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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Vom Versuch der „einheitlichen“ Geschichte

    Vom Versuch der „einheitlichen“ Geschichte

    Kann Geschichte objektiv sein? Nein. Es geht immer um eine Neudeutung, um einen multiperpektivischen Blick. Was bedeutet das aber für ein einheitliches Geschichtslehrbuch? Die Initiative dafür wurde kurz nach Putins Amtseinführung gestartet, 2013 schließlich wies Präsident Putin das Bildungsministerium an, ein solches einheitliches Geschichtsbuch zu konzipieren. Es solle eine „kanonische Version“ der russischen Geschichte bieten. Zum Gegenargument, dass es eine solche nicht geben könne, da Historiker die Geschichte in einigen Fragen unterschiedlich bewerteten, sagte er, er sehe dabei keinen Widerspruch zu einem „einheitlichen Standard“. 
    Letzten Endes war es dann auch nicht ein einheitliches, sondern waren es drei Lehrbücher, aus denen russische Schulen ab dem Schuljahr 2015/16 auswählen sollten.

    Was bedeutet der Wunsch nach einheitlicher Geschichtsschreibung aber etwa für komplexe und umstrittene Fragen wie die Zeit des Großen Terrors unter Stalin oder die Revolution? Olga Filina hat für Kommersant-Ogonjok den Praxistest gemacht.

    Sechs Jahre, nachdem die Diskussionen hochgekocht waren, wie nützlich oder schädlich das „Einheitsgeschichtsschulbuch“ sei, stellt sich heraus, dass diese Schwalbe noch keinen Sommer macht: Selbst wenn es nun [drei] empfohlene Lehrbücher gibt, können den Schülern unverfälschte Versionen von Geschichte vermittelt werden – alles hängt allein von den Neigungen und dem Engagement des Lehrers und von seinen Methodikbüchern ab. Und gegen Neigungen und Methodiken ist, wie Ogonjok herausfand, bislang noch kein Kontroll-Kraut gewachsen.

    Unerwarteter Effekt

    „Die konzeptuelle Ausarbeitung eines neuen Lehr- und Methodik-Kompendiums zur russischen Geschichte sollte einen Konsens von professionellen Historikern, Lehrern und dem Staat festschreiben“, erläutert Galina Swerewa, Leiterin des Lehrstuhls für Geschichte und Kulturtheorie der Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität (RGGU). „2016 bildeten sich die Konturen einer gemeinsamen Position heraus: Zum einen war man übereingekommen, dass sich eine allgemeingültige Vorstellung über die wichtigsten Entwicklungsetappen des russischen Staates herstellen lässt, und dass – aufgepasst! – ,die verbreitetsten Ansichten in Zusammenhang gesetzt werden können‘ mit den wichtigsten Ereignissen unserer Geschichte. Zweitens einigte man sich darauf, dass man einander ausschließende Interpretationsstränge historischer Ereignisse durchaus vermeiden könne. 

    Es gehörte großes Geschick dazu, auf dieser Grundlage ein Lehrbuch zu verfassen, schließlich hatten die Autoren alles in „Zusammenhang“ zu bringen und Widersprüche auszuschließen. Was ist dabei herausgekommen? Eine Art Telefonbuch, ein leerer Raum von Text mit einer Aneinanderreihung von Namen, Daten und ‚Standpunkten‘. Also musste man sich überlegen, wie die Schüler zu unterrichten wären. Und hier kam die Methodik ins Spiel …“

    Vieles hängt nun vom Lehrer ab

    „In nächster Zeit werden im Internet und in großer Auflage gedruckte Methodik-Hefte erscheinen, zu jeder der 20 ,schwierigen Fragen unserer Geschichte‘. Sie sind von unserem Team entwickelt worden“, berichtet Alexander Tschubarjan, wissenschaftlicher Leiter des Instituts für allgemeine Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften und Leiter der Arbeitsgruppe zur Ausarbeitung neuer Lehrbuchrichtlinien. „Ein Lehrer kann natürlich auch andere Methodik-Hefte nutzen, die ihm interessanter erscheinen. Wir können ihm etwas empfehlen. Wir können aber nicht verfolgen, ob er die Empfehlungen umsetzt. Außerdem, das möchte ich hervorheben, haben die neuen Standards für den Geschichtsunterricht in der Schule dazu geführt, dass sich die Rolle des Schulbuches im Unterrichtsgeschehen erheblich verringert hat, während gleichzeitig die Rolle des Lehrers stärker geworden ist. Von dessen Einschätzungen hängt nun sehr viel ab.“

    Wenn man das jemandem 2013 gesagt hätte, dass die Idee eines Einheitsgeschichtslehrbuches den überraschenden Effekt hat, dass die „Interpretations-Anforderung“ an den Lehrer steigt, hätte einem das kaum jemand geglaubt.

    Zu Beginn des Projekts hatten alle auf das vereinheitlichende Potenzial gehofft (und es gefürchtet). In Wirklichkeit hat sich das Einheitslehrbuch weniger als ein hochgezogener Damm erwiesen denn als Schutzschirm, der die angsteinflößende Vielfalt an Sichtweisen auf die Geschichte Russlands verdecken soll.

    Inspiziert man die didaktischen Materialien zur Geschichte, die in einer großen Buchhandlung zur Auswahl stehen, so lassen sie sich (grob) in vier Gruppen unterteilen: in „vermittelnde“, prosowjetische, monarchistische und „aktuell politische“ Werke. In der Regel gelten Lehrer und auch Hochschulstudenten als Leserschaft dieser Lehrwerke, doch können sie praktisch an jeden adressiert sein. Die Reichweite des Vertriebs hängt eher vom Lobbypotenzial ihrer Macher ab.

    Diplomatische Geschichtsschreibung

    Eines der respekteinflößendsten Werke sind die Schwierigen Fragen der Geschichte Russlands: Vom 20. bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts eines Autorenkollektivs der Moskauer Pädagogischen Hochschule. Gattungsmerkmal der „vermittelnd“ ausgerichteten  Lehrmaterialien ist die Formulierung „einerseits … andererseits“. So begegnen uns in dem weniger bekannten Begleitbuch von Juri Schestakow, einem Historiker einer Außenstelle der Staatlichen Technischen Don-Universität (das Buch hat immerhin zwei Neuauflagen erfahren), meisterlich geschmiedete Wechselwirkungen, die die Mobilisierung in den 1930er Jahren gehabt hätte: „Einerseits zwang dieser Weg dem Volk einen hohen Preis auf (Massenrepressionen, Leibeigenschaft in den Kolchosen, niedriger Lebensstandard, fehlende bürgerliche Freiheiten und so weiter). Andererseits waren die sozialen Kosten teilweise niedriger als in den Ländern mit Marktwirtschaft (fehlende Arbeitslosigkeit, kostenloses Bildungs– und Gesundheitssystem, geringe Kommunalabgaben, garantiertes Konsum-Minimum und so weiter).“

    Die rote Geschichtsschreibung

    In den prosowjetisch ausgerichtetender Begleitbüchern sind alle Schattierungen des Roten vertreten, von dubiosen Werken bis hin zu wissenschaftlich anerkannten Arbeiten wie beispielsweise denen des Historikers Lennor Olschtynski.

    Als kleines Stilbeispiel mag das im Internet intensiv beworbene Material von Jewgeni Spizyn dienen, einem „Geschichtslehrer mit 20-jähriger Berufserfahrung“, der die Herausgabe seines mehrbändigen Werkes über Crowdfunding finanzierte: 

    „Was die sogenannten Erschießungslisten anbelangt, so läuft hier eine ganz direkte Fälschung seitens sämtlicher eingefleischter Antistalinisten“, erklärt der Autor. „[…]  Es hat keinerlei persönliche und konkrete Anweisungen zur Erschießung bestimmter Menschen gegeben, weder durch Josef Stalin, noch durch dessen engste Mitstreiter; all diese Menschen wurden von Gerichten zur Höchststrafe [der Todesstrafe – dek] für Verbrechen verurteilt, die im Zuge einer gerichtlichen Untersuchung nachgewiesen worden waren.“

    Die monarchische Geschichtsschreibung

    Die Monarchisten, die zunächst gewissenhaft und gebildet durch Bücher des Historikers Andrej Subow hervorgetreten waren, melden sich seit dem vergangenen Jahr lauter zu Wort. Die unlängst gegründete Gesellschaft für historische Bildung Doppelköpfiger Adler (Initiator und Spiritus rector der Gesellschaft ist Konstantin Malofejew, der Besitzer des Fernsehsenders Zargrad) hat unter dem Titel Schwierige Fragen unserer Geschichte ihr eigenes Lehrwerk veröffentlicht. Herausgeber ist Dimitri Wolodichin, Professor an der Historischen Fakultät der MGU

    Das sowjetische Regime wird in diesem Buch erwartungsgemäß negativ bewertet. Dabei wird als Hauptmerkmal Stalins dessen „tiefer quasireligiöser Fanatismus“ genannt. Und die Untätigkeit des Zaren Nikolaus' II. in der Zeit, die heute als „Große russische Revolution“ bezeichnet wird, erfährt dort folgende Charakterisierung: 

    „Wie hätte der Herrscher den Befehl zum Krieg mit seinen eigenen Untertanen geben können? Mit jenen, denen er so viel Kraft und Arbeit gewidmet hat. Die russischen Monarchen betrachteten ihr Volk stets als ihre Kinder, und wie kann der Vater gegen seine Kinder in den Krieg ziehen? Nikolaus II. beschloss, sich selbst zu opfern …“ 

    Eine Präsentation des Lehrbuches hat – folgt man allein den Informationen auf der Website – bereits in der Schule Nr. 41 in Kaluga, in der Schule Nr. 37 in Iwano-Wosnessensk, im Kadetten-Corps der Kosaken in Schachty sowie in einem Dutzend Bibliotheken anderer Städte stattgefunden. Eingeladen waren hierzu „führende Geschichtslehrer“ (den Bibliotheken wurden kostenlos Exemplare des Buches übergeben).

    Die offiziöse Geschichtsschreibung

    Schließlich sind da noch jene Lehrbücher irgendwie zu benennen, die auf Initiative bekannter Vertreter des russischen Staatsapparates verfasst wurden. Kurz gesagt könnte man sie als „aktuell-politisch“ bezeichnen.

    Die Siegerpalme gebührt hier einem Werk, das bereits 2012 entstand und von Wladimir Jakunin, dem Ex-Chef der Russischen Eisenbahn, gesponsert wurde: das Lehrbuch für den Lehrer zur Geschichte Russlands. Herausgeber war Stepan Sulakschin. Das Buch ist durch seine chauvinistische Ausrichtung bekannt und durch Zitate wie: 

    „Der Große Terror stellte, unter der gegebenen Fragestellung, einen Feldzug nationaler Kräfte gegen die internationalistische Übermacht dar.“ 


    Doch das „offizielle Gesicht“ des aktuellsten Lehrbuches ist natürlich Kulturminister Wladimir Medinski, unter dessen Redaktion das für Schüler geschriebene Buch Militärgeschichte entstanden ist. Wladimir Solotarjow von der MGU hob als Rezensent die Objektivität der Autoren hervor, die vermieden, von „der Fiktion einer aggressiven sowjetischen Politik am Vorabend des Krieges zu sprechen, […] wie sie bis heute von westlichen und zum Teil von russischen Medien verbreitet wird“.

    „Gefährdende“ Geschichtsschreibung

    In dieser ganzen Vielfalt von Veröffentlichungen sind natürlich auch Interpretationen der Vergangenheit zu finden, die aus der Ecke der Bürgerrechtler und Liberalen stammen. Doch die sind auf dem Massenmarkt weniger konkurrenzfähig: Allen zu Ohren gekommen ist der Fall des Methodik-Begleitbuches für Lehrer der 9. bis 11. Klasse des Historikers Andrej Suslow aus Perm und seiner Kollegin Maria Tscheremnych. Das Buch wurde 2017 per Gericht als gefährlich für die psychische Gesundheit von Kindern eingestuft. Ein Gutachten der Aufsichtsbehörde für Massenkommunikation Roskomnadsor, befand: Aussagen in dem Lehrbuch zum sowjetischen Regime der 1930er Jahre, wie zum Beispiel „die maßgebliche Rolle von Gewalt in der Ideologie und Praxis der Bolschewiki“, „die Grausamkeit der bolschewistischen Anführer (Stalin, Lenin und andere) gegenüber dem eigenen Volk“ und so weiter – würden einen „schweren, emotionalen Druck der Angst und des Hasses“ reproduzieren und seien daher für Schüler ungeeignet. Das Buch ist nach wie vor im Internet zu finden, von der Website des regionalen Bildungsministeriums ist es aber verschwunden.

    Meinung statt Fakten?

    Bedeutet dies alles nun, dass die Regierung nach einer „einheitlichen Richtlinie für Lehrbücher“ intensiver auch eine „einheitliche Richtlinie für methodische Begleitmaterialien“ einführen sollte, weil sonst Gefahr und Bürgerkrieg drohen?

    „Die Freie Historische Gesellschaft machte ihre Position deutlich: Bevor irgendetwas zu ‚Lehrmaterial‘ wird, ist eine Erörterung des Projekts in Fachkreisen erforderlich“, sagt der Historiker Iwan Kurilla, Professor der Europäischen Universität in Sankt Petersburg. „Es kann keine Rede davon sein, dass Historiker den Meinungspluralismus zerstören wollen: Pluralismus ist gut, aber nur dann, wenn er nicht unter dem Anschein, es handele sich um Fakten, Meinungen aufnötigt.“

    Doch anscheinend werden die fachliche Bewertung und das Einvernehmen, das Historiker mit Regierung und Lehrern bei gemeinsamer Betrachtung unserer Vergangenheit herstellen konnten, ziemlich genau durch diejenigen Schulbücher umrissen, die vorhanden sind. Dort bleiben nämlich alle schwierigen Fragen gewissermaßen außen vor. Innerhalb der „schwierigen Fragen“ Meinung von Fakten zu trennen, ist eine überaus komplizierte Aufgabe, die schlichtweg eine Erneuerung nicht nur der Lehrprogramme, sondern auch der allgemeinen Haltung der Gesellschaft zum 20. Jahrhundert erfordern würde. 

    Es ist es allem Anschein nach unmöglich, zu einem eingängigen, den Schülern vermittelbaren Verhältnis zur Geschichte zu gelangen, ohne bei dem, was mit Russland geschah, die berüchtigte Unterscheidung zwischen Gut und Böse vorzunehmen.

    Olga Malinowa, Professorin an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Higher School of Economics in Moskau, meint: „Der Versuch, alle zufriedenzustellen und in der Schule eine einheitliche Version der Geschichte zu entwickeln, konnte wohl kaum gelingen, weil der Konflikt zwischen den Geschichtsinterpretationen sehr viel tiefere Gründe hat.“ 

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Die Erzfreunde Russland und USA

    Die Erzfreunde Russland und USA

    Russische Trolle! US-amerikanische Bedrohung! Die Hysterie in den Beziehungen zwischen Russland und den USA erreicht gerade in letzter Zeit immer wieder neue Höhepunkte. Einer, der sich dagegen wohltuend ruhig und sachlich mit dem gegenseitigen Verhältnis auseinandersetzt, ist der Historiker Ivan Kurilla. Im Interview mit Olga Filina von Kommersant-Ogonjok erklärt er unter anderem, was die besondere „Erzfreundschaft“ zwischen beiden Ländern ausmacht, was Ford mit dem Kommunismus und Sputnik mit dem US-amerikanischen Bildungssystem zu tun hat. Und warnt vor zu viel „Schaum vor dem Mund“.

    Analysiert das Verhältnis zwischen Russland und den USA ruhig und sachlich – Historiker Ivan Kurilla / Foto © Gaidar Open University
    Analysiert das Verhältnis zwischen Russland und den USA ruhig und sachlich – Historiker Ivan Kurilla / Foto © Gaidar Open University

    Kommersant-Ogonjok: Schon im Titel Ihres Buches behaupten Sie, Russland und die USA seien zwar „Erzfreunde“, aber immerhin doch Freunde. Können Sie diese These begründen?

    Ivan Kurilla: Meinem Buch liegt ein zehnjähriges Projekt zugrunde: Ich habe Materialien gesammelt, die mit der gegenseitigen Beeinflussung zwischen Russland und den USA zu tun haben. Ein paar hundert kamen da zusammen.

    Ich möchte mit einer Art Metapher beginnen: Russland ist sehr stolz auf „seine Spur“ – die materialisiert sich in den russischen Eisenbahnschienen, die eine andere Spurweite haben als die in Europa. Aber warum sind unsere russischen Eisenbahnen anders als die europäischen? Weil sie amerikanisch sind, ein Modell von 1836. Heute haben die Amerikaner natürlich andere Standards, doch im 19. Jahrhundert lieferten sie uns die Schienen, die auch Baltimore mit Ohio verbanden. Und so setzten sich bei uns die Schienen aus Maryland durch.

    Die ganze Industrialisierung verdanken wir ,amerikanischer Einmischung‘

    Und weiter: Die ganze Industrialisierung der 1930er Jahre verdanken wir „amerikanischer Einmischung“. Das Stalingrader Traktorenwerk genauso wie die Nishni Nowgoroder Automobilfabrik, die Magnitka genauso wie das Wasserkraftwerk DniproHES, sie alle wurden nach amerikanischen Plänen gebaut. Wir waren das 20. Jahrhundert hindurch einander viel näher, als man uns zu denken erlaubte.

    Auch deutsche Ingenieure arbeiteten vor dem Krieg in der Sowjetunion …

    Trotzdem spielt Amerika bei jeder unserer Modernisierungen eine ganz besondere Rolle. Es ist sogar so: Jedes Mal, wenn unser Staatschef von der „Modernisierung“ spricht, meint er „Amerikanisierung“. Mit einem Ruck wollen wir durch Europa hindurch und direkt nach Amerika. Das war schon unter Nikolaus I. so und unter Lenin, unter Chruschtschow und Gorbatschow und sogar unter Medwedew. Trotzki war da übrigens sehr ehrlich: In den 1920ern verwendete er durchweg genau diesen Begriff – „Amerikanisierung“ – wenn er dem Land den Weg in die Zukunft aufzeigte. Berühmt ist noch eine weitere Losung aus diesen Jahren: „Kommunismus ist Sowjetmacht plus Ford-isierung“.

    Kommunismus ist Sowjetmacht plus Ford-isierung

    Wir erinnern uns an diese Formel natürlich mit dem Wort „Elektrifizierung“, weil die Geschichte der ersten Sowjetjahre erst in Zeiten des Anti-Amerikanismus geschrieben wurde. Der Kalte Krieg ließ uns überhaupt viel von der Präsenz Amerikas in Russland vergessen, obwohl die Spuren überall sichtbar sind, wenn man nur den Blick dafür schärft.

    Sie haben jetzt ein paar Beispiele genannt, wie Amerika Russland veränderte. Kann man auch Geschichten über den Einfluss Russlands in den USA finden?

    Die sucht man vielleicht nicht so sehr auf dem Gebiet der Technik, obwohl auch dort … etwa der Elektrotechniker Alexander Poniatoff mit seiner Firma Ampex, der den ersten funktionierenden Videorekorder erfand.

    Von der ersten Generation von Emigranten, die Russland noch als Kinder verließen und alle berühmten Hollywood-Filmstudios gründeten, rede ich schon gar nicht. Der kulturelle Einfluss von Auswanderern unseres Landes auf die USA ist wirklich offensichtlich: Man denke an Irving Berlin, aus dessen Feder die wichtigsten patriotischen Lieder Amerikas im 20. Jahrhundert stammen (inklusive God bless America), obwohl er in Tjumen geboren wurde.

    Der kulturelle Einfluss von russischen Auswanderern auf die USA ist offensichtlich

    Während des Kalten Krieges ging dann der berühmte Ausspruch des amerikanischen Impresarios Sol Hurok um, der den kulturellen Austausch zwischen UdSSR und USA organisierte: „Was ist denn unser kultureller Austausch? Das ist, wenn sie uns ihre Juden aus Odessa schicken, und wir schicken ihnen unsere Juden aus Odessa.“ Und da war viel Wahres dran.      

    Und der ideelle Einfluss, der ideologische? Der war, nehme ich an, einseitig …

    Bei den Amerikanern entwickelte sich ab dem 18. Jahrhundert, ab den ersten Puritanern, die Tradition, sich als Leader zu sehen: zuerst als religiöse („City upon a Hill“), dann als demokratische („Citadel of Freedom“) und so weiter.

    Damals im 19. Jahrhundert wurden amerikanische Verhältnisse von Nikolaus I. (der den transatlantischen Pioniergeist äußerst schätzte) und den Dekabristen (die ihre Verfassung nach amerikanischem Muster schrieben) gleichermaßen bewundert.

    Fälle, in denen wir Amerika mit unseren Ideen bereichert haben, gibt es sehr wohl. Ein hervorragendes Beispiel ist die Aufhebung der Leibeigenschaft

    Mit Russland ist das komplizierter, doch Fälle, in denen wir Amerika mit unseren Ideen bereichert haben, gibt es sehr wohl. Ein hervorragendes Beispiel ist die Aufhebung der Leibeigenschaft. Wir haben sie früher abgeschafft als Amerika die Sklaverei, und während des Bürgerkriegs studierten die USA aktiv die Erfahrungen Russlands. Wahrscheinlich haben wir sie genau in diesem Moment „eingeholt und überholt“, ohne es selbst zu bemerken.

    Eine weitere bekannte Geschichte erzählt davon, wie die Amerikaner ihr Bildungssystem zu reformieren begannen, als sie mit den Erfolgen des sowjetischen Raumfahrtprogramms konfrontiert waren. Das ist doch auch ein ideeller Einfluss.

    Wenn man heute vom Einfluss Amerikas auf Russland oder Russlands auf Amerika spricht, dann impliziert man etwas Ungutes. Bei Ihnen ist „Einfluss“ fast immer für beide Seiten vorteilhaft.

    Wir sind so oder so innenpolitische Faktoren füreinander – dem entkommen wir nicht. Wie wir wissen, folgte nach der „Entspannung“ eine neuerliche Abkühlung der Beziehung zwischen UdSSR und USA, die mit der Präsidentschaft Jimmy Carters zusammenfiel. Ich betone, der Krieg in Afghanistan begann 1979, aber das Verhältnis verschlechterte sich bereits 1977. Anlass für diese Abkühlung war, dass Carter bei einem bilateralen Gespräch die Einhaltung der Menschenrechte in der Sowjetunion in den Vordergrund rückte. In den 1960er Jahren wäre es noch undenkbar gewesen, dass die USA etwas derartiges vorbringen: Sie hatten damals selbst eine gesetzlich verankerte Rassentrennung. In den 1970ern jedoch hatte die Bürgerrechtsbewegung in Amerika Erfolge erzielt und stand auf dem Gipfel ihrer Popularität – Carter konnte sie nicht ignorieren.

    Wir sind so oder so innenpolitische Faktoren füreinander – dem entkommen wir nicht

    Gleichzeitig verlor Amerika Mitte der 1970er auf anderen Gebieten praktisch überall: Misserfolg in Vietnam, die heftigste Wirtschaftskrise seit der Great Depression, Watergate … Beim besten Willen nichts, worauf man stolz sein konnte. Es ging darum, das Land wieder auf die Beine zu stellen. Und es zeigte sich, dass es vor diesem beklemmenden Hintergrund doch auch eine gute Nachricht gab – das Ende der Rassentrennung [im Jahr 1964 – dek], in den USA siegten die Bürgerrechte, anders als in der UdSSR!

    Die Sowjetunion, die Andersdenkende und die eigenen Bürger unterdrückte, wurde wie eine Spielkarte zu innenpolitischen Zwecken eingesetzt, um die Stärken Amerikas besser hervorzuheben.   

    Also waren wir einander nützlich als „Feindbilder“?

    Das Verhältnis zwischen Russland und den USA gestaltet sich generell auf einer bildhaften, symbolischen Ebene. Wenn sich etwas verändert darin, dann bedeutet das nicht, dass der eine dem anderen tatsächlich etwas angetan hat.  

    Kann man von einer eindeutigen Dynamik des Russlandbildes in Amerika sprechen?

    Im Laufe des ersten Jahrhunderts der Unabhängigkeit Amerikas war Russland das europäische Land, das ihm von allen am freundlichsten gesinnt war. Eine markante Episode jener Zeit war das Erscheinen von zwei russischen Geschwadern in den Häfen von New York und San Francisco im Jahr 1863. Ihre Präsenz unterstützte die Nordstaaten im amerikanischen Bürgerkrieg moralisch. Andererseits reisten in den Jahren des Krimkriegs einige Dutzend amerikanische Ärzte nach Russland, um im belagerten Sewastopol in den Spitälern zu arbeiten: Viele von ihnen starben an Infektionen, den Überlebenden überreichte unser Chirurg Pirogow zum Andenken Medaillen mit der knappen Aufschrift „Sewastopol. Alles getan, was möglich war“.

    Zu bröckeln begann das Russlandbild in den 1880er Jahren, als der Journalist und Schriftsteller George Kennan Sibirien bereiste und dort auf gebildete und liberal denkende Verbannte und Zwangsarbeiter stieß, da war zum ersten Mal die Rede von Russland als „großem Gefängnis“. In den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts steckten auch die USA in der Krise, da nach dem Bürgerkrieg im Süden die Weißen wieder an die Macht kamen, die Rassentrennung festgelegt wurde und sich die Amerikaner natürlich die Frage stellten: Wofür haben wir gekämpft? Da kamen die Beobachtungen von George Kennan gerade recht, der den kritischen Blick der Amerikaner von sich selbst in Richtung Russland umlenkte, à la: Seht mal, dort haben sie überhaupt die besten Leute nach Sibirien verbannt!
    Die einstigen Verfechter der Unabhängigkeit des schwarzen Südens vereinigten sich also zur amerikanischen Society of Friends of Russian Freedom, um für die Befreiung des russischen Volkes von der Alleinherrschaft zu kämpfen.

    Russland und die USA als zwei extreme Versionen von Europa: eine konservative und eine radikale

    Damals begann sich ein interessantes dreiteiliges Darstellungssystem herauszubilden, wonach Russland und Amerika zwei extreme Versionen von Europa sind: eine konservative und eine radikale. Deswegen erweist sich Russland als willkommener Vergleichspunkt – als entgegengesetzter Pol im europäischen Kulturraum. Und deswegen ist es so harscher Kritik ausgesetzt. 

    Die gegenwärtigen Anwandlungen von Antiamerikanismus und Russophobie – sind die auch der Tradition gezollt?

    Beide Länder benutzten und benutzen Bilder voneinander zur Lösung ihrer inneren Probleme. Vor allem von Problemen, die mit einer Identitätskrise zu tun haben.

    Beide Länder benutzen einander zur Lösung ihrer Identitäts-Probleme

    Wenn Russland sich von Amerika „geplagt“ fühlt, heißt das, etwas stimmt mit unserer Identität nicht, irgendwo haben wir uns verloren. Wenn Amerika sich von Russland „geplagt“ fühlt, stimmt mit Amerika etwas nicht, es schafft einfach nicht, sich zu entscheiden, wie es nun sein soll: wie Hillary, wie Obama oder wie Trump … Aus der Sicht des Durchschnittsamerikaners muss man, wenn sich Russland wirklich in die Präsidentenwahlen der USA eingemischt hat, konkrete Schritte tun, um das nicht mehr zuzulassen: die Cybersecurity verstärken, irgendwelche internationalen Verträge abschließen, zusätzliche Mittel für Geheimdienste ausgeben – was auch immer.

    Aber mit Schaum vor dem Mund zu wiederholen, wie schlecht Russland ist, trägt nicht zur Lösung des Problems bei. Das hat eine andere Funktion – den eigenen Schmerz zu lindern. Und dasselbe gilt auch für Russland.

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  • FAQ zum Revolutionsgedenken 1917

    FAQ zum Revolutionsgedenken 1917

    Wann enden Revolutionen? In welchem Sinne war die Revolution „groß“? Und wieso ist sich in diesen Fragen keiner einig? Olga Filina hat ein FAQ zur Revolution zusammengestellt – renommierte Historiker antworten.

    Demonstranten in Petrograd im Juli 1917 / Foto © Wikipedia/gemeinfrei
    Demonstranten in Petrograd im Juli 1917 / Foto © Wikipedia/gemeinfrei

    1. Wann enden Revolutionen?

    2. Es gibt keine gemeinsame Lesart der Ereignisse. Woran liegt das? Ist die Politik schuld?

    3. Inwiefern war die Revolution „groß“?


    1. Wann enden Revolutionen?

    „Manche sind der Ansicht, dass Revolutionen so lange fortdauern, wie Historiker darüber streiten und ebenso Schriftsteller, Bildhauer und andere ‚ehrenamtliche Gedächtnishelfer‘“, sagt der Historiker Alexander Etkind. Er ist Professor am European University Institute in Florenz und leitete [2011 bis 2013 – dek] das Forschungsprojekt Memory at War: Cultural Dynamics in Poland, Russia and Ukraine (MAW).

    François Furet, einer der führenden Historiker in der Forschung zur Französischen Revolution, schrieb anlässlich ihres zweihundertsten Jahrestages: „Die Revolution ist so lange nicht abgeschlossen, wie kein nationales Einvernehmen über sie hergestellt ist.“

    Historiker haben versucht, eine Drei-Generationen-Regel aufzustellen, die besagt, dass Einvernehmen zwischen ehemaligen Feinden drei Generationen nach einer Katastrophe erreicht wird. De facto weiß jedoch niemand, wie viel Zeit im konkreten Fall erforderlich ist.

    Allgemeine Ratlosigkeit

    Auch wir wissen offenbar nicht, ob uns die vergangenen hundert Jahre dafür ausgereicht haben. Russland hat sich dem hundertsten Jahrestag zu 1917 mit Ratlosigkeit genähert: Was feiern wir? Wie sollen wir gedenken?

    Auf offizieller Ebene heißt es, der tragische Jahrestag sei versöhnlich zu begehen. Doch weder ist dieser Vorschlag neu – schon Jelzin hat den 7. November zum Tag des Einvernehmens und der Versöhnung umgewidmet – noch ist klar, was er bewirken kann.

    Wer soll mit wem versöhnt werden? Und vor allem, worüber wurde damals gestritten? Und weswegen werden heute die Klingen gewetzt? Darüber gehen unsere Vorstellungen immer noch weit auseinander – trotz aller Versuche, eine „einheitliche Version der Geschichte“ zu schaffen. Und so will das mit dem Jubiläum nicht so recht klappen.

    Die Revolution am besten vergessen

    „Irgendwann träumte die neue russische Führung davon, die Revolution komplett vergessen zu machen“, so Boris Kolonizki, Professor an der Europäischen Universität Sankt-Petersburg. „Als Vorbild galt bei uns in den 1990er Jahren der spanische Pakt des Vergessens, der nach Francos Tod 1977 geschlossen wurde. Er untersagte beiden Bürgerkriegsparteien, in der Vergangenheit herumzuwühlen. Heute ist jedoch offenkundig, dass sich diese Strategie nicht bewährt hat, weder in Spanien noch in Russland. Der Pakt funktioniert vorne und hinten nicht – das Bedürfnis nach Vergangenheitsbewältigung ist stärker.“

    Alle mit allen zu versöhnen, ohne in Details zu gehen, und „keine historischen Rechnungen aufzumachen“, wie es die Historische Gesellschaft Russlands klar vermerkt hat, die für die Vorbereitung der diesjährigen Jubiläumsaktivitäten zuständig ist – das ist de facto eine Neuauflage der Strategie des Vergessens.

    Man muss der Revolution den Zündstoff nehmen. Das ist womöglich der Haupt-Konsens der postsowjetischen Eliten in Russland, der in den politischen Wünschen an die „Architekten des Gedenkens“ dokumentiert ist.

    Zum 80. Jahrestag der Oktoberrevolution hat Boris Jelzin diesen Wunsch auf denkbar einfache und aphoristische Art und Weise ausgedrückt. Statt den 7. November zu feiern, so empfahl er seinen Landsleuten, sollten sie doch besser Sauerkraut einlegen, die Fenster abdichten und sich auf den Winter vorbereiten – als ob nichts gewesen wäre.

    Befriedung durch Totschweigen?

    Jelzin wusste es vielleicht nicht, doch die Taktik der Befriedung durch das Totschweigen brisanter Themen ist den Menschen seit der Antike bekannt. So erfanden etwa die alten Athener nach dem Peloponnesischen Krieg, der den zerbrechlichen Frieden zwischen den wichtigsten griechischen Stadtstaaten zerstört hatte, ein neues Gebot des Vergessens, eine neue Bezeichnung: me mnesikakein (Nicht an Übles erinnern). Danach war es bei Strafe verboten, öffentlich an das Leid zu erinnern, das eine Seite der anderen zugefügt hatte.

    Landesweite Lähmung

    Angst vor solcher Strafe für das bloße Gedenken kennen die heutigen russischen Staatsbürger nicht. Gleichwohl sind sie nicht in der Lage, über schwierige und tragische Dinge zu reden. Sie haben es verlernt, können es nicht, haben es nie versucht. Deshalb führt ein Jahrestag, bei dem es nichts zu feiern gibt, aber etwas Wichtiges zu würdigen ist, bis heute landesweit zu einer Starre. Man ist unfähig, die Sache zu verdauen und zu einer „gemeinsamen Lesart“ zu gelangen.


    2. Es gibt keine gemeinsame Lesart der Ereignisse. Woran liegt das? Ist die Politik schuld?

    Tatsächlich hat die Revolution im postsowjetischen Russland nie Eingang in die Sprache der Mächtigen gefunden. Sie war eine zu starke Metapher.

    „Anfangs, in den 1990er Jahren, wurde der Oktober als Geburtsstunde des Kommunismus verurteilt – wobei die Kommunisten natürlich weiterhin die traurige alte Leier vom Beginn eines neuen Zeitalters anstimmten“, so der Gedenkforscher Nikolaj Kopossow, Gastprofessor an der Universität Emory. „Dann, in den 2000er Jahren, verdammte man die Revolution als Akt des Landesverrats und erzählte davon, wie Lenin auf einem Berg deutschen Goldes im plombierten Waggon nach Russland zurückgekehrt sei. Die Revolution war die ganze Zeit ein heikles Gesprächsthema …“

    Schlimmer noch – sie war ein unkontrollierbares, antagonistisches, ja, extremistisches Thema.

    „Der Punkt ist, dass die Kulturpolitik und ihr kleiner, aber wichtiger Teil, die Gedenkpolitik, weniger zentralisiert sind als andere Bereiche der Außen- und Innenpolitik“, so Alexander Etkind. „Selbst in einer Diktatur fügen sich die Menschen dem Willen des Herrschers ebenso wenig wie unsere Träume sich unseren Wünschen fügen. Künstler, Romanautoren, Journalisten und nicht zuletzt professionelle Historiker prägen das kulturelle Gedächtnis stärker als Minister oder Institutsdirektoren, auch wenn deren Budget noch so groß ist“, befindet Nikolai Kopossow, und sagt weiter:

    „Was heute im kulturellen Gedächtnis Russlands vor sich geht, wird daher nicht allein durch die Regierungsdirektiven und Maßnahmen staatlicher Institute bestimmt. Sondern zum Beispiel auch durch einen Doktoranden, der herausfindet, wo sein Großvater zu Tode kam, oder durch einen Aktivisten, der an einem Haus, aus dem vor 80 Jahren Menschen abgeführt und in den Tod geschickt wurden, eine kleine stählerne Gedenktafel anbringt.

    Auch die anderen Aktivisten spielen eine wichtige Rolle – diejenigen, die Ausstellungen verwüsten oder Ranglisten von ‚Russophoben‘ aufstellen. Hier ist alles voller Leben, die Zusammenstöße sind äußerst heftig …“

    In den 1990er Jahren wurde der Oktober als Geburtsstunde des Kommunismus verurteilt – In den 2000er Jahren verdammte man die Revolution als Akt des Landesverrats

    Man kann sich leicht denken, wie ungemütlich es für die Verkünder von Versöhnung und Harmonie in einer solchen Atmosphäre ist. Und wie oft hat die Revolution unsere Politiker in den vergangenen 25 Jahren nicht schon in die Enge getrieben!

    Kaum hatten die Demokraten der 1990er Jahre versucht, sie an die Peripherie des Gedächtnisses zu verbannen, als der 7. November sich aufbäumte – mit Märschen der kommunistischen Opposition, die ihren wichtigsten Feiertag in ein mächtiges Symbol der russischen Sehnsucht nach Großmachtstellung verwandelt hatte, in ein Symbol für den Verlust des großen Landes.

    In den 2000er Jahren besann sich die Regierung und sprach dann selbst von diesem großen Land. Olga Malinowa, Professorin an der Higher School of Economics und Forschungsprojektleiterin am INION, weist darauf hin, dass Wladimir Putin im Jahr 1999 – damals noch als Ministerpräsident – in einer Rede vor Studenten der Staatlichen Universität Moskau sehr deutlich seine Einstellung zur Revolution von 1917 zum Ausdruck gebracht hatte. Die diente dann auch in den kommenden Jahren als Leitmotiv: „Weshalb hat in Russland die Revolution von 1917 stattgefunden – oder der Oktoberumsturz, wie sie auch gern genannt wird? Weil die Staatsgewalt ihre Einheit eingebüßt hatte.“

    Es überrascht nicht, dass sich in der vom neuen Präsidenten ausgerufenen Doktrin der totalen Kontinuität alles Mögliche unterbringen ließ: die demokratische Trikolore ebenso wie der zaristische Doppeladler oder die Melodie der sowjetischen Hymne. Doch nie hätte sich ein Platz für die Revolution gefunden, welche die Machtvertikale zum Einsturz gebracht hatte. Deshalb wurde ihr Mitte der 2000er Jahre das Prädikat „groß“ aberkannt. Im Kalender stand nur noch „Tag der Oktoberrevolution“, und der offizielle Feiertag wurde auf den 4. November verlegt – den Tag der Einheit des Volkes.

    Schließlich wurde im Kampf gegen die Revolutionsromantik das schwere Geschütz des 9. Mai aufgefahren. Der offiziellen Interpretation zufolge (vom Präsidenten verkündet im Jahr 2012)  hatte der 7. Oktober einen „Akt des Landesverrats“ nach sich gezogen: die Niederlage im Ersten Weltkrieg, die die Bolschewiki erst während des Großen Vaterländischen Krieges „gegenüber dem Land gesühnt“ hätten. Damit blieb dem Jahr 1917 nur noch die wenig beneidenswerte Rolle, durch seine Nichtswürdigkeit die Größe und Glorie des Jahres 1945 umso heller erstrahlen zu lassen.

    Diese Geschichte ist allerdings bis heute nicht zu Ende: Als das Projekt eines „einheitlichen Geschichtslehrbuchs“ erörtert wurde, erlangte die Revolution das Attribut „groß“ zurück, allerdings in leicht abgewandelter Form – als Große russische Revolution der Jahre 1917 bis 1921 schließt sie nebenbei  auch den gesamten Zeitraum des Bürgerkriegs mit ein.

    Auch die Aufmerksamkeit, die Politiker, Experten und Journalisten dem anstehenden Jahrestag widmen, widerspricht der Überlegung, das Datum zu streichen. Trotz allem hat es etwas an sich, wovor man nicht die Augen verschließen kann.


    3. Inwiefern war die Revolution „groß“?

    „Wir stecken in der Misere, dass Feiern und Gedenken für uns Synonyme sind“, sagt Boris Kolonizki. „Ein konkretes Beispiel: Im Leningrader Gebiet hat eine ‚Vertreterin der jungen Generation‘ es fertiggebracht, den Überlebenden der Leningrader Blockade zum Jahrestag des Blockadebeginns zu gratulieren – was man an einem ‚roten Tag im Kalender‘ eben so macht. Das heißt, wir wollen an allen Gedenktagen stolz sein, und wenn es keinen Grund für Stolz gibt, sehen wir auch keinen Anlass zum Gedenken.“

    Doch die Revolution lässt sich nicht vereinfachen, und ihr Gehalt lässt sich nicht auf einen Glückwunschkarten-Vierzeiler reduzieren. Damit beginnen die Probleme: Wie kann ein Ereignis „groß“ sein, das keinen Anlass zur Freude gibt?

    Man kann diese Frage so beantworten, wie es die postkolonialen Länder tun, die ihre Identität um einen Mythos der Niederlage herum konstruieren. Sie gedenken der tragischen Daten in ihrer Geschichte, an denen sie dem Einfluss äußerer Kräfte unterworfen und zum Opfer eines fremden Willens wurden, damit sie den Wert ihrer Freiheit und Unabhängigkeit umso stärker empfinden.

    Für ein postimperiales Land, so Olga Malinowa, ist diese Herangehensweise jedoch wenig brauchbar. Ein Mythos der Niederlage ist den hier vorherrschenden Stimmungen zu fremd und bringt bizarre Selbstparodien hervor, wie etwa die Verschwörungstheorien, die in den Bolschewiki irgendwelche Außerirdische sehen, die auf die Erde gekommen seien, um das russische Staatswesen zu zerstören.

    Wenn es keine lebenden Zeugen mehr gibt, kann man abstrakt reden. Doch sobald man 1917 im Zusammenhang mit dem gesamten „sowjetischen Projekt“ sieht, wird das Thema schmerzlich brisant

    Für Länder wie Russland bleibt ein noch kaum beschrittener Weg: Die Verantwortung für Geschehenes zu übernehmen. Oder, wie die bekannte deutsche Historikerin Aleida Assmann schreibt, den „Gedächtnishorizont zu erweitern“: das Erinnerungsschema „entweder/oder“ durch ein „sowohl als auch“ zu ersetzen, um der Größe der Bedeutung der Revolution ebenso wie der Tragik ihrer Folgen gerecht zu werden.

    „Russland ist ein Land mit einer sehr vielfältigen Geschichte. Wir haben Erfahrung mit der Verarbeitung einer schwierigen Vergangenheit“, so Boris Kolonizki. „In eindimensionale Muster der Selbstwahrnehmung abzugleiten und alles Erlebte pauschal zu heroisieren wäre ein intellektueller Niedergang.“

    Die „Verarbeitung einer schwierigen Vergangenheit“ geht im Unterschied zur brachialen Versöhnung aller mit allen davon aus, dass eine Versöhnung nicht ganz so einfach ist. Wenn es keine lebenden Zeugen der Revolution mehr gibt, kann man über die Weißen und die Roten abstrakt reden. Doch sobald man die Folgen des Jahres 1917 im Zusammenhang mit dem gesamten „sowjetischen Projekt“ sieht (was sich aufdrängt, wenn man über die Grenzen der offiziellen Rhetorik hinausgeht), wird das Thema aktuell und schmerzlich brisant.

    „Wir sprechen über die Versöhnung so gelassen, weil wir uns als einzige Form der Versöhnung von Feinden vorstellen, dass Patriarch Kirill und Sjuganow Küsse austauschen“, sagt Nikolaj Kopossow. „Das ist natürlich keine große Sache: So werden wir zu Friedensstiftern, wo niemand mehr versöhnt werden muss. Doch was ist mit den zentralen Fragen des historischen Gedächtnisses, die sich direkt aus dem Jahr 1917 ergeben? Mit der Versöhnung von Stalinisten und Anti-Stalinisten? Oder, ganz provokativ gefragt, mit unserer Versöhnung mit den Banderowzy – wenn schon Frieden mit den Roten (oder Weißen) möglich ist? Wo ist hier die Grenze?“

    Diese Grenze fehlt, und deshalb wird jedes ernsthafte Gespräch über die Revolution revolutionär.

    Opfer oder Täter?

    „Die neue russische Geschichte ist zudem noch dadurch verworren, dass die sowjetischen und postsowjetischen Machthaber für sich seit über einem halben Jahrhundert, seit 1956, nicht klären können, wer ihnen sympathischer ist: die Henker oder die Opfer der vorangehenden Periode? Sie wissen nicht, mit wem sie sich eher identifizieren wollen“, sagt Alexander Etkind. „Aber diese Entscheidung muss getroffen werden. Viele Henker wurden selbst zu Opfern, als neue Henker sie folterten und umbrachten. Und doch besteht zwischen Opfern und Henkern ein gewaltiger Unterschied – der größte, den es im menschlichen Universum gibt.“

    Der Jahrestag von 1917 ist so gesehen ein Fass ohne Boden. Er ist nur der Beginn einer Reihe von schwierigen Bildern der Vergangenheit, an die wir uns ungern erinnern. Alle betreten die Geschichte lieber über die Paradetreppe – mit dem Tag des Sieges oder, sagen wir, dem Tag der Einheit des Volkes. Aber es gibt auch den Hintereingang, Jahreszahlen wie 1917, 1921 oder 1937. Was sollen wir damit machen? Ihn verrammeln?

    Würden wir uns ernsthaft darauf einlassen, dann könnte der hundertste Jahrestag der Revolution Anlass geben, nach neuen Möglichkeiten des Sprechens und Nachdenkens über die unbequeme Vergangenheit zu suchen. Eine Menge Bürgerinitiativen, die mit dem Jahrestag zu tun haben – Unsterbliche Baracke, Letzte Adresse, Aufrufe zur „nationalen Buße“ – stellten plötzlich fest, dass die Stimmen der Opfer noch laut sind in der russischen Gedächtnispolitik und diese beeinflussen können.

    „Diese Stimmen müssen berücksichtigt werden“, sagt Boris Kolonizki. „Es ist ganz einfach: Wodurch unterscheidet sich ein Mensch, der seine Krankheiten kennt, von einem, der sie nicht kennt? Ersterer kann mit der Therapie beginnen.

    Weder die Revolution, noch der Bürgerkrieg, noch der darauf folgende Terror sind ohne eine lang andauernde kulturelle Vorbereitung, ein Heranreifen innerhalb Russlands vorstellbar.


    Wir haben vor der Revolution eine Kultur des Konflikts geschaffen und unterstützt, eine Kultur, in der kleine oder kalte Bürgerkriege an der Tagesordnung waren. In vieler Hinsicht sind wir bis heute Träger dieser Kultur.

    Was können wir jetzt tun? Wir müssen eine gesunde Lebensweise einführen und ständig, Jahr für Jahr, unserer wunden Punkte gedenken. Dafür sind alle unbequemen Daten der russischen Geschichte gut geeignet.“

    Das Jahr 1917 ist zumindest insofern groß, als es uns eine sehr klare Vorstellung davon vermittelt, wie wir sein können. Nicht davon, was mit uns passieren kann oder was man mit uns machen kann – sondern davon, wie wir, die Russen, sein können. Und aus dieser Vorstellung heraus erwächst ein Bild davon, wie wir sein wollen (oder nicht sein wollen) – damit die Revolution tatsächlich zu Ende geht.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Russlandphobie-ologie

    Russlandphobie-ologie

    Ab wann ist Russland-Kritik keine Kritik mehr, sondern Russland-Bashing? Wie viel Kritik muss man einstecken können, welche sich auch mal verkneifen? Und wann artet das „Bashing“ in einen regelrechten „Hass“ aus? Das russische Kulturministerium hat einen Forschungswettbewerb ausgeschrieben über „Technologien der Russlandphobie“.

    Leider sind dabei auch die Antworten schon vorgegeben, bedauert Olga Filina in ihrem Beitrag auf Kommersant-Ogonjok – und analysiert Karriere und Wirkung des Begriffs „Russlandphobie“.

    Bild © gemeinfrei
    Bild © gemeinfrei

    Der sowjetische Soziologe Boris Porschnew bemerkte bereits Mitte des 20. Jahrhunderts, mit der Entdeckung des „Feindbilds“ habe die Menschheit einen großen Fund gemacht: Es habe ihre Evolution vorangebracht. Der Durchbruch zum Menschsein sei nämlich erst möglich geworden, indem die Neandertaler zu „den Anderen“, zu „Feinden“ gemacht und dadurch die Konkurrenz vom Antlitz der Erde verdrängt wurde.

    Wie weit diese Hypothese stimmt, ist unbekannt, in der politischen Theorie und Praxis Russlands aber wurde auf die Ausformung eines Feindbildes immer großen Wert gelegt. Nach dem vertrauten Schema: Willst du einen Sprung in die Zukunft tun, finde heraus, wer deine „Feinde“ sind, und dann handle ihnen zum Schaden.    

    Das Kulturministerium als das Amt, das sich um die kulturellen Codes der Nation kümmern soll, erspürte feinfühlig diesen Impuls und schrieb – mit der Erklärung, es reife „nachweislich eine historische Etappe der nationalen Wiedergeburt Russlands heran“ – einen staatlichen Forschungsauftrag zur Erkundung russlandfeindlicher Stimmungen im Land und in der Welt aus. Konkret: Im Internet läuft auf der Plattform für öffentliche Staatsaufträge ein mit 1,9 Millionen Rubel [etwa 27.000 Euro] dotierter Wettbewerb für wissenschaftliche Forschungsarbeiten zum Thema: „Technologien der kulturellen Entrussifizierung (Russlandphobie) und staatlich-institutionelle Reaktionsmöglichkeiten auf diese Herausforderung“. Wer gern Licht in diese wichtige Staatsangelegenheit bringen möchte, ist dazu aufgerufen, bis zum 25. Juli seine Bewerbung einzureichen.

    Und zu tun gibt es viel: Gefordert ist, „Genese und Grundlagen von Phobien offenzulegen“, „das Phänomen der Russlandphobie im Kontext weltweiter Phobiensysteme zu beleuchten“, „Strategeme und Praktiken der Russlandphobie in der Staatspolitik der geopolitischen Gegner Russlands zu rekonstruieren“, „empirisches Material zur innerrussischen Auffächerung der Russlandfeindlichkeit zu systematisieren (Smerdjakowschtschina, Fünfte Kolonne)“ und natürlich verschiedene Analysen am gewonnenen Material vorzunehmen – Problemanalysen, Faktorenanalysen – mit dem Ziel, „praktische Empfehlungen“ zu erarbeiten. Die Zeit drängt (offenbar reift die Wiedergeburt Russlands recht schnell heran), daher erwartet das Ministerium den fertigen Bericht schon im Oktober.

    Offenbar reift die Wiedergeburt Russlands recht schnell heran

    Liest man die Präambel der Aufgabenstellung des Kulturministeriums, so stellt man fest: Hier hat man eine Sammlung bekannter Statements russischer Politiker und Beamter der letzten Monate vor sich, die mit abgehobenen wissenschaftlichen Formulierungen noch künstlich aufgeblasen ist.
    Die Verfasser der Präambel haben sich offensichtlich an Putins Rede beim Treffen des Waldai-Klubs orientiert. Dort warf er die Frage auf nach „der pauschalen Abstempelung [Russlands] und dem Aufbau eines Feindbildes […] durch die Regierungen von Ländern, in denen man doch eigentlich immer den Wert der Redefreiheit predigte“.

    So wie der Präsident die Frage stellte, wirft sie keine Zweifel auf – es ist, wie’s eben ist. Aber danach begannen die schöpferischen Deutungen von Leuten aus dem Staatsapparat oder seiner Nähe, die alle noch ihr eigenes besonderes Scherflein beitragen wollten.

    Bald zeigte sich, dass fast jedes Ministerium und jede Behörde Russlands eine eigene Meinung zum Phänomen der Russophobie und zu deren „Genese und Grundlagen“ hat.

    Ein praktischer Terminus, den sich jeder zurechtbiegen kann

    Zum Beispiel meint das Verteidigungsministerium in seiner geradlinigen Art, hier offiziell vertreten von Igor Konaschenkow, alles liege an der kranken Psyche der US-Militärführung, die sei nämlich in eine „russophobe Hysterie“ verfallen.

    Das Außenministerium in der Person von Maria Sacharowa sieht hinter den aktuellen Entwicklungen pragmatische Interessen: „Russophobie bringt gute Geschäfte, die NATO erhöht ja ihr Budget“.

    Das Kulturministerium, konkret sein Chef Wladimir Medinski, hat bereits mehrmals geäußert, die Wurzeln der Russophobie lägen in einem Wertekonflikt zwischen Russland und dem Westen.

    Schließlich treibt die Staatsduma (insbesondere Alexej Puschkow, Vorsitzender des außenpolitischen Komitees der scheidenden Parlamentsmitglieder) die Idee voran, Russophobie „wandle sich von einer Stimmung zu einer politischen Haltung“ und sei im Grunde ein Instrument zur geopolitischen Einflussnahme.

    Kurz, Russophobie entpuppt sich als einer dieser praktischen Termini, die sich jeder nach seinem Geschmack zurechtbiegen kann, ohne gegen die allgemeine Linie zu verstoßen.  

    Russlandphobie als „clash of civilisations“

    Die Aufgabenstellung des Kulturministeriums hebt die Messlatte der Diskussion nun auf ein neues Niveau, indem sie eine Unterscheidung der Begriffe „Russophobie“ und „Russlandphobie“ fordert. Russophobie wird dabei als etwas Privates und ethnisch Geprägtes gehandelt, Russlandphobie hingegen wörtlich als „Ergebnis des Aufeinanderprallens historischer Projekte, in Huntingtons Terminologie – eines clash of civilisations“. Damit ist Russlandphobie weniger eine Aversion gegen die Russen als gegen die „russische Zivilisation“, die wir ja irgendwie inzwischen auch „russische Welt“ nennen.

    Zum Thema Russlandphobie hat bisher niemand von hohen Tribünen herab etwas verlauten lassen. Insofern kann man die Ausschreibung des Kulturministeriums auch als Auftrag verstehen, den neuen Terminus in den öffentlichen Diskurs einzuführen, ihm eine „wissenschaftliche Grundlage“ zu geben.

    Für diese These spricht, dass die Behörde so klug war, gleich in der Aufgabenstellung der Untersuchung alle notwendigen Ergebnisse vorzugeben (von der Unterscheidung russen- und russlandfeindlicher Stimmungen bis zur Feststellung, die letzteren seien weit verbreitet). Die Forscher müssen für diese Befunde nurmehr das nötige Fundament finden – wofür dann die vorgesehenen drei Monate auch wirklich reichen.  

    Einerseits ist bedauerlich, dass unsere kultivierteste Behörde an einer profunden Analyse der politischen Antipathien, die in der modernen Welt Konflikte und Spannungen schüren, nicht interessiert ist. Andererseits wirkt der Versuch, die Existenz einer besonderen russischen Zivilisation, eines „russischen Projektes“, anhand von „feindlichen Angriffen“ zu beweisen, insgesamt apart. Nach der Menge an russlandfeindlichen Äußerungen zu urteilen, die allein die Ausschreibung dieses öffentlichen Auftrages hervorrief, kann man sagen: Der Streich ist gelungen.  

    Vielleicht diente all das auch nur einem einzigen Zweck: einen Versuchsballon zu starten. Nach Kenntnis von Kommersant-Ogonjok jedenfalls mussten Forscher, die an der Ausführung des Auftrags interessiert waren, vergangene Woche feststellen: Mit der Annahme ihrer Bewerbungen hatte es niemand eilig. Zudem kann der Wettbewerb auch weiterhin noch abgesagt werden. Durchaus möglich, dass das Kulturministerium ein kleines soziales Experiment durchführen wollte, indem es eben einmal einen neuen Begriff ins Spiel brachte – einfach um zu sehen, ob er sich durchsetzen wird, ob er angenommen wird …

    Systematisierung von Phobien

    Auf den ersten Blick könnte das Wort „Russlandphobie“, so abstrus es klingen mag, durchaus ein nützlicher Begriff sein. Es könnte sich weit größerer Nachfrage erfreuen als zum Beispiel das Konzept des „Russländers“, das schon der erste Präsident des Landes erfolglos propagierte.

    Um jemanden als „Russländer“ zu bezeichnen, muss man sicher sein, dass ein Phänomen wie die Staatlichkeit Russlands eine reale, einende Kraft ist. Für die Bezeichnung einer Person als „russlandfeindlich“ hingegen genügt die Annahme, die Welt werde von irrationalen Phobien regiert und Russland betreibe sein eigenes, von der feindlichen (oder zumindest ahnungslosen) Welt losgelöstes, zivilisatorisches Projekt. Letzteres ist uns schon immer leichter gefallen als Ersteres.  

    Die zivilisatorische Komponente des Begriffs „Russlandphobie“ ist nicht unproblematisch. Auch wenn das Kulturministerium klarstellt, dass „derzeit zwischen dem Antikommunismus der Sowjetzeit und der Russlandphobie ein Unterschied gemacht“ wird, beschwört die Aufgliederung in Russen- und Russlandphobie Ideologeme des Kalten Krieges herauf. Sie erlauben es, mit dem einfachen Volk aus dem feindlichen Lager mitzufühlen und das kapitalistische oder sowjetische System, das dieses Volk unterdrückte, zu hassen. Anders gesagt, im Rahmen des Konzepts der Russlandphobie wird angenommen, die Ausländer kämpften nicht gegen die Russen, sondern gegen das russische System. Analog widersetzen wir Russen uns dann nicht „den Pindossy“, sondern ihrer dümmlichen Zivilisation, der wir als Alternative unsere russische Welt entgegenhalten. In gewissem Sinne verleiht das der Polemik, die sich zielstrebig auf das Niveau eines ethnisch motivierten Dorfplatz-Geschimpfes herabbegeben hatte, sogar Kultur.

    Doch während Russo- und Amerikanophobe genug Futter haben – Stereotype nämlich – müssen sich Kontrahenten der russischen Zivilisation erst überlegen, wogegen sie eigentlich Widerstand leisten. Weil die Russen ihr Projekt bisher nicht mal selbst ordentlich definiert haben.

    Auch der Westen entlehnt seine Rhetorik dem Kalten Krieg

    Übrigens versteht auch die ausländische Öffentlichkeit nur mit Mühe, wogegen sie auftritt. In den Reden westlicher Scharfmacher fließen auf wundersame Weise eine dem Kalten Krieg entlehnte Rhetorik, Bilder der tatarisch-mongolischen Invasion und Vorahnungen einer geopolitischen Katastrophe ineinander, zu der die Aktionen Russlands angeblich führen werden.   

    „Ein wichtiger Schluss, den man aus den aktuellen Aussagen westlicher Politiker ziehen kann, ist für uns beruhigend: Das bunte Spektrum an – wie es so schön heißt – ‚russlandfeindlichen‘ Äußerungen ist eher ‚auf den Verkaufserfolg‘ angelegt als zur Mobilisierung der Bevölkerung“, meint Oleg Matweitschew, Philosophieprofessor an der Higher School of Economics. „Das lässt sich leicht beweisen. Wenn ein Feindbild zur Vorbereitung auf eine offene Konfrontation benutzt wird, bemüht man sich immer, den Feind als erbärmlich, entmenschlicht und perspektivlos, letztlich als unbedeutend darzustellen, um das Volk davon zu überzeugen, dass man mit ihm leicht fertig wird. Von Russland spricht man anders: Nicht von einem erbärmlichen Land, sondern von einem furchterregenden, das seine eigenen Vorstellungen von der Zukunft hat. Solche einschüchternden Bilder paralysieren die Bereitschaft der örtlichen Bevölkerung, gegen den Feind zu kämpfen, dafür erhöhen sie ihre Bereitschaft, den Militäretat aufzustocken. Die kommerzielle Bedeutung der Russlandphobie ist bisher also viel höher als die militärische.“

    Wir bleiben bei der vorgegebenen Richtung, bis auf Weiteres …

    Was eigentlich auch nicht nett ist: Russland wird zur Handelsware, den Gewinn stecken sich aber die anderen ein … Na, immerhin ist das rational erklärbar.

    Und noch etwas ist rational erklärbar: Einfacher, als sich schädlichen Phobien entgegenzustemmen, ist es, sie zu überwinden. Zumal Rezepte dafür auch ohne Ausschreibungen für Forschungsprojekte zugänglich sind, kostenlos.      

    „Die ‚praktischen Empfehlungen zur proaktiven Bekämpfung der Russlandphobie‘, die das Kulturministerium zu bekommen hofft, sind auch so bekannt“, wundert sich Jelena Schestopal, Lehrstuhlinhaberin für Soziologie und Psychologie der Politik an der politikwissenschaftlichen Faktultät der Moskauer Staatlichen Universität. „Das Rezept ist da immer dasselbe: Mehr Kontakt. Damit die Menschen sich nicht gegenseitig dämonisieren, müssen sie miteinander reden: Wir müssen zu ihnen fahren, sie zu uns, das wissenschaftliche und kulturelle Leben muss gemeinsam stattfinden … Und umgekehrt: Je mehr wir uns mit Phobien voneinander abgrenzen, desto fremder werden wir einander.“

    Doch eine so simple Wende in der Auslegung der allgemeinen Linie sieht offenbar keine der amtlichen Interpretationen vor. Wir bleiben also bei der vorgegebenen Richtung. Bis wir neue Vorgaben bekommen …

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    Krasser Cocktail

  • Krasser Cocktail

    Im November tagte in der russischen Hauptstadt das „Weltkonzil des russischen Volkes“, ein Gremium von hochgestellten Vertretern aus Kirche, Politik und Wissenschaft. Kommersant-Ogonjok hat verfolgt, wie verschiedenste Stränge der russischen Geistesgeschichte zu einer neuen nationalen Idee des russischen Sonderwegs verflochten werden.

    Russland droht immer häufiger damit, einen Sonderweg einzuschlagen, macht sich aber nicht die Mühe, den Streckenverlauf dieses Weges näher zu definieren. Vergangene Woche nun ging es in puncto Formulierungen und Definitionen richtig zur Sache, und zwar beim XIX. Weltkonzil des russischen Volkes, das unsere politische Sprache um manche neue Begrifflichkeit bereichert hat.

    Die Experten des geschätzten Forums, das in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale tagte (neben geistlichen waren auch gänzlich weltliche Personen anwesend – von der Abgeordneten Irina Jarowaja bis zum Rektor der Moskauer Lomonossow-Universität Viktor Sadownitschi), erörterten gemeinsam das komplexe Thema Das Erbe Fürst Wladimirs und das Schicksal der historischen Rus. Im Laufe des Meinungsaustauschs zeigte sich eine völlige Übereinstimmung in den wesentlichen weltanschaulichen Positionen. Zusammen ergeben diese Positionen eine (aus Sicht der Veranstaltungsteilnehmer) durchaus organische Mixtur aus ideologischen und verhaltensbestimmenden Einstellungen. Hier die zentralen Punkte:

    – Russland soll keine Zivilgesellschaft, sondern eine „Solidargesellschaft“ sein.

    – Die Spaltung in links und rechts ist zu überwinden in der besonderen Ideologie eines „sozialen Monarchismus“, die nur unserer Zivilisation eigen ist.

    – Die Initiative orientiert sich nicht an fremden Werten (etwa einem „demokratischen Europa“), sondern an ureigenen, althergebrachten: Wir sind aufgerufen, ein „großmächtiges Russland“ zu errichten.

    Mit anderen Worten, die „souveräne Demokratie“ wird von einem neuen Ideologem abgelöst: dem „sozialen Monarchismus“. Dieser krasse Cocktail stößt unter Fachleuten auf unterschiedliche Reaktionen.

    „Natürlich ist die mangelnde Originalität unserer sämtlichen Sonderweg-Ideologen deprimierend“, meint Alexej Malaschenko, Leiter des Programms Religion, Gesellschaft und Sicherheit am Moskauer Carnegie-Zentrum. „Wir haben es mit Doubletten westlicher Vorlagen zu tun, ohne jeden Versuch einer Reflexion: Dort bei denen sieht die Gesellschaft so und so aus, und bei uns soll es so und so sein – Hauptsache, alles andersrum. Die Sonderwegler sind in erster Linie darauf aus, sich von allem Westlichen abzustoßen, und zum Abstoßen wird wahllos alles benutzt, was in unserer Kultur verfügbar ist: So erscheint Nikolaj Berdjajew plötzlich in enger Verbindung mit Iwan Iljin, der Sozialismus wird zum Synonym für Monarchismus und so weiter. Paradoxerweise muss man für die Konstruktion der eigenen Besonderheit den Reichtum der Kultur mit ihren verschiedenen Facetten opfern und sie über den Staatskamm scheren.”

    Irina Sandomirskaja, Professorin am Zentrum für baltische und osteuropäische Studien der schwedischen Södertörn University, hat darauf hingewiesen, dass die Themen Sonderweg und Russentum in der politischen Rhetorik des Landes in regelmäßigen Abständen auftauchen, und zwar stets begleitet von leidenschaftlichen Wortschöpfungen und plakativer Abneigung gegenüber Europa. Am Anfang gibt es Versuche, „wissenschaftlich“ zu formulieren und zu begründen, warum wir besser sind als alle anderen. Dann wird die „wissenschaftliche“ Basis durch eine emotionale Komponente untermauert, nämlich durch die Behauptung, die „Besonderheit“ des Vaterlandes werde von westlichen Feinden bedroht. Und schon sind wir bei der Heimat, die „immerfort ruft“ und dem Vaterland, das „immerfort in Gefahr“ ist.

    Als einer der ersten Begründer der weltlichen Vaterlandsreligion gilt in der Wissenschaft Alexander Schischkow, Held puschkinscher Epigramme und Staatssekretär, der das Primat staatlicher vor privaten Interessen begründete und die Notwendigkeit formulierte, den „verlogenen Gesinnungen“ des Westens zu trotzen (es sei bemerkt, dass Schischkow selbst Europa liebte und seine Kartenspielgewinne in Reisen nach Florenz und Rom investierte). In eine vollendete Formel gegossen wurden diese Ansätze in der Uwarowschen Theorie der offiziellen Volkstümlichkeit, die von den russischen Sonderweglern bis heute verehrt wird: Orthodoxie, Selbstherrschaft, Volkstümlichkeit. Wie der Historiker Sergej Solowjow bemerkte, ersann Graf Uwarow „als Gottloser die Orthodoxie, als Liberaler die Selbstherrschaft und als einer, der in seinem Leben kein einziges russisches Buch gelesen hatte und andauernd auf Französisch und Deutsch schrieb, die Volkstümlichkeit“[1]. Insofern gebührt dem Verfasser der „offiziellen Volkstümlichkeit“, der ebenso gekonnt wie zynisch den Staatsauftrag einer „besonderen Ideologie“ erfüllte, wohl der Titel des ersten russischen Polittechnologen.

    Heute beobachten wir im Konzept des „sozialen Monarchismus“ die Präsentation einer modernen Version dieser Ideologie, die wie ein Versuch wirkt, Russland mit seiner eigenen Vergangenheit auszusöhnen: Der Zar, heißt es, ist heilig und auch die KPdSU – die Architektin der Industrialisierung und des Großen Sieges. Schon finden entsprechende Ausstellungen statt, die alle mit allem versöhnen, es ertönen offizielle Reden. Und immer öfter der Refrain: Von außen kann man uns gar nichts – die Hauptbedrohung für unser Land sind innere Wirren, die die Einheit zerstören. Da möchte man fragen: Wartet das Glück, wenn wir die erstmal im Griff haben?

    Unterdessen lebt das Land, in dem alles in eins zusammengerührt wird, weiterhin in leichter Schizophrenie durch ständiges Vereinbaren des Unvereinbaren: Da wird ein genetisches Gutachten zu den sterblichen Überresten der – von den Bolschewiki gemarterten – Zarenfamilie angefertigt, gleichzeitig appelliert der Patriarch, den Blick zu richten auf die „Schönheit der Heldentaten unseres Volkes in den 20er, 30er und 40er Jahren“, und auf der Internetseite der Metropole Nowosibirsk ist ein rätselhafter Text über das „Rote Imperium“ zu lesen, das eine „neue, sonnige Zivilisation“ geschaffen habe, eine „Gesellschaft des Schöpfertums und des Dienens“, auf die der Westen das Dritte Reich „gehetzt“ habe …

    Es sind übrigens nicht viele, die sich an derartigen Widersprüchen stören. Die Vertreter der „orthodoxen Mehrheit“ (auch diese Wortverbindung war vergangene Woche aus dem Mund des Erzpriesters Wsewolod Tschaplin zu hören) sind ob der gewonnenen Klarheit sogar nahezu euphorisch gestimmt. In der Staatsduma wurde in erster Lesung bereits ein Gesetzesentwurf gebilligt, dem zufolge religiöse Organisationen, die finanzielle Mittel aus dem Ausland erhalten, einer schärferen Kontrolle unterzogen werden sollen, und auf mehreren Fernsehkanälen wurden Beiträge ausgestrahlt, die zur Wachsamkeit bei der Begegnung mit „Sektierern“ aufriefen, wobei als „Sektierer“ Vertreter der anerkannten protestantischen Kirchen gezeigt wurden.

    „Die politische Religion ist unsere neue Realität, die wenig gemein hat mit dem orthodoxen Glauben“, erklärt Boris Knorre, Religionswissenschaftler und Dozent an der Higher School of Economics. „Die Kirche wird zum Treibriemen in der Staatsmaschinerie, wie es im Großen und Ganzen bereits 1993 beabsichtigt war, als das Weltkonzil des russischen Volkes unter Beteiligung von Vizepräsident Alexander Ruzkoi ins Leben gerufen wurde, um die Staatsideologie zu stärken. Doch alle diese Spiele sind äußerst riskant: Wir haben erreicht, dass der Fundamentalismus salonfähig geworden ist.“


    1.Die eindeutige Einschätzung von Sergej Solowjow, der Sergej Uwarow persönlich gut kannte, wird oft in Frage gestellt. Andrej Subow, Professor der Moskauer Universität für Internationale Beziehungen, merkt in einem Aufsatz an, dass Solowjew Uwarow gegenüber gehässig und äußerst unobjektiv gewesen sei, was wahrscheinlich persönliche Gründe hatte. – dek

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