauben. Und ehe man sich versah, war sie nicht mehr die Frau in der Politik, sondern einfach nur Politikerin. Man kann jetzt nicht mehr einfach zurück zu der Situation, wo man sie vor allem als Frau oder als besonders weiblich beurteilt hat, weil sie diese Etappe schlicht hinter sich gelassen hat.

    Wir haben uns damit abgefunden, dass Tichanowskaja in unserem Informationsfeld existiert, dass sie ein unabhängiges Subjekt ist und im Grunde eine der ganz wenigen Hoffnungen darauf, dass sich der Fall Belarus nach einem positiven Drehbuch entwickelt. So hat sie unter anderem auch den potentiellen Sexismus besiegt, der in ihre Richtung zielte.

    Das heißt nicht, dass alles nur gut ist. Es kann alle möglichen Meinungen zu Tichanowskaja geben, aber die, die sie eher loben als kritisieren, überwiegen.

    Gibt es zunehmend weibliche Expertinnen, und wovon hängt das ab?

    Wir sehen zum Beispiel, dass man jetzt relativ regelmäßig Frauen als politische Beobachterinnen einlädt. Plötzlich hat sich herausgestellt, dass es in Belarus nicht nur Frauen gibt, die von Beruf Politikerinnen sind, sondern sich auch mit der Analyse von politischen und wirtschaftlichen Prozessen beschäftigen, und diese Frauen werden jetzt in die Redaktionen eingeladen.

    Aber das ist in Wirklichkeit ein sehr langsamer Prozess. Und wir müssen uns klar sein, dass sich alles hier Gesagte nur auf unabhängige Medien bezieht. Ja, man sieht zum Teil mehr weibliche Expertinnen. Im März gab es zum Beispiel viele runde Tische, an denen auch Frauen teilgenommen haben, Politikwissenschaftlerinnen, Frauen, die in soziologische Forschungen involviert sind, und eine ganze Reihe von anderen Expertinnen. Aber im April war alles wieder beim Alten.

    Die Sichtbarkeit von Frauen im öffentlichen Raum ist für die Gesellschaft als Ganzes wichtig / Foto © Wadim Samirowski/tut.by
    Die Sichtbarkeit von Frauen im öffentlichen Raum ist für die Gesellschaft als Ganzes wichtig / Foto © Wadim Samirowski/tut.by

    Wenn wir uns zum Beispiel heute dieselbe Situation im Westen anschauen, dann kann man sich schwer eine große Paneldiskussion vorstellen, an der keine einzige Frau teilnimmt. Das würde sofort negativ aufstoßen. Das Publikum wäre empört: „Was ist denn hier passiert? Ist irgendwas kaputt? Bringt das schnellstens in Ordnung“, weil man es nicht mehr gewohnt ist.

    Ich würde gerne glauben, dass die belarussische Medienwelt irgendwann an den Punkt kommt, an dem die völlige Abwesenheit von Frauen in bestimmten Bereichen etwas Ungewohntes sein wird. 

    Welche Rolle spielte die Staatspropaganda bei der Beleuchtung der Ereignisse des Jahres 2020?

    Das ist ein sehr wichtiger Punkt, über den ich auch gerade nachdenke: Wie Frauen in den staatlichen Medien dargestellt werden, denn auch dort können wir eine Spaltung beobachten, die es seit August gibt und die sich immer mehr vertieft. Damit meine ich, dass es aus Sicht der Staatsmedien offenbar „normale Frauen“ und die Smaharki-Frauen gibt – solche, die an Protesten teilnehmen.

    Das Bild der „normalen Frau“ hat sich nicht geändert. Immer noch dieselbe Palette von patriarchalen und sonstigen Stereotypen. Aber die Smaharki werden auf jede erdenkliche Weise diskreditiert, da sind der Kreativität der Künstler und Schreiber von politischen Pamphleten keine Grenzen gesetzt.

    Von einer dieser Künstlerinnen gibt es ein Bild, Der Frauenmarsch. Ziel war es, die Frauen zu diffamieren und zu zeigen, wie abnormal sie sind, weil sich „normale Frauen“ solche Emotionen nie erlauben würden, aber ich finde dieses Porträt sehr lebendig und menschlich. Seit ich es kenne, liebe ich die Frauen, die an politischen Prozessen teilnehmen, noch viel mehr. Sie sind dort so lebendig, so ungleichgültig.

    Dieses Porträt will die Gesichter der Frauen entstellen, denn das weibliche Gesicht soll ja, wie wir alle wissen, schön sein. Aber für mich steckt die Schönheit genau da drin, in dem Schmerz, den man angesichts der Ereignisse empfindet, den Schmerz angesichts der menschlichen Tragödien, die Frauen und Männer hier und jetzt erleben, wo immer sie gerade sind. Und auch den Schmerz darüber, wie die Staatspropaganda versucht, das belarussische Volk zu entzweien, indem sie sich unter anderem dieser festgefahrenen Geschlechterstereotypen bedient. Sie versucht auch die Frauen zu entzweien. Ihr Ziel erreichen sie nicht. Mit diesen Versuchen und dem plumpen Spiel mit dem Patriarchat erreichen sie exakt das Gegenteil.

    Warum sind die Massenmedien nicht mehr die primäre Quelle für wichtige Informationen?

    Da kommen wir wieder auf die Rolle der Medien. Hier könnten wir eine ganz eigene Diskussion aufmachen, aber sie passt sehr gut zu dem, was aktuell in Belarus passiert. Wir sehen, dass die sozialen Netzwerke, die Mikroblogs, diverse Kommunikationskanäle heute eine riesige Rolle spielen. Und wenn wir uns nochmal Tichanowskaja ansehen, aber auch andere Frauen, die 2020 mit politischen Ambitionen vorgetreten sind, sehen wir, dass die Nachrichten ihr Publikum nicht mehr unmittelbar aus den Massenmedien erreichten – jeder, der wollte, konnte ihren Telegram-, Facebook-, Instagram– oder YouTube-Kanal abonnieren und die Informationen aus erster Hand bekommen. Und wenn man seine Informationen aus den Mikroblogs einer bestimmten Personen bezieht, können die Medien das Bild nicht mehr so leicht verzerren, wenn sie das wollen.

    Wobei ich in dem Fall gar nicht von verzerren sprechen will, denn im Hinblick auf einen politischen Leader oder politische Leaderin muss natürlich klar sein, dass eine Swetlana Tichanowskaja in Wirklichkeit ganz anders sein kann, als das Image, das ihre PR-Abteilung von ihr zeichnet. Das ist weder gut noch schlecht – das ist einfach die Realität. Bei männlichen Politikern ist das nicht anders – ihr Bild in der Öffentlichkeit kann sich sehr stark von dem unterscheiden, wie sie in Wirklichkeit sind. Aber das Sprachrohr der PR ist so mächtig, dass die Massenmedien es manchmal schwer haben, dieses Bild zu beeinflussen.

    Ich würde sagen, dass die Medien die Inspiration, die von Tichanowskaja ausging, von dem Zusammenschluss der drei Wahlkampfstäbe und den drei Gesichtern der weiblichen Revolution, natürlich befeuert haben. Aber sie haben eher das aufgegriffen, was in der Realität passierte. 

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    Der Protest in Belarus wird besonders von Frauen getragen und geprägt, darüber ist schon viel gesagt worden. Olga Shparaga ist eine der prominentesten Stimmen in diesem Diskurs. Die Philosophin lehrt am European College of Liberal Arts in Belarus, ist Mitglied im Koordinationsrat der Opposition – und auch international bekannt, im April 2021 erscheint ihr Buch Die Revolution hat ein weibliches Gesicht in deutscher Übersetzung im Suhrkamp-Verlag.

    Shparaga befindet sich aktuell in der Haftanstalt Shodino östlich von Minsk, nachdem sie während einer friedlichen Demonstration Anfang Oktober zunächst für einen Tag festgenommen und am 12. Oktober schließlich zu einer 15-tägigen Haftstrafe verurteilt wurde – für die „Teilnahme an einer nicht genehmigten Massenveranstaltung“.

    Inwiefern die Figur der Frau in patriarchalen Strukturen heute stellvertretend für die gesamte belarussische Gesellschaft steht, warum sich so viele Menschen in Swetlana Tichanowskaja wiedererkennen können, und wie die Oppositionsbewegung auch auf diejenigen zugehen kann, die ihr kritisch gegenüber stehen – darüber sprach Shparaga noch kurz vor ihrer Haft beim Spaziergang mit Darja Amelkowitsch vom unabhängigen belarussischen Portal Reformation.

    Wir beobachten zurzeit, wie sich unterschiedlichste gesellschaftliche Gruppen zusammentun und gemeinsam protestieren. Kann man diese Bewegung als neue Solidarität bezeichnen?

    Schon während der Wahlkampagne haben wir gesehen, wie eine neue gesellschaftliche Energie freigesetzt wurde. Nach den Wahlen erreichte sie eine neue Intensität, als den Leuten nichts anderes übrigblieb, als auf die Fälschungen und den von der Regierung entfesselten Terror zu reagieren. Für die Gesellschaft gab es kein Zurück mehr. Die Leute spürten, was für eine gewaltige Energie plötzlich da war, was für eine Solidarisierung im Gange war, und suchten nach Formen, sie zu bewahren. Wir sehen auch jetzt noch, wie diese Formen sich wandeln, wie neue erfunden und weiterentwickelt werden.

    Darja Amelkowitsch im Gespräch mit Olga Shparaga (rechts) / Fotos © Anna Sharko
    Darja Amelkowitsch im Gespräch mit Olga Shparaga (rechts) / Fotos © Anna Sharko

    Was zeichnet diese Solidarität aus?

    Die Idee der Humanität. Dass Menschen sich miteinander solidarisieren, einfach weil sie Menschen sind. Weil sie finden, dass niemandem Gewalt angetan und niemand in seinen Grundrechten und seiner Freiheit eingeschränkt werden darf. Wir sehen, wie diese Idee die Leute über alle beruflichen, alle Alters- und Geschlechtsunterschiede hinweg vereint: Sie wollen aktive Bürgerinnen und Bürger sein, dafür stehen sie ein. Sie wollen keinen autoritären Staat und sind bereit, sich miteinander zu verständigen, um dieses Ziel zu erreichen. 

    Wir haben viel über die Atomisierung der belarussischen Gesellschaft diskutiert. Ihr fehlt Debattenerfahrung, ihr fehlt Vertrauen. Und plötzlich war da diese große Offenheit und Toleranz, der Wunsch der Menschen, gemeinsam etwas zu schaffen und sich daran zu freuen. 

    Derzeit wird viel diskutiert, ob man nicht alle Kräfte darauf richten sollte, den politischen Gefangenen zu helfen, ihr Trauma zu bewältigen. Oder ob es richtig ist, dass sich die Leute abends in den Innenhöfen versammeln, um positive Emotionen zu teilen – ich finde, das ist alles wichtig. Die Menschen brauchen einen emotionalen Rückhalt, sie suchen Verständigung und wollen vertrauensvolle Beziehungen aufbauen. Es ist genau die Art von Solidarität, die unserer Gesellschaft bislang gefehlt hat.

    Und doch lebt ein Teil der Gesellschaft immer noch in einer anderen Realität. Diese Menschen halten Veränderungen weder für notwendig noch für wünschenswert. Sie werfen dem progressiven Teil der Gesellschaft vor, die Stabilität aufs Spiel zu setzen. Was kann man diesem paradoxen Argument entgegnen, wenn man bedenkt, dass der Sozialstaat praktisch nicht mehr existiert? 

    Führen wir uns diese Gruppe vor Augen. Sie ist überaus heterogen. Glühende Lukaschenko-Anhänger gibt es dort kaum, sondern vor allem Frauen, die im Niedriglohnsektor arbeiten. Diese Frauen haben ein kleines Gehalt, sie müssen sich um ihre Kinder kümmern, oft auch um ihre alten Eltern. Die Angst, die Unterstützung zu verlieren und auf einmal mit nichts dazustehen, ist deshalb groß. Diese Gruppe hat sehr wenig Freizeit. Wenn die Frauen außerhalb von Minsk wohnen, haben sie häufig keine Zeit, ins Internet zu gehen. Deswegen bleiben ihnen die vielen Wege der Solidarität verborgen – sie wissen schlicht nicht, wo sie Hilfe erhalten können. Das Regime wiederum nutzt sie aus und droht ihnen damit, dass sie alles verlieren. Dasselbe tut auch die Propaganda, die behauptet, eine neue Regierung werde sich nicht um sozial schwache Gruppen kümmern. 

    Die Angst, die Unterstützung zu verlieren und auf einmal mit nichts dazustehen, ist groß

    Es gibt in dieser Gruppe sicher auch Menschen, die unter Lukaschenko Karriere gemacht haben und dank ihm sozial aufgestiegen sind. Sie sind dem System gegenüber loyaler. Aber es gibt auch Menschen, die in Lukaschenkos System gefangen sind. Beide muss man ansprechen, in unterschiedlicher Weise. 

    Wir müssen uns eingestehen, dass sich der alternative Diskurs derzeit überhaupt nicht an diese Gruppe richtet. Wir können nicht nur über Privatisierung [des staatlichen Eigentums] und politische Freiheiten sprechen. Wir müssen uns auch um die anderen Themen kümmern: Was wird aus dem Schulsystem, dem Gesundheitswesen, den sozial Benachteiligten? Die Gesellschaft braucht auch dieses Narrativ.

    Wie stehen Sie dazu? Sind Sie auch eine Verfechterin des Sozialstaats?

    Ja. Aber nur, wenn er funktioniert wie in Deutschland oder Schweden. In Belarus ist er seit langem erodiert, wie wir bei Corona gesehen haben, oder auch, als die halbe Stadt ohne Wasser war. Die Regierung unternahm nichts und erklärte: „Das ist euer Problem.“ Das wäre in einem Sozialstaat undenkbar. Der ganze Beamtenapparat, die Ministerien – wozu sind sie da? Ich bin sicher, dass sich viele Leute zum ersten Mal gefragt haben, ob sie mit einem anderen Staat nicht besser dran wären.

    Es wird weitere Pandemien wie Corona geben, und dafür braucht es ein funktionierendes Gesundheitssystem, und überhaupt soziale Unterstützung. Der Staat sollte keine Ideologie erfinden, sondern den Menschen helfen. Es gibt verschiedene Institutionen, die mit einem vernünftigen Steuersystem gut funktionieren würden. Ich denke, wenn wir heute für so ein Modell des Sozialstaates kämpfen, gewinnen wir gleichzeitig neue Anhänger. 

    Kommen wir zur Kreativität der Frauenbewegung, die zum Gesicht der belarussischen Proteste wurde. Frauen haben sich einen Glitzermarsch ausgedacht, oder sie kommen zusammen und bilden eine Kette, weiß gekleidet, Blumen in den Händen … Heute spricht die ganze Welt über die belarussischen Frauen, weil sie mutig, schön und kreativ sind. 

    Es war ein langer Prozess. Alles hat mit der Solidaritätsaktion für die Eva von Chaim Soutine begonnen. Das war noch im Juni. Diese Bewegung wurde überwiegend von Frauen unterstützt, weil viele von ihnen mit der Sammlung der Belgazprombank zu tun hatten: Künstlerinnen, Kuratorinnen. Auch im Kulturbetrieb gibt es sehr viele Frauen, insbesondere in den Projekten, die Viktor Babariko unterstützt hat. Die Frauen machten Eva zu einem Sinnbild für sich selbst: Viele fotografierten sich als Eva oder trugen T-Shirts mit Eva.

    Haben sie sich mit ihr identifiziert? 

    Ja. Wohlgemerkt nicht mit dem Bild einer halbnackten Frau auf dem Sofa, sondern mit Eva. Mit dieser strengen, ernsten, vielleicht sogar missbilligenden, herausfordernden Frau – sie wurde zum Gesicht der weiblichen Solidarität. Später kamen dann die Bilder, die für das schwache Geschlecht standen.  

    Die Frauen in Weiß? 

    Ja. Und mit Blumen. Als sich die Frauen am 12. August auf dem Komarowka-Markt versammelten, als der Terror der Behörden losging. Das war so ein Bild der Weiblichkeit, der Schwäche. Und gleichzeitig ein Symbol dafür, dass auch in der Schwäche eine Stärke liegt. Unsere Revolution – der friedliche Protest – ist ein Ausdruck dafür: Man kann sich wehren und für seine Rechte kämpfen, auch wenn man schwach ist. 

    Als die Frauen am 12. August eine Kette bildeten, wussten sie nicht, wie die Sicherheitskräfte reagieren würden. Heute können wir sagen, die Frauen werden nicht inhaftiert, ihnen wird weniger Gewalt angetan, aber ich weiß, dass sie Todesangst hatten, als die Aufseher um sie herumliefen und keiner wusste, wie es ausgehen würde. In dieser Haltung liegt eine große Selbstaufopferung.

    Diese Reaktion wurde zum Vorzeichen dafür, dass die Revolution friedlich verlaufen könnte. Dass wir friedliche, kreative Wege gehen. Wir werden sie, unsere Freunde, unsere Nächsten, bis zum Schluss verteidigen. 

    Die nächste Etappe, das waren dann schon die Frauenmärsche? 

    Die Frauen nehmen längst eine aktive Position ein. Ob feministische Elemente oder LGBTQ-Community, die Märsche zeigen, dass das weibliche Subjekt existiert. Die Frauen sprechen nicht mehr als Opfer. 

    Der Protest hat viele unterschiedliche weibliche Gesichter, denn auch die Frauen sind ja alle ganz unterschiedlich. Wir haben unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse. Doch das Thema Gewalt hat alle vereint. Eva wurde „verhaftet“. Die Männer landeten in den Gefängnissen – die Frauen gingen gegen Gewalt und Willkür auf die Straße. Die Frauen machen klar, dass die Gewalt die Gesellschaft als Ganze betrifft. Sie sagen es mit den unterschiedlichsten Slogans. Das Wichtigste ist, dass Plakate, die ich sonst auf feministischen Demos gesehen hatte (wie „Er schlägt dich, also wandert er in den Knast“), auf den großen Frauenmärschen auftauchten. Ein Plakat für ein Gesetz gegen häusliche Gewalt wurde zum Symbol dafür, wie sich die ganze Gesellschaft wahrnimmt. Das bedeutet, die Figur der Frau, die in einer patriarchalen Gesellschaft systematischer Gewalt ausgesetzt ist, steht heute für die Gesellschaft insgesamt. 

    Sobald die Frauen ihre Position behaupteten und Subjekte wurden, begegnete die Staatsmacht ihnen mit Gewalt. Bis dahin verhielt sie sich nachsichtig. Wie würden Sie das interpretieren? 

    Warum wohl hat Swetlana Tichanowskaja die Wahlen gewonnen? Weil Lukaschenko sie nicht ernstgenommen hat. Aber die Gesellschaft hat sie ernstgenommen. Maria Kolesnikowa hat ihren Pass zerrissen und ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Die Frauen haben erzwungen, dass man fortan mit ihnen zu rechnen hat. Die Staatsmacht, die nur auf Gewalt setzt, fand die entsprechende Antwort.

    Die Figur der Frau, die in einer patriarchalen Gesellschaft systematischer Gewalt ausgesetzt ist, steht heute für die Gesellschaft insgesamt

    Doch die Art des Protestes hat sich dadurch nicht geändert. Der Koordinationsrat plant keinen Staatsstreich, die Frauenmärsche sind völlig friedlich. Dieses Engagement hat mittlerweile einen Rückhalt in der Gesellschaft, es kann nicht mehr ignoriert werden. 

    Sprechen wir über unsere Anführerinnen – Swetlana Tichanowskaja und Maria Kolesnikowa. 

    Ihr Wahlkampfbündnis war gut, weil darin verschiedene Frauen vertreten waren. Jede von ihnen arbeitete für die eigene Gruppe. Maria Kolesnikowa vertritt eine eher aktivistische Position; in einem der Interviews bezeichnete sie sich als Feministin. Swetlana Tichanowskaja sagte, sie sehe sich selbst nicht in der Politik. Veronika Zepkalo ist Managerin und richtet sich an Frauen in der Wirtschaft. Ich denke, die Kraft lag in der Zusammensetzung dieses Bündnisses. 

    Und was Swetlana betrifft: Ihre Reaktion gleicht der Reaktion der belarussischen Gesellschaft. Auch sie überwindet sich selbst und schöpft daraus Kraft. Das ist toll. Ich denke, die Menschen erkennen in ihr sich selbst. Vielleicht wollten die Belarussen sich nicht an dieser Wahl beteiligen, wollten nicht aktiv werden. Aber dann entstand eine Situation, die die Leute in den Protest trieb. Die Wahlfälschungen, die brutale Gewalt des Staates gegen seine Bürger … Die Menschen haben Angst, es ist schwer, Alltag und Protest unter einen Hut zu bringen, aber sie machen es trotzdem, sie tun sich zusammen und kämpfen.

    Swetlana Tichanowskaja ist bis heute ein Spiegel, in dem die Gesellschaft sich selbst erkennt. Sie sagt: Wir sind keine Politiker, aber wir können nicht tatenlos bleiben. Wir wollen und können nicht mehr in einem autoritären Staat leben.

    Dabei sagt sie aber auch, ein starker Anführer werde künftig an ihre Stelle treten.

    Das ist schade. Ich finde, wir brauchen keine starken Anführer, wir brauchen eine starke Gesellschaft. „Wir wollen nicht auf Anführer hoffen“ – das höre ich von vielen engagierten Menschen. 

    Swetlana Tichanowskaja ist bis heute ein Spiegel, in dem die Gesellschaft sich selbst erkennt. Sie sagt: Wir sind keine Politiker, aber wir können nicht tatenlos bleiben

    Wie die Erfahrung gezeigt hat, kann ein starker Anführer uns und unsere Bedürfnisse ignorieren. Wichtig ist, dass der politische Anführer unser Partner ist, einer von uns. 

    Um Ihren Gedanken fortzuführen: Mir fällt der berühmte Ausspruch von Maria Kolesnikowa ein: „Liebe Belarussen, ihr seid unglaublich!“ Darin steckt doch die Grundeinstellung: Alles, was die Belarussen tun müssen, ist an sich selbst zu glauben. Oder etwa nicht? 

    Wenn wir davon ausgehen, dass sich unsere Gesellschaft in einem Zustand der Gewalt befindet, (erinnern Sie sich, wie Lukaschenko sagte: „Eine Geliebte lässt man nicht gehen“), so heißt das: Ihr fehlt der Glaube an die eigene Stärke. Es gibt viele Formen der Gewalt: physische, ökonomische, psychische. Oft fällt es schwer zu erkennen und sich einzugestehen, dass man Gewalt ausgesetzt ist. Oft wissen die Frauen nicht, wie sie aus dieser Situation herauskommen sollen. 
    Ich hatte von Anfang an den Eindruck, dass jenes Empowerment, von dem die Feministinnen reden, der Glaube an die eigene Stärke, genau das ist, was man in solchen Situationen braucht. „Ich beende eine Missbrauchsbeziehung“, sagen die Frauen heute. Offenbar ist es genau das, was heute die gesamte Gesellschaft tun muss. Und dafür muss sie auf ihre eigene Stärke vertrauen.  

    Das ist eine wichtige Parallele, aber ich muss doch fragen, wie es weitergeht. Natürlich verändert sich unsere Gesellschaft. Doch wie stehen die Chancen, dass die konkreten Frauen, über die wir heute gesprochen haben, aber auch die Frauen insgesamt, in der Politik bleiben, wenn das gegenwärtige Regime fällt?

    Ich denke, die Frauen, die das Problem erkennen, müssen kämpfen. Das ist eine der Aufgaben, die wir uns in der Koordinationsgruppe, dem Femsowjet, stellen. Wir meinen, dass die belarussische Gesellschaft eine patriarchale Gesellschaft ist. Natürlich verändert sich jetzt etwas, aber das bedeutet nicht, dass es morgen keinen Sexismus mehr gibt und alle Männer aufhören, Frauen herablassend zu behandeln. Deswegen ist es sehr wichtig, dass die Frauen, die sich dessen bewusst sind – die Feministinnen -, die anderen Frauen darin bestärken, sich zu vereinen und ihre Interessen und Probleme zu artikulieren. Ihnen dabei helfen, zu verstehen und daran zu glauben, dass ihre Probleme einer Erörterung wert sind. Ich wiederhole, diese Probleme betreffen die gesamte Gesellschaft. Häusliche Gewalt ist nicht nur das Problem der Frauen. 

    Warum ist die Gleichheit der Geschlechter so wichtig?

    Wenn Männer und Frauen in der Gesellschaft nicht gleichgestellt sind, wie sollen sie dann in anderen Gruppen kooperieren? In Gruppen unterschiedlichen Alters, im Beruf? Wie werden sie sich als Partner erkennen, wenn sie der Meinung sind, dass eine Frau einem Mann in vielerlei Hinsicht unterlegen ist? Deshalb wird die Gleichstellung der Geschlechter in demokratischen Ländern so sehr verteidigt – sie ist wichtig für die gesamte gesellschaftliche Ordnung.

    Und die letzte Frage, Olga: Wer ist Ihr Präsident? 

    Für mich ist der Präsident oder die Präsidentin eher eine technische Figur. Ich wiederhole es: Der Präsident, so würde ich sagen, ist einer oder oder eine von uns. Ein Mensch, der sensibel und offen ist für die Probleme der unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen. Der Präsident muss nicht in erster Linie ein guter Manager, sondern ein guter Kommunikator sein, jemand, der zuhört und bereit ist, Kompromisse einzugehen. Er steht für bestimmte Werte, und für mich sind diese Werte verbunden mit einer inklusiven Gesellschaft. 

    Haben Sie eine bestimmte Person aus unseren Kreisen im Blick?

    Julia Mizkewitsch. Ich sehe sie als mögliche Präsidentin.

    PS: Die Feministin und Bürgerrechtlerin Julia Mizkewitsch befindet sich derzeit ebenfalls im Gefängnis. 

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    Der Crowdsourcing-Protest

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    „Wir sollten keine Feinde sein“

    Sound des belarussischen Protests

    Was war da los? #2

    „Wir haben absolut nichts gegen Russland“