Alexej Nawalny wurde heute in Moskau beerdigt. Zum Trauergottesdienst im Bezirk Marjino und zur anschließenden Beisetzung auf dem Borissowski-Friedhof kamen Zehntausende Menschen. Hunderttausende verfolgten die Ereignisse online im Livestream. Auf Telegram nimmt die inzwischen im Exil lebende russische Journalistin Olga Beschlej Abschied – von Nawalny und einem Teil ihrer Lebensgeschichte.
die erste politische Erschütterung in meiner Jugend war der Mord an Anna Politkowskaja: Ich war damals gerade erst fürs Studium nach Moskau gezogen, und Politkowskaja war für mich ein Beispiel an journalistischem Mut und beruflicher Hingabe
ich weiß noch, wie ich mit einer Freundin Blumen zu ihrem Haus auf der Lesnaja Straße brachte, und schon damals war da dieses starke Gefühl von Verlorenheit und Verstörtheit
ich hatte nicht den geringsten Zweifel, dass der Mord im Interesse der Regierung organisiert worden war, und ich dachte voll Besorgnis an die Zukunft des von mir gewählten Berufs
der Mord an Boris Nemzow war in anderer Art ein Schlag: Boris Jefremowitsch war oft in der Redaktion der Zeitschrift, bei der ich arbeitete, wir hatten oft telefoniert und sogar zusammen Korrekturen an seinen Artikeln vorgenommen
ich kannte ihn oberflächlich, aber ich kannte ihn
und bis heute wünsche ich, ich könnte die Fotos von der Großen Moskwa-Brücke ungesehen machen
nach dem Tod von Alexej Nawalny lebe ich in innerer Taubheit: ich sage, schreibe, tue was, aber kann meine Gefühle weder benennen noch beschreiben
ein riesiger Teil meines Lebens war mit Nawalny verbunden: journalistische Arbeit bei Demonstrationen, Berichterstattung bei Wahlkampagnen und Strafprozessen
ich hatte die Möglichkeit politisch teilzuhaben, weil Nawalny, Nemzow, Jaschin (und viele andere Menschen, die ich jetzt nicht aufzähle, an die ich aber natürlich denke) Politik gemacht haben in einem unfreien Land, trotz allem und ungeachtet dessen
ich glaube, dass es in Russland Änderungen zum Besseren geben wird: das Regime wird zusammenbrechen
aber das Russland, von dem ich geträumt habe, wird es nicht mehr geben: Menschen, mit denen ich Wandel und Zukunft assoziiert habe, wurden entweder ermordet oder verlieren im Lager ihre Gesundheit oder sind auf der ganzen Welt verstreut, und mir ist bewusst, dass nicht alle zurückkommen wollen oder können
es wird etwas anderes
meine Hoffnung ist stark wie nie und ich unterstütze sie in den Menschen um mich herum, denn das ist es, was jeder von uns tun kann im Gedenken an Alexej Nawalny und die anderen Opfern des Regimes – die Hoffnung bewahren, nicht verzweifeln, einander Mut machen
ja, irgendwas tun! Egal was
für den Erhalt der Zivilgesellschaft, die Wahrung unserer Werte und den Zusammenhalt der Menschen
doch zusammen mit Nawalny ist ein Teil von mir heute vergangen
Kurzfristig anberaumte Schein-Referenden in den russisch (teil)besetzten Gebieten der Ukraine, neue Strafgesetze im Eilverfahren, die im Fall von Kriegszeiten und Mobilmachungen gelten sollen – und schon wenige Stunden später verkündet Wladimir Putin eine sofortige „Teilmobilmachung“.
Für viele Beobachter ist klar, dass die Ergebnisse der sogenannten „Referenden“ über den „Beitritt“ zu Russland schon feststehen, dass das Stakkato der Ereignisse ein (weiteres) Zeichen für Nervosität des Regimes, und dass der Begriff „Teilmobilmachung“ dehnbar ist. Andere Beobachter fragen nach möglichen Folgen der neuen Eskalationsstufe für den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine oder auch, ob sie die russische Gesellschaft selbst noch weiter spalten könnte.
Tatsächlich häufen sich im Runet Berichte, dass viele Menschen sich derzeit darüber informieren, wie man der Einberufung entgehen kann. Kurzfristige Flüge ins Ausland sind ausgebucht, in den Sozialen Medien entlädt sich lautstarker Widerstand, und es gibt erste Proteste gegen die „Teilmobilisierung“. In einem wütenden Twitter-Thread macht auch die unabhängige russische Journalistin Olga Beschlej ihrem Ärger Luft.
Die gesamte Rede Putins ist reinstes Gaslighting und psychische Gewalt den Bürgern Russlands gegenüber. Ich träume von dem Tag, an dem die Menschen kapieren, WIE sie betrogen wurden und WIE DOLL man sie belogen hat und dass sie und das ganze Land die letzten zehn Jahre in der ausgedachten Realität und dem nicht existierenden Imperium eines gekränkten Mannes gelebt haben.
Putin schreibt absolut all seine aggressiven Handlungen anderen zu! Das ist unerträglich anzuschauen
Er verdreht einfach alles, aber auch wirklich alles: Er war es, er und seine Regierung haben alles dafür getan, dass die NATO an die Grenzen Russlands kam, dass die Ukraine GEZWUNGEN war sich zu verteidigen, dass der Westen Waffen an die Ukraine lieferte, denn er hat einen Krieg losgetreten und schreckte alle mit Drohungen. Und absolut all seine aggressiven Handlungen schreibt er anderen zu! Das ist unerträglich anzuschauen und zu lesen.
Und es ist unerträglich, dass Menschen das glauben, denn es nicht zu glauben, macht Angst. In welche verfickte Zeit sind wir hineingeraten! Die Lüge vergiftet und zermalmt den Menschen doch förmlich das Hirn.
Die Lüge vergiftet und zermalmt den Menschen doch förmlich das Hirn
Ich warte sehr auf das Ende dieses Kriegs. Ebenso fieberhaft warte ich auf das Ende der Lüge, wenn eben jene Mauer dieser erstickenden Lügerei, mit der er ganz Russland eingekesselt hat, endlich zusammenbricht. Himmel, wird das wehtun. Doch nicht nur die Russen, die ganze Welt kann dann wieder leichter atmen.
Der Fall Leonid Sluzki schlägt immer höhere Wellen. Dem Duma-Abgeordneten der LDPR wird vorgeworfen, im Parlament akkreditierte Journalistinnen mehrfach sexuell belästigt zu haben. In einem Fall hat die russische BBC Sluzkis Übergriffigkeit per Audiomittschnitt dokumentiert (siehe auch unsere Debattenschau zum Thema). Am Mittwoch hatte sich nun der Ethikrat der Duma mit der Angelegenheit beschäftigt, konnte jedoch keinerlei „Verletzung von Verhaltensnormen“ feststellen.
Dies sorgte bei vielen Journalisten für große Empörung. Innerhalb kürzester Zeit verkündeten über 20 russische Medien – darunter Kommersant, Vedomosti, Novaya Gazeta, Meduza und viele weitere auf dekoder vertretene – die Zusammenarbeit mit der Staatsduma einschränken oder gar vollständig boykottieren zu wollen: Sekret Firmy beispielsweise schreibt fortan hinter jeder Erwähnung der Duma den Zusatz: „(Staatsorgan, das sexuelle Belästigung rechtfertigt)“,RBC, Echo Moskwy und eine Reihe weiterer Medien haben ihre parlamentarischen Korrespondenten abgezogen, da die Duma „kein sicherer Ort für Journalisten“ sei, wie Echo-Chefredakteur Alexej Wenediktow erklärt.
Olga Beschlej, Chefredakteurin von Batenka, beschreibt in einer Kolumne auf Colta, warum sie bei der Solidaritätsaktion Stolz empfindet auf die Presse in Russland.
Weit über 20 russische Medien verkündeten, ihre Zusammenarbeit mit der Staatsduma einschränken oder boykottieren zu wollen
Hilflosigkeit ist das Gefühl, das wir hier allzu oft empfinden. Ein Gefühl, das uns schon seit allzu langer Zeit aufgezwungen wird.
Ja, eine Gruppe von Menschen versucht ständig etwas zu unternehmen – eine Gruppe, die sogar selbst gar nicht sagen kann, welchen Anteil der Bevölkerung sie ausmacht, weil die Umfragen sie genauso belügen, wie sie den Präsidenten belügen. Diese Menschen – zu denen manchmal auch ich gehöre – unterschreiben Petitionen, machen Einzelproteste, gehen zu Demonstrationen, schreiben Texte, kratzen an den Türen von Diensträumen [hoher Beamter – dek]. Und jedes Mal dasselbe Gefühl: Von uns hängt gar nichts ab, wir können nur bitten und krakeelen, bitten und krakeelen. Und weiter Spiele spielen, deren Regeln von Betrügern gemacht werden.
Aber Hilflosigkeit wird durch aktives Handeln überwunden. Deshalb ist die Geschichte mit dem Abgeordneten Sluzki und jenem Konflikt mit der Duma, auf den sich Journalistinnen, Journalisten und ganze Redaktionen eingelassen haben, weitaus bedeutender als eine Geschichte über einen Rüpel und seine Maßlosigkeit.
Es ist auch ein Aufstehen gegen Machtmissbrauch. Auch ein Aufstehen gegen die Gewalt der Privilegierten und im Grunde auch gegen jedwede andere Gewalt. Es ist ein Aufstehen gegen gegen das herrische, konsumistische Verhältnis der Machthaber gegenüber allen anderen.
Es ist eine Geschichte darüber, dass die Geduld zu Ende geht.
Denn es gab in den letzten 18 Jahren eigentlich genug Gründe, Journalisten aus dem intransparent und unehrlich arbeitenden Parlament abzuziehen. Aus einem Parlament, das Gesetze verabschiedet hat und verabschiedet, die die Meinungsfreiheit beschneiden. Es gab auch so schon genug Gründe dafür, dass das Land aufhört, die Lügen, Rüpeleien, Gewalt und Dieberei zu tolerieren.
Niemand sollte in einem Organ der Staatsmacht arbeiten, das sexuelle Belästigung rechtfertigt. Und genau so sollte man meiner Meinung nach nicht in einem Organ der Staatsmacht arbeiten, das ein Gesetz über die Entkriminalisierung von häuslicher Gewalt verabschiedet hat.
Ich weiß nicht, ob es den Journalisten gelingen wird, im Fall Sluzki hinreichend Druck auszuüben, wenn man bedenkt, dass die Staatsmacht ihre Leute unter dem Druck der Gesellschaft nie im Stich lässt. Aber dass die Journalisten sich auf diesen Konflikt eingelassen haben, lässt einen stolz sein auf die Presse in Russland. Das ist schon keine Hilflosigkeit mehr.
Und auch kein Spiel nach aufgezwungenen Regeln.
Mich befremden die Befürchtungen einiger Menschen, dass wir ohne Journalisten in der Duma eine Informationsquelle verlieren würden. Ein professioneller Journalist – und alle Redaktionen, die ihre Kollegen abgezogen haben, sind zweifellos sehr professionell – findet Wege, um von Gesetzesinitiativen nicht nur in der unteren Kammer des Parlaments zu erfahren. Um so mehr, da die wichtigsten Gesetze nicht von Abgeordneten der Staatsduma geschrieben, sondern von der Präsidialadministration lanciert werden.
Und schließlich: Die hochkarätigste, wertvollste und gesellschaftlich wichtigste Arbeit von Journalisten in Russland findet nicht in den Räumen der Staatsduma statt. Sie findet statt bei Recherchen jener Geschichten, über die die Abgeordneten sich ausschweigen. Wenn daher in meiner Redaktion ein parlamentarischer Journalist gebraucht würde – dann nur, um ihn von dort abzuziehen.
Quasi über Nacht brachen während der Perestroika alle bisherigen Werte und Normen zusammen. Und was dann kam in den 1990er Jahren an politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüchen, das ging ins russische kollektive Gedächtnis ein unter dem Schlagwort lichije 90-e (dt. „Wilde 1990er“).
Plötzlich war alles anders: So gab es etwa in Russland vor 25 Jahren ein neues Gesetz über „Unternehmen und unternehmerische Tätigkeit“ und damit für die Russen überhaupt erstmals seit der Zarenzeit die Möglichkeit, private Unternehmen zu führen. Und weil kaum einer noch etwas hatte, von Lohn und Arbeit ganz zu schweigen, wurden Millionen zu Managern ihres eigenen Bisnes. Einige von ihnen verdienten im Lauf der Jahre Millionen, andere scheiterten an den kriminellen Methoden und der Korruption, die ständig zunahm.
Olga Beschlej beschreibt auf dem Online-Wirtschaftsmagazin Sekret Firmy die notgeborenen Aufbruchsjahre der 1990er in ihrer Familie: mit Hühnern auf dem Balkon, Weckern mit Jelzin-Ziffernblatt und den typischen rot-weiß-blau-karierten Plastiktaschen, in denen alles transportiert wurde.
In einem Roman von William Faulkner, dem Lieblingsschriftsteller meines Vaters, gab es einen Protagonisten, der Nähmaschinen verkaufte. Er nähte sich auch Jeanshemden, wusch sie selbst und trug nie etwas anderes.
Die Handlung des Buches habe ich schon so gut wie vergessen, doch diese Figur ist mir aus zwei Gründen im Gedächtnis geblieben: Erstens, weil er Wladimir Kirillytsch Ratlif hieß. Zweitens, weil ich beim Lesen immer meinen Vater im Kopf hatte. Der trug auch immer Jeanshemden, die ebenfalls vom Waschen ausgeblichen waren. Aber Nähmaschinen – das ist wohl das Einzige, was er, soweit ich mich erinnere, nie verkauft hat.
Ich erinnere mich nur dunkel an die Zeit, als mein Vater als Ingenieur am physikalisch-energetischen Institut arbeitete. An eine Szene, wo Papa im Jackett im Korridor steht. Meine Mama trägt mich auf dem Arm, wir verabschieden uns, bevor er zur Arbeit geht. Es ist sehr früh, vor dem Fenster ist es noch stockfinster. In unserem Korridor liegt ein gefrorenes totes Schwein.
Ein tiefgefrorenes totes Schwein im Korridor
Jetzt ist mir klar, dass dieses Fleisch ein großer Segen war, weil mein Vater damals fast nie sein Gehalt bekam. Das war so ungefähr 1992. Um irgendwie zurechtzukommen, hatte mein Vater eine Baubrigade organisiert, mit der er in den umliegenden Dörfern Ställe und Schuppen baute. Am Institut, wo damals alle arm waren, schätzte man seinen Unternehmergeist nicht und legte ihm die Kündigung nahe.
Meine Mutter arbeitete an einem anderen Institut – für Wissenschaft und Forschung. Sie nahm mich sogar ein paarmal mit auf die Arbeit, und ich sah dort einen Computer mit blauem Bildschirm hinter einer bauchigen Scheibe. Ich durfte die Leertaste drücken. Ich drückte, und über den Bildschirm liefen Ziffern. Das fand ich total langweilig, und ich bemitleidete meine Mama, die, wie ich dachte, tagelang die Leertaste drücken musste. Ihr Gehalt wurde immer mit Verzögerung ausgezahlt und dann gar nicht mehr.
1993 wurde meinen Eltern gekündigt und sie fingen im Handel an. Sie waren ungefähr 35 oder 36. An der Hand zwei Kinder – meinen großen Bruder, der schon zur Schule ging, und mich. Wir wohnten in einer Kleinstadt im Gebiet Kaluga, 100 Kilometer von Moskau entfernt. Meine Eltern leben auch jetzt noch dort.
1993 fingen meine Eltern im Handel an
Neben unserem heißgeliebten Wohnort lag eine Versorgungsbasis für Lebensmittel. In der Sowjetzeit waren dort Lebensmittel hingebracht worden, die dann an die Läden in der Region ausgeliefert wurden.
In den 1990ern wurden diese Basen zu wichtigen Handelsknotenpunkten: Hierhin wurden Waren aus Großstädten und dem Ausland transportiert, und Kaufleute und Tschelnoki (Kleinhändler, auch Meschotschniki genannt) sortierten sie „zum Vertrieb“.
In Moskau bildeten sich solche Handelszentren, den Erzählungen meiner Eltern zufolge, oft in leerstehenden Kinos. Auf diese Basen brachten Chinesen, Koreaner und Vietnamesen allerlei Konsumgüter, für die man aus ganz Russland in die Hauptstadt strömte.
Die Geschichte, wie meine Mutter zu ihrer ersten Ware kam, habe ich viele Male gehört, und noch immer finde ich sie unglaublich.
Sie fuhr zu der Handelsbasis in der Nähe unserer Stadt, bemerkte irgendeinen Kerl, der polnische Säfte und Limonaden aus dem Auto auslud, ging zu ihm hin und bat ihn einfach um Waren „zum Vertrieb“. Geld hatte sie keines. Gar keines. Der Mann sah sie an, kratzte sich am Hinterkopf, dann rief er dem Fahrer zu: „Lad dieser Frau ab, soviel sie braucht.“
Er und meine Mutter unterschrieben einen Warenschein. Auf diesem Papier, das man in zweifacher Ausfertigung unterschrieb, stand, wie viel Ware zu welchem Preis einer konkreten Person ausgehändigt worden war. Nach Ausweispapieren fragte bei der Erstellung des Warenscheins niemand. Tag und Ort, an dem meine Mutter das Geld für die Ware übergeben sollte, wurden mündlich vereinbart. Sie mietete vor Ort ein Auto (auf Kosten ihres zukünftigen Gewinns), lud die Kisten mit den Flaschen ein und verkaufte auf der Bahnüberführung noch am selben Tag alles. Gegen Abend lieferte sie das Geld ab und bekam die nächste Charge.
Später übernahm meine Mutter von anderen Leuten genau auf dieselbe Art – ohne Geld und mündlich vereinbart – „zum Vertrieb“ tiefgefrorenen Fisch und Hühnerkeulen.
„Na, überleg mal“, erklärte mir meine Mutter, „wenn ich ihm diese Ware gestohlen hätte, hätte mir nächstes Mal niemand mehr was gegeben. Klar gab es auch welche, die klauten. Mir hat man später auch was geklaut. Aber ein zweites Mal wär‘ das nicht durchgegangen.“
Geld fiel vom Himmel und genauso rätselhaft verschwand es wieder
Bei meinem Vater lief es ganz gut mit seiner Baubrigade, bis er beschloss zu expandieren und dafür bei einer Bank einen Kredit aufnahm – zu 300 Prozent Jahreszinsen, was, nebenbei bemerkt, nur halb so schlimm war. Geld fiel damals buchstäblich vom Himmel und genauso rätselhaft verschwand es wieder, weswegen im Gewerbe die Idee vom plötzlichen Reichtum blühte.
Ein Geschäftspartner überredete meinen Vater, den ganzen Kredit in einen Container amerikanischen Billigessens zu investieren und es auf diese Art sofort umzuschlagen. Also bei einem Zwischenhändler einen Container zu kaufen, die Ware abzusetzen und so viel Gewinn zu machen, dass der Kredit getilgt wäre und ihm selbst noch was bliebe. Von der Idee, etwas in Amerika einzukaufen, war mein Vater ganz angetan. Er zahlte das Geld ein.
Der Container kam nicht.
Mein Vater zahlte der Bank ein paar Monate lang Zinsen, bis seine Firma pleiteging. Die Bank reichte Klage ein. In ihrer Verzweiflung wandten sich meine Eltern an die Betrüger, denen sie das Geld für den Container gegeben hatten. Die erbarmten sich und stellten ein Papier aus, laut dem der Container, für den das Geld der Bank gezahlt worden war, in einem US-Bundesstaat von Schmugglern entwendet worden war. „Mit Stempel vom Gouverneur des Bundesstaats! Und Unterschrift!“, erzählte meine Mutter verzückt. Der Schrieb wurde dem Gericht vorgelegt und mit großer Achtung und Ehrfurcht begutachtet. Mein Vater wurde zwar noch zwei Jahre durch alle Instanzen gejagt, doch im Endeffekt ließ man ihn in Ruhe.
Kopfüber in den Kleinhandel: Wecker mit Jelzin-Ziffernblatt
Nachdem die Baufirma hopsgegangen war, stürzten sich meine Eltern kopfüber in den Kleinhandel. Verkauften Bücher, Putzmittel, Kosmetik. Vater erzählte, er habe auf dem Stary Arbat sogar Wecker mit Jelzin drauf verkauft. Es war Winter, kalt, niemand beachtete ihn, die Leute gingen vorbei, kauften woanders. Ein Typ, der daneben irgendeinen anderen doofen Kleinkram verkaufte, machte sich über Papas Wecker furchtbar lustig, bis der die Nase voll hatte. Fuchsteufelswild nahm mein Vater einen seiner Wecker, holte aus und warf ihn mit voller Wucht. Ein abscheulicher Klingelton schrillte durch die Straße, die Leute drehten sich danach um, kamen näher, bald umringten sie meinen Vater scharenweise und kauften fast alle Wecker auf. Den Rest drehte er seinem frechen Nachbarn an.
Die Waren wurden bei uns zu Hause gelagert – in gestreiften und karierten Taschen, die aussahen wie aus Angelschnüren gewebt. Diese Taschen erschienen mir riesig und unmöglich anzuheben. Meine Eltern schleiften sie in den Korridor, und mit ihnen drangen Gerüche herein – nach Frost, Markt, Waschpulver. Ich kann mich noch gut an Mamas schreckliche Hände erinnern – rot und steifgefroren, und wie sie sich dann in der brennendheißen Badewanne aufwärmte.
Von allen Waren sind mir besonders die grimmigen Hennen in Erinnerung geblieben, die bei uns auf dem Balkon lebten und ihn ordentlich vollkackten. Mein Vater hatte sie zum Weiterverkauf aus irgendeinem Dorf geholt, und ein paar Tage wüteten sie vor dem Küchenfenster.
Oh! Und das wunderbare Feuerwerk, das sie zu Neujahr sehr erfolgreich verkauften: Mit dem Gewinn konnten sie uns zum ersten Mal Kokosnüsse und eine Ananas kaufen, außerdem Hershey’s Schokolade – eine weiße, mit dunklen Stückchen. Ich aß sie gleich morgens am ersten Tag des Jahres 1996 auf.
Es herrschten andere Regeln. Beziehungsweise gar keine mehr
Einen festen Marktstand in einer Stadt im Gebiet Kaluga bekamen meine Eltern 1995, dort standen sie etwa zwei Jahre, bis die Bullen den Markt den ortsansässigen Banditen abpressten. Mutter erzählte, wie frappierend der Kontrast zwischen den alten und den neuen Inhabern war. „Nein, denk bloß nicht, dass mir diese kleinen Gauner gar so gefallen hätten“, rechtfertigte sich Mama, der die kleinen Gauner allem Anschein nach aber sehr wohl gefallen hatten. Sie beschrieb die kräftigen, durchtrainierten Burschen, die bei ihr und Vater das Schutzgeld abholten, als wortkarge und eigentlich sogar … höfliche Menschen: „Nie wurden sie mir gegenüber ausfällig und vulgär, die Summe war angemessen, fix, sie nahmen uns nicht aus. Nicht wie die danach …“
Nach der Neuaufteilung herrschten andere Regeln. Beziehungsweise gar keine mehr. Ein Uniformierter konnte jederzeit und jeden Tag auftauchen. Und zusätzlich zur Standmiete verlangen, was er wollte. Dem ging immer eine besondere Zeremonie voraus – sie beäugten die Ware, kontrollierten die Dokumente: „Und dann ging’s los: Der Stempel falsch, die Preislisten stimmen nicht, sie verbissen sich in den Zertifikaten“, erzählte Mama. Einmal wurde es meinem Vater zu bunt, und er sagte: „Wisst ihr was, erledigen wir doch die Formalitäten gleich auf der Wache. Ganz korrekt.“ Sie machten den Laden dicht, verpackten die Ware, fuhren auf die Dienststelle. Dort bearbeiteten sie stundenlang irgendwelche Akten, dann ließen sie es gut sein und entließen meine Eltern mitsamt ihrer Ware. „Denen ging es ja nicht um Recht und Ordnung, sondern ums Geld. Und wir kommen mit offiziellen Papieren“, erklärte Mama.
Nach diesem Vorfall verließen sie den Markt. Sie mieteten sich in dem örtlichen Handelszentrum ein und begannen einen Großhandel mit Reinigungsmitteln. Wieder ein paar Jahre später konnten meine Eltern ein weiteres Geschäft in der Stadt aufmachen – diesmal einen Einzelhandel. Dann noch eines. Eine Zeit lang ging es uns recht gut.
Ihren letzten Laden haben meine Eltern ungefähr 2012 geschlossen. Meine Mutter redet viel und oft darüber, warum alles so gekommen ist. Und schimpft viel. Mein Vater sagt nichts. Steht einfach jeden Tag um fünf Uhr früh auf und geht zur Arbeit – ins physikalisch-energetische Institut.
Es sind, so sagt die Redaktion, „Geschichten aus ihrem und unserem Leben“, die die Autorin und Journalistin Olga Beschlej (dekoder-Leser kennen sie schon) ab Ende Mai regelmäßig auf dem unabhängigen Online-Portal Colta.ru erzählt.
Schon der erste Text ihrer Reihe hatte Tausende Leser: Olga Beschlej fängt die Atmosphäre russischer Studentenwohnheime, die Unsicherheiten junger Erwachsener und die Unzulänglichkeit aller Schwarz-Weiß-Raster so gut ein wie kaum jemand sonst. Viel Spaß beim Lesen.
„I don’t mind saying hello at stations, but I don’t like saying good-bye.” Career Girls, Mike Leigh
I.
Meine Mutter hatte mich im Wohnheim abgesetzt mit einer großen Frischhaltebox voll hausgemachter Bouletten, Pfannen und einem Bademantel von derart ätzender Farbe, dass ich damit bei einem Wettbewerb der penetrantesten Damenbademäntel mit Sicherheit auf einem der vorderen Plätze gelandet wäre.
Meine neuen Zimmergenossinnen – zwei dicke, rotwangige Soziologiestudentinnen im dritten Studienjahr – beobachteten schweigend, wie ich meinen Koffer auspackte und unbeholfen das obere Stockbett mit dem Bettzeug von zu Hause bezog.
„Will jemand eine Boulette?“
Keine Antwort.
Insgeheim war ich froh, dass sie keine wollten. Die Bouletten würden nach meinen Berechnungen für drei Tage reichen.
Alles in allem war es ganz schön mies von meiner Mutter und meinem Vater – erst jahrelang auf Zehenspitzen herumzuschleichen und irgendwas zu murmeln von wegen „lass das Kind ruhig lernen“, und dann dieses Kind einfach in eine fremde Stadt zu karren und es dort mit irgendwelchem Haushaltszeug von unklarer Bestimmung sich selbst zu überlassen.
Ich konnte nichts.
Ich hatte noch nie einen Boden gewischt oder Geschirr gespült. Ich hatte noch nie ein Bett bezogen. Noch nie Wäsche gewaschen. Nie gekocht. Ich wusste nicht, wie lange ein Ei braucht, welches Wasser man zum Würstchen-Warmmachen nimmt und wie man Fleisch einkauft. Der Anblick des Wischlappens in der Gemeinschaftsküche ließ mich schaudern, und von glitschigen Makkaroni in fremden Töpfen bekam ich Magenkrämpfe.
Als ich am zweiten Tag hörte, dass in der Waschküche Ratten lebten, schwor ich mir, diese niemals zu betreten, und ich blieb diesem Schwur die folgenden fünf Jahre treu. Meine Wäsche transportierte ich alle zwei Wochen zum Waschen in meine hundert Kilometer von Moskau entfernte Heimatstadt.
Als ich am dritten Tag anrief und fragte, was ich denn essen solle, wenn die Bouletten alle wären, geriet meine Familie in Panik. Doch mein erster Einkauf verlief einwandfrei
Meine Mutter erklärte später, mein Schulabschluss, dann mein 17. Geburtstag im Juli, und dann der Beginn meines Studiums – das alles sei damals allzu plötzlich gekommen. Als ich am dritten Tag anrief und fragte, was ich denn essen solle, wenn die Bouletten alle wären, geriet meine Familie in Panik. Doch mein erster Einkauf verlief einwandfrei – auf Anhieb erstand ich für ein Drittel des gesamten mir überlassenen Geldes eine große Flasche kaltgepressten Orangensaft und war damit äußerst zufrieden. Mein neues Leben kam mir sogar mit einem Mal gar nicht mehr so schrecklich vor. Bis meine Zimmergenossinnen von mir verlangten, ich solle den Boden wischen.
„Wieso, gibt es denn hierfür keine Putzfrau auf der Etage?“, erkundigte ich mich.
„Nee. Aber du kannst ja deine Mutti rufen“, meinte die eine und lachte höhnisch. Ich sah auf den Eimer mit dem angetrockneten Lappen. Dann auf meine finster dreinblickenden Mitbewohnerinnen. Und dann trat ich auf den Gang hinaus, stapfte zur diensthabenden Etagenfrau und bat sie, mich umzuquartieren, weg von den garstigen Soziologinnen.
„Was hacken die bloß immer alle auf euch Journalisten rum“, knurrte die Diensthabende. „Im ersten Stock ziehen zwei Erstsemestlerinnen ein, die eine studiert auch Publizistik. Ich werd mal fragen, ob du nicht bei denen mit reinkannst.“
Am nächsten Tag stand ich in der Tür zu dem anderen Zimmer – mit meinem Koffer, der leeren, dreckigen Frischhaltebox, Pfannen und dem Bademantel, den die eine meiner neuen Zimmergenossinnen – eine dürre, finstere Blondine – prompt kommentierte:
„Echt krasses Farbdesign.“
Das war Latyschka, „die Lettin“, so nannte ich sie.
II.
Latyschka war am 9. Mai geboren. Eine sich selbst und anderen Menschen gegenüber derart schonungslose Person ist mir noch nie begegnet.
Eigentlich hieß sie Olga – wie ich. Ich fand es aber immer schon befremdlich, jemand anderen mit meinem eigenen Namen anzusprechen, deshalb hatte sie bei mir praktisch vom ersten Moment an ihren Spitznamen weg.
Geboren und aufgewachsen war sie in Riga. Sie hatte die russischsprachige Schule mit Bestnoten absolviert, es locker an die Wirtschaftsfakultät der führenden lettischen Universität geschafft, dort ein Jahr durchgezogen und war, unzufrieden mit der Qualität der dortigen Lehre, nach Russland gegangen.
Latyschka verfügte über beängstigende Leistungsfähigkeit und physische Stärke. Alles an ihr funktionierte wie eine Maschine: Abends legte sie sich hin und sank noch in der gleichen Sekunde in Schlaf, und morgens sprang sie aus dem Bett, sobald der Wecker schrillte. Ihre Angewohnheit, ins Zimmer zu stürmen, machte mich wahnsinnig, und an den Klang ihrer Schritte auf dem Flur erinnere ich mich noch genau – sie nahte heran wie etwas Unausweichliches.
Alles, was Latyschka tat, war ideal. Sie gab ihre Hausaufgaben rechtzeitig ab, lernte fleißig, hatte vom ersten Studienjahr an einen Job und versäumte keine Lehrveranstaltung. Ich flog wegen Spickens aus den Vorlesungen und bekam Stress wegen Schwänzerei. Morgens schlug ich die Augen auf, sah eine Minute lang zu, wie Latyschkas kornblumenblauer Bademantel durchs Zimmer wirbelte, machte den Wecker aus und zerfleischte mich, bis sie das Zimmer verließ. Mir schien, wenn man nicht in der Lage war, so zu lernen wie Latyschka, lohnte sich die Mühe erst gar nicht.
Ich war in allem schwächer als sie, träumte aber dennoch davon, ihr es einmal richtig zu zeigen und zwar bei zwei Dingen: Wenigstens ein einziges Mal wollte ich in Literatur besser abschneiden und wenigstens einmal einen politischen Disput gegen sie gewinnen.
Ich sage es gleich: Weder das eine noch das andere ist mir gelungen.
Innerhalb der Universitätsmauern war Latyschka unbesiegbar.
Alles an ihr funktionierte wie eine Maschine: Abends legte sie sich hin und sank noch in derselben Sekunde in den Schlaf und morgens sprang sie aus dem Bett, sobald der Wecker schrillte. An den Klang ihrer Schritte auf dem Flur erinnere ich mich genau – sie nahte heran wie etwas Unausweichliches
Das erste Mal stritten wir uns gleich zu Beginn des Studiums. Wir kamen aus einer Vorlesung. Vermutlich politische Geschichte. Ich hatte irgendeine Bemerkung über die despotischen Neigungen unseres Präsidenten losgelassen, da sagte Latyschka plötzlich, ich würde Müll reden.
„Jetzt sag bloß, du stehst auf ihn.“ Ich lachte laut auf.
„Ich habe große Achtung vor dem Präsidenten des Landes, dem ich so viel zu verdanken habe“, erwiderte Latyschka gemessen. „Ich kann eben dankbar sein.“
„Was meinst du damit – viel zu verdanken?“
„Ich bin aus Lettland hierhergekommen und habe keine russische Staatsbürgerschaft. Man hat mir die Chance gegeben, bei den Prüfungen gleichberechtigt mit den russischen Studenten die Aufnahmeprüfungen zu machen und umsonst an einer der besten Unis zu studieren, ich kann im Studentenwohnheim wohnen und ich bekomme ein Stipendium.“
„Ja schön, und was willst du mir damit sagen?“
„Dass du genauso Grund hättest, dankbar zu sein.“
Diese Argumentation haute mich derart um, dass wir eine Weile schweigend nebeneinander hergingen. Bis zu dem Zeitpunkt hatten wir nie über Politik diskutiert, aber ich war aus irgendeinem Grund fest davon ausgegangen, dass Latyschka meine Ansichten teilte. Oder vielmehr die Ansichten meiner Familie. Die Küchenbetrachtungen meines Vaters waren mir immer derart logisch, zutreffend und zwingend erschienen, dass ich mir einfach nicht vorstellen konnte, in Moskau, zumal an der Moskauer Universität, könnte jemand anders argumentieren.
Dabei hatten Latyschkas Worte mich nicht bloß überrascht. Ich bekam regelrecht Schiss, ich hatte es nämlich nicht gelernt zu streiten. Die paar jämmerlichen Male, die einer meiner Klassenkameraden von seinen Sympathien für den Präsidenten gesprochen hatte, hatte ich die Betreffenden einfach voller Geringschätzung angesehen und gedacht, was kapieren die schon. Aber Latyschka voller Geringschätzung ansehen ging gar nicht. Erstens schien sie mir ungeheuer klug. Zweitens sah sie mich schon voller Geringschätzung an.
„Ich soll also dem Präsidenten dankbar dafür sein, dass ich umsonst studieren darf?“, fragte ich schließlich. „Aber das ist doch … also ist doch eigentlich gar nicht sein Verdienst. Das ist sowas wie unsere Vereinbarung mit dem Staat, oder? Dass Bildung nichts kostet, war außerdem schon zu Sowjetzeiten der Fall. Das hat sich doch nicht Putin ausgedacht.“
„Ausgedacht nicht“, stimmte Latyschka zu. „Aber dank Putin kann der Staat dafür aufkommen.“
„Zu Jelzins Zeiten hat das Studieren auch nichts gekostet.“
„Zu Jelzins Zeiten waren die Menschen damit beschäftigt zu überleben. Unter Putin kannst du nicht nur irgendwie studieren, sondern sogar noch unter würdigen Bedingungen.“
„Naja, unsere Uni ist einfach ziemlich reich. Das ist ja nun nicht überall so.“
„Aber immerhin bist du an dieser Uni genommen worden. Und deine Eltern bezahlen dafür keinen Rubel.“
„Was meinst du, was die für meine Repetitoren abdrücken mussten!“
„Na gut, aber das ist eine Frage deiner persönlichen Fähigkeiten. Ich habe kein Geld für Repetitoren ausgegeben.“
Ich kochte vor Wut.
„Wir studieren doch Publizistik! Und Putin schafft die Meinungsfreiheit ab!“
„Freiheit ohne Kontrolle geht nicht. Und er hat Maßnahmen ergriffen, die notwendig waren. Ich sehe nicht, dass die Presse hier ernsthaft drangsaliert würde. Es gibt die Novaya Gazeta, Echo Moskvy, den Kommersant, Vedomosti, das ganze Internet.“
‚Ich habe große Achtung vor dem Präsidenten des Landes, dem ich so viel verdanke‘, erwiderte Latyschka gemessen. ‚Ich kann eben dankbar sein. Unter Putin kannst du nicht nur irgendwie studieren, sondern sogar unter würdigen Bedingungen. Du hättest genauso Grund, dankbar zu sein‘
Sämtliche Argumente, die ich in der elterlichen Küche gehört hatte, zerschellten an der unerschütterlichen Überzeugtheit in Latyschkas Stimme in tausend Stücke. Ich bedauerte auf einmal, dass ich meinen Vater nicht einfach aus der Manteltasche ziehen konnte.
„Und was ist mit dem Mord an Politkowskaja?“, fiel mir endlich noch ein. „Nach der Sache können wir uns in unserem Beruf wohl kaum noch sicher fühlen!“
Latyschkas Gesicht verfinsterte sich. Sie hatte [damals vor Anna Politkowskajas Haus – dek] in der Lesnaja Uliza Blumen niedergelegt.
„Für das Material, das sie geliefert hat, hätte die Politkowskaja auch in jedem anderen Land der Welt ermordet werden können. Journalismus ist einfach gefährlich, Beschlej. Aber du hast bisher nichts zu befürchten. Wenn du eine Politkowskaja werden willst, hör zuallererst mal auf, dich vor dem Küchenlappen zu fürchten.“
III.
Heute heißt es auf der Homepage des Studentenwohnheims, in das ich 2006 einzog, die 14,5 Quadratmeter großen Zimmer seien mit jeweils zwei Studierenden belegt, auf jeder Etage gebe es zwei Duschräume mit Einzelduschen und die Küchen seien rund um die Uhr offen. Sei‘s drum, zumindest weiß ich jetzt, was sich in den letzten zehn Jahren alles zum Besseren verändert hat.
Ich erinnere mich an keine einzige Vorlesung. Doch, ich erinnere mich, wie Latyschka und ich in Makroökonomie einen Streit wegen des lettischen Präsidenten hatten
Zu unseren Zeiten wohnte man jedenfalls zu dritt, und ich erinnere mich noch gut an die stickige Luft morgens in unserem Zimmer und an den Geruch des Waschschwamms aus der Schüssel unter meinem Bett. In den ersten drei Jahren gab es einen einzigen Duschraum – riesig und gnadenlos ohne Vorhänge oder Kabinen, dank dem mir die anatomischen Besonderheiten meiner Kommilitoninnen heute besser in Erinnerung sind als ihre Nachnamen. Die Küchen schlossen die Etagenfrauen nachts immer ab. Warum sie das taten, wusste keiner, aber es wollte sich auch keiner mit ihnen anlegen.
Mit Latyschka und Katja – unserer dritten Zimmergenossin, einer Psychologiestudentin – habe ich ein Fünftel meiner Lebenszeit verbracht. Wenn ich heute jedoch versuche, diese Jahre im Detail zu rekonstruieren, entsteht in meinem Kopf eine Art Ansammlung von Episoden, die zusammengenommen wahrscheinlich eine Zeitspanne von einigen wenigen Tagen ergeben. Vielleicht eine Woche.
Also, ich stehe morgens auf oder ich stehe nicht auf, sondern schlafe bis mittags. Ich trödele in der Gemeinschaftsdusche rum. Ich ziehe mich an, komme immer und überall zu spät. Ich gehe zur Uni. Oder gehe nicht zur Uni, sondern zwei Treppen runter in den gelb gekachelten Raucherraum und lasse dort lange Zeit Ringe an die verqualmte Decke steigen. Oder ich gehe raus, Richtung Kirche. Es ist grauer Herbst. Oder Frühling. Aus irgendeinem Grund kann ich mich nicht an Winter erinnern. Ich rauche. Der Weg den Hügel hinauf. Das goldene Schild der Universität. Erster Stock, zweiter Stock. Die Plastiktüren. Die engen Bänke.
Ich erinnere mich an nichts. An keine einzige Vorlesung. Doch, ich erinnere mich, wie ich in Westlicher Literatur Würstchen mit Ketchup gegessen habe. Und wie Latyschka und ich in Makroökonomie einen Streit wegen des lettischen Präsidenten hatten.
Bei uns galt damals als chic, Wirtschaftszeitungen dabeizuhaben, doch im Unterschied zu den meisten anderen las Latyschka die gesamte Presse auch tatsächlich durch
Es war im zweiten Studienjahr. Ich hatte die Vedomosti mit in die Vorlesung gebracht, und Latyschka hatte sie mir natürlich prompt abgeknöpft. Bei uns galt damals als chic, Wirtschaftszeitungen dabeizuhaben, doch im Unterschied zu den meisten anderen las Latyschka die gesamte Presse auch tatsächlich durch. Rasch überflog sie die Spalten, schlug die Zeitung auf der Pultbank auf und fing an, auf dem Foto des damaligen lettischen Präsidenten Valdis Zatlers herumzukritzeln.
Die Dozentin – eine stramme Kommunistin, die uns in Makroökonomie unterrichtete -, schritt gemächlich vor der Tafel auf und ab.
Ich flüsterte:
„Auf den stehst du nicht so oder wie?“
„Stimmt.“
„Und wieso?“
Latyschka bedachte mich mit einem abfälligen Blick.
„Der Typ ist einfach ein Niemand“, entgegnete sie nach einer Pause.
„Wie meinst du das?“
„Ich weiß gar nicht, wer er ist. Zwei Wochen vor seiner Ernennung haben sie ihn uns vorgestellt. Ein Arzt, Traumatologe. Nicht mal ein Programm hatte er vorzuweisen.“
„Naja, also so viel besser ist die Lage ja bei uns nun auch nicht“, hob ich zaghaft an. „In dem Land, das du dir ausgesucht hast, wird der Präsident auch nicht gewählt.“
„Du kannst dir überhaupt nicht vorstellen, wie wenig er in Lettland gewählt wird. Er wird von den Parlamentsabgeordneten bestätigt, nicht vom Volk.“
„Aber das Parlament, das wählt ihr doch.“
„Und ihr wählt sowohl das Parlament als auch den Präsidenten!“
„So ein Schwachsinn. Wir wählen hier überhaupt niemanden!“ Langsam war ich echt genervt. „Es geht doch die ganze Zeit nur um den ‚Erben‘. ‚Nachfolger-Wahlen‘. Wenn ich das schon höre! Stößt dir an der Formulierung nichts auf?“
„Putin habt ihr selber gewählt. Ihr, das russische Volk, seid zur Wahl gegangen und habt für ihn gestimmt. Und für seinen Nachfolger werdet ihr auch stimmen.“
„Bei uns ist die große Mehrheit einfach nicht ganz dicht, das ist alles.“
„Da musst du dich jetzt mal entscheiden: Sind die Leute bei euch nicht ganz dicht oder stimmt was mit Putin nicht?“
„Die haben hier alle einen an der Waffel. Ganz Russland hat einen an der Waffel.“
„Nicht Russland hat einen an der Waffel, du bist es, die hier einen an der Waffel hat. Du hast doch alles, deine Familie hat alles, was willst du denn noch? Wenn’s dir hier nicht gefällt, kannst du ja auswandern.“
„Was weißt du denn bitte über meine Familie? Meine Eltern haben einen kleinen Laden. Aber früher, da hatten sie drei kleine Läden. Jetzt haben sie nur noch den einen, die Steuern, die Miete, ständig steht der Brandschutz auf der Matte.“
Ich kochte vor Wut. Wut auf sie – weil sie so selbstsicher und so überzeugend war, und auf mich selbst – weil ich angefangen hatte zu zweifeln
„Die Situation der Kleinunternehmer ist mir nicht so geläufig, aber ich sehe das große Ganze. Das Bruttoinlandsprodukt steigt, die Einkommen steigen, meine Oma in Lettland bekommt inzwischen eine russische Rente ausgezahlt. Kann sein, dass es speziell deine Familie nicht so gut getroffen hat, aber das heißt ja nicht, dass allgemein alles schlecht ist. Aber wenn du nicht bereit bist abzuwarten, dass das Land sich entwickelt, wenn du nicht bereit bist, deinen Beitrag zu leisten, dann hau doch ab! Ich bin dazu bereit. Ich will die Staatsbürgerschaft, ich will hier leben und arbeiten. Und du haust eben ab! Niemand hindert dich. Setz dich irgendwo ins gemachte Nest.“
„Und wie ich abhauen werde, da kannst du Gift drauf nehmen“, knurrte ich.
Latyschka vertiefte sich demonstrativ in ihre Aufzeichnungen, während ich noch etwa fünf Minuten brauchte, um meine Atmung unter Kontrolle zu bringen. Ich kochte vor Wut. Wut auf sie – weil sie so selbstsicher und so überzeugend war, und auf mich selbst – weil ich angefangen hatte zu zweifeln.
Mehr als alles auf der Welt wünschte ich mir in diesem Augenblick – wie auch später nach jedem unserer Streits wieder – die Zukunft möge jetzt sofort anbrechen und sich als derart furchtbar herausstellen, dass selbst Latyschka mir nicht mehr würde widersprechen können.
IV.
Mit der Zeit hörte ich auf, mit ihr zu streiten. Latyschkas Autorität hatte sich in meinen Augen mit jedem Jahr weiter gefestigt. Außerdem lebte ich in der ständigen Angst, sie könnte mir die ungewischten Böden vorhalten.
„Ich will leben wie in Europa!“
„Aber du hast seit drei Jahren den Boden nicht gewischt!“
Doch Latyschka hielt einem nichts vor. In regelmäßigen Abständen nahm sie demonstrativ den Schrubber zur Hand, wischte damit zwei Minuten lang grimmig über den Boden – wobei man sagen muss, dass es im Zimmer davon nicht sauberer wurde – und setzte sich wieder an ihr Notebook. Wirklich gewischt hat den Boden lediglich Katja – jedoch derart leidend und still, dass niemand von uns ihre Mühen würdigte oder überhaupt nur zur Kenntnis nahm.
Latyschka machte Karriere beim staatlichen Rundfunksender. Ich schleppte mich einmal die Woche zum Praktikum in der Wirtschaftsredaktion des Kommersant
Was mich betraf, war jedoch durch Latyschkas Bemühungen bereits zu Beginn des zweiten Studienjahres das Bild einer faulen dummen Gans aus reichem Hause fest verankert. Und – ich kann es nicht verhehlen – ich entsprach diesem Bild von Jahr zu Jahr mehr.
Latyschka machte Karriere beim staatlichen Rundfunksender. Ich schleppte mich einmal die Woche zum Praktikum in der Wirtschaftsredaktion des Kommersant, tat dort absolut nichts, was irgendeinen Nutzen gehabt hätte, ging dem stellvertretenden Chefredakteur der Abteilung auf die Nerven und sah dafür selbstredend kein Geld.
Im dritten Studienjahr hielt es Latyschka nicht mehr aus und sagte mir ganz direkt:
„Ich kann keinen Respekt vor dir haben, Beschlej. Du bist neunzehn Jahre alt und hängst deinen Eltern am Hals. Ich würde das ja alles noch verstehen, wenn du wenigstens studieren würdest. Aber du studierst nicht. Du schläfst bis mittags, machst das Zimmer nicht sauber, hängst stundenlang im Raucherraum rum und verfrisst irre viel Geld. Zur Zeitung gehst doch du bloß für den äußeren Schein. Oder wo sind deine Artikel? Na?“
Ich hatte ihr eigentlich eine von mir entworfene Grafik aus der letzten Ausgabe zeigen wollen, auf die ich sehr stolz war. Aber unter Latyschkas eisigem Blick kam sie mir mit einem Mal farblos und armselig vor.
Ich machte mich auf die Suche nach einem neuen Job und fand schnell was bei einer neu gegründeten Wirtschaftszeitung. Dort wurde ich die ganze Zeit angeblafft und runtergeputzt, von früh bis spät schlug ich mich mit irgendwelchen Zahlen herum, brachte alles durcheinander und machte mir große Sorgen, dass sie mich feuern würden. Dafür schien Latyschka sehr zufrieden mit mir und ersetzte zeitweise ihren herablassenden Ton durch freundschaftliche Anteilnahme.
Ich konnte mir nur beim besten Willen nicht vorstellen, dass es in Zukunft keine Latyschka mehr geben sollte. Sie stand für alles, wovon ich träumte. Und ich hoffte auf Anerkennung von ihr
Im vierten Studienjahr wurde mir das Leben vollends zur Qual. Zu dem umfangreichen Arbeitspensum kamen die Vorbereitungen auf die Prüfungen und das Diplom. Wir schliefen so gut wie gar nicht mehr. Latyschka verwandelte sich endgültig in einen Roboter und ich mich in ein zutiefst unglückliches, nölendes Wesen.
Manchmal schlich ich mich früh morgens hinunter in den Raucherraum, stellte mich an das Fenstergitter, blies Rauch durch die Stäbe und dachte an die Zeit, wenn das alles vorbei sein würde. Wenn es kein Studium mehr gäbe. Ich nicht mehr eine kleine dumme Reporterin wäre. Ich mich bis zur Redakteurin hochgedient hätte und selber alle anblaffen würde. Ich mir eine eigene Wohnung mieten und in meiner eigenen Küche rauchen würde.
Ich konnte mir nur beim besten Willen nicht vorstellen, dass es in dieser Zukunft keine Latyschka mehr geben sollte.
Sie stand für alles, wovon ich träumte. Und ich hoffte auf Anerkennung von ihr.
V.
Inzwischen weiß ich, dass auch Latyschka ein ganz ähnliches Gefühl – das Gefühl einer unerträglichen Schwere des Erwachsenenlebens – hatte. Uns fehlte in allem, was mit uns geschah und was wir erlebten, Freude und irgendetwas Menschliches.
Um der Tristesse des Wohnheims und einer bestimmten kaum zu ertragenden Stallatmosphäre des Bürolebens zu entfliehen, verliebte ich mich in einen Unidozenten und erklärte von nun an alles mit meinem Liebeskummer. Ich rauche zu viel – denn ich leide. Ich lerne schlecht – denn ich leide. Ich hab den Küchendienst verpennt – ich leide. Ich bin zu spät – habe wieder die ganze Nacht gelitten. Von meinem Leiden wurde mir leichter ums Herz.
An die Wahrhaftigkeit dieser Liebe glaubte Latyschka keine Sekunde, doch schwang sie sich nicht auf, sie mir abzusprechen. Lügen konnte ich noch nie und so litt ich tatsächlich, mit Heulen, hysterischen Szenen, Verzweiflung und Alkohol. Unbeholfen versuchte sie mich zu trösten, aber Gespräche über meine Gefühle fielen ihr nicht leicht – man konnte merken, nicht, dass sie für solche Situationen keine Worte gehabt hätte, aber ihr fehlte irgendwie eine bestimmte Art von Reaktionen.
Ich stand auf. Öffnete den Mund. Und bekam mit einem Mal kein Wort heraus. Ich stand eine Zeitlang da und setzte mich wieder hin
Nie werde ich den Tag im vierten Studienjahr vergessen, an dem ich mich fürchterlich blamierte.
Der Dozent – der besagte – stellte im Seminar die Frage nach der Definition der Verfassunggebenden Versammlung. Die gesamte Seminargruppe schwieg hartnäckig und ich entschloss mich, die Situation zu retten. Ich würde aufstehen und diese ausgesprochen einfache Frage beantworten. Ich stand auf. Öffnete den Mund. Und bekam mit einem Mal kein Wort heraus. Ich stand eine Zeitlang da und setzte mich wieder hin.
Abends nahm mich Latyschka, die zu einer anderen Seminargruppe gehörte und die Szene nicht miterlebt hatte, ins Verhör:
„Das heißt also: Du warst vor lauter Liebe nicht imstande, die Frage zu beantworten, was die Verfassunggebende Versammlung ist? Wie ist so etwas möglich?“
Sie sah mich mit einer Mischung aus Besorgnis, Verärgerung und Neugier an. Als würde ich ihr gleich ein lebenswichtiges Geheimnis offenbaren. Ich war verheult, verquollen und konnte ihr keinerlei schlüssige Auskunft geben.
„Ich weiß nicht. Ich bin aufgestanden, habe ihn angesehen, und meine Kehle war plötzlich wie zugeschnürt, so ein Druck auf der Brust, weißt du.“
„Vor lauter Liebe?“
„Ich weiß nicht … ich denke schon, ja, vor lauter Liebe.“
Latyschka ging ein paarmal im Zimmer auf und ab, setzte sich dann und hob in bedeutendem Ton an zu sprechen – so hatte sie mit mir noch nie gesprochen. Beinahe auf Augenhöhe.
„Nur etwas wirklich Großes kann einen Menschen daran hindern, die einfache Frage zu beantworten, was die Verfassunggebende Versammlung ist, Beschlej. Ich wünschte, ich würde so etwas empfinden.“
VI.
Ich denke nicht, dass die Veränderungen, die in Latyschka vorgingen, durch mich und meine alberne Verliebtheit ausgelöst wurden, mit der ich unser ganzes Zimmer nervte. Ich denke, irgendetwas in ihr war schon vorher in Gang gekommen.
Sie entwarf neue Programme und Formate. Schrieb fortwährend irgendwelche Konzepte. Machte Präsentationen. Jedes Mal endete es mit einer Enttäuschung. Und jedes Mal hatte diese Enttäuschung etwas von kindlichem Erstaunen
Mir fällt zum Beispiel ein, dass sie von Jahr zu Jahr mehr über die Arbeit klagte. Irgendwann war sie auf die Idee gekommen, sie könne bei dem Radiosender, bei dem sie arbeitete, eine Art Fortschrittsmotor werden. Sie sprach von Reformen, träumte davon, den schwerfälligen Koloss von Staatsorgan Schritt für Schritt in Richtung einer besonnenen Effizienz zu manövrieren. Sie entwarf neue Programme und Formate. Schrieb fortwährend irgendwelche Konzepte. Machte Präsentationen. Arbeitete Wohltätigkeitsprojekte aus. Jedes Mal endete es mit einer Enttäuschung. Und jedes Mal hatte diese Enttäuschung etwas von kindlichem Erstaunen. „Ich verstehe nicht“, sagte sie dann, „ich verstehe nicht, warum die sich nicht verändern wollen. So würde es doch allen besser gehen.“
Immer häufiger schickte sie mir Meldungen, über die sie sich aufregte. Sie redete von der Schwäche der russischen Wirtschaft, der Erdölabhängigkeit, der Ineffizienz der Staatsmacht, der schlechten Qualität der Ausbildung. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir ihre Einbürgerung und ihren ersten russischen Pass gefeiert hätten.
Nachdem wir den Bachelor abgeschlossen hatten (sie – mit Rotem Diplom, ich – mit Mühe und Not), begannen wir gemeinsam den Master. Ihre Uni-Verdrossenheit nahm rasant zu. Sie begann Vorlesungen zu schwänzen, lieferte schlechte Klausuren ab. Und verkündete kurz vor den Sommerprüfungen, sie werde das Studium schmeißen. In ihrer üblichen schroffen Art erklärte sie, das Masterstudium habe ihre Erwartungen nicht erfüllt und es gebe außer dem Studieren noch so viel anderes Wertvolles im Leben. Eines Tages packte sie ihre Sachen und weg war sie.
Latyschkas Entschluss erschütterte mich. Mehre Tage war ich vollkommen in Aufruhr. Latyschkas leeres Bett mit der meerwellenfarbenen Synthetikdecke darauf versetze mich in größte Unruhe. Nachts bog sich das Metallfedernetz ihres Bettes nicht mehr durch, es blieb ganz still. Da oben war niemand mehr.
Mir grauste.
Ich überlebte mit Mühe und Not die Prüfungen, aber noch im selben Sommer wurde mir klar, dass ich das zweite Masterjahr nicht mehr weitermachen würde. Ohne Latyschka hatte das Studium vollkommen seinen Sinn verloren – mir war mein Bezugspunkt abhandengekommen.
Die nächsten beiden Jahre trafen wir uns hin und wieder, blieben in Kontakt.
Sie machte weiter Karriere und bekam immer wieder neue Stellen. Doch bereits damals sagte sie mir bei jedem unserer Treffen, sie sehe keine Perspektive. Fühle sich oft kraftlos und apathisch. Sie war genervt von ihren Chefs und der Zensur. Nach der Verkündung der Präsidenten-Rochade im September 2011 hörte ich Latyschka zum ersten Mal etwas murmeln wie „Zeit die Zelte hier abzubrechen“.
‚Du darfst nicht vergessen, dass unsere Sendungen in der gesamten GUS laufen, Beschlej. Jetzt haben sie Nawalny in Tadschikistan, Usbekistan und Kirgistan gehört. Das war eine ganz schön subversive Aktion.‘ Kurz darauf fing sie plötzlich mit den Massage-Kursen an
Sie legte sich Hobbys zu, die man keinesfalls von ihr erwartet hätte – Fengshui, Psychologie, Horoskope. Sie probierte verschiedene Extremsportarten aus und hatte sich einen merkwürdigen Typen angelacht, der, wie sie behauptete, mit bloßem Blick Schlösser knacken konnte. Dann fing sie an, sich mit östlichen Praktiken zu beschäftigen und liebäugelte mit verschiedenen Religionen. Sie machte Urlaub in Tibet und als sie zurückkam, tötete sie keine Mücken mehr.
Ihr Interesse an der uns umgebenden Wirklichkeit flackerte auf in der Zeit der Proteste 2011/2012. Sie stürzte sich aufs Neue kopfüber in ihre Arbeit. Nur dass sie dieses Mal diejenige sein wollte, die alles von innen heraus ins Wanken bringt. Sie triumphierte jedes Mal, wenn es ihr gelang, in einer Nachrichtenmeldung inoffizielle Zahlen zur Anzahl der Kundgebungsteilnehmer einzuschleusen, wenn sie Zitate von den Protestanführern oder auch einfachen Teilnehmern unterbringen konnte. Doch mit der Zeit wurden die Protestnachrichten abgelöst durch eine regelrechte Welle von Verhaftungsmeldungen, später waren es Berichte von den Gerichtsverfahren. Latyschkas Enthusiasmus erlosch. Ihre letzte Heldentat war eine Rede Alexej Nawalnys nach einer seiner Verurteilungen, die sie persönlich auf Sendung schaltete.
„Mann, du bist echt cool“, sagte ich damals zu ihr.
Latyschka wirkte nicht glücklich.
„Du darfst nicht vergessen, dass unsere Sendungen in der gesamten GUS laufen, Beschlej. Jetzt hat man Nawalny in Tadschikistan, Usbekistan und Kirgistan hören können. Das war eine ganz schön subversive Aktion.“
Ich bin aber bis heute der Meinung, dass sie damals mutig gehandelt hat.
Binnen kurzem hatte sie ihren eigenen Kundenstamm. Die Arbeit beim Radio wurde mittlerweile bloß noch als Störfaktor thematisiert
Kurz darauf fing sie plötzlich mit den Massage-Kursen an. Ich dachte, dieses Hobby würde ebenso schnell wieder verschwinden wie die übrigen. Doch kaum hatte Latyschka einen Kurs absolviert, fing sie schon den nächsten an. Und dann noch einen. Bald knetete sie mir und meinen Freunden regelmäßig den Rücken durch. Binnen kurzem hatte sie ihren eigenen Kundenstamm. Die Arbeit beim Radio wurde mittlerweile bloß noch als Störfaktor thematisiert.
„Weißt du, das ist … das ist so ein Glück, wenn deine Arbeit darin besteht, jemandem etwas Gutes zu tun“, erklärte mir Latyschka. „Darüber habe ich früher nie nachgedacht. Ich wusste nicht, wie wichtig das ist – nicht einfach nur nichts Böses, sondern etwas Gutes zu tun, etwas Richtiges und Notwendiges.“
Sie nahm sich alles sehr zu Herzen. Als klar war, es würde darauf hinauslaufen, dass sie die Arbeit beim Sender aufgab, brach bei ihr eine offensichtliche Krise aus. Ihr Job war gut bezahlt, sie hatte eine gute Wohnung, einen hohen Posten. Und schließlich war da ihre Mutter in Lettland, so stolz, dass ihre Tochter in die „historische Heimat“ zurückgekehrt und dort so erfolgreich war.
„Wie kann ich das alles aufgeben, Beschlej? Was sage ich meiner Mutter? Und was werden all die anderen Leute sagen? Unsere Kommilitonen? Meine Kollegen?“
Und ich, die ich ihr mehr als irgendjemand sonst sagen konnte und wollte, gab zur Antwort:
„Weißt du was, die können dich alle mal. Na gut, alle bis auf deine Mutter.“
Ende Mai will sie die Aufnahmeprüfungen ablegen. Mit dem europäischen Diplom in der Tasche hofft sie dann später irgendwo in Europa arbeiten zu können
Beim Sender kündigte sie kurz nach den Krim-Ereignissen von 2014. Und machte dann eine Pilgertour auf dem Jakobsweg, bis nach Santiago de Compostela.
Ihre Reiseberichte schickte sie an die Zeitschrift, bei der ich damals arbeitete. Ich redigierte ihre Texte, las grollend von dem WEG, den „jeder für sich finden sollte“, während ich ihre Fotos betrachtete, die so farbenfroh waren und so surreal in meinem staubigen Büro.
„Okay“, dachte ich, „früher oder später wird sie ja zurückkommen.“
VII.
Latyschka ging zurück nach Lettland.
Der Umzug zog sich quälend lange hin. Immer wieder hatte sie irgendwelche Sachen vergessen, derentwegen sie noch einmal wiederkam. Wir hatten uns bestimmt schon dreimal verabschiedet.
Im Februar endlich war es so weit.
Sie hat sich in Riga eine Wohnung gemietet. Ihr eigenes Geschäft angemeldet. Sie massiert jetzt legal, zahlt Steuern. In Moskau war das aus irgendwelchen Gründen äußerst schwierig und vollkommen unrentabel gewesen.
Der Käse sei in Lettland jetzt viel besser als damals, als sie wegging, schrieb sie.
Ende Mai will sie die Aufnahmeprüfungen für die Medizinische Universität ablegen. Mit dem europäischen Diplom in der Tasche hofft sie dann später irgendwo in Europa arbeiten zu können.
Ich denke oft daran, wie ich ihr eines Nachts, kurz vor den Abschlussprüfungen, meinen Gedanken vorstellte, dass irgendwo schon jetzt die Zeit und der Raum existieren, wo alles, was jetzt ist, bereits hinter uns liegt:
„Nehmen wir mal an, es sind zum Beispiel fünf Jahre vergangen. Es ist Nacht wie jetzt. Du liegst im Bett. Wo liegst du da?“
„Ich habe keine Ahnung. Aber ich hoffe, es wird nicht allzu weit bis zum Meer sein. Ich vermisse das Meer. Und du, Beschlej?“
„Ich weiß es auch nicht. Aber ich hoffe, ich habe dann eine gute Matratze.“
F – S – B: diese drei Buchstaben haben heute in etwa die gleiche Signalwirkung wie früher KGB. Die Journalistin Olga Beschlej schildert aus eigener Erfahrung, wie der Geheimdienst mit ihr Kontakt aufnahm und welches Kopfkino das in Gang setzte: Ihr persönlicher FSB-Film beginnt mit einer turbulenten Wohnungssäuberung und gipfelt in einem riesigen rosa Vibrator. Ein Kabinettstück zu Überwachung und Überwachungsmanie, das diesen Monat im russischen Internet tausendfach geteilt wurde. Wir meinen: vollkommen zu Recht, und teilen den Text nun einmal mehr – auf Deutsch.
„Werfen Sie mindestens eine nutzlose Sache pro Tag weg.“
– ADME, 10 Tipps, wie Sie Ihr Zuhause entrümpeln
I.
Unlängst war ich auf einer Veranstaltung, auf der erfahrene Journalisten und Autoren von Büchern über Geheimdienste erklärten, was man tun soll, wenn man einen Anruf vom FSB bekommt. „Auf keinen Fall“, sagten sie, „dürft ihr euch mit ihnen auf ein Treffen im Café einlassen. Lasst das Gespräch nicht in deren Dienststelle stattfinden. Geht keine informellen Beziehungen mit ihnen ein. Glaubt nicht, dass ihr sie überlisten könnt.“ Den erfahrenen Kollegen zufolge soll man sofort, nachdem einen der FSB kontaktiert und einen Gesprächstermin vorgeschlagen hat, in allen sozialen Netzen darüber berichten.
Glaubt nicht, dass ihr sie überlisten könnt
„Wenn ihr das nirgendwo bekanntgebt, dann schreibt der Agent, der euch angerufen hat, eine Dienstmeldung, dass der Kontakt hergestellt ist und man mit euch arbeiten kann. Irgendwann taucht er wieder bei euch auf. Daher stellt lieber gleich klar, dass ihr einen Knall habt und man mit euch lieber nichts am Hut haben soll. Dann schreibt der Mitarbeiter in seine Dienstmeldung: ‚Hat einen Knall.‘ Und ihr habt eure Ruhe.“
Diese Anleitung fand ich äußerst beunruhigend. Denn ich war im August 2015 vom FSB zu einem informellen Gespräch geladen worden. Ich hatte abgelehnt, aber nirgends darüber geschrieben.
Es wurde Zeit, diesen Fauxpas auszubügeln.
II.
Das war am 10. August 2015 gewesen.
Tagsüber.
Ich kann die Uhrzeit auch genauer sagen, denn um 13:35 schrieb ich meiner Chefin im Office-Chat: „Katja, ich krieg grad einen Anruf vom FSB.”
Namen, Vornamen und Funktion des FSB-Mitarbeiters habe ich ebenfalls gespeichert. Als er sich vorstellte, habe ich sie gleich notiert. In irgendeinem Dokument, das ich gerade auf meinem Bildschirm offen hatte. Aber was das für ein Dokument war, weiß ich nicht mehr, und ich habe es noch nicht wiedergefunden.
Ich habe auch eine Aufnahme des Gesprächs. Auf meinem vorigen Telefon hatte ich ein Programm, das eingehende Anrufe automatisch aufzeichnete. Nicht am selben Tag, sondern erst viel später kam mir in den Sinn, dass diese Aufnahme wichtig sein könnte, und ich schickte sie an meine eigene E-Mail-Adresse. Letztens habe ich sie dort gesucht und festgestellt, dass ich mir regelmäßig E-Mails „ohne Betreff“ schicke, und fand da ein tatsächlich nicht unwichtiges Training für knackige Pobacken. Das Telefon von damals habe ich nicht mehr, also kann ich mir auch das Original nicht mehr anhören.
Olga Iljinitschna? Hier der Föderale Sicherheitsdienst
Im Endeffekt will ich darauf hinaus, dass ich gewissermaßen verantwortlich gehandelt habe, trotz des Schauders, der mich an der Kehle packte, als aus dem Hörer eine freundliche junge Männerstimme ertönte: „Olga Iljinitschna? Hier der Föderale Sicherheitsdienst.“
Der Anruf überraschte mich in der winzigen Küche meiner Mietwohnung. Ich saß im Pyjama an einem Text und aß gerade die letzten Bissen Rührei. Die Sonne überflutete den Tisch und wärmte mir die Hände. Es war schwül. Der Herr stellte sich vor und lud mich höflich zu einem Gespräch in eine der Dienstellen des FSB ein.
Mit Mühe brachte ich heraus:
„Worum geht es?“
„Das erfahren Sie bei dem persönlichen Treffen.“
„Und warum nicht gleich?“
„Nicht am Telefon.“
Einen Moment lang überdeckte pure Fassungslosigkeit alle sonstigen Gefühle in mir.
„Wieso nicht am Telefon? Werden Sie etwa abgehört?“
„Wer hört hier mit?“, kommt es verwundert aus dem Leitung.
„Keine Ahnung. Ich sag das nur immer, wenn ich glaube, dass Sie mich abhören.“
Wir schwiegen kurz.
„Olga Iljinitschna, an welchem Tag, und zu welcher Uhrzeit würden Sie gern herkommen?“
„Kann ich auch ablehnen?“
„Würde ich Ihnen nicht raten.“
„Und was passiert, wenn ich nicht komme?“
„Das wäre nicht in Ihrem Interesse.“
„Interessiert Sie meine Arbeit?“
„Kann ich nicht sagen.“
„Eine konkrete Geschichte?“
„Ich habe nicht gesagt, dass wir Sie aus dienstlichen Gründen herbestellen.“
„Sie interessieren sich also für meine Beziehung mit einem 47-jährigen, nicht arbeitenden Mann?“
Der Mann in der Leitung stockte.
„Nein.“
„Aber die restliche Zeit verbringe ich ausschließlich mit Journalismus.“
Wir schwiegen wieder ein wenig. Und da sagte ich, als ob in meinem Kopf plötzlich etwas angesprungen wäre:
„Wissen Sie was, ich rufe wohl meinen Anwalt an.“
III.
„Hallo, bin ich beim FSB? Hier Beschlej!“
„Hier ist nicht der FSB, ich habe Ihnen doch meine private Nummer gegeben!“, kommt eine genervte Stimme aus der Leitung. „Warum schreien Sie so?“
„Ah. Weiß auch nicht. Damit Sie mich gut verstehen. Also, alle sagen, wenn keine offizielle Ladung vorliegt, dann muss ich nicht kommen.“
„Wer – alle?“
„Na, die Juristen und Journalisten, die ich kenne. Die sagen, ich kann ablehnen. Und wenn Sie eine Ladung haben, dann komme ich mit meinem Anwalt.“
Wir sind zivilisiert. Wir verpassen den Leuten während des Gesprächs keine Elektroschocks
„Hören Sie, ich habe keine Ladung. Ich möchte Sie zu einem informellen Gespräch zu uns einladen, das Sie in keiner Weise gefährdet. Wovor haben Sie Angst? Wir sind ja nicht das Innenministerium. Wir sind zivilisiert. Wir verpassen den Leuten während des Gesprächs keine Elektroschocks .”
„War das jetzt ein Scherz?“
„Nein, wir machen das wirklich nicht.“
Wir schwiegen kurz.
„Na, wie gesagt, ich komme nicht.“
„Und wenn wir uns in einem Café treffen?“
„Nein, ich komme trotzdem nicht.“
Wir schwiegen wieder.
In der Leitung raschelte es, als ob mein Gesprächspartner Seiten umblätterte.
„Vielleicht haben wir unsere Bekanntschaft falsch angefangen“, sagte er nun ganz sanft. „Sie sind doch Journalistin. Sind Sie denn gar nicht neugierig, worüber ich mit Ihnen sprechen will?“
„Nun ja … klar bin ich neugierig.“
„Ihnen ist doch wohl bewusst, dass der FSB die einzige Quelle für wirklich hochwertige Informationen ist?“
„Nun ja …“
„Und Sie, Olga Iljinitschna, verweigern das Gespräch. Wissen Sie, wie viele Ihrer Kollegen eine solche Möglichkeit nie und nimmer ausschlagen würden? Und wissen Sie, wie glücklich viele Journalisten über so eine Gelegenheit wären?“
„Glücklich?!“
„Sie haben keine Ahnung, wie froh die Leute manchmal von uns weggehen!“
„Froh?! Vom FSB?!“
„Vom FSB! Wir sind Meister im Teamwork, von dem alle Beteiligten profitieren.“
Olga Iljinitschna, … darf ich Ihr James Bond sein?
„Aber Moment mal, wenn Sie schon Journalisten haben, zu denen Sie das alles durchsickern lassen, wozu brauchen Sie dann noch mich?“
„Sie sind ein äußerst interessanter Mensch.“
„Ich?“
„Ungewöhnlich. Kreativ. Begabt. Ich würde sogar sagen … herausragend!“
Etwas regte sich in mir. Der erbärmliche Teil meines Selbst, der immerzu gierig nach Lob und Anerkennung verlangte.
„Ach, kommen Sie, herausragend …“
„Nein, wirklich. Sie können sich gar nicht vorstellen, mit welchem Genuss ich Ihr Facebook lese. Diese Ironie, dieser Humor.“
„Im Ernst? Sie lesen mein Facebook?“
„Sie haben eine große Zukunft! Und Sie könnten uns helfen!“
Wieder raschelte es in der Leitung.
„Hier, zum Beispiel, am 5. März: ‚Ich will kein Büro-Nerd sein, ich werde jetzt Bond-Girl‘. Olga Iljinitschna, … darf ich Ihr James Bond sein?“
Ich stellte mir vor, wie statt einem Aston Martin ein schwarzer Rabe bei mir vorfährt.
„Nein.“
IV.
Die ersten Tage nach dem Anruf des FSB-Beamten war ich tatsächlich damit beschäftigt gewesen, allen meinen Bekannten davon zu erzählen. Wie ich später erfuhr, hatte ich intuitiv fast richtig gehandelt. Fast – denn ein schwerer Fehler war mir trotzdem unterlaufen.
Würde ich jetzt eine Anleitung schreiben, was man tun und was besser lassen soll, wenn einen der FSB anruft, dann wäre der erste Punkt: ERZÄHLE ES NIE DEINER MAMA.
„Olga! Du hast bestimmt ein Verfahren laufen!“
„Aber nein, Mama, was denn für ein Verfahren, ich bitte dich …“
„Ich sag’s dir!“
„Es gibt doch nicht mal eine offizielle Einladung.“
„Aber ein Verfahren!“
„Was denn für eins?“
„Irgendeins! Einfach so ruft einen der FSB nicht an! Am Ende sperren sie dich ein?!“
„Ja, wofür denn?“
„Wofür sitzen denn jetzt alle? Wegen irgendeinem Repost! Wegen vulgärer Sprache auf Facebook!“
„Wegen vulgärer Sprache sitzt man noch nicht.“
„Das sag ich dir jetzt als Mutter: Hör auf so schmutzige Wörter zu benutzen, Tante Tanja liest mit, wie soll ich der noch in die Augen schauen? Was sind das überhaupt für Ausdrücke, ein Mädchen wie du, schämst du dich nicht, wenigstens hast du aufgehört zu rauchen, ich kann nicht glauben, dass meine Tochter …“
„Mama …“
„Komm mir nicht mit ‚Mama‘! Der FSB ruft dich an! Am Ende machen Sie noch eine Hausdurchsuchung bei dir.“
„Ja, wieso denn eine Hausdurchsuchung?“
„Wieso gab es eine bei Sobtschak? Das arme Mädel, nicht mal anziehen durfte sie sich. Du wirst auch noch völlig nackt auf dem Flur stehen, das sag ich dir schon seit langem, du sollst zuhause Wollsocken anziehen, bei euch zieht’s von unten, durch diesen Spalt unten am Fenster …“
„Mama …“
„Olga, merk dir das. Wenn sie da sind, ruf mich sofort an. Ich komme.“
Nach drei Tagen begannen dann seltsame Dinge mit mir zu geschehen. Beim Fensterputzen in der Küche fiel mir plötzlich auf, dass in die Außenmauer ein dicker Eisennagel eingeschlagen war. „Wenn sie kommen, kann ich da einen Beutel mit meinem Notebook aufhängen“, dachte ich und ärgerte mich gleich: „Na, da hast du ja was gefunden, worüber du dir den Kopf zerbrechen kannst.“
Doch der Nagel ließ mir auch am nächsten Tag keine Ruhe.
„Die schicken doch immer einen rund ums Haus. Der sieht dann, wie ich den Beutel aufhänge. Aber vielleicht auch nicht. Da steht ein Baum. Ich muss schauen, ob man unser Fenster von unten sieht. Verdammt, was soll der schon von dir wollen, du dumme Kuh.“
Auf dem alten Notebook sind Nacktfotos
Weitere zwei Tage später stand ich mit Einkaufstaschen unter dem Fenster und versuchte den Nagel zu erspähen.
„Man sieht ihn.“
Die Krise bekam ich in der Nacht auf den sechsten Tag. Ich wachte auf, als hätte ich einen Stoß in die Rippen bekommen, und dachte: „Auf dem alten Notebook sind Nacktfotos.“ Vor meinem inneren Auge erschien ein schmächtiger Mann um die 35. Hinter einem massiven Schreibtisch. In dunkelblauem Jackett, Krawatte und verschwitztem Hemd. Sein Gesicht kaum zu sehen, weil die Tischlampe auf mich gerichtet war.
„Olga Iljinitschna, was soll denn das … nach außen hin so ein anständiges Mädchen. Was wird denn da Ihre Mama sagen?“
Ich sprang aus dem Bett, riss den Schrank auf, zog die Kartons mit dem alten Technikkram heraus. Dieses Notebook funktionierte kaum mehr, doch ich schaffte es, es hochzufahren. Der Ordner mit den unseligen Fotos war so gut verborgen, dass ich ihn eine ganze Stunde lang suchen musste. Schlussendlich war alles gelöscht.
Gut, dass ich die Fotos noch irgendwo auf CD habe. Shit
Mir wurde ein wenig leichter. Ich versteckte den Computer wieder im Karton und ging ins Bett. Um die Fotos tat es mir ein bisschen leid. Ich hatte sie mit einer Freundin im vierten Studienjahr gemacht, und wahrscheinlich war ich nie so schön und fraulich wie auf diesen Fotos. Mein Blick so direkt und ruhig, als ob Stehen mit nackten Brüsten ganz normal für mich wäre. Gut, dass ich noch irgendwo die CD habe.
Shit.
Die darauffolgende Stunde suchte ich sie.
Ich durchwühlte die Kartons und fand eine verstaubte Plastiktüte. Das waren meine Schulsachen. Mir fiel ein, dass die Ermittler bei der Hausdurchsuchung von irgendeinem Oppositionellen die Schulhefte mitgenommen hatten. Ich griff in die Tüte und zog das Russischheft der fünften Klasse heraus. Ich schlug es irgendwo auf. Am Anfang der Seite stand in salatgrüner Kugelschreibertinte: „Diktat über Fremdwörter aus dem Französischen“. Unter der Überschrift tummelten sich Wörter wie „Builljon“, „Champinjon“ und „Kompanjon“. Mangelhaft.
Ich musste daran denken, wie Mama über dieses Diktat gelacht hatte. Der Mann hinter dem massiven Schreibtisch wieherte auch, den Kopf zurückgeworfen: „Schau, Wassja, Builljon, Champinjon und Kompanjon, ahahahahahaaaa!“ Hinter seinem Rücken tauchte ein Schatten auf, den es ebenfalls vor Lachen schüttelte.
Es war widerlich. Und dieses dumme, ach so niedliche Diktat schien mir plötzlich intimer als die gynäkologischen Ultraschallbilder, die ich schon in eine extra Tüte gepackt hatte. Ich nahm einen Koffer und legte die medizinische Unterlagen und Schulhefte dort hinein. Diese Sachen wollte ich am nächsten Tag zu einem Freund bringen. Dann kamen meine Notizblöcke von der Arbeit dran. Sie kamen mir alle plötzlich schrecklich kompromittierend vor: Putin und Nawalny auf jeder Seite, die Telefonnummern der Auskunftspersonen, Skizzen und Grafiken, Daten von soziologischen Umfragen, Sätze wie „lasst mich schlafen“ oder „fuck it all“ in den Ecken.
Bis acht Uhr morgens zerriss ich meine Tagebücher in kleine Schnipsel
Bis fünf Uhr morgens schrieb ich alles Wichtige heraus und speicherte es in der Cloud, dann zerriss ich die Notizblöcke in winzige Schnipsel. Irgendwann suchte mich die Vorstellung heim, wie der Mann im blauen Jackett die Papierfetzen mit einer Pinzette zusammenfügen würde, doch mit Willenskraft zwang mich, dieses Bild aus meinem Kopf zu jagen.
Wieder legte ich mich hin. Der Schlaf ließ lange auf sich warten. Ich wälzte mich hin und her. Sah zum Fenster hinaus. Horchte. Döste endlich ein. Träumte etwas Beklemmendes. Gegen sieben Uhr morgens wachte ich mit dem Gedanken auf, dass der FSB bloß nicht erfahren durfte, dass ich im vierten Studienjahr in einen Professor vernarrt war, zu Beginn des Magisterstudiums in einen Schauspieler am Theater Satirikon und in Jane Austens Mr. Knightley, der mir bis heute nicht egal ist.
Bis acht Uhr morgens zerriss ich meine Tagebücher in kleine Schnipsel.
Um neun zog der Mann im Jackett meine Spitzenhöschen aus dem Wäschekorb und sagte: „Da haben wir sie, die Schmutzwäsche der Opposition.“ Ich warf die Waschmaschine an.
Unterdessen wuchs der Müllberg.
Ich habe mal in einem Artikel mit Tipps zum Ausmisten gelesen, wenn man alles Unnötige loshaben will, dann soll man jeden Gegenstand in die Hand nehmen, ihn ansehen und sich fragen: „Verspüre ich Freude über den Besitz dieses Gegenstandes?“
Während meiner Vorbereitung auf die hypothetische Hausdurchsuchung stellte ich mir vor, wie ein fremder Mensch meine Sachen anfasst, und fragte mich dabei: „Verspüre ich Entsetzen?“
Ich warf das Halloweenkostüm aus Schulzeiten weg, die gefakten Chanel-Stiefel, die Gay-Pornos und eine originalversiegelte CD mit einer bizarren Rede von Schewtschuk zur Geschichte Russlands. Das hätte ich alles schon längst wegwerfen sollen, doch jetzt war dieses Zeug nicht mehr überflüssig, sondern bedrohlich. Jedes Ding bekam eine neue Bedeutung.
Ich wischte den Boden und die Regale. Räumte den Tisch auf.
Endlich war alles fertig.
Alles war sauber.
Alles war leer.
Im Zimmer zog es ordentlich, der letzte Staub senkte sich in der Sonne. Über den nassen Boden fegte ein kalter Luftstrom. Auf einmal fröstelte es mich. Ich erinnerte mich, dass in einer Schublade in der Kommode meine Wollsocken lagen. Ich öffnete auf gut Glück die unterste, wühlte in den dort vergessenen Klamotten und spürte plötzlich etwas Großes, Hartes, Geschmeidiges.
Ich bekam Gänsehaut, als mir einfiel, was dort lag.
Der Mann im blauen Jackett steckte grinsend die Hand in die Schublade, pfiff beeindruckt und zog einen riesen, rosa Schwanz mit Schaltern zwischen den Anziehsachen hervor.
„Der gehört nicht mir“, sagte ich.
Der Mann drückte auf einen Schalter. Der Schwanz begann aggressiv zu zappeln.
„Wer wird denn zuhause fremde Schwänze aufbewahren?“ merkte der Besucher zu Recht an.
Nehmt bitte diesen Schwanz in Pflege
Dieser Penis war ein Geburtstagsgeschenk meiner besten Freundin gewesen, das ich, verstört und fassungslos, schnell und sündig irgendwo versteckt hatte. Und da war er nun. Riesig, lang, in peinlichem Rosa. Stolz wie ein Jedi-Schwert. Das Excalibur der modernen Jungfer.
Oh Gott, welche Schmach.
Ich packte den rosa Penis und stürzte zu dem Koffer mit den Sachen, die ich zu Freunden bringen wollte.
„Nehmt bitte diesen Schwanz in Pflege“, kommentierte das blaue Jackett.
Ich hielt inne. Stimmt. Seinen Bekannten einen Koffer mit einem Notebook, Heften und Dokumenten zu geben – das ist das Eine. Einen Koffer mit einem Schwanz aushändigen … das kam mir auf einmal schrecklich unanständig vor. Sogar ein bisschen niederträchtig.
Fast hätte ich ihn in den Müllsack gesteckt, doch dann sah ich den rosa Schwanz in den schrundigen Händen der Obdachlosen im Hof, der Hausmeister, der Müllmänner. Mir wurde schwarz vor Augen. Ich rannte mit dem Schwanz in der Hand durch die Wohnung. Es muss doch irgendwo einen Ort geben, wo nichts gefunden werden kann.
Mein Blick wanderte über die leeren Regale, hinüber zu den Bücherbrettern. Hinter den gesammelten Aufsätzen von Dostojewski verstecken? Der Mann im blauen Jackett kicherte fies. Wohin? Wohin damit? Ich überflog die Buchrücken. In meinem Kopf blitzten Satzfetzen auf.
Plötzlich versiegte die Energie, die mich stundenlang angetrieben hatte.
Verschwand, als hätte es sie nie gegeben.
In meinem Kopf wurde es leer und still.
Und dann packte mich endlich eine maßlose Erschöpfung, ich legte den Schwanz entschlossen mitten auf den leeren Tisch und ging schlafen.
P.S.
Der freie Schwanz, wie ich dieses Erzeugnis seither insgeheim nenne, liegt immer noch auf meinem Tisch. Manchmal findet ihn ein Gast unter Stapeln von Papier und Notizbüchern, betrachtet ihn staunend von allen Seiten und legt ihn zurück.