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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • 3. Advent: Stille Nacht mit Cream Soda

    3. Advent: Stille Nacht mit Cream Soda

    Advent, Advent auf dekoder: Jeden Adventssonntag zünden wir hier zwar kein Kerzchen an, aber Gnosenautoren und Klubmitglieder geben ausgesuchte Geschenk-, Lese- oder einfach Kulturtipps. Zum dritten Advent empfiehlt die Slawistin Olga Caspers ihren musikalischen Favoriten 2020. … und stellt eine neue Ästhetik vor, die derzeit die russische Jugendkultur prägt.

    Allen, die für die Feiertage nach einer Alternative zu Stille Nacht & Co. suchen, möchte ich die russische Band Cream Soda empfehlen. In der Pandemiezeit wirken ihre stimmungsvollen Musikvideos sehr inspirierend. 

    Das bekannteste von ihnen – Platschu na techno (dt. Ich weine auf einer Technoparty) – ist mitten im Lockdown erschienen. Es zeigt Raver in Moskau, die in Selbstisolation auf Balkonen exzessive Partys feiern – im Drag Queen- und Voguing-Style. Das Video ging viral (40 Millionen Aufrufe) und rief zahlreiche Flashmobs hervor, die Balkon-Raves auf der Datscha oder in Plattenbauten zelebrierten. 

    Nahezu prophetisch kamen Cream Soda daher, als sie bereits neun Monate vor der Pandemie gesagt hatten, dass die Zeit der Partys vorbei sei: Das Motiv verbotener Partys prägte ihr Video Nikakich bolsche wetscherinok (dt. Keine Partys mehr). Versteckt im Wald schmissen darin vier Männer eine queere Party, auf der sie in Seide, Glitzer und Feder gekleidet tanzten.  

    Tipp: Über „Einstellungen“ werden in diesem Video ganz passable englische Untertitel angezeigt

    Hinter den Videos steht Alexander Gudkow: Showman, Moderator und Drehbuchautor. Durch seine zahlreichen extravaganten Medienauftritte avancierte der Macher einiger sehr bekannter Fernsehshows zu der prägenden Figur der neuen russischen Popkultur. Seine Kreationen schöpfen ihren Unterhaltungswert aus der Synthese der queeren Ästhetik, Selbstironie und Nostalgie der 1990er Jahre. In Platschu na techno tritt Gudkow in seiner provokanten Manier neben den Drag-Queens und Voguing Tänzern in einem Eiskunstläuferin-Kostüm auf. Wie in vielen seiner Videos, spielt Gudkow auch in Nikakich bolsche wetscherinok mit.

    Gudkows Kreationen schöpfen ihren Unterhaltungswert aus der queeren Ästhetik und Nostalgie der 1990er Jahre / Foto © Screenshot aus dem Video Nikakich bolsche wetscherinok/Alexander Gudkow, Youtube
    Gudkows Kreationen schöpfen ihren Unterhaltungswert aus der queeren Ästhetik und Nostalgie der 1990er Jahre / Foto © Screenshot aus dem Video Nikakich bolsche wetscherinok/Alexander Gudkow, Youtube

    Platschu na techno ist die gleichnamige Coverversion eines Songs der Band Chleb (dt. Brot) und greift so  vorsichtig das Thema der Grenzen der Autorenrechte in der Zeit des Internets und digitaler Technologien auf. Dieser Umgang mit fremden Kompositionen gilt neben der Neuen Aufrichtigkeit und Selbstironie als die wichtigste Komponente der neuen – von Gudkow propagierten – Ästhetik. 

    Das Video korrespondiert mit dem Interview, das Juri Dud im November 2020 mit einem anderen bekannten Showman – dem derzeit erfolgreichsten Rapper Russlands – gemacht hat: Morgenshtern. Es sorgte ebenfalls für viel Resonanz (rund 21 Millionen Aufrufe), vor allem weil der Musiker darin zugespitzt die wichtigsten Aspekte der jugendlichen Popkultur verdeutlichte. 

    In diesem Stil ist auch das dritte Musikvideo von Cream Soda gedreht: Serdze led (dt. Eisherz), es kam im Juli raus. Auf dem Höhepunkt der Verbreitung von pandemischen Verschwörungsmythen macht es allgemeine Ängste zum Thema: Die Moskauer Untergrundwelt ist von menschenähnlichen Reptiloiden bewohnt, die ausgiebig feiern und sich vermehren, um später die Welt zu erobern.  

    Diese drei Musikvideos bilden zusammen einen visuellen Hypertext, der ironisch mit den Ereignissen des Pandemie-Jahres umgeht. Neben Unterhaltung und guter Tanzmusik bildet er aber auch die wichtigsten Tendenzen der aktuellen russischen Popkultur ab. Die Videos bieten sich außerdem gut an, um sich entweder auf ein schmales Festprogramm einzustimmen oder einen Balkon-Rave zu veranstalten, ohne gegen die Corona-Regeln zu verstoßen.


    Olga Caspers ist promovierte Slawistin und Dozentin an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zu ihren Forschungsinteressen und Arbeitsschwerpunkten gehören inter- und transkulturelle Medienanalyse, moderne russische Kultur (insbesondere Pop-Kultur) und Fashion Studies.

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    Protestmusik

    Zwei Vampire vor der Kulisse verschiedener Objekte der Staatsmacht in Moskau: Vor dem Weißen Haus übergießt sich die Protagonistin mit Kerosin, sie singt „Alles soll brennen!“. Auf eine Szene, in der die Vampire vor dem Lenin-Mausoleum rohes Fleisch verzehren, folgt ein Klatschspiel – auf Schultern von OMON-Mitarbeitern in voller Montur, vor der FSB-Zentrale Lubjanka mitten in Moskau. Szenen in der WDNCh wechseln mit Szenen, in denen die Protagonistin in einem Sarg vor der Basilius-Kathedrale liegt, schließlich trinken beide Vampire Blut aus Gläsern am Ufer der Moskwa. In der letzten Einstellung ertrinken beide im Fluss.  


    Der Clip der Band IC3PEAK verstört und provoziert auf mehreren Ebenen und entwickelt eine enorm subversive Wirkung. Die Vampire lassen sich als das Staats- und Regierungsduo deuten. IC3PEAK-Sängerin Nastja Kreslina singt unter anderem über Verfolgungen aus politischen Gründen, über unkontrollierte Polizeigewalt, Korruption und Einmischung der Kirche in Staatsangelegenheiten. Das Lied Smerti bolsche net (dt. Es gibt keinen Tod mehr) wurde von zahlreichen Fans als „Hymne der Opposition“ und „wahre Äußerung über Russland“ bezeichnet – und ist dabei nur eines von vielen Beispielen für zunehmend kritische Töne in der zeitgenössischen russischen Musikszene. Eine Entwicklung, auf die die Machthaber oft widersprüchlich reagieren, und die auch Konzertverbote Ende 2018 nicht aufhalten konnten. 

     

     

    Im November 2018 haben russische Behörden zahlreiche Konzerte von Kreml-kritischen Rapmusikern und anderen Bands verboten oder abgebrochen. Unabhängige Medien verglichen die Situation zunächst mit dem Kampf der sowjetischen Machthaber gegen „ideologisch untragbare“ Musik und fragten, ob der Kreml die Verbote angeordnet habe. Später verdichteten sich allerdings die Hinweise darauf, dass die Konzertabbrüche eher dem vorauseilenden Gehorsam lokaler Behörden geschuldet waren. 


    Dennoch suchen die Machthaber nach der richtigen Strategie im Umgang mit der sichtbar zunehmenden Gegenkultur. So schlug der Chef des Auslandsnachrichtendienstes SWR Sergej Naryschkin vor, Rapper staatlich zu fördern. Und Wladimir Putin sagte im Dezember 2018: „Wie kann man sich an ihre Spitze stellen und sie mit passenden Mitteln in die richtige Richtung lenken – das ist das Wichtigste, weil die Methode – sie packen und nicht loslassen –, die ineffektivste und schlechteste ist, die man sich ausdenken kann. Es würde genau den gegenteiligen Effekt haben als erwartet, so viel steht fest.“1 


    Auch der prominente Moderator Dimitri Kisseljow griff das Thema im Dezember 2018 in seiner Sendung im staatlichen Ersten Kanal auf und bot mit seinem Majakowski-Rap einen Gegenentwurf zur Gegenkultur. 


    Dabei ist nicht klar, was die aktuelle musikalische Gegenkultur konkret ausmacht: Wie die meisten sozialen Bewegungen ist auch die musikalische Protestbewegung in Russland äußerst diffus und heterogen. Kaum einer der Künstler schreibt sich die Revolution auf die Fahne; als Gegenkultur oder ein kollektiver Akteur lassen sie sich lediglich anhand ihrer Gesellschaftskritik begreifen und wegen ihrer Kritik an der politischen Ordnung des Landes: Sie prangern etwa Verstöße gegen Grundrechte, politische Verfolgungen, fehlende Rechtsstaatlichkeit, Korruption und Konservatismus an.
    Die Kritik daran bedient sich völlig unterschiedlicher Musikstile und Methoden. So erreichen die Musiker auch unterschiedliche Zielgruppen. Gemeinsam ist ihnen aber etwas anderes: Gemessen in YouTube-Klickzahlen hören Hunderttausende, zum Teil Millionen von Menschen ihre Musik. Und die Tendenz ist seit den Konzertverboten eindeutig steigend.
    Gemeinsam ist den Musikern der Gegenkultur außerdem, dass sie die politische Ordnung deutlich subtiler kritisieren als beispielsweise offen oppositionelle Gruppen wie etwa die Feministinnen-Band Pussy Riot. Und doch gibt es Abstufungen: von der deutlichen Metaphorik IC3PEAKs hin zu den eher sanften, ironischen Tönen Monetotschkas.

    Neue Sensibilität: Monetotschka

    Monetotschka, mit bürgerlichem Namen Elisaweta Gyrdymowa, komponiert ihre Songs in einem meditativen Elektro und Indie-Pop Stil. Die 21-jährige steht gewissermaßen für eine Generation, die in russischen Großstädten unter Putin aufgewachsen ist. 

    In ihren Liedern formuliert Monetotschka ein politisches und ästhetisches Programm, das man als neue Sensibilität bezeichnen kann. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich bei ernsthaften politischen Äußerungen einer strategisch naiven Form bedient. Die Texte oszillieren permanent zwischen Ernsthaftigkeit und Ironie, verbinden Sentimentalität und kritische Reflexion, die an Zynismus grenzt. Die schwedische Forscherin Maria Engström merkte dazu an, dass die neue Ästhetik, die Monetotschka präsentiert, sich nicht nur durch die politische Neutralität oder Apathie kennzeichne, sondern auch durch bewusste Vermeidung einer engagierten politischen Aussage. Die Sängerin distanziere sich von der revolutionären Grenzüberschreitung des Erlaubten, die für die frühere Protestkultur typisch war.2 

    Vor dem Hintergrund der Protestwelle im Sommer 2019 brachte Monetotschka Gori gori gori (dt. Brenne brenne brenne) heraus. Mit der Feuersymbolik knüpft die Sängerin an IC3PEAKs Smerti bolsche net an; zusammengenommen lassen sich die beiden Texte als eine Art Metatext lesen, der eine Anatomie der jüngsten Protestwelle darstellt.
    Monetotschka kritisiert in dem Lied sowohl die totale Staatskontrolle als auch die aktuelle wirtschaftliche Situation im Land. Sie würdigt die oppositionelle Hip-Hop Szene, die sich aktiv bei den Protesten beteiligt und ironisiert die eilig organisierten Gegenveranstaltungen, mit denen der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin Menschen von den Protesten abhalten wollte.

    Familienehre und autoritäre Liebe: Aigel

    Wenn Monetotschka in diesem Lied darüber singt, dass „der Rap der Hauptstadt-Szene schwärzer“ werde, dann meint sie wahrscheinlich den Übergang der Musikrichtung von der Massen- in die Gegenkultur: „Schwärzer“ wird der russische Rap, weil er sich back to the roots bewegt, zu seinen Wurzeln im Underground der afroamerikanischen Ghettos der USA. 

    Auch Aigel (Aigel Gajsina) ist eine Protagonistin dieser Entwicklung. In ihrem 2017 erschienenen Clip Tatarin (dt. Tatare) wendet sich die 33-jährige tatarische Dichterin und Übersetzerin an ihren Freund, der aus dem Gefängnis entlassen wird. Scheinbar unterwürfig erzählt sie ihm, dass sie sich mit niemand anderem eingelassen habe. Dabei besingt sie ihn als einen bösen Kriminellen, als einen „Tataren, der in Sachen Liebe autoritär ist“. Aigel wendet sich damit ironisch gegen Patriarchat, Familienehre, Schande und Rache – Werte, die sie der tatarischen Gesellschaft zuschreibt. 


    Das cineastisch ambitionierte Video brachte Aigel über 46 Millionen Aufrufe und gewann bei den Berlin Music Video Awards 2018 den Hauptpreis in der Kategorie Best Editor. Den Protagonisten im Video spielt Goscha Bergal, der öffentlichkeitswirksam den Gopnik-Stil pflegt und unter anderem als Model für Balenciaga arbeitet.

    Das Putin-Epigramm: Noize MC

    Gesellschafts- und Kreml-kritisch war der Rapper Noize MC schon immer. Auf dem Höhepunkt der Protestwelle im Sommer 2019 brachte er aber das Lied Ljocha heraus: Kein anderer Song spiegelt die Stimmung der Straße treffender als der vom 1985 geborenen Iwan Alexejew. 

    Darin rappt er über die brutale Vorgehensweise der Polizei und Justiz gegen die Demonstranten, bedient sich bei Ossip Mandelstam und zieht damit zumindest stilistisch Parallelen zum Großen Terror. So beschreibt Noize seinen Protagonisten Ljocha (Kumpelform von Alexej) mit ungewöhnlich vielen adjektivischen Kurzformen, genauso wie Mandelstam 1933 in seinem Stalin-Epigramm Wir Lebenden spüren den Boden nicht mehr. 


    Wie viele sowjetischen Kinder träumte auch der kleine Ljocha davon, Kosmonaut zu werden. Wie in Science-Fiction Filmen wollte er Aliens verprügeln. Als Polizist drischt der erwachsene Ljocha auf Demonstranten ein. In diesen sieht der Gehirngewaschene Aliens – wohl in Anlehnung an die Propaganda, die Protestierende als ausländische Agenten darstellt. 
    So stellt Noize MC in Ljocha die Spaltung der russischen Gesellschaft dar und greift dabei sowohl auf kollektive Identitäts- als auch auf Feindbilder aus der sowjetischen Vergangenheit zurück.

    Sein Lied Wsjo kak u ljudej (dt. Alles wie bei normalen Menschen) ist ein raues und polemisches Porträt der Epoche Putin und gleichzeitig eine Hommage an Jegor Letow, Ikone der sowjetischen Perestroika-Musik. Veröffentlicht im September 2019, knüpft Noize thematisch an Ljocha an und bringt zunächst einen Originalton von Putin von 1996: „Allen scheint so […], dass es uns allen besser gehen würde, wenn man mit der starken Hand eine strenge Ordnung einführen würde. […] In Wirklichkeit […] wird uns diese starke Hand aber bald erwürgen.“ 

    Während des Originaltons ist das Bild Apotheose des Kriegs vom russischen Maler Wassili Wereschtschagin zu sehen. Vor abwechselnden Nachdrucken berühmter russischer Kunstklassiker rappt Noize unter anderem über einen Lego-Baukasten: Еnthalten sind ein Awtosak und drei Figuren – Noize MC kommentiert: „Einer gegen zwei Bullen, alles wie bei normalen Menschen.“ 

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    Eine der Schlüsselsequenzen rappt Noize vor dem berühmten Bild Bogatyri (Die drei Recken) von Wiktor Wasnezow. Das Gemälde zeigt russische Identifikationsfiguren, die als furchtlose Krieger, Helden und Beschützer glorifiziert werden. Dazu bringt Noize eine Neuinterpretation von Letows Lied My – ljod (dt. Wir sind Eis). Letow singt darin über einen KGB-Major, der 1985 seinen Fall leitete und den oppositionellen Musiker schließlich in die Zwangspsychiatrie brachte: „Wir sind Eis unter Majors Füßen / Major wird ausrutschen und fallen“. Die Version von Noize kann man auf Putin beziehen, denn auch dieser war einst KGB-Major: „Das Eis unter Majors Füßen bricht leichter als eine Falafel-Kruste / Major hat keine Angst, Major wird nicht untergehen – Major sitzt für den Fall der Fälle im Tauchboot.“ 

    „Islamisten und Nazis“: Shortparis

    Ähnlich wie Letow bemüht auch die Band Shortparis die Eis-Metapher: In ihrem Lied Straschno (dt. Angst) geht der Major bangend über Eis, das ihn womöglich nicht halten kann.
     
    Das 2012 gegründete Quintett um den Kunsthistoriker Nikolaj Komjagin macht Art-Punk und experimentiert mit Pop und Avantgarde. Die Band aus Sankt Petersburg brachte den Clip zu Straschno am 12. Dezember 2018 heraus – am Tag der Verfassung der Russischen Föderation. Das Video erscheint geradezu wie Konzeptkunst: Zunächst mimen die Bandmitglieder Skinheads, die in eine Schule eindringen und zum Sportsaal laufen, in dem zentralasiatische Gastarbajtery untergebracht sind. Entgegen der Erwartung eines Pogroms veranstalten sie dort aber eine queere Party, gemischt mit Folklore-Elementen aus Zentralasien. Das Video endet mit einer Sequenz, die man als Beerdigung der russischen Verfassung deuten kann.

    Shortparis hinterfragen in dem Clip landläufige xenophobe Stereotype: So wird mit arabischen Karaoke-Untertiteln wohl Islamismus assoziiert, auch wenn dort nur die arabischen Worte für „Frieden“ und „Freundschaft“ geschrieben sind. Gleichzeitig spielen Shortparis auf die terroristischen Anschläge in Beslan an – ein schmerzhaftes Kapitel in der neuesten Geschichte des Landes. Auch Kritik an der Integrationspolitik lässt sich aus dem Video deuten, genauso wie Kritik an Homophobie. 
    Sowohl die ethische als auch die ästhetische Aussage der Band rief unterschiedliche, zum Teil ambivalente Reaktionen hervor: So beschimpfte man die Band laut Komjagin sowohl als Islamisten als auch als Nazis.3

    „Ich werde meine Musik singen“

    Trotz heftiger Kritik, lokalen Konzertverboten und einer Atmosphäre der Einschüchterung singen seit 2018 immer mehr Musiker gegen die politische Ordnung an: So wie bei dem mittlerweile legendären Solidaritätskonzert Ich werde meine Musik singen, das die Rapper Oxxymiron, Noize MC und Basta als Antwort auf die zahlreichen Konzertverbote Ende 2018 veranstaltet hatten.

    Solche Reaktionen hatte Putin wohl im Sinn, als er die oben erwähnte Frage stellte, mit welchen Maßnahmen „man sich an ihre Spitze stellen kann“. Durchschlagende Maßnahmen hat der Kreml bislang aber nicht ergriffen. 
    Vielleicht war Putin auch bewusst, dass der Inlandsgeheimdienst schon einmal daran gescheitert ist, oppositionelle Musik in kontrollierbare Bahnen zu lenken: Mitte der 1980er Jahre, als Putin KGB-Major wurde und die Protestmusik der sowjetischen Ordnung sogar noch mehr zusetzte als etwa Solschenizyns Archipel Gulag.4 


    1. bbc.com: Putin pro rėperov: „vozglavit‘ i napravit’“ – chorošo, „chvatat‘ i ne puščat’“ – plocho. ↩︎
    2. ridl.io: Monetočka: manifest metamodernizma. ↩︎
    3. meduza.io: „Nas nazyvali islamistami i nacistami odnovremenno“. Gruppa Shortparis zachvatyvaet školu: prem’era klipa „Strašno“. ↩︎
    4. sobaka.ru: 30 let perestrojke: glavnye simvoly vremeni. ↩︎

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  • Musik der Perestroika

    Musik der Perestroika

    Ende März 2019 hat die britische Trip-Hop-Band Massive Attack beim sowjetischen Musik-Underground „abgekupfert“: Die Briten gaben bekannt, einzelne Lieder auf Röntgenbildern herauszubringen und so an einer Aktion gegen Zensur teilzunehmen. Tatsächlich war benutzter Röntgenfilm für die Musikliebhaber der Sowjetunion ein beliebtes Material gewesen, auf dem sie dem verbotenen Sound des kapitalistischen Westens lauschen konnten. Vinyl war nicht zu bekommen, Röntgenbilder aber schon – also kopierten die Melomany die wenigen ins Land geschmuggelten Platten darauf: Rock auf Knochen hieß der Tonträger, oder schlicht Knochen.
    Der Sound war schlecht, dafür konnte man die Röntgenfolien aber zusammenrollen. Dies war beispielsweise bei Miliz-Kontrollen ganz nützlich, denn Hören und Pressen „ideologisch untragbarer“ Musik hatte Strafen zufolge: vom Schulrauswurf bis zum Gefängnis. Noch 1982 startete der Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU Juri Andropow eine Anti-Rock-Kampagne. Rock schien für den ehemaligen KGB-Chef offensichtlich etwas, das sein wichtigstes Ziel gefährdete – den Erhalt der Stabilität.

    Der 2018 herausgekommene Film Leto (dt. Sommer) veranschaulicht den staatlichen Umgang mit der Rockszene der frühen 1980er Jahre. Der seit August 2017 unter Hausarrest stehende Regisseur Kirill Serebrennikow drehte eine Art Biopic über die Kultfiguren der damaligen Rockszene: Viktor Zoi und Mike Naumenko. Einige Filmkritiker und Zeitgenossen von Zoi warfen dem Regisseur vor, die musikalische Protestkultur der 1980er Jahre nicht authentisch darzustellen. Wie aber war die Musik der Perestroika?

    Links – 1986 war auch für den sowjetischen Pop eine Zäsur, rechts – „Rock auf Knochen“ – benutzter Röntgenfilm war ein beliebtes Material für verbotenen Sound aus dem Westen / © Dmitry Rozhkov unter CC BY-SA 3.0
    Links – 1986 war auch für den sowjetischen Pop eine Zäsur, rechts – „Rock auf Knochen“ – benutzter Röntgenfilm war ein beliebtes Material für verbotenen Sound aus dem Westen / © Dmitry Rozhkov unter CC BY-SA 3.0

    Repertoire, Aussehen, Bühnenverhalten – alles an der offiziellen sowjetischen Musik Estrada musste von Behörden gebilligt werden. Der Underground lehnte sich schon in den 1960er Jahren gegen diese Orchestrierung auf. Ab den späten 1970er Jahren ging es der musikalischen Protestkultur aber auch darum, mit Rock und Pop das Fundament des Regimes zu erschüttern und Voraussetzungen für politische Veränderungen zu schaffen.

    Wenn man Wladimir Rekschanan glaubt, dann hat sie das geschafft: Der Rockmusiker behauptet nämlich, dass Rock der sowjetischen Ordnung ab 1985 am meisten zusetzte – viel mehr noch als etwa Solschenizyns Archipel GULAG.1 Auch der Musikkritiker und Rockpionier Artemi Troizki strich in seinem frühen Standardwerk Rock und Subkultur in der UdSSR die Bedeutung von Rock für die Perestroika heraus.2 Die Musik und der Lebensstil, den sie transportierte, wurden im Lauf der Perestroika von der Gegen- zur Massenkultur. 

    Kanalisierung des Rock

    Bevor es jedoch dazu kam, wurde die „ideologisch untragbare“ Musik verboten und gejagt. Underground aufzuspüren und zu zerstören war offenbar nicht leicht, also versuchten die Behörden auch, ihn in staatliche Bahnen zu lenken. 1980 durften sowjetische Rockmusiker zum ersten Mal bei einer offiziellen Veranstaltung auftreten. Auf einem Festival in Tbilissi trafen sowohl bereits bekannte Bands wie Maschina Wremeni und Aquarium aufeinander als auch solche Exoten wie Sipoli aus der lettischen Stadt Jurmala und Gunesch aus dem turkmenischen Aschhabat.3

    Im Jahr darauf gründete man den Leningrader Rockclub. Auch diese Institution war vom KGB kontrolliert und reglementiert. Zu den bedeutendsten Künstlern des Clubs zählten Boris Grebenschtschikow und Mike Naumenko. Kultstatus genossen Viktor Zoi und seine legendäre Band Kino. Auch in Moskau, Swerdlowsk, Ufa und anderen Städten entstanden in den folgenden Jahren Rockclubs. 

    Doch trotz systematischer Kanalisierungs-  und Umerziehungsversuche wurde die dynamische Szene für den KGB gewissermaßen zum Geist, den er rief: Die teilweise Legalisierung führte zur Popularisierung des Rock; schon über das Festival in Tbilissi berichteten sowjetische Medien, was viele wohl als eine Wende empfanden. Außerdem konsolidierten die Behörden gewissermaßen die Szene: Die aus dem Underground geholten Musiker konnten sich zum ersten Mal miteinander vernetzen, was die Entwicklung des Rock vorantrieb. Der einstmals verbotene Sound schien gezähmt, doch fanden viele Musiker auch Schlupflöcher, durch die sie Andeutungen verbreiten konnten.

    Aus der Grauzone

    Schlupflöcher taten sich auch durch Blat auf: 1987 gründete der Musiker und Produzent Stas Namin im Moskauer Gorki-Park ein Zentrum, in dem er junge Musiktalente betreute. Namin ist ein Enkel des prominenten Parteifunktionärs und stalinschen Ministers für Außenhandel Anastas Mikojan. Mit diesem Status und seinen Beziehungen zur Parteiführung konnte er eine alternative Art der Organisation von Rockmusikern anrollen: Namins halb offizielles Studio im Grünen Theater des Gorki-Parks brachte solche Rockbands hervor wie Brigada S und Kalinow Most. Die bekannteste von allen war Gorky Park – die erste sowjetische Rockband, die im Ausland auftrat.

    1989 organisierte Namin das legendäre Peace Music Festival, das oft mit Woodstock verglichen wurde und zu dem solche westlichen Stars wie Ozzy Osbourne, Bon Jovi, Scorpions oder Cinderella kamen. Es fand im Moskauer Olympiastadion vor zehntausenden Zuschauern statt und gilt heute als eine Veranstaltung, die den Eisernen Vorhang erst richtig öffnete. In dieser Atmosphäre und infolge Klaus Meines Besuchen in Namins Zentrum entstand der legendäre Hit der Scorpions Wind of Change, der 1990 veröffentlicht wurde und im Westen als die Hymne der Perestroika gilt.

    Hymnen der Perestroika

    Die Frage nach der Hymne der Perestroika ist auch im heutigen Russland umstritten. Viele halten Viktor Zois Chotschu Peremen! (dt. „Ich will Veränderungen!“) dafür. 1986 erklang es zum ersten Mal: im Leningrader Rockclub schlug es mit seiner Wut wie eine Bombe ein. Im April 1989 kam es mit dem Album Posledni geroi (dt. „Der letzte Held“) auf den Markt.

    Demgegenüber ging das 1986 entstandene Aerobika der 1983 gegründeten Band Alisa einen Schritt weiter: Es forderte keine Veränderungen, es stellte sie fest, „aber nur fast“. 
    Das erste Rock-Video, das im sowjetischen Fernsehen gezeigt wurde, drehte der heutige Generaldirektor des russischen Zentralfernsehens Konstantin Ernst. Er zeichnete eine Atmosphäre der Underground-Ästhetik: Das Video beginnt in einer ranzigen Kommunalwohnung, an der Wand hängt ein Poster von Pink Floyd und aus dem Fernseher ist der Slogan „Es lebe unsere ruhmreiche sozialistische Heimat“ zu hören. Der punkige Protagonist und Bandleader Konstantin Kintschew kommt in Jeans und zerrissenem T-Shirt aus dem Bett, schaut sich im Spiegel an, spuckt auf sein Spiegelbild und verlässt die Wohnung. Lange geht er durch dunkle Kellerräume, bis er auf einer großen Konzertbühne vor zahlreichem Publikum erscheint. Der Text dazu lautet: „Wir können schon fast aufrecht stehen, wir haben schon fast alle Türen geöffnet, wir schreien schon fast nicht mehr SOS, wir hören schon fast auf keine Befehle mehr, es ist fast unmöglich uns [wie Vieh – dek] zu hüten … aber nur fast“. Sein Auftritt wird durch Bilder von Sportparaden der totalitären 1930er Jahre auf dem Roten Platz begleitet, die dann in Aerobic-Übungen umschlagen: Diese liefen zum ersten Mal 1984 im sowjetischen Fernsehen und avancierten alsbald zum begehrenswerten Symbol des US-amerikanischen Lifestyles.

    Kurz nachdem Jegor Letow aus der Zwangspsychiatrie entlassen wurde, schrieb er ebenfalls 1986 seinen bekanntesten Hit: Wsjo idjot po planu (dt. Alles läuft nach Plan). Das Lied besteht aus einem psychedelischen Mix aus einander abwechselnden Bildern, entlehnt dem Fernsehprogramm und sowjetischen Losungen. Der Autor bringt darin sarkastisch und voller Stjob seine Unzufriedenheit darüber zum Ausdruck, dass die Veränderungen nur sehr langsam passierten. Ähnlich wie Zoi war Letow eine Legende seiner Zeit. Er dichtete eine Mischung aus Alltagssprache und feingeistiger Philosophie, angereichert mit Mat. Dies, so einige Musikkritiker, sei die eigentliche Sprache des Undergrounds gewesen.

    Popsound der Perestroika

    Rock mit seinem Freiheitswillen galt als cool, davon wollten auch Popmusiker profitieren. Einige versuchten, die existenzielle Subversions-Ästhetik und die anarchischen Gesten zu übernehmen. Die Grande Dame der Estrada Alla Pugatschowa etwa griff für ihre Liedtexte auf die offiziell verbotenen Autoren wie Marina Zwetajewa und Boris Pasternak zurück. Mit dem Beginn von Glasnost verstieß sie regelmäßig gegen sprachliche Normen, stellte die gewohnten Geschlechterrollen in Frage und machte aus ihrem exzentrischen Privatleben eine öffentliche Performance. Mit dem Lied Ei, Wy tam nawerchu! (dt. Hey, ihr da oben!) appellierte sie schon 1984 an die Machtinstanzen und legte damit einen Grundstein für ihre eigene Subversions-Ästhetik, mit der sie gegen Konventionen des Regimes rebellierte. 1986 trat Pugatschowa mit dem Rockmusiker Wladimir Kusmin bei dem ältesten Popmusik-Wettbewerb Europas in San Remo auf. Die Zusammenarbeit wurde vor allem deshalb als Skandal aufgenommen, weil Pugatschowa eine Affäre mit dem deutlich jüngeren Kusmin hatte.

    Alltag und Sexualität

    1986 war auch für den sowjetischen Pop eine Zäsur. Die alten Stars der Estrada wurden von der jungen Generation verdrängt. Richtige Furore machten dabei Igor Korneljuk und Igor Skljar. Sie befreiten sich von ideologischen Fesseln und besangen alltägliche Lebenssituationen. So machte sich Korneljuk einen Namen, indem er vom Schwarzfahren in der Tram sang (Bilet na balet, dt. Ticket für Ballett).

    Skljar ging noch weiter und kündigte an, dass er einfach so mitten in der Arbeitswoche für ein paar Tage wegfährt (Na nedelku do wtorogo, dt. Für eine Woche bis zum Zweiten). Tunejadstwo (dt. etwa: Müßiggang, Arbeitsscheu und Sozialschmarotzertum) wurde in der Sowjetunion von 1961 bis offiziell noch 1991 strafrechtlich verfolgt, und Freizeit war vor allem dazu da, um sich für die Arbeit zu regenerieren. Mit seinem demonstrativen Hedonismus versuchte Skljar, dieses Konzept zu sprengen – und spielte dabei für die Sowjetunion eine ähnliche Rolle wie es die Gammler der frühen 1960er Jahre für Westdeutschland taten.4

    Der Rocksänger Kris Kelmi brach ein anderes Tabu: Sex. Sein Video Notschnoje randewu (dt. Nächtliches Rendezvous) von 1989 schilderte eine Beziehung zu einer Prostituierten und enthielt sehr freizügige Bettszenen. Im Gegensatz zum Video war der Text allerdings eher zurückhaltend und abstrakt.

    Die lettische Sängerin Laima Vaikule schlug in dieselbe Kerbe. Sie fiel durch ihren betont maskulinen Kleidungsstil auf und brachte damit eine besondere Note in die Popszene mit ein. Das Duett mit dem homosexuellen Sänger Waleri Leontjew brachte sie für lange Zeit in die Charts.

    Nachdem Kelmi, Vaikule und Leontjew das Sex-Thema salonfähig gemacht hatten, griffen es auch zahlreiche Girl- und Boybands auf. Damit explodierte das enge Korsett der sowjetischen Zensur endgültig, und die musikalische Revolution entlud sich in knalligen Musikvideos. So trällerte etwa die sexy gekleidete Solistin der Band Kombinazija darüber, dass russische Frauen vom Sex mit US-amerikanischen Männern träumten und bereit seien, ihr Glück außerhalb der Sowjetunion zu versuchen.

    Boybands wie Laskowy mai und die gayfriendly Na-Na brachen bei ihren Konzerten alle Besucherrekorde. Nicht orchestrierte Banner, Interaktionen mit den Zuschauern und emotionale Reaktionen waren bei sowjetischen Konzerten streng verboten. Das Aufheben der Verbote war eine markante Wende und gilt heute als Anfang des Showbusiness.

    Freiheit der Liebe und Liebe zur Freiheit

    Während ab Mitte der 1980er Jahre Zensur und Konzertverbote allmählich nachließen, etablierten sich neue politische und marktwirtschaftliche Selektionsmechanismen. Es fing die Epoche der „wilden 1990er“ an. Als symbolisches Ende der Perestroika kann vor diesem Hintergrund die Ermordung des Sängers Igor Talkow im Jahr 1991 betrachtet werden. Talkow wurde auf der Bühne wegen krimineller Auseinandersetzungen im Showbusiness erschossen.5 Im gleichen Jahr starb auch der Leader der Band Zoopark Mike Naumenko.

    Sowohl Naumenko als auch Zoi besangen in ihren Liedern vor allem die Freiheit der Liebe und die Liebe zur Freiheit. Genau darüber drehte Serebrennikow seinen Film Leto. Diese künstlerische Freiheit sollte man dem Regisseur gewähren. Genauso wie die Freiheit des Standpunkts über die Zeit, in der die sowjetische Musik lernte, „aufrecht zu stehen“. 
    Serebrennikow kündigte kürzlich an, sein nächstes Projekt Alla Pugatschowa zu widmen. 


    1. Sobaka: 30 let perestrojke: glavnye simvoly vremeni ↩︎
    2. Troickij, Artemij (1989): Rock in Russland: Rock und Subkultur in der UdSSR, Wien ↩︎
    3. Troickij, Artemij (2008): Gremučie skelety v škafu, tom 2: Vostok aleet, Sankt Petersburg ↩︎
    4. vgl. Siegfried, Detlef (2006): Time is on my Side: Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen ↩︎
    5. YouTube: Istorija rossijskogo schou-biznesa ↩︎

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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