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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Landlust auf Russisch

    Landlust auf Russisch

    Öko und Abgeschiedenheit, das gehört für sie zusammen, wobei meist auch eine Prise Esoterik dazukommt: Die ersten sogenannten Ökodörfer entstanden in Russland in den 1990er Jahren. Oftmals versuchten Menschen aus den Städten dort ein Leben abseits der offiziellen Strukturen.

    Soziologen erklären den damaligen Boom damit, dass nach der Perestroika die alten Sicherheiten fehlten, gleichzeitig habe es vermehrt Nachrichten über Kommunen und alternative Lebensformen aus dem Ausland gegeben. Auch der Zugang zur einheimischen esoterischen Literatur sei nun viel einfacher gewesen. Eine zweite Welle gab es in den 2000er Jahren, inspiriert durch die esoterische Romanfigur Anastasia.

    Russlands Ökodörfer bestehen bis heute – und es gibt auch Neugründungen. Olga Dimitrijewa hat für Zapovednik einige besucht. Und traf dabei nicht nur auf Anastasianer und Eskapisten.

    Zuhause auf dem Land: Die Geschichte der Taiga-Bewohnerin Anastasia inspirierte die Ökodorf-Bewegung – Fotos © Alexandra Karelina/Zapovednik
    Zuhause auf dem Land: Die Geschichte der Taiga-Bewohnerin Anastasia inspirierte die Ökodorf-Bewegung – Fotos © Alexandra Karelina/Zapovednik

    Die 1970er Jahre markieren in der UdSSR eine Zeit des Stillstands. Der 24-jährige Wladimir Pusakow, zukünftiger Begründer eines bekannten russischen Ökodorfs, siedelt in dieser Zeit aus der Ukrainischen Sowjetrepublik nach Nowosibirsk über. Er heiratet und heißt trotz späterer Scheidung von nun an Megre. 20 Jahre später verdient Megre sein Geld mit der Organisation von Flusskreuzfahrten auf dem Ob. Während einer seiner Reisen begegnet er in der Taiga der Einsiedlerin Anastasia. Sein erstes Buch über sie erscheint 1996.

    Die Handlung ist schnell erzählt: Anastasia, eine Frau von unglaublicher Schönheit, besitzt okkulte und paranormale Fähigkeiten, lebt alleine in der sibirischen Taiga, kommt ohne Heim und Kleidung aus, lehnt alle zivilisatorischen Errungenschaften ab, ernährt sich von Wurzeln und Beeren, die Eichhörnchen für sie sammeln, ist per du mit Bären und Wölfen, und wenn sie nicht gerade mit der Natur kommuniziert, dann bringt sie den Datschniki den richtigen Umgang mit Pflanzen bei (indem sie ihre Ratschläge per Telepathie übermittelt).

    Megres Gegner haben mehr als einmal versucht, Anastasia als eine fiktive Figur zu entlarven, auch der Autor selbst hat das thematisiert. Aber die Fans der Einsiedlerin schreckt das nicht. „Ich existiere für die, für die ich existiere“, so lautet der Slogan auf dem Umschlag des ersten Bandes der Anastasia-Serie Die klingenden Zedern. Die Geschichte der Taiga-Bewohnerin inspiriert die zweite Welle der Ökodorf-Bewegung in Russland Anfang der 2000er Jahre.

    Das Ökodorf als „ein Versuch, das Leben anders zu organisieren“
    Das Ökodorf als „ein Versuch, das Leben anders zu organisieren“

    Wie viele Ökodörfer es in Russland heute gibt, ist nicht bekannt. 2012 schätzte ZIRKON die Zahl auf circa 200, 60 Prozent davon zählen die Forscher zu den sogenannten Familienlandsitzen der Anastasianer [Posselenija rodowych pomesti – PRP]. Vier Jahre später spricht die Stiftung Anastasia von 364 existierenden Familienlandsitzen unterschiedlicher Größe. Die Internetseite poselenia.ru zählt 449 Dörfer, die meisten davon ebenfalls Familienlandsitze, wobei diese Statistik auch Siedlungen im Ausland einschließt. Demnach lebten im vergangenen Jahr 5000 Menschen ständig, auch im Winter, in Ökodörfern.

    Neben den Anastasianern nennt die ZIRKON-Studie ein ganzes Spektrum von alternativen Siedlungen, die sich als Ökodörfer ohne spezifische Glaubensausrichtung beschreiben lassen. Diese Siedlungen wurden zum einen gegründet, um einen ökologisch reinen Lebensraum zu schaffen, zum anderen sind sie Ideengemeinschaften (das heißt, Gemeinschaften, die bewusst auf ein enges Zusammenwirken ausgelegt sind).

    Von der Stadt aufs Feld

    Ziel des ZIRKON-Projekts ist es, alle bestehenden Formen von Ökodörfern zu beschreiben. Artemi Posanenko, Analytiker vom Projekt- und Lehrlabor der Stadtverwaltung an der Moskauer Higher School of Economics (HSE), hat sich dagegen vor allem mit den Familienlandsitzen beschäftigt. „Anfangs interessierte mich das Thema der räumlichen Isolation. Ich war schon immer von der Einöde fasziniert, habe mich immer gern in die entlegensten Winkel verdrückt.“

    Artemi Posanenko und ich unterhalten uns mitten im Zentrum von Moskau, in der Wyschka [wie die Hochschule inoffiziell genannt wird – dek]. „Dann war ich plötzlich mit Selbstisolation konfrontiert. Und wollte Gemeinschaften, die unfreiwillig von der Außenwelt abgeschnitten wurden, mit solchen vergleichen, die die Isolation bewusst anstreben.“

    Der Soziologe sagt, die Menschen, die er beobachtet, kämen aus der Stadt, seien verhältnismäßig jung (im Schnitt 35 bis 45), hätten studiert und nicht selten Erfahrung in der Unternehmensführung. Allerdings, so fügt er hinzu, hätten die Umsiedler meist keinen geisteswissenschaftlichen Hintergrund, sondern einen technischen oder naturwissenschaftlichen. Damit ließe sich auch ihre Neigung zu esoterischer Literatur erklären, die „Antworten auf alle Fragen bietet“. Bereits dieses grobe Porträt der neuen Dörfler lässt erahnen, dass sie an das Leben auf dem Land zunächst eher wenig angepasst sind.

    Einer der Schlüsselgedanken in Megres Anastasia-Büchern ist die Idee der Selbstversorgung. „Auf dem Land angekommen, säen die Städter das Saatgut auf ihrem Grundstück so aus, wie Anastasia es in Megres Büchern lehrt: Sie behalten es zunächst eine Weile im Mund, setzen es in die ungepflügte Erde und kümmern sich nicht weiter um die Pflanzen“, heißt es im Bericht des ZIRKON. „Und dann stellen sie fest, dass die Saat nicht aufgeht.“

    Sie säen das Saatgut so aus, wie Anastasia es in Megres Büchern lehrt. Und dann stellen sie fest, dass die Saat nicht aufgeht

    Enttäuscht von Anastasias Ratschlägen, wenden sich die Umsiedler anderen alternativen Formen der Bewirtschaftung zu. Zum Beispiel der Permakultur, einem Landwirtschaftssystem, das auf den Wechselwirkungen der natürlichen Ökosysteme beruht.

    „Es gibt sehr viele, die damit experimentieren, aber nennenswerte Ergebnisse erzielen sie nicht“, berichtet Posanenko. „Obwohl manche eine ganz anständige Ernte haben. Aber während sich in den ländlichen Gebieten die echten Dörfler, nicht die Zugezogenen, mehr oder weniger das ganze Jahr über mit ihren eigenen Garten-Erträgen versorgen können, sind in den neuen Dörfern meist alle Lebensmittel bis zum Jahresende aufgebraucht und müssen dann eingekauft werden.“

    Zwischen Stadt und Land

    Stepan lebt auf dem Familienlandsitz Shiwoi Rodnik [dt. Lebendiger Quell] im Bezirk Abinsk der Region Krasnodar. Die Geschichte seiner Umsiedlung ist recht typisch: junger Fachmann, Ingenieur, Veganer. Mit etwa 25 Jahren begannen seine Frau und er, sich Gedanken über Kinder und Gesundheit zu machen. Sie wollten aus der Stadt raus, aber „auf dem Land gibts ja auch solche und solche – die einen trinken, die anderen sonst was. Ob das die richtige Umgebung für Kinder ist …“ Schließlich fanden sie eine Siedlung, kauften ein Haus von einer Familie, die mit den Strapazen des Landlebens nicht zurechtkam, und zogen um.

    Die Geschichte von Stepans Umsiedlung ist recht typisch: junger Fachmann, Ingenieur, Veganer

    Jetzt hat Stepan zwei Kinder. Seine Frau und er kümmern sich um ihr Grundstück und führen ein kleines Unternehmen: „Honig und noch ein paar ökologisch produzierte Lebensmittel. Gewürze – einen Teil bauen wir selbst an, einen Teil kaufen wir ein. Manchmal stellen wir eigene Gewürzmischungen her, sowas wie Chmeli-Suneli oder Curry. Weil das Industrie-Zeug aus minderwertigem Müll gemacht wird. Das hat nicht das Aroma, das es haben sollte.“

    Den Honig und die Gewürze vertreibt Stepan über eine Gruppe in VKontakte. Viele Kunden hat er nicht, aber dafür sind es Stammkunden, die große Chargen einkaufen. [ZIRKON-Forscherin] Darja Malzewa räumt ein, dass es bei Weitem nicht allen gelingt, ein lokales Business aufzubauen, oder aber es läuft nicht besonders erfolgreich.

    Stepan lebt auf dem Familienlandsitz Shiwoi Rodnik in der Region Krasnodar
    Stepan lebt auf dem Familienlandsitz Shiwoi Rodnik in der Region Krasnodar

    Artemi Posanenko erklärt, wovon die Bewohner der Familienlandsitze meistens leben: Es gibt Privatiers, die Wohnungen in der Stadt vermieten, Saisonarbeiter, ein paar Rentner. Unternehmer, die ein Geschäft unabhängig von der Siedlung haben. Lohnarbeiter, die in Nachbarorte pendeln. Manche leben von Erspartem, das sie vor der Umsiedlung aufs Land auf die Seite gelegt haben. „Die Privatiers und Unternehmer sind die größte Gruppe“, sagt Posanenko, „Solche, die es schaffen, dort Geld zu verdienen, wo sie leben, wenigstens ansatzweise, gibt es bisher nur wenige.“

    Innerhalb der Siedlung haben die Menschen vielleicht ein kleines Sägewerk, eine Schmiede, stellen Bioprodukte her. Manche versuchen, den Ökotourismus für die Städter anzukurbeln.

    Eine relativ weit verbreitete Art, Geld zu verdienen, sind Seminare auf dem Land – für manche Siedler besteht also die Haupteinnahmequelle darin, Vorträge darüber zu halten, wie man ein Ökodorf aufbaut. „Ist doch witzig – sie erzählen den Menschen: Ihr werdet dort damit Geld verdienen, dass ihr erzählt, wie ihr damit Geld verdient“, sagt Posanenko.

    Haupteinnahmequelle mancher Siedler ist es, Vorträge darüber zu halten, wie man ein Ökodorf aufbaut. Sie erzählen den Menschen: Ihr werdet damit Geld verdienen, dass ihr erzählt, wie ihr damit Geld verdient

    Dorfbewohner Stepan gibt zu, dass er sein Geld vor der Umsiedlung verdient habe – vom „Kohlescheffeln“ hat er die Nase voll.

    „Wenn jemand aus der Stadt in eine Lehmhütte mitten auf freiem Feld zieht, dann macht das natürlich etwas mit seinem sozialen Status. Aber sie haben nicht das Gefühl, etwas zu verlieren, sondern etwas dazuzugewinnen“, sagt Darja Malzewa. „Doch man muss auch bedenken, dass die Menschen dazu neigen, ihre Entscheidungen zu rechtfertigen. Zum Beispiel hörte ich einmal von zwei Bewohnern, dass sie ein Geschäft hatten, und alles sei gut gewesen, aber irgendwann hätten sie einfach keine Lust mehr gehabt. Dann kam die Tochter zu Besuch und erzählte mir, das Geschäft sei nicht gut gelaufen, es ging bergab, und deshalb seien sie weggegangen.“

    Partei der Abschotter

    Eines der Merkmale, das die Ökodörfer von anderen Ortschaften in Russland unterscheidet, ist die geringe Einbindung in offizielle Strukturen. Ursprünglich waren die meisten Ökodörfer als ein Raum angelegt, der außerhalb der staatlichen Einflusssphären existiert. Als ZIRKON 2011 seine Studie zur Ökodorfbewegung plante, sahen die Wissenschaftler in dem Phänomen zunächst eine Form von Eskapismus. Doch tatsächlich können und wollen sich die neuen Dörfler gar nicht immer von der Gesellschaft abschotten.

    Wir hatten angenommen, diese Menschen seien auf Isolation aus. Aber als wir dann zu forschen begannen, wurde deutlich, dass es einfach ein Versuch ist, das Leben anders zu organisieren

    „Manche schließen sich nicht ans Stromnetz an, sondern stellen Solarbatterien auf. Schulen sollen aufgebaut werden, damit die Kinder nicht mit dem offiziellen Bildungssystem in Berührung kommen“, sagt Artemi Posanenko. Damit sind die örtlichen Behörden nicht immer einverstanden. Noch weniger gefällt ihnen die Zweckentfremdung der Flächen. Für die Siedlungen wird Boden erworben oder gepachtet, der eigentlich für die landwirtschaftliche Nutzung vorgesehen ist – er ist am günstigsten zu kaufen und am niedrigsten besteuert, und offiziell gilt er nicht als Bauland.

    Doch der Kontakt mit staatlichen Strukturen geht nicht immer nur von den Behörden aus. So gründete eine Gruppe von Familienlandsitz-Bewohnern eine eigene politische Partei.

    „Es sieht völlig anders aus als ein normales Dorf – überall seltsame Bauten“
    „Es sieht völlig anders aus als ein normales Dorf – überall seltsame Bauten“

    „Die Rodnaja Partija ist eine beim Justizministerium eingetragene Partei“, sagt Posanenko. „Das sorgt für große Konflikte innerhalb der Siedlungen, denn sie bleiben nicht einfach nur im System (obwohl das für sie so ein Schimpfwort ist), sondern klinken sich auch noch aktiv ins politische System ein. Manche werben eifrig: Kommt, tretet ein, zahlt Beiträge. Die anderen finden das ganz schlimm.“

    „Anfangs trug unsere Studie den Titel Ökodörfer als Form der Binnen-Emigration“, sagt Darja Malzewa. „Das heißt, wir hatten angenommen, diese Menschen seien auf Isolation aus. Aber als wir dann zu forschen begannen, wurde deutlich, dass das kein ‚Weggang‘, sondern ein ‚Übergang‘ hin zu einer anderen Daseinsform ist. Einfach ein Versuch, das Leben anders zu organisieren.“

    Das neue Dorf

    Das Ökodorf Kowtscheg [dt. Arche] wurde Anfang der 2000er Jahre auf Brachland erbaut. Dann brauchten sie sieben Jahre, um „sich ins System einzugliedern“, und 2009 erhielt Kowtscheg den offiziellen Status eines Dorfes. Aber, so Artemi Posanenko, ein gewöhnliches Dorf ist Kowtscheg trotzdem nicht geworden. Artemi zeigt mir Satellitenansichten der Siedlung: „Es sieht völlig anders aus als ein normales Dorf. Da, überall seltsame Bauten, verstreut in wuchernden Feldern. Ganz unverwechselbar.“

    Sie haben ihre eigene Weltsicht, eine eigene Schule. Formal ist es ein Dorf, aber ansonsten hat es nichts mit einem gewöhnlichen Dorf zu tun

    Posanenko betont, dass es nicht nur optische Unterschiede gibt: „Sie haben ihre eigene Weltsicht, eine eigene Schule, sie versuchen die Kinder zu Hause zu erziehen, unabhängig vom offiziellen Bildungssystem. Es gibt kollektive Veranstaltungen. Forstschutz. Tage der offenen Tür, Vorträge, Workshops, Feste. Sie unterscheiden sich im Lebensstil, im Denken, in der Bevölkerungszusammensetzung und demografischen Struktur grundlegend von anderen Dörfern. Formal ist es ein Dorf, aber ansonsten hat es nichts mit einem gewöhnlichen Dorf zu tun.“

    Betrachtet man die Ökodörfer als eine neue Gemeindeform, so sehen die Forscher ihre Zukunft in Russland weniger optimistisch. Nach Darja Malzewas Ansicht hängt alles davon ab, inwieweit sie bereit sein werden, auch Technik einzusetzen. „Wenn sie auf dem Stand des Archaischen stehenbleiben, verlieren sie ihre Anhänger, gewinnen keine neuen hinzu und erfahren keine Verbreitung.“

    Artemi Posanenko setzt, was die Zukunft der Ökodörfer angeht, den Akzent woanders: „Der Status, unter dem die landwirtschaftlichen Flächen bewohnt werden, ist ziemlich brüchig. Es kann jeden Moment passieren, dass sich jemand mit mehr Einfluss für dieses Land interessiert, und dann werden die Behörden Hebel finden, um die neuen Siedler zu vertreiben. Deshalb braucht es die Institutionalisierung.“

    Es kann jeden Moment passieren, dass sich jemand mit mehr Einfluss für dieses Land interessiert, und dann werden die Behörden Hebel finden, um die neuen Siedler zu vertreiben

    Die Alternativen: Entweder man strebt den Status einer Ortschaft an, wie im Fall von Kowtscheg, oder man erreicht die Verabschiedung eines Ökodorf-Gesetzes. Ein dritter Weg, den die Forscher in der Praxis bereits beobachtet haben – die Verwandlung des Ökodorfs in eine Datschensiedlung – bedeutet faktisch das Ende des Ökodorfs in seinem ursprünglichen Sinn.

    Es gibt nicht sehr viele Möglichkeiten, außerhalb des Staates zu leben: „Wenn man sich in der Taiga ansiedelt, wo es kein Öl gibt, keine Durchfahrtsstraßen und so weiter, wird sich vermutlich niemand für dieses Land interessieren, und man kann dort in aller Ruhe sein Einsiedlerleben leben. Zum Beispiel eine Siedlung im Gebiet Tscheljabinsk, in der ich war – die einzige wirklich räumlich isolierte.“ Gleichzeitig schließen die Forscher nicht aus, dass es Dörfer gibt, die die Idee der Abschottung verwirklicht und sich nicht auf den einschlägigen Internetseiten registriert haben.

    Ökodorf Shiwoi Rodnik – die Ideologie tritt oft zurück, sobald es darum geht, praktische Probleme zu lösen
    Ökodorf Shiwoi Rodnik – die Ideologie tritt oft zurück, sobald es darum geht, praktische Probleme zu lösen

    „Wenn man sie lässt, ist das für manche ein Weg. Natürlich ist es sehr unwahrscheinlich, dass er zum Mainstream wird und sich eine neue Kultur daraus entwickelt“, resümiert Posanenko. „Aber ich glaube nicht, dass diese Dörfer verschwinden werden. Es gab eine Zeit, da verdoppelte sich die Zahl der Siedler laut offiziellen Angaben einmal in drei Jahren. Dieses Tempo wird zurückgehen. Aber ich glaube nicht, dass die Spitze schon erreicht ist. Ich denke, das Phänomen wird weiter wachsen und gesellschaftlich sichtbar werden. Man wird sagen: Ja, in Russland gibt es diese Form der ländlichen Siedlungen.“

    Die Ideologie, die ursprünglich eine große Rolle im Leben der Ökodörfler eingenommen hatte, tritt oft zurück, sobald es darum geht, praktische Probleme zu lösen. Doch der Wunsch nach dem Landleben unter Gleichgesinnten bleibt: „Ich kann nicht sagen, dass ich ein Anastasianer bin oder so etwas“, sagt Stepan. „Die Zeit, als ich auf der Suche nach mir selbst war, ist eigentlich vorbei. Wir haben uns gefunden.“

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  • Liebe ist …

    Liebe ist …

    Das russische Volk steht geschlossen hinter seinem Präsidenten – dieser Eindruck jedenfalls ist weit verbreitet. Nur selten macht man sich die Mühe weiterzufragen: Was bedeuten die fantastischen Ergebnisse der Umfragen? Olga Dimitrijewa von „The New Times“ ist in eine Kleinstadt bei Nowosibirsk gefahren und hat mit Menschen gesprochen, weit entfernt vom Moskauer Politzirkus: über ihr Leben und über ihr Verhältnis zum Präsidenten, über seine Politik. Wie sich zeigt, sind nicht alle begeistert von Putin und die, die es sind, können nicht immer sagen, warum.

    … wenn das Gute wichtiger ist als das Schlechte

    Wie wohlhabend die Siedlung Listwjanka im Bezirk Iskitim im Gebiet Nowosibirsk ist, lässt sich am Zustand der Straßen ablesen. Zwei Stunden vom Flughafen in Nowosibirsk entfernt, verlassen wir die Fernstraße Nowosibirsk-Barnaul, und sofort fängt unser Auto heftig an über die Trasse zu holpern.

    „Haben Sie gemerkt? Die haben die Straße gemacht.“, sagt der einheimische Fahrer stolz.
    „Nein“, antworte ich unhöflich, aber ehrlich.
    „Die haben natürlich nur die Löcher zugemacht, nicht neu asphaltiert“, verteidigt der Taxifahrer den Straßenbaudienst.

    Offenbar stellt der Umstand, dass die Schlaglöcher nicht mehr so tief sind wie früher („Immerhin reißt es einem nicht mehr die Räder ab“) bereits einen großen Erfolg der Kommunalverwaltung dar.

    Insgesamt sind die Erfolge nicht sehr zahlreich. „Die Straße wurde neu gemacht; ein Kindergarten wurde eröffnet – jetzt müssen die Eltern ihre Kinder nicht mehr mit dem Auto sonstwohin bringen. Der Bevölkerungszuwachs ist nicht groß, aber immerhin“, fasst Karina, eine Mitarbeiterin der Dorfverwaltung, zusammen. Karina mag ihren Job, sie pendelt für ein Gehalt von 13.000 Rubeln [195 EUR] sogar aus der Nachbarsiedlung nach Listwjanka. Überhaupt ist sie zufrieden: „Wir sind für Putin, für Einiges Russland. Ich bin Mitglied von Einiges Russland, wie der Rest der Verwaltung übrigens auch, wir sind alle in der Partei. Nicht weil wir irgendwelche Prämien dafür bekommen, sondern einfach so, wir sind von uns aus eingetreten, weil wir fanden, es ist nötig.“

    Iossif Dimitrijewitsch Sudakow, ehemaliger Deputierter des Dorfrats von Listwjanka, bildet die hiesige Opposition. Ein kleiner älterer Mann mit ordentlich gestutztem weißem Bärtchen. Mehrmals ist er schon verprügelt worden. Man hat Flugblätter gegen ihn aufgehängt. Ihn vor Gericht gezerrt. Doch er sagt, das kümmert ihn nicht.

    In der Wohnung der Sudakows wird renoviert – seit zwei Jahren schon, wegen der Krise. Im kleinen Zimmer sitzt die kranke Schwiegermutter vor dem Fernseher, in dem mit voller Lautstärke der Erste Kanal läuft. Im größeren Zimmer (15 m2), dem „Saal“, wie man hier in der Gegend sagt, tischt Iossif Dimitrijewitsch mir als Korrespondentin von The New Times Anekdoten aus dem Leben eines Dorfdeputierten auf, während seine Frau Tamara Wassiljewna einen Sauerkrautkuchen serviert.

    Der Krieg an der politischen Front von Listwjanka wird vor allem gegen die Misswirtschaft geführt. „Einiges Russland schickt die Deputierten laut Listenplatz zu uns – und hinterher gehen sie nicht mal zu den Sitzungen des Dorfrats“, klagt Sudakow. Die Beamten, auf lokaler wie auf Bezirks- und Gebietsebene, haben nur ihre eigenen Interessen: „Noch im kleinsten Dorf werden Mittel veruntreut“, erklärt Iossif Dimitrijewitsch.

    Das Budget von Listwjanka ist nicht groß, 20 Millionen Rubel [300.000 EUR]. Sieben Millionen davon bringt die Siedlung selbst auf, der Rest kommt vom Bezirk und der Gebietsverwaltung. Trotzdem „bedient sich, wer kann“: Man besorgt sich irgendwo umsonst Kohle, kassiert aber Geld für Heizkosten; Arbeiter, die das Klubhaus renoviert haben, werden nicht bezahlt; wieder woanders wird Holz geklaut …“

    Probleme auf Landesebene beschäftigen die Sudakows weniger. Was die Ukraine und die Krim betrifft, ist das Ehepaar sowohl untereinander als auch mit dem Kreml einig: „Das Gebiet gehört uns“, dort wohnen Russen, die Bergwerke im Donbass wurden schließlich von Russen gebaut. Zu Syrien befragt, meint die Frau: Wir werden den Islamischen Staat besiegen, und der Ehemann meint, wenn wir früher eingegriffen hätten, hätten wir bestimmt gesiegt.

    Schließlich kommen wir auf Putin und seinen jüngsten Rekord zu sprechen – 90 Prozent Zustimmung, den Umfragen zufolge.  

    „Uns hat keiner gefragt! Ich habe es im Fernsehen gehört – 1400 Personen sind befragt worden. Ist das etwa eine Zahl für so ein Viel-Millionen-Land?“, empört sich Tamara Wassiljewna.
    „Jetzt wirst du ja gefragt! Du bist die Nummer 1401. Also, was meinst du?“, foppt Iossif Dimitrijewitsch seine Frau.
    „Ich weiß nicht. Übrigens habe ich darüber auch noch nicht nachgedacht“, kontert Tamara Wassiljewna und denkt dann kurz nach: „ Nun, was er auf internationalem Parkett macht – also nicht innenpolitisch, sondern außenpolitisch – das finde ich gut. Dass wir nicht mehr vor Europa und Amerika einknicken.“
    „Und die Innenpolitik?“, fragt Sudakow nach.
    „Nun, die Innenpolitik – also, das sind ja wir, Russland.“ Tamara Wasiljewna wirkt traurig: „Innenpolitsch gefällt mir das nicht.“
    „Höret die Stimme des Volkes!“, schließt sich Iossif Dimitrijewitsch seiner Frau an. „Sie hat vollkommen recht.“

    Die Sache mit Putins einerseits guter Außen-, andererseits schlechter Innenpolitik werde ich im Gebiet Nowosibirsk noch öfter zu hören bekommen.

    … wenn man sich in Sicherheit fühlt

    „Bei mir kam ein junger Mann zum Vorstellungsgespräch, ein Psychologe – er hat keinen Dienstrang, keine Erfahrung, sein Gehalt beträgt fünfdreiachtzig im Monat (5380 Rubel, NT) [80 EUR]. Das ist das Gehalt eines Psychologen! Vielleicht kann ich noch ein halbes Monatsgehalt eines Sozialpädagoge drauflegen, das sind dann noch einmal dreitausend-irgendwas. Zehntausend – wird er dafür arbeiten? Kann er davon leben? Ich denke mir die Gehaltsstufen nicht aus! Das ist der allgemeine Tarif im Gebiet Nowosibirsk. Wie man davon leben soll, fragen Sie?“ Die Direktorin der Dorfschule erwartet keine Antwort auf ihre Frage. Albina Nikolajewna ist eine große, laute Frau, sie spricht wie auf einer Kundgebung. Ihre Stellvertreterin Marina Wiktorowna, in deren Raum das Gespräch stattfindet, ist ruhiger, meist nickt sie nur stumm. Ab und zu schauen Lehrer zur Tür herein.

    „Wir haben Besuch von einer jungen Frau, aus dem Ausland“, erklärt die Direktorin dann mit einem Kopfnicken in meine Richtung.
    „Nicht aus dem Ausland, nur aus Moskau!“
    „Moskau ist für uns Ausland! Ein Staat für sich“, stimmen die Lehrer ihrer Vorgesetzten zu.
    „Ja, das müsste in Moskau mal jemand in der Zeitung schreiben: wie die Lehrer hier leben“, sagt die Chemielehrerin Irina Petrowna träumerisch. „Man terrorisiert uns mit Inspektionen. Es bleibt keine Zeit, mit den Kindern so zu arbeiten, wie man gern würde. Und dann noch das Personalproblem: Wenn unsere Generation irgendwann aufhört, kommen keine Jungen nach. Es gibt keine Wohnungen, keine anständigen Gehälter. De facto sinken die Gehälter – man sollte da nicht lügen! Wenn man sich das anschaut, kommt man zu dem Schluss, dass den Staat die Zukunft unseres Landes überhaupt nicht interessiert.“  

    Dass der Staat sich stattdessen für die Zukunft anderer Länder interessiert, passt den Lehrern gar nicht.

    „Ukraine, Ukraine, ich kann es nicht mehr hören“, sagt Albina Nikolajewna. „Allmählich habe ich den Eindruck, das zeigen sie nur deshalb dauernd, damit ich nicht ans tägliche Brot denke …  Mir hat der Donbass zwar leidgetan, aber bei uns gibt es auch Leute, die unterhalb der Armutsgrenze leben, und das ist die Mehrheit … Manche Kinder in der Schule können sich nicht mal ein Brötchen kaufen. Es heißt, 78 LKW-Kolonnen hätten sie gerade wieder losgeschickt (in den Donbass – NT) – Medikamente, Lehrbücher und so weiter … Wie lange soll das noch so weitergehen? Brauchen die eigenen Leute etwa nichts? Wir haben das Gefühl, wir kommen zu kurz.“
    „Und was sagen Sie zu Syrien?“
    „Beängstigend ist das …“ Die Konrektorin flüstert fast: „Ich habe Afghanistan noch zu gut in Erinnerung …“

    Marina Wiktorownas Telefon klingelt alle fünf Minuten. Sie drückt die Anrufe weg: Es ist ihre Bank, es geht um die verspätete Rückzahlungsrate für einen Kredit. In diesem Gespräch kommt die These von der einerseits guten, andererseits schlechten Politik des Kreml nicht vor. Hier ist alles schlecht. Gleichwohl verleihen die Lehrer ihrer Unterstützung für Putin vehement Ausdruck.

    „Alle sind für Putin – es gibt keine Alternative. Wo ist die Alternative? Medwedew?“, ereifert sich Albina Nikolajewna, auch sie Mitglied von Einiges Russland. Den hatten wir schon. Und sonst? Es fehlt … an Stärke, sozusagen. Ich sehe nirgends eine starke Persönlichkeit. Außer Putin. Putin ist stark … Und wir sind an ihn gewöhnt.“

    Doch Dafür-Sein und Keine-Alternative-Sehen ist nicht dasselbe.

    „Ich bin wie alle für Putin – weil ich Frieden will. Nur Frieden, mehr brauche ich nicht!“, erklärt die Direktorin. „Denn wenn Krieg ausbricht, was habe ich dann von einem neuen Kleid und allem anderen?“

    In der Sicherheitspolitik, erklärt Albina Nikolajewna, sei die Position des Präsidenten richtig:

    „Es war gut, dass sie die Krim zurückgeholt haben, bravo! Das ist doch unsere Grenze! Die Schwarzmeerflotte! Von dort aus hätten uns die Amerikaner, die Japaner, weiß Gott wer noch alles gepiesackt … Bei einem Atomkrieg kriegen alle ihr Fett weg, das sage ich Ihnen als Physikerin. Uns wird jetzt beigebracht, wie man eine Gasmaske aufsetzt. Eine Gasmaske! Gegen Chemiewaffen oder Bakterien hilft die nicht. Wenn es so weit kommt, ist alles zu spät, wer sich da ansteckt, bleibt als Invalide zurück, als Krüppel. Davor habe ich Angst. Vor einer Provokation. Vor Biowaffen. So etwas ist wirklich schlimm. Unsere Aufgabe ist es, einen Krieg zu verhindern. Finanzprobleme sind dagegen nicht so wichtig.

    Davon, dass „uns Putin vor einem Krieg bewahrt“, sprechen die verschiedensten Menschen. Anfangs erscheint mir das als ein verzweifelter Versuch irgendwie zu erklären, worin eigentlich die Verdienste unseres Präsidenten bestehen. Aber wann immer ich nachfrage – „Haben Sie wirklich Angst davor, dass die Amerikaner uns angreifen werden?“ –, antworten alle, erstaunt über meine Naivität, mit einer Gegenfrage: „Ja! Sie nicht?“

    … wenn man trotz allem dafür ist

    „Ich kriege zum Beispiel rund 35.000 [525 EUR]“, erzählt Katja offenherzig. Sie ist hübsch, blond, 26 Jahre alt, knapp 1,80 groß und Oberleutnant der Polizei. „Alle glauben, wir Bullen kriegen zwischen 80 und 100.000 [1200–1500 EUR]. Woher nehmen die Leute das bloß? Und wenn wir wenigstens noch geregelte Arbeitszeiten hätten, ohne Wochenendschichten und Nachteinsätze wegen irgendeinem entlaufenen Schoßhündchen … 35.000 sind gar nichts heutzutage.“  

    Katja bekleidet den Rang eines Oberleutnants der Polizei. Dass sie bei den Sicherheitskräften arbeiten wollte, wusste sie schon während der Schulzeit. „Mein Traum ist wahr geworden … schön blöd“, sagt sie. Derzeit ist sie im Mutterschutz, und wahrscheinlich spricht sie deshalb so offen über die Lebensbedingungen der Mitarbeiter des Innenministeriums: gestrichene Vergünstigungen, niedrige Gehälter, steigende Preise wie überall. Katjas Sorgen kreisen ums Abnehmen nach der Schwangerschaft und um die Hypothek, die sie aufnehmen will. Alles andere kümmert sie wenig.

    „Ganz ehrlich, uns ist es sch…egal, was da unten in der Ukraine passiert. Schlimm ist nur, wenn unsere Kollegen dort hinfahren, diese Irren, und dann kommen sie in Zinksärgen zurück. Syrien interessiert kein Schwein. Wir haben mit uns selber genug zu tun. Unsere Jungs werden nach wie vor nach Tschetschenien geschickt, nach Dagestan, und das ist Inland! Man hört heute zwar nicht viel davon, aber da unten gibt es immer noch Unruhen, Tote. Aber Syrien oder irgendwelche anderen Länder – das tangiert uns nicht, wenn du mich fragst.“

    Doch auf die Finanzen der Polizisten wirken diese „uns nicht tangierenden“ außenpolitischen Aktivitäten Russlands sich ganz direkt aus:

    „Früher gab es Prämien bei uns, wenn das Innenministerium zum Beispiel eine bestimmte Summe eingespart hatte – das war immer gutes Geld. Zum Jahresende wurde das unter den Mitarbeitern der Polizei aufgeteilt. Dabei kamen oft Prämien um die 20.000 Rubel [300 EUR] zusammen. In einem Jahr gab es bei uns sogar 50.000 [750 EUR] pro Nase. Aber das ist vorbei. Erst wurde alles Geld in die Olympiade gesteckt, dann kam die Krim, der man helfen musste, dann der Donbass, und jetzt ist es Syrien …“

    Katjas kleiner Sohn unterbricht uns, er ist aufgewacht und weint. Seine Mutter freut sich schon auf die Zeit, wenn er in den Kindergarten kommt und sie wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren kann, „zu ihren Halunken“. Für heute beendet die junge Polizistin, die bald in den Rang eines Hauptmanns befördert wird, das Gespräch, ihr Kind hat Hunger.

    „Putin fand ich früher nicht gut und ich finde ihn heute nicht gut. Als Präsident“, sagt sie abschließend. „Schau dich doch um bei uns, gibt es irgendeinen Grund, für Putin zu sein?“  

    Andrej, der im Kohle-Tagebau arbeitet, vergleicht die Situation im Land mit der Lage in seiner Firma:

    „Wir hatte einen Chef hier beim Fuhrpark, der war fürchterlich, wir wollten ihn alle nur loswerden. Schlimmer konnte es gar nicht kommen. Inzwischen ist er versetzt worden, und sein Nachfolger ist zehnmal schlimmer! Und inzwischen denke ich, mit Putin ist es dasselbe.“

    Andrejs jüngste Kinder – zweijährige Zwillinge – gehen in den Kindergarten. Die ältesten sind schon fertig mit der Schule; seine Tochter studiert an der Universität, der Sohn an einer Fachschule für Verkehr und Technik. Zu Hause trifft man den Familienvater so gut wie nie an: Werktags fährt er seinen BelAZ-Muldenkipper, am Wochenende Taxi in Listwjanka. Mit seinem während der Krise auf 15.000 Rubel [225 EUR] gekürzten Gehalt kann Andrej seine vier Kinder nicht ernähren.

    „Aber was Putin macht – Hut ab. In der Außenpolitik zumindest. Innenpolitisch wird ihm allerdings keiner eine Träne nachweinen.“

    Der Gedanke kommt mir bekannt vor.

    „Und in der Außenpolitik, wofür schätzen Sie ihn da?“
    „Na ja, also die Krim, ich weiß nicht … das ist ja unheimlich teuer alles. Ich persönlich hätte das nicht gebraucht. Lauter unnötige Kosten! Am Ende sind es doch wir, denen das nach und nach abgeknöpft wird, wir haben ja auch eine Firma in Moskau, alles, was wir verdienen, fließt dorthin.“
    „Und dass Russland Flugzeuge nach Syrien schickt und dort bombardiert, was halten Sie davon?“
    „Genauso wenig. Das sind doch interne Konflikte dort, wieso mischen wir uns da ein? Wozu? Ich bin dagegen. Und das Geld dafür kommt ja auch wieder von uns. Im Fernsehen sagen sie das inzwischen ganz offen: Nachdem wir Syrien demoliert haben, werden wir es auch wieder aufbauen müssen.“

    Andrej schaut ständig auf ein mit Klebeband geflicktes Telefon – er fürchtet, einen Auftrag zu verpassen. Sein Tarif ist derselbe wie bei allen anderen: Eine Fahrt über die Schlaglöcher der instandgesetzten Straße in die Nachbarsiedlung kostet 200 Rubel [3 EUR], Fahrten im Dorf nur 50 [75 Cent] .  

    „Aber Sie haben doch gesagt, dass Sie Putins Außenpolitik gut finden …“
    „Na ja … irgendwie ist er schon klasse  … ich weiß auch nicht. Immerhin respektiert man ihn auf der ganzen Welt, das heißt, für irgendwas ist das alles schon gut. Aber dass er sich überall einmischt, das gefällt mir nicht.“
    „Trotzdem, noch einmal: Die Dinge, die Sie nicht gut finden, die Wirtschaftskrise, Syrien, die Ukraine – für all das ist doch Putin verantwortlich, aber auf die Zustimmung zu ihm wirkt sich das nicht aus …“
    „Ach, ich weiß auch nicht“, sagt Andrej verlegen. „Trotz allem … Es gibt zwar keinen richtigen Grund, für ihn zu sein, aber ich bin trotzdem für ihn. Mir gefällt er einfach als Mensch!“

    … nicht für alle Ewigkeit

    Zu den Sitzungen des Dorfrats und Treffen mit Regierungsbeamten nimmt Iossif Dimitrijewitsch Sudakow grundsätzlich ein Diktiergerät mit. Und sein altes Mobiltelefon zeichnet alle Anrufe auf. Sudakow ist stolz darauf, wie viele Beweise er für die Veruntreuung des kommunalen Haushalts gesammelt hat – keine Veruntreuung „in außerordentlich großem, aber schon in großem Stil“. Er glaubt, dass all diese Beweise ihm in nächster Zeit nützen werden, und dass es „viele Verhaftungen“ geben wird.

    „Mit diesem Syrien wird alles nur schlimmer“, versichert Iossif Dimitrijewitsch. „Die Leute werden bald genug haben, und dann geht es los.“

    Allgemein sind die Leute in Listwjanka sehr duldsam. Im Gespräch fällt jedem von ihnen ein Beispiel aus seiner persönlichen Erfahrung dafür ein, dass es auch schon schlimmere Zeiten gegeben hat, und die haben sie auch überstanden. Heute ist es „Gott sei Dank noch nicht so schlimm wie in den Neunzigern“. Der 53jährige Waleri allerdings rechnet mit tiefgreifenden Veränderungen, und er weiß auch schon, wann es so weit sein wird:

    „Die Leute finden sich so lange mit der Lage ab, bis die westlichen Geheimdienste eine neue politische Führungsfigur aufgebaut haben. Sobald das der Fall ist, wird es mit der Geduld vorbei sein. Die Leute haben es satt!“

    Waleri hat zwei erwachsene Töchter – die ältere lebt in Moskau, die zweite in der Nähe von Nowosibirsk, in der Forschungsstadt Kolzowo. Waleri und seine Frau hatten kurz vor Beginn der Krise eine Hypothek aufgenommen, um in die Nähe ihrer jüngeren Tochter umzuziehen. Jetzt wird die Familie ihre Pläne nicht schmerzfrei umsetzen können: Die Firma, in der Waleri arbeitet, ist mit den Gehaltszahlungen im Rückstand. An die Ewigkeit des derzeitigen Regimes glaubt er nicht.

    „Das heißt, sobald es irgendeine Alternative zu Putin gibt, werden die Leute …“ Waleri fällt mir ins Wort:
    „Sofort! Im Moment ist ja wirklich niemand in Sicht, aber sobald irgendeine Alternative auftaucht, werden die Leute sich dem anschließen, der für diese Alternative steht! Putin wird im Nu vergessen sein, keiner wird mehr etwas wissen wollen von ihm!“

     


    Vorspann der Autorin
    Die Hof-Meinungsforscher verkünden einen neuen Rekord: Wladimir Putins Zustimmungwerte liegen mittlerweile bei knapp 90 Prozent! Es dürfte demnach gar nicht einfach sein, in diesem Land jemanden zu finden, der die Politik der Staatsführung nicht gutheißt. Neun von zehn Menschen auf der Straße sind voll und ganz dafür.
    Skeptiker rufen dazu auf, die Zahlen der offiziellen Meinungsforschung zu ignorieren. Unabhängige Meinungsforscher erklären, über Zahlen zu streiten sei sinnlos, doch die offensichtliche Beliebtheit Wladimir Putins zu leugnen, wäre schlicht dumm. Russlands Bevölkerung sei damit beschäftigt, das überraschend schwere Trauma des Zerfalls der Sowjetunion zu verarbeiten, und sehe noch nicht den Zusammenhang zwischen dem sinkenden Lebensstandard und den außenpolitischen Erfolgen des Präsidenten. Politologen präzisieren: Wenn man nicht von einem abstrakten „Gutheißen“, sondern konkret von vergangenen und bevorstehenden Wahlerfolgen spreche, so gebe es für das Wunder der Liebe des Volkes zum Präsidenten auch eine prosaischere Bezeichnung: Wahlfälschung. Die Folge sei der Niedergang des politischen Systems. Psychologen wissen eine Antwort auf die Frage, wer die marginalen 10 Prozent sind, die noch immer nicht in patriotische Ekstase verfallen sind, und woher sie kommen.
    Russlands Bevölkerung indessen liebt ihren Präsidenten weiterhin, von allen Widersprüchen unbeirrt, wie es Liebende nun einmal tun. „Innenpolitisch gibt es dafür keinen Grund. Aber es gibt einfach niemand anderen. Und außenpolitisch … Syrien war natürlich ein Fehler. Und für die Krim zahlen wir einen hohen Preis. Aber klasse, dass man wieder Respekt vor der Großmacht hat. Den Amis haben wir es gezeigt. Auch wenn jetzt alles teurer geworden ist. Aber vor allem: Es gibt einfach niemand anders.“

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