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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Die belarussische Opposition braucht einen Freund, aber die Ukraine keinen weiteren Feind “

    „Die belarussische Opposition braucht einen Freund, aber die Ukraine keinen weiteren Feind “

    „Wir sind nicht nur durch ein gemeinsames Schicksal und eine verwandtschaftliche Bande verbunden, sondern auch durch den Wunsch, Freunde zu sein und mit unseren Nachbarn auszukommen.” Mit diesen Worten gratulierte Alexander Lukaschenko der Ukraine am 24. August 2024 zum Unabhängigkeitstag. Eine Antwort von ukrainischer Seite gab es nicht. Denn im dritten Jahr muss sich das Land dem russischen Angriffskrieg erwehren. Einem Krieg, in den auch der belarussische Machthaber unheilvoll verstrickt ist.   

    Bis zum Beginn der großen russischen Invasion im Februar 2022 haben die belarussische und die ukrainische Regierung ein sehr pragmatisches Verhältnis gepflegt. Dieser Pragmatismus scheint jedoch trotz der Kriegsbeteiligung Lukaschenkos für die ukrainische Regierung weiterhin nützlich zu sein. Warum das so ist, erklärt Olga Loiko, Chefredakteurin des belarussischen Online-Mediums Plan B., in ihrer Analyse. 

    Die Journalistin Olga Loiko musste ihre Heimat Belarus verlassen / Foto © Siarhei Balai
    Die Journalistin Olga Loiko musste ihre Heimat Belarus verlassen / Foto © Siarhei Balai

    Belarus braucht keinen Krieg. Erstens, weil Lukaschenko klar ist, dass er diesen Krieg nicht gewinnen kann. „Wir wollen nicht gegen euch kämpfen. Nicht, weil wir euch so liebhaben, sondern weil dann die Front um 1200 km länger wäre. So lang ist nämlich die ganze Grenze: 1200 km.“ So gab Lukaschenko im Interview mit einem russischen TV-Sender seinen imaginären Dialog mit der Ukraine wieder, wobei er die belarussisch-ukrainische Grenze meinte. Russlands zunächst lasche Reaktion auf den Vorstoß der Ukraine in der Oblast Kursk beweist: Die Ressourcen reichen nicht einmal für die Verteidigung des eigenen Territoriums. Schon früher hatte Lukaschenko auf Vorwürfe, er würde den Bündnispartner nicht tatkräftig genug unterstützen, erwidert, er würde ja gern, aber seine Vertikale würde nicht noch eine Front schaffen. Seit 2020 sind alle Kräfte auf die Bekämpfung des inneren Feindes konzentriert. Das Aufwenden von Ressourcen auf einen Feind im Außen könnte die innere Stabilität des belarussischen Regimes ernsthaft gefährden.  

    Der zweite Grund dafür, sich aus dem Krieg herauszuhalten, ist, dass die belarussische Bevölkerung von diesem Konflikt nicht persönlich betroffen sein will. Umfragen von Chatham House zufolge unterstützte im Dezember 2023 nur rund ein Drittel der Belarussen Russlands Aggression gegen die Ukraine. Und nicht einmal die wollten, dass sich Belarus direkt beteiligt. Eine aktive Teilnahme an den Kampfhandlungen auf russischer Seite zogen nur zwei Prozent der Befragten in Betracht, ein Prozent gab an, auf ukrainischer Seite kämpfen zu wollen. Das sollte man jedoch nicht als antimilitaristischen Konsens missverstehen. Nur 29 Prozent der Befragten waren bereit, eine absolute Neutralität auszurufen, die russischen Truppen aus Belarus abzuziehen und sich auf keine der beiden Seiten zu stellen. Weitere 27 Prozent meinten, Belarus sollte Russland unterstützen und die Ukraine verurteilen, sich jedoch nicht aktiv am Krieg beteiligen.     

    Russland greift zu einer simplen Methode, um seine Staatsbürger in den Krieg zu treiben: Geld. Würde Lukaschenko so wie Putin den Kämpfern einen anständigen Sold anbieten, würde sich womöglich so mancher freiwillig melden. Indessen gibt es genug Bewerber für die Fabrik bei Orscha, in der im Schichtbetrieb Projektile für die russische Rüstungsindustrie hergestellt werden. Nichts Persönliches. Rein geschäftlich.  

    Zeiten blühender Freundschaft 

    Apropos Geschäfte. An Lukaschenkos Friedfertigkeit gegenüber seinen Nachbarn im Süden könnte man zweifeln, wären da nicht seine langjährigen und durchaus lukrativen geschäftlichen Interessen in der Ukraine – sowohl seitens des Staates als auch einzelner belarussischer Staatsbürger, darunter Geschäftsleute aus Lukaschenkos engstem Kreis. Der Krieg hat ihnen Sanktionen, gesperrte Konten und sonstige Unannehmlichkeiten beschert. Natürlich werden auch am Krieg Milliarden verdient, doch dubiose Gewinne aus der Schattenwirtschaft lassen sich nun mal schlecht mit legal erworbenen und in geordneten Bahnen ausbezahlten Einkünften vergleichen. 

    Die Ukraine war vor dem Krieg zweitstärkster Handelspartner des Landes und lag damit zum Beispiel vor China. 2021 machten die Exporte in die Ukraine 5,4 Milliarden US-Dollar aus – das sind 13,6 Prozent des gesamten belarussischen Exportvolumens.      

    Etwa die Hälfte des Gesamtexports bildeten Erdölerzeugnisse. Für Belarus war das ein äußerst lukrativer Markt: Billige Rohstoffe aus Russland und kurze Lieferstrecken schufen optimale Bedingungen für satte Gewinne. In und durch die Ukraine wurden belarussische Düngemittel, Pkw und Busse, Lebensmittel und Strom exportiert. Soweit zu den guten Handelsbeziehungen. Doch die Freundschaft ging tiefer. Wie tief, das kann man an den Lieferungen von Bitumen aus der Raffinerie des Belarussen Nikolaj Worobej sehen, der Lukaschenko und Viktor Medwedtschuk, „Putins Mann in der Ukraine“, nahestehen soll.

    Außer Bitumen lieferten Worobejs Raffinerie und andere Firmen russisches Dieselöl und Kohle in die Ukraine. 2019 segnete das Antimonopolkomitee der Ukraine den Verkauf eines 51-Prozent-Anteils aus dem Grundkapital von PrikarpatSapadtrans an Worobej ab. Dabei handelt es sich um eine Pipeline für den Transport von Dieselöl aus Russland und Belarus über die Ukraine nach Europa. Allerdings beschloss der Sicherheits- und Verteidigungsrat der Ukraine schon im Februar 2021, also ein Jahr vor der großen Invasion, diese Leitung wieder zu Staatseigentum zu machen.  

    Verbrannte Erde? Nicht unbedingt 

    Der Sanktionsdruck auf belarussische Unternehmen in der Ukraine begann im Oktober 2022, als Wolodymyr Selensky den ersten Erlass über die Anwendung „persönlicher spezieller ökonomischer und anderer Beschränkungsmaßnahmen“ unterzeichnete. So wurden gegen 118 Unternehmen und Organisationen aus Belarus Sanktionen verhängt. Ihre Vermögen in der Ukraine wurden eingefroren, die Handelsverträge aufgelöst, die Lizenzen entzogen.         

    Jetzt spielen sich die ökonomischen Beziehungen im Bereich der Schattenwirtschaft ab. Aus den besetzten ukrainischen Gebieten werden Produkte aus der Landwirtschaft ausgeführt, in Belarus verarbeitet und weltweit verkauft. Umgekehrt wird Glas über eine polnische Handelsvertretung der belarussischen Firma Gomelsteklo in die Ukraine geliefert, weil dort durch die Kriegsschäden ein dringender Bedarf an Fensterglas besteht. 

    Außerdem ist die Ukraine auf Ersatzteile für technische Geräte angewiesen, die sie massenhaft in Belarus eingekauft hat und jetzt für militärische Zwecke nutzt. Auch wenn es vorkommt, dass man wegen des Kaufs eines belarussischen Traktors auf Staatskosten vor Gericht steht. Ein Spiel ohne klare Regeln, dafür mit eindeutigen Interessen und hohen Risiken.  

    Keine Lust auf demokratische Kräfte 

    Das andere, neue Belarus, das von Lukaschenkos Regime ins Ausland vertrieben wurde, pflegt währenddessen aktiv gute Beziehungen zu den USA, der EU und anderen Ländern. Doch weder 2020 noch nach Beginn des großangelegten Krieges gelang es den demokratischen Kräften von Belarus, den Dialog mit der ukrainischen Regierung in Schwung zu bringen. Zuerst waren die Belarussen mit den stürmischen Ereignissen von 2020 beschäftigt, als auf die Präsidentenwahlen ein Massenenthusiasmus folgte, der in nicht minder massenhafte Proteste und Repressionen mündete. Dann stand Selensky angesichts des russischen Einmarsches vor unzähligen Herausforderungen, die für den Fortbestand seines Landes von zentraler Bedeutung waren.   

    Ein ernstzunehmendes Thema für ein Treffen mit der belarussischen Exilregierung bot sich ohnehin nicht an. Spenden an die ukrainischen Streitkräfte und Kämpfer für das Kalinouski-Regiment sind natürlich gern gesehen, aber für Meetings, Bündnisse und Allianzen hat Kyjiw genug andere Kandidaten. Ein beinahe zufälliger Handschlag zwischen Selensky und Tichanowskaja auf einer Veranstaltung in Deutschland im Frühjahr 2023, ein fernmündlicher Austausch von Beistandsbekundungen für die europäische Zukunft – mehr ist da nicht.   

    Was die Ukraine wirklich interessiert, ist bislang nach wie vor fest in Lukaschenkos Hand. Mit ihm scheint die ukrainische Staatsführung Kontakt zu halten und Gespräche zu führen. Im Juni 2024 konnte Kyjiw fünf Personen aus belarussischer Gefangenschaft befreien. Einer davon war Nikolai Schwez, ein Ukrainer, dem Minsk einen Sabotageakt gegen ein russisches A-50-Kampfflugzeug in Matschulischtschi vorwarf. Die Gefangenen wurden gegen Metropolit Jonathan eingetauscht, der in der Ukraine wegen prorussischer Aktivitäten verurteilt war. Lukaschenko plauderte aus Versehen aus, dass dieser Austausch auf die Bitte des russischen Präsidenten hin erfolgt sei. 

    Übrigens wartete der Tag, an dem der Austausch bekannt wurde, mit einer weiteren Überraschung auf. Am Kyjiwer Berufungsgericht wurde die Beschlagnahme eines Teils des Vermögens einer Tochterfirma des belarussischen Staatsunternehmens Belarusneft aufgehoben. Insofern ist das Verhältnis Kyjiws zu Lukaschenko zwar nicht unbedingt besser als zu Tichanowskaja, aber effektiver. Und daran wird sich in nächster Zukunft wohl auch nicht viel ändern.                     

    Angespannte Grenze 

    Sämtliche Kontakte, Übereinkünfte und Andeutungen zwischen Minsk und Kyjiw sind momentan instabil. Nach der vollumfänglichen Invasion in der Ukraine im Februar 2022, die unter anderem von belarussischem Staatsgebiet aus erfolgte, war das Risiko sehr hoch, dass auch die belarussische Armee in die Kampfhandlungen einbezogen würde. Seitdem kam es im Grenzgebiet immer wieder zu Spannungen. Sowohl Belarus als auch die Ukraine positionierten zusätzliche Kampfeinheiten, um sie dann teilweise wieder abzuziehen. 

    „Ich musste fast ein Drittel meiner Armee zusätzlich einsetzen, um das, was da war, zu verstärken. Dann haben wir über unsere Kontakte zu den ukrainischen Geheimdiensten gefragt: Wozu macht ihr denn das? Sie sagten ehrlich: Ihr wollt uns mit den Russen zusammen von Homel aus beschießen. Aber das hatten wir gar nicht vor“, beteuerte Lukaschenko im August 2024. 

    Ein Konflikt zwischen Minsk und Kyjiw ließe sich heute ohne Weiteres provozieren. Allein die Kamikaze-Drohnen, die ständig über belarussisches Territorium fliegen, bieten dazu allen Anlass. Darüber hinaus finden routinemäßige Manöver statt, zu denen sich das ukrainische Außenministerium bereits geäußert hat: „Wir warnen die Amtsträger der Republik Belarus davor, unter dem Druck aus Moskau katastrophale Fehler zu begehen. Wir rufen ihre Streitkräfte dazu auf, die feindlichen Manöver zu unterlassen und die Truppen abzuziehen.“   

    Die Angst vor einer potenziellen Eskalation bringt Lukaschenko anscheinend dazu, an seinem Bündnispartner vorbeizuverkünden, dieser habe seine Ziele bereits erreicht: „Ihr redet manchmal von Nazis. Die gibt es da gar nicht mehr. Die Ukraine ist entnazifiziert. Ein paar Randalierer laufen vielleicht noch rum, aber die interessieren keinen mehr“, behauptete er unlängst.                             

    Aber Lukaschenko widerspricht sich so oft selbst, dass man lieber auf das schauen sollte, was er tut. Manchmal spricht auch sein Schweigen Bände. Im August 2024 zum Beispiel vermied Lukaschenko es vier Tage lang tunlichst, den ukrainischen Vorstoß in der russischen Oblast Kursk zu bemerken. Von offizieller Seite tat man weder Besorgnis kund noch reagierte man auf die Unterstellungen einiger Z-Blogger, es gebe bei der Vorbereitung des Angriffs eine belarussische Spur. Man analysierte offenbar die Schwachpunkte des Bündnispartners und überlegte, wie sich die Dinge wohl weiterentwickeln mochten. Etliche dieser Szenarien wären für Lukaschenkos Regime alles andere als günstig gewesen. 

    Dieses Rechenbeispiel zum Verhältnis zwischen Kyjiw und Minsk enthält vorerst noch zu viele Variablen. Die belarussischen demokratischen Kräfte brauchen einen Freund, aber Selensky nicht noch einen Feind. Und solange Lukaschenko so viel Macht hat, wird sich Kyjiw auf keine Eskalation einlassen. Wenn man einen Krieg gegen überlegene Gegner führt, ist es wohl am klügsten, auf Pragmatismus zu setzen. Es liegt bei den Gegnern von Lukaschenkos Regime, die Ukraine in ihrem Kampf aufrichtig und konsequent zu unterstützen, ohne beleidigt zu sein, Ansprüche zu stellen oder Gegenleistungen zu erwarten.

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  • Belarus: Bleiben oder gehen?

    Belarus: Bleiben oder gehen?

    Die Journalistin Olga Loiko, einst Chefredakteurin für die Bereiche Politik und Wirtschaft beim einflussreichen Online-Medium Tut.by, das 2021 von den belarussischen Machthabern liquidiert wurde, wusste, dass sie Belarus schnell verlassen muss. Nachdem sie fast ein Jahr in Untersuchungshaft verbracht hatte, wurde sie im März 2022 auf freien Fuß gesetzt, ohne dass die Anklage gegen sie fallengelassen wurde. Sie entschied sich umgehend zur Flucht. Im Oktober 2022 setzte der KGB sie schließlich auf die Fahndungsliste für Personen, die sich „an Aktivitäten von terroristischen Organisationen“ beteiligt haben. Sie kann deswegen nicht zurück nach Belarus. 

    Wann kommt bei anderen der Punkt, an dem man sich tatsächlich entscheidet, Belarus zu verlassen? Ob es die Angst ist, im Zuge politischer Verfolgung festgenommen zu werden. Gleichzeitig ist da die Furcht, ins Ausland zu gehen, wo man in einer fremden Welt ein neues Leben aufbauen muss, wissend, dass man seine Liebsten in der Heimat womöglich nie mehr wieder sieht. Wie plant man seine Flucht? Was muss man alles bedenken? Mit diesen schwierigen und schmerzhaften Fragen befasst sich Olga Loiko in einem Text für die Online-Plattform Plan B. 

    Die Journalistin Olga Loiko war gezwungen, Belarus zu verlassen / Foto © Siarhei Balai
    Die Journalistin Olga Loiko war gezwungen, Belarus zu verlassen / Foto © Siarhei Balai

    Tausende Notfalltaschen haben die Belarussen seit 2020 gepackt. Wechselwäsche, Zahnputzzeug, Thermounterhosen, Hygieneartikel. Der eine stellt sie an einen sichtbaren Ort mit detaillierten Anweisungen für die Angehörigen, der andere schiebt sie möglichst weit aus dem Blickfeld. Die Taschen stehen in unsanierten Mietwohnungen oder im Kofferraum schicker Autos und warten darauf, dass ihre Stunde schlägt. Vielen haben sie schon genutzt. Bestenfalls nicht im Gefängnis, sondern auf der Flucht aus dem Land.

    Oder doch hierbleiben?

    Eine geplante Ausreise ist mühevoll und erfordert eine mehrstufige Vorbereitung. Es gibt lange Debatten: Wohin überhaupt, was wird mit Arbeit, Wohnung, Besitzstand in Belarus, Verwandten. Man braucht Visa, Vollmachten, Apostillen, Katzenimpfungen. Anders sieht es im Fall einer plötzlichen Bedrohung aus. Oder einer verschärften. Als ich nach zehn Monaten hinter Gittern aus dem Untersuchungsgefängnis freikam, wusste ich genau, dass eine Ausreise unvermeidlich ist. Glücksspiel mit der Staatsmacht ist eine schlechte Idee, besonders, wenn es ein Spiel ohne Regeln ist. Wenn einfach Asse aus dem Ärmel gezogen werden können. Wenn einfach alle Trümpfe aussortiert werden.

    Ich will nicht weg. 45 Jahre mehr oder weniger geordnetes Leben sind nicht nichts. Verwandte, Eigentum, die Überzeugung, dass das hier mein Land ist. Mit all seinen Ecken und Kanten. Andererseits habe ich auch keinen Hang zu co-abhängigen Beziehungen. Ich glaube nicht an Liebe ohne Gegenseitigkeit. An ein „ich bleibe um jeden Preis“. Darin steckt etwas von Lukaschenkos „die Geliebte gibt man nicht her“. Oder Kotschanowas „Ich halte zu ihm bis zum Schluss“. Wenn meine Anwesenheit der Heimat so lästig ist, dass sie mich eine gefährliche Verbrecherin nennt, inhaftiert und dann auch noch zur „Terroristin“ erklärt, sollten wir doch besser getrennt wohnen. Für eine gewisse Zeit oder für immer. 

    Und das ist für viele der Stolperstein. Ein One-Way-Ticket. Niemals nach Hause zurückkehren. Nie mehr die Eltern sehen. Auf verschiedenen Seiten der Grenze sein, mit Kindern, Partnern, Freunden. Am neuen Ort nicht einleben können. Für diejenigen, die das Gefängnis hinter sich haben, ist es leichter: das Leben grundlegend zu ändern ist weniger schlimm, als wieder hinter Gittern zu landen. Die Familie und alle Angehörigen werden sich besser fühlen, wenn ich nicht im Gefängnis bin. Es ist ruhiger und billiger.
     

    Die Illustrationen zu diesem Text wurden von einer ehemaligen politischen Gefangenen gezeichnet, die Folter und Zwangsemigration erlebt hat. Ihr Pseudonym: Who Is

    Punkt ohne Wiederkehr

    Es ist wichtig, die Entscheidung selbst zu treffen. Es wird viele Pseudounterstützer geben. Der Druck, der im Land auf einem lastet, kommt der Belastung zehn Meter unter Wasser gleich. Verlass das Land! Du musst das Land verlassen! Warum geht sie nicht? Alle geben Ratschläge, egal ob sie noch im Land sind oder schon draußen. Es ist gut, wenn man die Möglichkeit hat, das Thema in Ruhe mit jemandem zu besprechen, der noch bei Verstand ist. Wie gefährlich es sein kann, wenn jemand das Land nicht rechtzeitig verlässt, können die Angeklagten von Gruppenverfahren berichten. Es ist also auch Teil des Spiels, das Land so zu verlassen, dass man niemanden im eigenen Umfeld gefährdet.

    Den Ratgebern möchte ich raten: Wenn ihr euch solche Sorgen um jemanden macht, bietet ihm Hilfe an. „Wenn du das Land verlässt, können wir auf deine Wohnung aufpassen/ deinen Eltern im Haushalt helfen/ deine Katze oder deinen Kanarienvogel vorübergehend bei uns aufnehmen/ dir mit dem Visum helfen/ dir Tipps geben, wo du kostenlos bei Freunden in Warschau oder Vilnius unterkommen kannst.“

    Gut zu wissen: Egal wie präzise euer Ausreiseplan ausgearbeitet ist, seid bereit, alles über den Haufen zu werfen, wenn die Gefahr plötzlich um die Ecke kommt. Rote Linien – Eröffnung eines Strafverfahrens, Ergänzung eines neuen Anklagepunktes und ähnliches – sind rote Linien. Die Hauptsache ist dann, nicht innezuhalten, indem man sich farbenblind oder kurzsichtig stellt. Tasche schnappen, Haus verlassen …

    Man muss fahren

    Geschichten darüber, wie Belarussen der Umarmung des Heimatlandes entfliehen, gibt es unzählige. Über Felder, durch Flüsse, über Zäune, Flughäfen, Busbahnhöfe, Züge. „Sie werden schießen – und das nicht zur Warnung. Sie müssen 500 Meter rennen, das schaffen Sie.“ „Bei Ihrem Pass klingelt was, sie werden ihn mitnehmen, ein FSB-Mann wird Sie befragen – es dauert nicht lange, maximal 20 Minuten. Bemühen Sie sich, ruhig zu bleiben.“ „Vergessen Sie nicht, aus dem Zug auszusteigen. Manche sind so aufgewühlt und aufgeregt, dass sie es vergessen.“ Die redlichen, gesetzestreuen und manchmal sogar ängstlichen Belarussen haben sich in einer neuen Realität wiedergefunden. 

    Das Gesetz brechen? Im Januar 2021 terrorisierte ich nur das zuständige Finanzamt – ich wollte ganz schnell 50 Rubel Einkommensteuer zahlen! „Was heißt hier: Warten Sie, die Summe wurde noch nicht eingefordert? Dann fordern Sie sie ein! Lassen Sie es uns händisch eingeben! Was, wenn ich verhaftet werde, wer zahlt dann die Steuer für mich?“ Die Mitarbeiterinnen der Steuerbehörde schauten einander perplex an, aber dann verstanden sie die Situation.

    Und nun habe ich den Status „Terrorist“ und ein Ausreiseverbot und verlasse das Land unter der wachsamen Führung des BYSOL-Teams (viele Grüße an alle und danke nochmals!). Jetzt breche ich wirklich das Gesetz, so weit ist es gekommen.
     

    Illustration © Who Is

    Unterwegs

    Im Grunde ist alles ganz einfach. Grundlegende Vorsichtsmaßnahmen, das Telefon zuhause lassen (stattdessen ein „sauberes“ Telefon mitnehmen), Freunde vorwarnen (wo muss der Ausreisende im Fall des Notanrufs abgeholt werden, wie bekommen die Verwandten die Schlüssel usw.) Die Familie weiß am besten von nichts – sie muss die Ungewissheit aushalten, dafür aber auch nicht lügen.

    Ein leichtes Schneegestöber weht durch die Straßen von Minsk. Ich empfinde kein bisschen „Abschied von der Heimat“. Eigentlich wäre es angebracht, es wirklich an mich heranzulassen. Das kommt später. Schnell der Abschied von den Freunden (Der Gedanke „Es ist doch für immer“ huscht vorbei. Nur fast richtig geraten. Es ist noch kein Jahr vergangen, und wir sind wieder Nachbarn.) Die Marschrutka, die keine ist, steht in der Toreinfahrt des Bahnhofs. Los geht’s.

    Es müsste schrecklich sein, dabei ist es einfach nur surreal. „Hast du deinen Pass?“ „Klar, wie soll ich sonst über die Grenze kommen? Er wird kontrolliert, dachte ich …“ Es stellt sich heraus, dass man auch leicht ohne Pass über die Grenze kommt, es kostet nur zweieinhalb Mal so viel. Im Auto sitzen der gerissene Fahrer, zwei Damen russischer Staatsbürgerschaft von zweifelhafter Beschäftigung – und eben ohne Pässe, zehn Beagle-Welpen mit gefälschten Dokumenten und ich, Terroristin auf der Flucht oder James Bond mit Minimaleinkommen. 

    Die Grenzkontrolle ist rein formal, wir halten nur unsere Dokumente hoch – und schon sind wir auf russischem Staatsgebiet. Nur die zwei Frauen ohne Pass müssen anschließend aus der Dachgepäckbox geholt werden – schon kann es weitergehen.

    Über die verschiedenen Fluchtrouten wurde schon viel erzählt. Vielleicht unnötigerweise. Die Machthaber müssen besser nicht alles wissen, und die neuen Flüchtlinge nicht allzu sehr auf schon beschriebene Fluchtrouten setzen. Sie können sich als kompromittiert erweisen und gefährlich sein. Es gibt Leute, die sich mit der Evakuierung befassen, mit den Routen und Visa, professionell. Es ist besser, sie zu Rate zu ziehen.

    Und danach?

    Was danach kommt, ist unterschiedlich. Manchen fallen die ersten Tage schwer. Oft sind das diejenigen, die ins Unbekannte gefahren sind. Dann folgt die Euphorie über das Gefühl der Sicherheit. Man muss nicht bei jedem Anruf zusammenzucken, bei jedem Klopfen an der Tür, bei Stimmen im Treppenhaus, bei den charakteristischen Bussen ohne Nummernschild (oder auch mit). Dann folgt die Bürokratie, das Asylverfahren. Ein Haufen komplizierter Angelegenheiten und Probleme. Oft bedrückend, aber immer lösbar. Es wird ein Meer von Emotionen sein. Die Freude über Begegnungen mit Freunden und neue Reisen. Die Verzweiflung darüber, geliebten Menschen, die in Belarus geblieben sind, nicht helfen zu können. Unsicherheit bei der Arbeitssuche. 

    Es wird Frust geben, und Enttäuschung. Bei vielen auch den Wunsch zurückzukehren. Ich respektiere jede Entscheidung. Zu viele Faktoren haben Einfluss darauf. Zu schwierig ist es, bei Null zu beginnen, besonders, wenn man nicht mehr ganz jung und gesund ist. Zu schmerzhaft ist es, einen Teil der Familie zurückzulassen, und zu teuer, alle mitzunehmen.

    Glaubt man Remarque, und es gibt nicht viele Schriftsteller, die so tief in die Gefühlswelt von Menschen eingetaucht sind, die in die Emigration gezwungen wurden, so steht einer der schwierigsten Abschnitte noch bevor. Wenn (und falls) es möglich sein wird zurückzukehren, wird man es dann tun? Wird man das endlich wieder geordnete Leben (irgendwann wird es ja wieder geordnet sein) dann wieder aufgeben? Aber das ist schon eine andere Geschichte.

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