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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Gefängnis oder Tod

    Gefängnis oder Tod

    Im August soll der Prozess gegen die drei Schwestern Chatschaturjan beginnen. Krestina, Angelina und Maria Chatschaturjan wird vorgeworfen, ihren Vater Michail vorsätzlich ermordet zu haben. Mit einem Messer hatten sie auf den Schlafenden eingestochen, 36 Messerstiche werden später gezählt. Den Schwestern drohen nun bis zu 20 Jahren Haft.

    Der Fall Chatschaturjan hat in Russland für heftige Debatten über häusliche Gewalt gesorgt. Der Journalist Pawel Kanygin hatte für die Novaya Gazeta ausführlich darüber berichtet. Was seine Recherchen zutage brachten, liest sich schrecklich: Der Vater, der auch gewalttätig gegen die Mutter der jungen Frauen gewesen war, hatte diese sowie den gemeinsamen Sohn aus dem Haus gejagt. Seit 2015 wohnte er mit seinen drei Töchtern alleine. Diese schildern jahrelangen psychischen und physischen Missbrauch und Folter. Die jüngste der drei Schwestern soll versucht haben, sich umzubringen. Nachdem er ihnen wegen Unordnung in der Wohnung Pfefferspray ins Gesicht gesprüht hatte, ermordeten sie ihn.

    Es gibt Stimmen, die den Vater verteidigen, der lediglich versucht habe, seine Töchter streng zu erziehen. Auch unter dem Verweis auf „traditionelle Werte“ war in Russland 2017 das Strafmaß bei häuslicher Gewalt gemindert worden. 
    Opferschutzverbände, aber auch viele Prominente dagegen verteidigen die drei Schwestern, argumentieren, dass sie nach jahrelangem Missbrauch aus Notwehr handelten. 

    Olga Romanowa, renommierte Journalistin und Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation Rus Sidjaschtschaja, stellt sich ebenfalls hinter die drei Mädchen: Warum holten sie keine Hilfe von außen, warum wandten sie sich nicht an die Polizei? Auf Forbes Women wirft Olga Romanowa genau diese Fragen auf – und legt dar, weshalb.

    Die Schwestern Krestina, Angelina und Maria Chatschaturjan sind des Mordes an ihrem Vater Michail Chatschaturjan (57) angeklagt. Bei der Vernehmung gestanden sie die Tat und berichteten vom systematischen Missbrauch durch den Vater. Der Strafrechts-Paragraph wegen vorsätzlichen Mordes nach Absprache, der in ihrem Fall zur Anwendung kommen soll, sieht bis zu 20 Jahre Freiheitsentzug vor.  

    Vorrede

    Szenario 1: Es ist spät abends. Sie sind unterwegs nach Hause und werden im Treppenhaus überfallen. Sie schubsen den Angreifer weg, er knallt mit der Schläfe gegen eine Fensterbank und stirbt.

    Szenario 2: Ihr beinahe Ex-Mann zieht aus und packt seine Sachen, er ist nervös, hat getrunken, er brüllt, Sie hätten sein Leben ruiniert, und er versucht Ihnen eine Ohrfeige zu verpassen – es ist nicht das erste Mal, doch nun ist er beim Waffenschrank angelangt, wo er sein Jagdgewehr aufbewahrt, richtet es plötzlich auf Sie und legt schon eine Patrone ein. Da schwingen Sie seinen Golfschläger. Er fällt um, Sie rufen die Polizei. 

    Und dann?

    Dann kommen Sie ins Gefängnis. Ohne jeden Zweifel. Selbst wenn Sie die besten Anwälte haben, die es schaffen, einen Hausarrest zu erwirken oder eine schriftliche Erklärung, den Aufenthaltsort nicht zu verlassen. Doch früher oder später kommt es zum Prozess, und Sie bekommen eine Haftstrafe. Und zwar nicht auf Bewährung.

    Sie bekommen eine Haftstrafe – und zwar nicht auf Bewährung

    Ihre Anwälte und Sie werden argumentieren, es sei Notwehr gewesen und Sie hätten keine Wahl gehabt. Während die Staatsanwaltschaft argumentieren wird, Sie hätten die Grenze der Notwehr überschritten. 

    Hatten Sie im ersten Fallbeispiel andere Handlungsmöglichkeiten? Aber sicher doch. Sie hätten im Treppenhaus versuchen können mit dem Angreifer zu reden, sie hätten ihm Pestalozzi zitieren können, oder zur Not auch etwas aus dem Matthäusevangelium. Er wäre sicher einsichtig gewesen. Aber Sie haben es nicht einmal versucht. 

    Warum mussten Sie den Angreifer denn so schubsen, dass er mit der Schläfe auf der Fensterbank aufschlägt? Man hat Ihnen beim Selbstverteidigungskurs und im Sportunterricht in der Schule doch genau einmal gezeigt, wie man einen Angreifer mit einem Schulterwurf außer Gefecht setzt und fixiert. Warum haben Sie diese simple Technik der Selbstverteidigung nicht angewandt? 

    Und was hatten Sie eigentlich an? Keine dicken Strumpfhosen? Na, da sehen Sie mal! Sie waren an einem Samstagabend allein nach Hause unterwegs, in einem Rock! Sie haben ihn provoziert! 

    Sie hatten keine dicken Strumpfhosen an?

    Und im zweiten Fall mit Ihrem Ehemann ist Ihre Absicht von Anfang an klar: Er hatte Gütertrennung  eingefordert und Sie waren nicht einverstanden? Haben Sie ihn aus Notwehr geschlagen, oder war es vorsätzlicher Mord aus Habgier? Sie wollten Ihr Vermögen nicht aufteilen, deswegen haben Sie ihn provoziert, als er ganz friedlich dabei war, sein Gewehr einzupacken, und haben ihn geschlagen.

    Es wird einen Schuldspruch geben. Darin wird unweigerlich folgende Wendung vorkommen, die wichtigste für Sie: „Die Angeklagte hätte auf eine sozialverträgliche Weise handeln müssen.“ 

    Also versuchen, den Angreifer in ein klärendes Gespräch zu verwickeln. Den Bezirkspolizisten informieren. Sich an die Hausverwaltung wenden. Einen Brief an den Abgeordneten schreiben. Oder Maßnahmen der Selbstverteidigung anwenden, die keine schweren gesundheitlichen Folgen für den Angreifer nach sich ziehen. 

    Das alles haben Sie nicht getan – also ist es Totschlag oder vorsätzlicher Mord (möglich im zweiten und dritten Fall), und Sie bekommen zehn Jahre. 

    Totschlag oder vorsätzlicher Mord – und man bekommt zehn Jahre

    Wie viele solcher Fälle gibt es? In den letzten zwei Jahren wurden etwa 3000 Frauen wegen Mordes unter genau solchen Umständen verurteilt. Wobei es sich in den meisten Fällen um Mord am Ehemann, Lebenspartner oder einem männlichen Verwandten handelt, und zwar beim Versuch der Frauen, sich vor Missbrauch zu schützen. 
    Gleichzeitig sterben jedes Jahr circa 8500 Frauen bei gewaltsamen Übergriffen. Das sind diejenigen, die keinen Golfschläger, kein Messer zur Hand oder nicht genug Kraft hatten, den Angreifer gegen eine Fensterbank zu schubsen. Demnach hat eine Frau immer die Wahl: Sterben oder für zehn Jahre ins Gefängnis gehen.

    Aber schauen wir uns doch mal an, welche „sozialverträglichen Methoden“ es gibt, sich vor Missbrauch zu schützen, ohne radikale Maßnahmen zu ergreifen. Das wird nicht lange dauern. Gar keine gibt es. Gesetzlich ist eine Frau, die angegriffen wird, durch nichts geschützt. Unabhängig davon, ob sie sich wehrt oder nicht. Wenn du dich wehrst, wanderst du ins Gefängnis, wenn nicht, schlägt man dich zum Krüppel oder du wirst umgebracht.

    Wenn du dich wehrst, wanderst du ins Gefängnis. Wenn nicht, schlägt man dich zum Krüppel oder du wirst du umgebracht

    Sehen wir uns noch einmal die Statistik an. Ich will vorausschicken:  Wir gehen Schritt für Schritt vor. 

    Wo und wie werden Frauen ermordet? Angriffe durch einen Fremden und Notwehr, die den Tod des Angreifers nach sich zieht, sind selten. Meistens (unabhängig ob Mörder oder Mörderin, hier spielt das Geschlecht einmal keine Rolle) kannten sich Täter und Opfer. 
    Handelt es sich allerdings um eine Mörderin, ist das Opfer der Ehemann, Partner oder ein männlicher Verwandter, und der Grund für den Mord ist immer derselbe: häusliche Gewalt.

    2012 verzeichnete das Innenministerium 34.000 Opfer von häuslicher Gewalt. Fünf Jahre später hat sich die Zahl fast verdoppelt: 65.500 Opfer allein im Jahr 2016. Aber 2017 hat sich die Opferzahl signifikant verringert auf 36.000. 2018 waren es noch weniger. Warum? Weil ein Gesetz zur Entkriminalisierung von häuslicher Gewalt verabschiedet wurde. Konnte man bis 2017 für die Misshandlung seiner Frau noch ins Gefängnis kommen, so gibt es heute nur noch eine Geldstrafe, die kaum höher ist als fürs Parken im Parkverbot. Nicht auszuschließen, dass sich das Verhältnis der beiden dadurch nur noch verschlechtert, und ob die Frau ihren Mann beim nächsten Mal anzeigen wird, ist mehr als fraglich. 

    Warum steht häusliche Gewalt auf einer Stufe mit Falschparken? 

    Es gibt also abertausende Fälle von häuslicher Gewalt, die nicht zur Anzeige gebracht und damit nicht erfasst werden. Welchen Sinn hat es, Anzeige zu erstatten, wenn du selbst dafür bestraft wirst? Der Staat wird dich nicht schützen. Die NGOs und Vereine, die Hilfe bieten könnten und es auch tun, stehen selbst unter Beschuss und gelten größtenteils als ausländische Agenten. Zudem haben NGOs nicht das Recht, dem Täter ein Kontaktverbot aufzuerlegen oder einer Mutter das alleinige Sorgerecht zu erteilen, während kompetente Behörden entscheiden, was mit dem Gewalttäter zu tun ist. Solche Behörden gibt es bei uns nämlich nicht. 

    Zudem wird jegliche Nötigung, Erniedrigung oder Folter, die nicht mit physischer Gewalt einhergeht, gar nicht erst strafrechtlich verfolgt. Im Gesetz tauchen sie nicht einmal auf.

    Warum steht häusliche Gewalt auf einer Stufe mit Falschparken? Dafür gibt es mindestens drei Gründe.

    Der Schutz vor häuslicher Gewalt würde den Staat einiges kosten

    Der erste ist finanzieller Natur. Der Schutz vor häuslicher Gewalt würde den Staat einiges kosten. Dafür bräuchte man einstweilige Verfügungen, die dem Täter verbieten, das Opfer zu kontaktieren, müsste eine Behörde einrichten, die diese verhängt und deren Einhaltung kontrolliert (so ein System funktioniert in 119 Ländern, aber nicht bei uns). Man müsste staatliche Einrichtungen schaffen, die die Opfer aufnehmen können, die sich oft plötzlich mit ihren Kindern ohne Dach überm Kopf wiederfinden. Solche Einrichtung gibt es in Russland, allerdings nur durch private Initiativen, unterhalten werden sie durch Stiftungen und Spenden.

    Rechenschaftspflicht gegenüber der Weltöffentlichkeit 

    Der zweite ist ein außenpolitischer Grund. Russland hat die Istanbul-Konvention des Europarats zur Verhütung häuslicher Gewalt nicht ratifiziert. Die Nichtunterzeichnung der Konvention war offensichtlich eine Reaktion auf die verschärfte Situation zwischen Russland und Europa nach den Sanktionen. 

    Ein weiterer außenpolitischer Grund für die Entkriminalisierung häuslicher Gewalt war die Rechenschaftspflicht gegenüber der Weltöffentlichkeit über die Aufhebung jeglicher Formen der Diskriminierung von Frauen – eine entsprechende Konvention der Vereinten Nationen wurde noch 1982 durch die UdSSR unterzeichnet. Die Entkriminalisierung hat signifikant dazu beigetragen, diese Statistik zu „korrigieren“. 

    Sehen Sie? Da sehen Sie’s doch! In Russland hat sich die Zahl der Opfer häuslicher Gewalt in nur einem Jahr – von 2017 bis 2018 – halbiert. Das liegt daran, dass wir die Diskriminierung von Frauen so effektiv bekämpfen, und keineswegs daran, dass wir komplett aufgehört haben, die Straftäter zu verfolgen. Sie wollten doch eine Statistik? Bitte schön, da ist sie. 

    Wenn er dich schlägt, dann liebt er dich

    Der dritte ist ein innenpolitischer und religiöser Grund: die Russisch-Orthodoxe Kirche. „Diejenigen Menschen, die versuchen den Kern unserer Gesellschaft zu zerstören – nämlich die Familie –, handeln unter dem Vorwand des Kampfes gegen Gewalt und zum Schutzes der Schwachen“ heißt es in der Erklärung der Patriarchen-Kommission zum Schutz von Mutter und Kind, deren Vorsitz Erzpriester Dimitri Smirnow innehat. Kurzum, die konservative Position in Russland lautet jetzt tatsächlich: „Wenn er dich schlägt, dann liebt er dich.“

    Das alles hängt mit dem Fall der Schwestern Chatschaturjan zusammen. Damit, warum es so wichtig ist, dass wir einen fairen und öffentlichen Prozess und natürlich einen Freispruch erkämpfen. Weil es jede von uns betrifft. Weil es keine Stelle gibt, an die wir uns wenden können. Weil uns niemand schützt. Weil wir nur zwei Möglichkeiten haben: Gefängnis oder Tod. 

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  • Knast mit Kaviar – wie geht das?

    Knast mit Kaviar – wie geht das?

    Sona, Zone, das ist ein russisches Synonym für Gefängnis, Lager. Der Jargon-Begriff geht zurück bis in die Zeit der Stalinschen Gulags, er beinhaltet die Abgeschlossenheit dieser Gefängniswelt, die eine Welt für sich ist, abgekoppelt vom restlichen Leben der Gesellschaft und mit eigenen Gesetzmäßigkeiten. Rund jeder vierte Mann aus Russland hatte oder hat derzeit Gefängniserfahrung.
    Kaum jemand außerhalb der Sona kennt diese Welt so gut wie Olga Romanowa. Die ehemalige, renommierte Journalistin ist Leiterin der Gefangenen-Hilfsorganisation Rus Sidjaschtschaja. Die Organisation unterstützt auch den Regisseur Kirill Serebrennikow. Als sie 2017 befürchtete, selbst unter falschen Vorwänden belangt zu werden, so erzählt sie in einem Interview mit Zeit-Online, verließ sie Russland und ging nach Berlin. Derzeit hält sie sich in Russland auf. Dort wird am 25. Januar ein Prozess wegen „Verleumdung“ gegen sie fortgesetzt: Romanowa weist die Anschuldigungen als fingiert zurück.

    Auf Carnegie.ru schreibt sie über die besonderen Gesetzmäßgkeiten in der Sona

    Wer ist wohl auf die Idee gekommen, dass ein Mensch, der in Schmutz, Kälte, Hunger und Erniedrigung versinkt, zu einem verantwortungsvollen Bürger und einer ausgeglichenen Persönlichkeit wird? Der populäre Spruch „das Gefängnis ist kein Sanatorium“ indes legt genau das nahe.
    Man reißt einen Durchschnittsbürger (der sich vielleicht einen Fehltritt geleistet, eine Straftat begangen hat, vielleicht aber auch unschuldig ist – bei dem aktuellen Zustand des russischen Gerichtssystems ist alles denkbar) aus den Durchschnittsbedingungen des russischen Lebens und Alltags heraus und steckt ihn in die Hölle. Einen Ort, an dem er nie für sich sein kann, an dem nie das Licht ausgeht, an dem es keinen Kontakt zu seinen Angehörigen gibt, an dem man ihn permanent erniedrigt und er schnell versteht, dass er keine Zukunft mehr hat.

    Man reißt einen Durchschnittsbürger aus dem Alltag und steckt ihn in die Hölle

    Dabei sehen die strafrechtlichen Maßnahmen im Prinzip die Einschränkung von nur einigen Rechten und Freiheiten des Bürgers vor, zum Beispiel dem Recht zu wählen und gewählt zu werden. Das Recht auf Leben, Arbeit, Erholung und sogar auf freie Meinungsäußerung ist ihm durch niemanden genommen. Aber nur in der Theorie. In der Praxis gerät er in eine höchst geschlossene Gesellschaft, in der man ihn seiner Individualität beraubt und ihm maximal eine Funktion zuweist: als Aktivist, Blatnoi, Gefallener. Oder als Milchkuh – ein Objekt, das man melken kann, eine zuverlässige Quelle der Schattenfinanzierung.
    Alle versuchen, unter den Bedingungen der hausgemachten Hölle zu überleben, die erschaffen wird, damit du dich wie ein Wurm fühlst. Jeder kann dich zerquetschen. Oder dich den Fischen zum Fraß vorwerfen. Oder mit dem Spatenende zweiteilen und beobachten, wie du dich windest.
    Aber man kann sich auch einigen. Auf erträgliche und besondere Haftbedingungen, auf VIP-Behandlung und überhaupt auf alles. Natürlich spielt Geld dabei eine wichtige Rolle, aber bei weitem nicht die wichtigste. 

    Die wichtigste Rolle spielen die Beziehungen zur organisierten Kriminalität, zur Wirtschaft und in die Politik.

    Die kriminelle Welt

    Zunächst einmal: Wer kann sich überhaupt einigen? Einigen können sich nur ernstzunehmende Leute über ernsthafte Dinge. Ein hochrangiger Dieb kann sich mit Hilfe von Mittelsmännern von draußen mit dem Leiter der Strafkolonie über fast alles einig werden.
    Er kann sich in einem stillen Winkel der Kolonie eine freistehende Datscha mit Garten bauen und dort leben, samt Gärtner, Koch und Bediensteten, die er aus den Mitgefangenen rekrutiert (das habe ich mit eigenen Augen gesehen in der Besserungskolonie (IK) in Talizy, Gebiet Iwanowo). Er kann sich einen Krankenausweis ausstellen lassen und in einer Sanitätsstelle eine Kur machen (so wird es in den meisten Gefangenenlagern praktiziert). Er kann sich in einem Zimmer für Langzeitbesuche einquartieren und seine Hetären empfangen (auch das ist bei Weitem kein Einzelfall).
    Im Laufe der Verhandlungen (bei schwieriger Verhandlungslage) demonstrieren sich die hochrangigen Parteien gegenseitig ihre Möglichkeiten: Zum Beispiel kann der Kolonieleiter beschließen, seinen Kontrahenten in die Einheit mit verschärften Haftbedingungen stecken (SUS, ein Gefängnis im Gefängnis); doch da geht das SUS plötzlich in Flammen auf. Für einen Sonderstatus braucht es nämlich andere schwerwiegende Argumente – Geld allein genügt nicht. Der Leiter demonstriert also, auf welche Art und Weise er einer Autorität das Leben vermiesen kann (ihn ins SUS stecken), die Autorität demonstriert ihrerseits, wie sie damit umgeht (Brand im SUS).

    Besondere Bedingungen dank besonderer Dienste

    Man kann sich besondere Haftbedingungen auch durch besondere Dienste verdienen. Was will der Leiter einer Strafkolonie? Er will Ruhe und Frieden. Er will keine Beschwerden, keine Briefe an die Staatsanwaltschaft, keine herumschnüffelnden Kommissionen.
    Wie lässt sich das bewerkstelligen? Man muss sich mit dem Blat-Komitee einigen, das mit der Aufsicht über die Zone betraut ist und die höchste Autorität mit stabilen Verbindungen zur organisierten Kriminalität darstellt. Das Blat-Komitee ist in der Lage, für die Abwesenheit von Beschwerden zu sorgen: Wer sich beschwert, wird so hart bestraft, dass er im Leben keinen Stift mehr in die Hand nehmen will, er wird bei jeder Überprüfung auf seine Mutter schwören, dass ihn der Teufel höchstpersönlich geritten hat, als er diese ehrlichen Menschen und die fürsorgliche Führung durch den Dreck ziehen wollte.
    Aber das erfordert natürlich Gegenseitigkeit. Die Leitung wird dem Blat-Komitee uneingeschränkten Zugang zu Mobilfunk, Drogen, Alkohol und Kartenspielen gewährleisten. Mit wem es diese Freuden teilen will, entscheidet das Blat-Komitee selbst. Wenn es das Blat-Komitee nach schwarzem Kaviar, Hummer und Mädchen gelüstet, ist das nur eine Frage der Kosten. Wenn die Partnerschaft verlässlich und effektiv ist – warum nicht.

    Die Verflechtung von Interessen von Menschen mit Abzeichen und dem Blat-Komitee ist überhaupt ein typischer Wesenszug unserer Zeit. Wenn man sich einige der Leute so ansieht, die seinerzeit den amtierenden Präsidenten umgaben (den Geschäftsmann Roman Zepow zum Beispiel), oder das, was man über den Freund des Präsidenten Jewgeni Prigoshin schreibt, wird schnell klar, warum viele diese Situation nicht weiter verwundert.
    Es liegt auf der Hand, dass die Affäre um Wjatscheslaw Zepowjas, der in einer Kolonie im Amur-Gebiet bei einem Festmahl mit Kaviar und Hummer abgelichtet wurde, ein spezieller Fall von genau dieser Art von Partnerschaft ist.

    Die Wirtschaft

    Verurteilte, die zwar über nennenswerte finanzielle Ressourcen verfügen, nicht aber über Beziehungen und Unterstützung in der kriminellen Welt, verstehen schon bei Inkrafttreten der Haftstrafe sehr gut, in welcher Situation sie sich befinden.
    Sie haben höchstwahrscheinlich schon unter unhaltbaren Bedingungen, die man künstlich erzeugt hat, in U-Haft gesessen. Meistens bitten die Ermittler um solche Haftbedingungen, ohne dass es laut ausgesprochen wird (oft müssen sie das auch gar nicht, es ist sowieso allen alles klar), damit der Inhaftierte die nötigen Aussagen schneller liefert – im Tausch gegen das Versprechen, ihm das Gefängnisleben erträglicher zu machen. Oder aber es ist die Leitung der Haftanstalt, die die Situation unerträglich macht und damit Verhandlungen über die Erleichterung der Haftbedingungen einleitet. Die Verhandlungsführung wird meist den Staatsanwälten überlassen. In Moskau kostet eine gute Vierer-Zelle ab einer Million Rubel [etwa 13.000 Euro – dek] im Monat aufwärts, pro Kopf.

    In Moskau kostet eine gute Vierer-Zelle ab einer Million Rubel im Monat aufwärts, pro Kopf

    Was ist eine VIP-Zelle in einer Moskauer U-Haft? Nichts Besonderes: Es wird nicht geraucht, man hat oft Hofgang, es gibt einen guten Fernseher und einen Kühlschrank, frische Bettwäsche und eine saubere Toilette mit Tür. Man darf warmes Essen aus dem Restaurant bestellen (das ist übrigens laut den U-Haft-Richtlinien erlaubt, doch nicht jedem gelingt es), fast unbegrenzt Pakete erhalten, und die Anwälte haben erleichterten Zutritt. Und natürlich gibt es Mobilfunk (aber damit kann man im Gefängnis kaum jemanden beeindrucken: Der Telefonzugang ist die billigste der verbotenen Dienstleistungen).
    Nach Erhalt des Geldes werden die Abmachungen erfüllt oder nicht – der Kunde kommt sowieso nicht wieder, da kann man ihn getrost vergessen. Dafür behält so ein Kunde auf ewig (das heißt für die Zeit in Haft) den Status einer Milchkuh.

    Häftling mit Status einer Milchkuh

    Gewöhnlich finden sich in dieser (relativ zahlreichen) Kategorie wohlhabende Leute wieder, die vielleicht sogar Beziehungen im Zivilleben haben, aber keinen Stand im kriminellen Milieu: verurteilte Bänker und Unternehmer. Meistens sind sie es, die folgenden Status bekommen: Sie wandern vom Untersuchungsgefängnis ins Haftlager, als Freundschaftsgeschenk des einen Gefängnisleiters für den anderen; dann werden sie den professionellen Geld-Abpressern aus dem Blat-Komitee zum Fraß vorgeworfen; sie werden gezwungen, neue Baracken zu errichten, die Verlegung von Straßen oder Glasfaserkabel zu bezahlen, der Führung eine Datscha zu bauen und Aufträge aus ihrem Unternehmen in die Zone umzuleiten.
    Unabhängig davon, ob die verurteilte Milchkuh noch Geld hat oder nicht, ist es für diese Kategorie extrem schwer, vorzeitig auf Bewährung freizukommen. Man wird es ihnen natürlich versprechen, wird Belohnungen liefern (nicht umsonst), aber im letzten Moment kommt jemand und macht mit einer negativen Beurteilung oder einer Strafe alles zunichte. Wozu auch jemanden vorzeitig entlassen, der dir Baracken baut, die Renovierung bezahlt, der Kolonie Aufträge verschafft und mit seinem Geld für Wärme sorgt.

    Die Politik

    Wenn die Politik involviert ist, helfen weder Beziehungen noch Geld. Vor allem, wenn es um einen aufsehenerregenden Fall geht, auf dem die öffentliche Aufmerksamkeit ruht. Weder Nikita Belych noch Alexej Uljukajew werden je besondere Haftbedingungen haben. Aber auch besondere Torturen drohen ihnen nicht. Das Wissen darum, dass diese Verurteilten immer unter verschärfter Beobachtung stehen werden, dass sie Besuch von Anwälten und Familienangehörigen bekommen werden, bewahrt sie vor den sadistischen Anwandlungen der Mitarbeiter und Mitinsassen.
    Dasselbe gilt für Verurteile, die offiziell als politische Gefangene gelten (zum Beispiel, wenn Memorial sie als solche anerkennt).

    Verschwiegenheit und ein garantiertes informationelles Vakuum sind die Bedingung dafür, dass die Mitarbeiter des FSIN für einen Verurteilen mit Geld und Beziehungen besondere Haftbedingungen einrichten. Deshalb ist die Reaktion der FSIN-Leitung auf den Skandal um Zepowjas charakteristisch: Zusätzliches Essen ist bei uns erlaubt, heißt es dann, zu fotografieren und die Bilder zu veröffentlichen aber nicht. 
    Das ist auch der Grund, warum der russische Strafvollzugsdienst einen so erbitterten Kampf gegen die öffentliche Kontrolle führt: Für das System ist nicht der Fakt der Korruption entscheidend, sondern dessen Bekanntwerden. Übrigens haben sie das Gleiche auch im Falle der Folterungen gesagt.

    Es fällt auf, dass sich in den jüngsten Skandalen um den FSIN nie auch nur jemand daran erinnert hat, dass dieses System dazu da ist, auf die menschliche Natur einzuwirken und sie zu verbessern. Und dafür gibt es eine Erklärung: Besserung war nie vorgesehen. Das System heißt ja auch „Föderaler Strafvollzugsdienst“. Von „Besserung“ ist da nirgendwo die Rede.

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  • Produktion von Ungerechtigkeit

    Produktion von Ungerechtigkeit

    Olga Romanowa ist eine bekannte Journalistin, die sowohl im Fernsehen wie auch in Printmedien gearbeitet hat. Außerdem ist sie Direktorin einer Organisation zur Strafgefangenenhilfe. Sie berichtet, wie einer ihrer Besuche im hohen Norden sie in eine Welt entführt, in der die Haft selbst nur eine Nebenrolle spielt.

    „Sagen Sie mal, Iwan Stepanowitsch, Pekinesen … Gibt es die hier wirklich?“
    „Klaro.“
    „Diese kleinen wuscheligen mit Palmen auf dem Kopf. Und Stupsnasen …“
    „Klaro.“
    „Was machen die denn hier und woher kommen sie?“
    „Aus dem Wald. Die leben hier seit eh und je.“

    Mir scheint, einer von uns spinnt. Ich fahre seit vielen Jahren in diese Gegend, in die entlegenen Gefangenengebiete des russischen Nordens, wo die Taiga in den Bergen endet und erste Anzeichen der Tundra zu sehen sind. Etwas weiter weg gehen die Berge in Hügel über, und dort beginnt die Tundra. Hier aber ist noch Wald, bevölkert von Bären, Wildschweinen, Wölfen und anderen niedlichen Pelztieren. Und schon seit vielen Jahren reibe ich mir die Augen, wenn aus diesem Wald, in den man sich nicht einmal zum Pinkeln hineintraut, eine Meute wilder Pekinesen, angeführt von einem kessen Alpha-Männchen, herauskommt, die kleine Siedlung durchquert, die Schuppen umschnüffelt, sich mit den ansässigen riesigen Hofhunden anbellt, die versuchen sich der Meute anzuschließen, aber verscheucht werden – und dann stolz im Kiefernwald verschwindet.

    Iwan Stepanowitsch hat extra für mich einen Bären wecken lassen – fast in jedem Lager hier leben Bären / Fotos © Olga Romanowa
    Iwan Stepanowitsch hat extra für mich einen Bären wecken lassen – fast in jedem Lager hier leben Bären / Fotos © Olga Romanowa

    Ich kenne mich mit Hunden aus, ich sehe, dass das erstklassige, gezüchtete Rassehunde sind. Die können hier nicht überleben: Ich komme im Sommer in Sandalen aus Moskau in die Gebietshauptstadt geflogen und ziehe mir im Taxi Filzstiefel an, die nächste Stadt ist 400 km von hier entfernt. Ich kenne den Unterschied zwischen Winterfilzstiefeln und Sommerfilzstiefeln.

    In Sommerfilzstiefeln bin ich einmal zum von der Straße abgelegenen Ende der Siedlung gegangen, um zu sehen, warum die Schafe und der Bock dorthin laufen. Jetzt in Winterfilzstiefeln schafft man es nicht dorthin, im Winter schafft man es hier überhaupt nirgendwohin, wenn kein Pfad freigehauen ist, durch den man wie durch einen Korridor geht, dessen Schneewände links und rechts bis zu den Schultern reichen.

    Im Winter schafft man es hier überhaupt nirgendwohin, wenn kein Pfad freigehauen ist, durch den man wie durch einen Korridor geht, dessen Schneewände links und rechts bis zu den Schultern reichen

    Jedenfalls laufen die Schafe und der Bock zu einem Ding, das von weitem aussieht wie ein weißer Stein, sie scharen sich um ihn, und dann treten die älteren Tiere näher und berühren den Stein mit der Stirn, doch das ist gar kein Stein, sondern ein alter Schafsbockschädel.

    „Iwan Stepanowitsch, da ist doch so ein Schafsbockschädel, zu dem die hinlaufen, kennen Sie den?“
    „Klaro. So’n Schädel eben.“
    „Iwan Stepanowitsch, und warum fliegen die Bienen hier immer im Kreis um den Bienenstock?“
    „Olga, du Dummchen. Wohin sollen die denn sonst fliegen?“

    Ich frage, er antwortet. Was ist daran bitte nicht zu verstehen? Ich bin das Moskauer Dummchen und er der Oberst der Föderalen Strafvollzugsbehörde, ein hohes Tier, Herr über die hiesigen Ländereien mit all ihren Lagern und Strafkolonien. Er versteht nicht, warum ich wieder hergekommen bin, obwohl er sich anscheinend schon dran gewöhnt hat.

    Ich kenne seine beiden Frauen und die meisten seiner Kinder, sie begegnen mir so offen und freundschaftlich wie man, sagen wir, einer Katze überhaupt begegnen kann – einem rätselhaften, aber insgesamt harmlosen Wesen, solange es die Pfoten von der Smetana lässt. Ich versuche zu erklären, warum ich gekommen bin:

    „Ich habe so eine Art Patenschaft für hiesige Häftlinge übernommen.“
    „Was bitteschön für eine Patenschaft bei welchen Häftlingen? Dein Mann hat seine Strafe doch schon lange abgesessen. Übrigens ein guter Kerl, vom Lande, dass er zwei Hochschulabschlüsse hat, da würde man nicht drauf kommen, eher ein Einfaltspinsel, aber mit einem eigenen Kopf, auf jeden Fall: Alle erinnern sich hier noch, wie er mal mitten im Winter Rosen für dich aufgetrieben hat, als du zu Besuch kamst. Und was soll das jetzt, was für Häftlinge?“
    Hundertneunundfünfziger.“
    „Hättst du das doch gleich gesagt.“

    Und dann fährt er mich zu dem abgelegenen Lager, wo meine Hundertneunundfünfziger einsitzen, Unternehmer, einer davon ziemlich bekannt, ich kenne seine alte Mutter gut, eine verdienstvolle Lehrerin, und seine junge Frau, die ihn im Lager geheiratet hat – einen völlig ruinierten, nicht mehr jungen, recht fülligen Mann mit sehr langer Haftstrafe.

    Im Winter schafft man es nirgendwohin, wenn kein Pfad freigehauen ist
    Im Winter schafft man es nirgendwohin, wenn kein Pfad freigehauen ist

    Die junge Frau ist ein gutes Mädchen, eine ganz rechtschaffene, ich kenne die Geschichte, wie sie sich kennengelernt und verliebt haben – zu einem Zeitpunkt, als niemand überhaupt an so etwas wie Liebe dachte und schon gegen ihn ermittelt wurde. Jetzt lerne ich ihn also kennen, wir wissen schon viel voneinander, haben nur noch nicht miteinander gesprochen, aber nach dem ersten „Tagchen!“ wird alles einfach und klar: Er ist ein selten kluger und bezaubernder Mensch, und so lausche ich ihm mit offenem Mund.

    Mein zweiter Schützling ist Philosoph, Absolvent der Moskauer Universität, promoviert, Tätigkeit in der Präsidialverwaltung, 14 Jahre Haft – die sitzt er für jemand anders ab. Seine Frau hat ihn sofort verlassen, aber er hat über einen Briefwechsel ein Mädchen aus Tschita kennengelernt, sie haben geheiratet, jetzt ist sie schwanger.

    Ich verlasse das Lager ganz beseelt: Was für Menschen! Und damit meine ich nicht einmal so sehr die Verurteilten, sondern die, die dort arbeiten. Bis zum Anschlag rechtschaffene und gute Leute, die haben nichts Böses. Verständnisvoll, alle miteinander. Einer bringt mich noch ein Stück und zeigt auf die Überreste einiger Holzhäuser:

    „Sieh mal, hier stand im Herbst noch ein solides Haus.“
    „Und wo ist es hin?“
    „Der Besitzer kam für zwei Wochen ins Krankenhaus, da haben wir sein Häuschen zerlegt, Balken für Balken. Siehst du den Hund dort? Der hat da in der Hütte gelebt, jetzt kriegt er bei uns zu fressen.“
    „Ist der Besitzer gestorben?“
    „Wieso gestorben? Ausgenüchtert haben sie ihn, unseren guten Wirtschafter. Was haben wir gelacht! Er kommt raus, und sein Haus ist weg, hat sich einfach so in Brennholz verwandelt.“
    „Und wo wohnt er jetzt?“
    „Drüben im Wohnheim. Aber er soll bald ein Zimmer in der Stadt bekommen, heißt es.“

    Oh je. Von Gut und Böse habe ich wohl wirklich keine Ahnung. Nehmen wir zum Beispiel unseren Oberst Iwan Stepanowitsch, der hat drei Familien, eine von früher und zwei aktuelle

    Oh je. Von Gut und Böse habe ich wohl wirklich keine Ahnung. Nehmen wir zum Beispiel unseren Oberst Iwan Stepanowitsch, der hat drei Familien, eine von früher und zwei aktuelle. Seine alte hat er für gleichzeitig zwei neue verlassen, eine mit Irka und eine mit Nataschka, die beiden Frauen arbeiten auch in den Lagern, die eine als Inspektorin, die andere als Hausmeisterin. Sie sind ein bisschen eifersüchtig aufeinander, aber er lebt abwechselnd in beiden Familien, versucht keine zu benachteiligen – immerhin sechs Kinder sind dabei rausgekommen. Die älteren Söhne arbeiten auch in den Lagern, einer sitzt, wegen Drogen.

    Wodka trinkt man hier im Grunde erst mit über vierzig. Was heißt Wodka, das ist ein Witz. Selbstgebrannter Fusel und Methylalkohol.

    „Olja, komm, wir schauen uns den Bären an.“ Iwan Stepanowitsch holt mich mit dem Auto ab, er hat extra für mich einen Bären wecken lassen.

    Fast in jedem Lager leben hier Bären. Die Jäger (also die Häftlinge oder Arbeiter) töten eine Bärin, und wenn sie Junge hat, nehmen sie die mit ins Lager. Ist natürlich schade, dass sie den armen Bären jetzt wecken, der dämmert schon in den Winterschlaf hinüber, aber sie sind nicht davon abzuhalten. Füttern ihn grade mit einem leckeren Apfel. Ich frage, was er sonst noch zu fressen bekommt – doch wohl nicht nur Äpfel, ja und Schweinefleisch werden sie ihm wohl auch nicht kaufen, das wäre übertrieben.

    Ein Bär frisst kein Entrecôte aus dem Feinkostladen, ein Bär frisst lebendes Fleisch mit Schwanz

    Der gute Iwan Stepanowitsch sagt mir, was er frisst. Besser gesagt, wen. Nein, das schreibe ich nicht auf, das brauchen Sie nicht zu wissen. Sie würden sonst noch anfangen, die ganze Menschheit zu hassen. Weil Sie dort in Ihren Hauptstädten und Ihrer Zivilisation hinter Ihren schicken Laptops sitzen und über Humanismus, Umwelt und Schädlichkeit von Margarine philosophieren – und die wird hier von Häftlingshänden aus Palmöl produziert.

    Die Menschen hier erleben Blut, Schmerz und Ungerechtigkeit genauso, wie sie all das im 16. Jahrhundert erlebt haben, sie selber produzieren Blut, Schmerz und Ungerechtigkeit und verstehen, dass das nicht anders sein kann, so ist die Welt beschaffen, so und nicht anders. Ein Bär frisst kein Entrecôte aus dem Feinkostladen, ein Bär frisst lebendes Fleisch mit Schwanz.

    Ich verlasse das Lager ganz beseelt – was für Menschen!
    Ich verlasse das Lager ganz beseelt – was für Menschen!

    Stepanytsch und ich setzen uns in den UAZik, seinen russischen Geländewagen, und fahren in ein anderes Lager, nicht weit weg, rund 50 Kilometer. Auf einmal läuft vor uns eine Kuh auf die Straße, hinter ihr noch eine. Ohne auf das Auto zu achten, überqueren sie gemächlich die Straße und verschwinden im Gestrüpp.

    „Iwan Stepanowitsch, Kühe! Aus dem Wald! Hier gibt es doch nichts als Wald, kein Dorf, kein Lager, keinen Stall und im Wald sind Bären!“
    „Olja, du kleines Dummchen. Mal sind’s Pekinesen, mal Kühe … Die leben nun mal hier. Muss dich nicht kümmern. Maljawka, mein Kätzchen, weißt du, gestern hat sie einen Luchs abgemurkst. Soll ich jetzt einen Brief an Im Reich der Tiere schreiben?

    Ich schweige. Wir fahren weiter, vor uns taucht ein Bahnübergang auf. Auf den schneeverwehten Gleisen der Schmalspurbahn steht ein neues Paar eleganter Herrenschuhe. Lackleder mit Absatz. Keine Seele weit und breit. Ich schweige. Iwan Stepanowitsch schaut sich die Schuhe an und wirft sie in den Kofferraum.

    „Na, das ist ein Ding … Hast du die Sohle gesehen?“
    „Welche?“
    „Olja, du bist echt so ein Dummchen? Die haben dünne Sohlen! Ganz dünne! Völlig rutschig. Solche Sohlen eignen sich nur für den Sommer in Orenburg.“
    „Warum in Orenburg?“
    „Da machen wir immer Urlaub, im Schwarzen Delfin.“
    „Das ist doch ein Lager für Lebenslängliche.“
    „Na, in eurem Scheiß-Moskau werden wir ja nun nicht gerade Urlaub machen! Im Delfin ist es im Sommer schön, Seen in der Nähe, ich nehm die Kinder mit, oh ja, ihnen gefällt es da, schön warm, nur ziemlich weit weg, die Fahrt find ich echt anstrengend.“

    … Jaja, im Schwarzen Delfin ist es schön, was sonst. Mir fällt wieder ein, dass auf Stepanytschs jüngere Kinder statt eines Kindermädchens zwei Häftlinge aufpassen, zwei Hundertfünfer, ich weiß, dass der eine 23 Jahre aufgebrummt bekommen hat, wegen besonderer Grausamkeit. Stepanytsch mag ihn sehr, sagt, er ist ein guter Mensch. Denn im Suff kann sowas ja schnell mal passieren.

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