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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Error 505 – Teil 2/2

    Error 505 – Teil 2/2

    Ein ukrainischer Kriegsveteran hat russische Gefangenschaft, Folter, eine Freundschaft mit einem russischen Major und die Flucht nach Europa hinter sich. Jetzt sitzt er mit seiner Familie in einer deutschen Flüchtlingsunterkunft und schimpft auf alle – und will trotzdem zurück.  

    Viele der seltener publizierten individuellen Kriegserfahrungen erscheinen auf den ersten Blick wenig heldenhaft. Oft widersprüchlich, anstößig, unbequem und für Menschen jenseits der Kampfzone schwer nachvollziehbar. Das bringt auch die in der Kriegsrealität alles bestimmende Gewalt mit sich.  

    Olessja Gerassimenko und Ilja Asar haben für Novaya Gazeta Europe eine solche Geschichte dokumentiert: Hier berichtet der ehemalige ukrainische Soldat Witali Manshos von seinem Leben – in teils derben Ausdrücken und mit brutalen Details. Dekoder veröffentlicht diese Geschichte in zwei Teilen auf Deutsch. 

    Teil 1: Mit sowjetisch geprägtem Lebenslauf über missglückten Widerstand hinein in den russischen Folterkeller

    Hier ist Fortsetzungsteil 2: Raus aus dem Folterkeller durch die russische Besatzung bis zur Flucht nach Deutschland

    Als Witali von den russischen Besatzungstruppen festgenommen wurde, trug er einen roten Wollfaden um sein Handgelenk. Das sollte gegen Kopfschmerzen helfen, hatte ihm seine Großmutter beigebracht. Als ihm Handschellen angelegt wurden, waren sie sehr eng, aber an seiner rechten Hand schlossen sie sich über dem Faden, der so verhinderte, dass die Blutzufuhr abgequetscht wurde. Seitdem nimmt Witali den roten Wollfaden nie ab. Collage mit Foto von Iwan Pugatschow
    Als Witali von den russischen Besatzungstruppen festgenommen wurde, trug er einen roten Wollfaden um sein Handgelenk. Das sollte gegen Kopfschmerzen helfen, hatte ihm seine Großmutter beigebracht. Als ihm Handschellen angelegt wurden, waren sie sehr eng, aber an seiner rechten Hand schlossen sie sich über dem Faden, der so verhinderte, dass die Blutzufuhr abgequetscht wurde. Seitdem nimmt Witali den roten Wollfaden nie ab. Collage mit Foto von Iwan Pugatschow

    Ein paar Tage später kommt der russische Soldat mit Rufnamen 505 wieder zu Witali in den Folterkeller: „Wir haben wieder von den Dichtern und so angefangen“, erinnert sich Witali. „Und da geht plötzlich das Kriegsschiff Moskau unter. Das vermieste ihm die Stimmung. Er fing an: ‚Wer braucht das alles, wie hat das überhaupt angefangen …‘ Ich wusste es auch nicht.“ 

    Bis zum 14. April bekam Witali nichts zu essen. Zu trinken gab es nur Wasser aus der Kanalisation. Über zwei Wochen war er nicht auf der Toilette, er konnte nicht. Auf dem Kellerboden standen auch so knöcheltief Kot und Urin. Witali sagt, die Militärs hätten die Klos kaputtgeschlagen. „Sie haben ins Loch geschissen, kein Papier benutzt. Es lief alles in den Keller.“ 

    Irgendwann erzählte 505 Witali, da würde jeden Tag eine Frau Essen für ihn zum Stabsquartier bringen. Als er hörte, dass Witali nichts davon bekam, versprach er, sich darum zu kümmern.  

     

    Kapitel 6: „Ihr Schweine, ihr habt ihn gebrochen, oder?“ 

    Wynohradne, Mai 2022 

    Irina Manshos kam wirklich jeden Tag zur ehemaligen Stadtverwaltung von Molotschansk. Sie stand um fünf Uhr morgens auf, molk und tränkte die Ziegen, kochte frisch – „eine Suppe, damit er was Flüssiges hat, oder Nudeln mit Fleisch oder Frikadellen mit Kartoffelbrei, legte ein Stück Schokolade und Zigaretten dazu“ – und fuhr zum Stabsquartier. Die Soldaten nahmen die Behälter und die Thermoskanne an und gaben sie ihr am nächsten Morgen leer zurück. „Ich dachte, das isst alles Witali.“ 

    Über einen jungen Mann aus der Nachbarschaft, der aus dem Keller freikam, richtete Witali ihr aus, dass er am Leben sei und Zigaretten brauche. 

    „Dabei hab ich ihm jeden Tag welche zum Essen dazugelegt … Vielleicht haben sie das weggekippt, vielleicht haben sie es selbst gegessen. Die waren hungrig. Ich habe gesehen, wie sie unsere wilden Rebhühner gefangen und selbst gerupft haben, gleich dort im Amtsgebäude.“ 

    505 hielt Wort: Ab nun kamen Essen und Zigaretten im Keller an. Eines Abends entdeckte Irina beim Abwaschen der Thermoskanne unter dem Deckel auch einen Zettel. Witali hatte ihr auf einem Fetzen Zeitungspapier mit Putin auf der Titelseite eine Botschaft hinterlassen. Er schrieb, sie soll die Reisepässe vergraben und die Bankkarten verstecken. So begann ihre Korrespondenz. Im zweiten Briefchen bat er um eine Bibel. Irina besorgte beim Priester kleine Heftchen. 

    Tochter Sascha munterte Irina manchmal auf: „Es wird alles gut mit Papa“, und tauchte wieder in ihren Computerspielen ab. So habe sie abschalten können, erklärt Irina. Manchmal legte sie mit einer Freundin Tarotkarten. Sie sagten, ihrem Vater würde die Kraft der Diplomatie in die Hände spielen. 

    Seine Augen waren traurig, er konnte kaum sprechen. Steht vor mir, als würde er sich verabschieden.

    Noch mal zwei Wochen später ließ Stabsleiter 505 Witali zum ersten Mal seine Frau anrufen. Dann kam er mit einer guten Nachricht: Am nächsten Tag würden sie sich sehen dürfen. „Aber erzähl nicht zu viel“, ermahnte er ihn. „Das wäre sowieso nicht gegangen“, erinnert sich Irina. Das fünfminütige Treffen fand im Beisein eines bewaffneten Wachmanns statt. 

    „Witali kam in denselben Sachen, die er vor einem Monat getragen hatte. Pullover, Hose, Armeeunterhose und grüne Socken mit Dreizack …“ Sie tauschten nur ein „Hallo, wie geht’s dir?“ und „Gut“ aus. Aber alles in Irinas Innerem schrie: „Ihr Schweine, ihr habt ihn gebrochen, oder?“ Irina erinnert sich: „Seine Augen waren traurig, er konnte kaum sprechen. Stand vor mir, als würde er sich verabschieden. Anfassen durfte ich ihn nicht. Er fragte nach seiner Tochter.“ 

    Weil Witali seltsam schief stand, entdeckte Irina die Einschusslöcher in der Hose. Bei nächster Gelegenheit brachte sie ihm Wunddesinfektionspulver. Witali schüttete das Pulver in die Einschusslöcher im Schritt, und es kamen verrottete Stofffetzen zum Vorschein.  

    Nach diesem Treffen legte Irina ihre ukrainische SIM-Karte ein, rief im Verteidigungsministerium in Kyjiw an und meldete, dass ihr Mann gefoltert wird. Es war Anfang Mai 2022. Witali saß immer noch im Keller. 

    „Lasst mich doch wenigstens zum Tag des Sieges raus. Wer bin ich denn schon?“, bat Witali Georgi. – „Du weißt zu viel, der FSB ist an dir dran, dein Bruder ist bei der Armee, die pfuschen uns in den Vormarsch. Du wirst sowieso nicht eingetauscht, und ausreisen darfst du auch nicht.“ 

    Am 15. Mai ließen sie Witali schließlich doch für einen Tag nach Hause. Zum ersten Mal seit März konnte er duschen. Dann sagte der Stabsleiter, er solle Kartoffeln setzen, schließlich sei schon Mai. 

     

    Im Süden der Karte befinden sich Tokmak und Molotschansk, das Dorf Wynohradne liegt etwas nordwestlich davon. Seit März 2022 sind diese Orte von der russischen Armee besetzt. Ebenso Enerhodar im Westen der Karte. Die Gebietshauptstadt Saporishshja (hier im Norden) ist nicht von Russland besetzt, aber häufiges Ziel russischer Raketen-, Drohnen- und Gleitbombenangriffe. © Deep State

    Ich schulde dir noch drei Kugeln

    Zwei Wochen später ließ ihn 505 aus dem Keller, unter der Bedingung, sich einmal am Tag im Stab zu melden und sich höchstens fünf Kilometer von seinem Haus zu entfernen. Deswegen fuhr Witali nicht ins Krankenhaus – das nächste war 12 Kilometer entfernt, dazwischen 14 Checkpoints. Der Entlassungsschein ist immer noch im Garten hinter ihrem Haus in Wynohradne vergraben, erzählt Witalis Frau. 

    Als Witali aus dem Stabsquartier kam, sah er den Kommandanten, der ihm in Knie und Schritt geschossen hatte: „Ich sagte zu ihm, ich schulde dir noch drei Kugeln. Da zuckte er zusammen. Ich werde ihm das noch heimzahlen“, sagt Witali. 

    „Haben Sie die Kartoffeln gesetzt?“ 

    „Und geerntet.“ 

    „Mit angeschossenen Beinen?“ 

    „Ich hab einen Traktor.“ 

    Witali Manshos zeigt seine Beine mit den Folterspuren. Foto von Iwan Pugatschjow
    Witali Manshos zeigt seine Beine mit den Folterspuren. Foto von Iwan Pugatschjow

    Kapitel 7: „Die Dorfälteste blieb auch unter den Russen die Dorfälteste“ 

    Wynohradne, 2023 unter Besatzung 

    Stabsleiter 505 gab Witali vor seiner turnusmäßigen Abreise dessen Handy, SIM-Karte und Papiere zurück. Dazu legte er eine Wurst und eine Schachtel Fruchtpastillen. Witali briet ihm zum Abschied eine Ente: „Danke, Georgi, wenigstens ein Mensch hier.“ Das Essen schlug 505 allerdings aus. 

    „Ich sag zu ihm: Georgi, sei mal ehrlich, wie soll ich die Ukraine nicht lieben? Wir gehen zu meinem Haus. Ich zeig ihm meinen Hof, meine Puten. Sag zu ihnen: ‚Slawa Ukrajini!‘ Und die Vögel so: ‚Iu-iu-iu!‘“ Witali imitiert das Gekacker. „Da zischt Georgi, ich soll bloß leise sein. Aber ein Pfundskerl, echt! Wenn ich ihn finde, gibt’s was zu feiern. Er sagte, ich soll die Seite wechseln, für die arbeiten. Aber ich lehnte ab.“ 

    „Haben Sie mit ihm über die Folter gesprochen?“ 

    „Nein, nie. Wir haben über Majakowski, Twardowski, Borodino geredet. Und die globale Kastration von Russland. Er hat alles verstanden.“ 

    „Über die globale Kastration?“ 

    „Er hat gesagt, die Ukraine wär am Arsch, sie würden uns flächendeckend niederbomben. Wie Amerika Vietnam. Dann gäb’s die Ukraine schlichtweg nicht mehr. Und ich: Träum weiter! Wir werden auferstehen und euch alle umbringen.“ 

    Unsere Jungs ließen grüßen, mit Beschuss. Die ganze Technik war im Arsch. 

    Im September 2023 hat Witali den russischen Pass und eine Arbeit als Elektriker in der Kolchose angenommen: „Ich musste ja irgendwie meine Familie ernähren. Also hab ich als Systemadministrator diesen ganzen russischen Dreck eingerichtet, S1, Kontur.Fokussy und wie sie nicht heißen. Die ganze Kolchose kam zu mir. Den Omas half ich mit den ukrainischen Banken, damit sie ihre Rente bekamen.“ 

    Am 6. Mai 2023 war die Kolchose von der ukrainischen Armee beschossen worden: „Unsere Jungs ließen schön grüßen, mit Beschuss. Aber das Ding ist, solange die Russen da waren, war Ruhe. Kaum waren die abgezogen, schlug es bei uns in die Kolchose ein, die ganze Technik war im Arsch.“ 

    Sofort kam ein Zugriffstrupp zu ihm nach Hause. Sie verdrehten Witali die Arme und zerrten ihn in den Gemüsegarten. „Du hast unsere Koordinaten ausgeliefert“, sagten sie und schlugen zu. 

    Irina leistete indes stillen Widerstand: weigerte sich zu arbeiten, den russischen Pass anzunehmen und ihre Tochter zur Schule zu schicken. Dem Referendum blieb die Familie fern. Abends stritten sie: „Wir müssen weg!“ – „Wie soll ich weg? Sie lassen mich nicht raus! Fahr alleine …“ Die Dorfälteste setzte sie unter Druck: „Warum geht ihr nicht wählen? Ihr müsst zur Wahl!“ 

    „Die Dorfälteste Nina Wassiljewa blieb auch unter den Russen die Dorfälteste. Der Mann unserer Nachbarin ist abgehauen und dient jetzt in der ukrainischen Armee, sie hat den russischen Pass angenommen und lebt im besetzten Dorf. Die Feldscherin Sneshana Iwantschidse spielt jetzt in Propagandafilmchen der russischen Staatssender mit“, zählt Irina auf und zeigt uns einen Nachrichtenbeitrag. 

    Auch Witali gehört formell zu den Kollaborateuren, weil er als Elektriker beim Werk gearbeite hat: „Man hat natürlich gesehen, dass ihm das alles, gelinde gesagt, nicht gefällt“, erklärt aber sein Chef in der Kolchose und bekräftigt damit Witalis Aussage. 

    Dreckskerle, wie ich sie hasse. Erst unsere Leute beschießen, dann humanitäre Hilfe verteilen.

    Irina Manshos erinnert sich, wie russische Soldaten einmal 20 Eier von ihr haben wollten und zum Tausch 15 Dosen Kondensmilch, Konserven und fünf Kilo Zucker angeschleppt haben. Sie nahm es an. In den Dorfladen brachten sie Waffeln, Kekse und Bonbons, damit sie gratis verteilt wurden. 

    „Ich hab dieses System in den zwei Jahren, die ich dort gelebt habe, nicht kapiert. Dreckskerle, wie ich sie hasse. Erst unsere Leute beschießen, dann humanitäre Hilfe verteilen. Dann machten sie so Zentren auf – ‚Unser Russland‘ – die Kinder durften kostenlos ins Ferienlager, auf die Krym, nach Moskau …“, erzählt Irina.  

    „Selbst der Patenonkel meiner Frau …“, fährt Witali über die Kollaborateure fort. „Als sie mich schlugen, sollte ich sagen, wer bei der Polizei war. ‚Verrat es uns, und wir lassen dich laufen.‘ Dieser Patenonkel war zum Beispiel Polizist, aber ich hab noch letztens auf seiner Hochzeit getanzt, sie haben gerade ein Kind bekommen. Ich denk, Scheiße, die killen den armen Kerl doch, und halt meine Klappe … Dann komm ich aus dem Keller, und er sitzt da und trinkt mit denen Tee. Immer noch Polizist, nur jetzt für die Russen.“ 

    Irina Manshos. Foto von Iwan Pugatschjow
    Irina Manshos. Foto von Iwan Pugatschjow

    Unter der Besatzung stellte Witali eine Fernsehantenne so ein, dass er ukrainische Sender empfangen konnte. Da kam in den Nachrichten gerade die Meldung, dass der Staat knapp eine Milliarde Hrywnja [ca. 22,9 Millionen Euro – dek] für Militäruniformen ausgegeben habe. 

    „Verstehst du, mein Neffe ist mit 18 an die Front gegangen. Er hat mir Videos geschickt, überall Leichen, verdammte Scheiße, Mann. Und er sagt: Na, wenigstens muss ich nicht für den Bus bezahlen … Kacke, verfickte.“ Witali bricht in Tränen aus. „Sie bringen die Menschen tonnenweise ins Grab, tonnenweise … Ich hab dieser Armee 7,5 Jahre geopfert … Ich will nicht mehr …“ 

    Obwohl über seinem Haus in Wynohradne auch nach der Rückkehr von der Front die ukrainische Flagge weht, hält Manshos von den ukrainischen Soldaten fast genauso wenig wie von den Russischen, die ihn beinahe umgebracht hätten. 

    „Waren es nicht die Russen, die das alles angefangen haben?“, fragen wir nach. 

    „Es waren die Chochly. 2013. Die verfickten Chochly aus Donezk und Dnipropetrowsk: Kolomoiski und Janukowytsch. Damit fing die ganze Scheiße an“, antwortet er. 

    „Welche Scheiße?“ 

    „Der Krieg. Die Aufteilung der Macht. Verstehst du, die wollten in Kyjiw keine Nummernschilder aus Donezk und Dnipro sehen. Was sollen die mit der Südostukraine? Lieber weg damit und keine Renten mehr bezahlen. Weißt du, wie viel die sich sparen?“ 

    Die Leute wechseln schnell die Lager. 

    Die Gebiete, die jetzt von Russland okkupiert sind, sollten Witalis kruder Theorie nach an die USA gehen, weil die das fruchtbare Land brauchen würden; auf die Menschen würden „die Chochly scheißen“. Seine Theorie sieht er darin bestätigt, dass es die Russen in vier Tagen bis nach Tokmak geschafft haben. 

    „Wissen Sie, was einen Chochol von einem Ukrainer unterscheidet? Ein Ukrainer lebt in der Ukraine, und der Chochol dort, wo es am besten ist. Aber momentan kennt sich keiner aus: Wo ist es denn am besten, vielleicht doch drüben? Die Leute wechseln schnell die Lager. Das sind diese Shduny. Bequem haben Sie’s ja: bekommen russische und ukrainische Rente. Natürlich schreien sie da: Slawa Rossii! Dann hauen sie mich noch an, ich solle ihnen russisches Fernsehen einstellen. Und ich: ‚Wenn du noch einmal ankommst, knall ich dich eigenhändig ab!‘“ 

    „Wären Sie geblieben, wenn Ihre Frau nicht darauf bestanden hätte?“ 

    „Nein. Ich wollte schon über die Minenfelder laufen. Aber die Besatzer haben gesagt: Du kannst nur nach vorne raus, über die Frontlinie. So lässt dich hier niemand durch. Oder du nimmst den Weg durch den Kachowka-Stausee.“ 

     

    Kapitel 8: „Militärkreis Turkestan, Einheit 791518“ 

    Flucht über Krym und Belarus, Januar 2024 

    Ende 2023 beharrte Irina Manshos immer dringlicher auf der Abreise. Am 10. Dezember unternahmen sie den ersten Versuch: Ukrainische Freiwillige schickten ein Auto. Das ganze Dorf kam, um die Familie zu verabschieden, alle weinten, erzählt Witali. Er rasierte sich ordentlich, ließ sich die Haare schneiden, zog einen neuen Pullover an. Gleich beim ersten Checkpoint bei Nowoasowsk ließen die Posten seine Frau und Tochter zwar durch – aber er musste in den Keller. 

    Witali hatte die Facebook-App vom Handy gelöscht, aber an sein Profil hatte er nicht gedacht. Bei der Überprüfung der Papiere entdeckten die russischen Soldaten dort das unglückselige Foto mit dem abgebrannten Panzer. 

    „Hat man Sie dort geschlagen?“ 

    „Ein bisschen. Ins Gesicht, in die Brust, dann legten sie mir wieder Handschellen an: Du bist ein Verräter, hast den Donbas bombardiert. Sie sagten, ich käme in Russland vor Gericht und sie würden mich nicht laufen lassen. Dann holten sie ein paar Tschetschenen und sagten denen, die könnten mit meiner Frau und meiner Tochter machen, was sie wollen, wenn ich nicht sofort hier verschwinde und in mein Dorf zurückgehe.“ 

    Wir haben doch gesagt, du sollst hierbleiben, du Penner! 

    Also lief die Familie die 13 Kilometer über Eis und Schnee zurück. Um vier Uhr nachts kamen sie in Nowoasowsk zu einem Hostel, das noch geöffnet war, und checkten dort ein. Drei Tage lang schliefen sie sich aus. Dann fuhren sie mit einem Taxi durch die Ruinen von Mariupol nach Wynohradne zurück. Der Ortsvorsteher schickte ihnen Geld, damit sie den Fahrer bezahlen konnten. 

    Witali lacht: „Aber die Weiber im Dorf waren zufrieden: ‚Wir haben doch gesagt, du sollst hierbleiben, Witalik, du Penner! Hast wohl gedacht, du kannst dich aufspielen? Ohne dich haben wir nicht mal Internet!‘ Die haben sich gefreut.“ 

    Einen Monat später beschlossen die Manshos, es noch mal zu versuchen, diesmal über die Krym. Um ausreisen zu können, ließen sich auch Witalis Frau und die Tochter einen russischen Pass ausstellen. Am 8. Februar packte Witali, mittlerweile mit Bart und langen Haaren, seine Sachen, erzählte noch mal seine Geschichte – „wir müssen nach Simferopol ins Krankenhaus“ – und setzte sich ins Freiwilligenauto. Ein Rucksack, eine Tasche und ein Notebook. Diesmal fuhren sie stillschweigend los, niemand verabschiedete sie, die Nachbarn dachten, die Manshos wären zu Hause. Nach zehn Stunden Warten an der Grenze wurde Witali zum Verhör abgeholt. 

    Sie fuhren nach Simferopol, von dort nach Belarus und weiter nach Polen. 

    „Wieder den Bock geschossen, aber sowas von“, sagt der ehemalige Soldat. „Der Posten fragt mich: ‚Witali Wladimirowitsch?‘ – ‚Jawohl!‘ – ‚Haben Sie gedient?“ –‚Jawohl!‘ Ich denke, jetzt bin ich am Arsch. Und sage: ‚Militärkreis Turkestan, Einheit 701518, Obergefreiter.‘ Aber der Grenzer sagt nur: ‚Gute Reise‘, und gibt mir meinen Pass zurück.“ 

    Sie fuhren nach Simferopol, von dort mit dem Zug nach Belarus und weiter nach Polen. Die Freiwilligen hatten ihnen zuvor geraten, dass sie beim Grenzübergang in Brest kein einziges russisches Dokument dabeihaben dürften. Also zerrissen sie auf der Zugtoilette ihre russischen Pässe, Steuer- und Rentennachweise und spülten alles im Klo runter. Die ukrainischen Pässe hatte Irina am Tag zuvor im Garten ausgegraben. 

    So kam die Familie nach Europa: zum ersten Mal im Leben im Ausland, ohne jegliche Sprachkenntnisse. 

    Witali mit seiner Frau und Tochter. Foto von Iwan Pugatschjow
    Witali mit seiner Frau und Tochter. Foto von Iwan Pugatschjow

     

    Epilog: „Von einem Gefängnis ins andere“ 

    Ludwigshafen, Juni 2024 

    Von Polen aus machte sich die Familie auf den Weg nach Berlin: „Am Bahnhof lauter Araber, Türken, Kanaken. Ich denk, Scheiße, wo bin ich denn hier gelandet …“ 

    Witali lässt sich noch eine Weile xenophob über Migranten aus. Seit Februar hat die Familie Manshos drei Flüchtlingsunterkünfte gewechselt, ohne ein Wort Deutsch zu verstehen. Alles mit Hilfe von Freiwilligen. 

    Wir treffen die Manshos im vierten Lager in Ludwigshafen. Witali ist abgemagert, die Spuren der Folter sind immer noch sichtbar. Die dunkelhaarige Irina hat einen schneeweißen Ansatz: In den zwei Jahren Okkupation ist sie ergraut. 

    Die dreiköpfige Familie ist nun in einem verlassenen Supermarkt untergebracht. Die Menschen leben hier in Metallkäfigen, voneinander mit schwarzer Plastikfolie abgeschirmt. Man hört jedes Geräusch. In Witalis Abteil stehen zwei Stockbetten, auf dem freien Bett liegt ein Kleiderhaufen: „Wir sind mit einer Reisetasche gekommen, das hier haben wir aus dem Müll gefischt.“ 

    Flüchtlingslager in Ludwigshafen, wo Witali und seine Familie untergebracht sind. Foto von Iwan Pugatschjow
    Flüchtlingslager in Ludwigshafen, wo Witali und seine Familie untergebracht sind. Foto von Iwan Pugatschjow

    Witali und die anderen 14 Ukrainer, die hier wohnen, sind von den Geflüchteten aus arabischen Ländern, die hier in der Mehrheit sind, und deren Gebeten zunehmend genervt: „Ich kann nachts nicht schlafen. Ich kann gar nicht so viel saufen, dass ich umkippe und das nicht mehr höre.“ Er beklagt sich auch über verdreckte Toiletten: „Sie benutzen kein Papier, genau wie die im Keller.“ 

    „Wieder lebe ich jetzt unter der Aufsicht solcher Leute, Allahu Akbar. Ich bin von einem Gefängnis ins andere gekommen, erlebe den zweiten Ramadan im Keller, nur jetzt mit Frau und Kind“, sagt Witali. 

    Eine richtige Wohnung müssten sie selbst suchen. Das Jobcenter übernimmt die Kosten (ca. 50 m² für drei Personen, maximal 560 Euro im Monat), aber ohne Sprachkenntnisse gestaltet sich die Suche schwer. Deutschkurse besuchen sie trotzdem nicht: „Du schläfst zwei Stunden pro Nacht, und dann sollst du noch Deutsch lernen“, beklagt eine Ukrainerin. 

    Wir gehen raus rauchen, und Witali erzählt zu den Klängen arabischer Musik, die aus einem Handy schallt: „Was das Schlimmste im Keller war? Wenn die gesagt haben, wir geben deine Frau und Tochter den Tschetschenen, deine Frau bekommt eine Granate und wird Terroristin, dein Kind töten wir. Verfluchte Scheiße. Dann sitzt du da, und sie kommen zwei, drei Tage lang nicht wieder. Weißt du, was da in deinem Kopf für ein Kino abgeht?“ 

    Als wir zum zweiten Mal rauchen gehen, kommen wir an zwei Ukrainern vorbei. Sie fragen Witali, wie die Wohnungssuche läuft: „Keine Chance. Ich geh zurück in die Ukraine, meine Frau und mein Kind sollen hierbleiben. Was soll ich sonst tun? Ich hab kein Geld, nichts, wovon ich leben könnte“, sagt Witali plötzlich. „Wenn ich keine Wohnung bekomme, wartet die 53. Brigade [der ukrainischen Streitkräfte] schon auf mich, die stehen in der Nähe von Awdijiwka. Ist das hier etwa besser?“ 

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    Error 505 – Teil 1/2

  • Error 505 – Teil 1/2

    Error 505 – Teil 1/2

    Ein ukrainischer Kriegsveteran hat russische Gefangenschaft, Folter, eine Freundschaft mit einem russischen Major und die Flucht nach Europa hinter sich. Jetzt sitzt er mit seiner Familie in einer deutschen Flüchtlingsunterkunft und schimpft auf alle – und will trotzdem zurück.  

    Viele der seltener publizierten individuellen Kriegserfahrungen erscheinen auf den ersten Blick wenig heldenhaft. Oft widersprüchlich, anstößig, unbequem und für Menschen jenseits der Kampfzone schwer nachvollziehbar. Das bringt auch die in der Kriegsrealität alles bestimmende Gewalt mit sich.  

    Olessja Gerassimenko und Ilja Asar haben für Novaya Gazeta Europe eine solche Geschichte dokumentiert: Hier berichtet der ehemalige ukrainische Soldat Witali Manshos von seinem Leben – in teils derben Ausdrücken und mit brutalen Details. Dekoder veröffentlicht diese Geschichte in zwei Teilen auf Deutsch. 

    Hier ist Teil 1: Mit sowjetisch geprägtem Lebenslauf über missglückten Widerstand hinein in den russischen Folterkeller. 

    Fortsetzungsteil 2: Raus aus dem Folterkeller durch die russische Besatzung bis zur Flucht nach Deutschland – ab dem 23. Januar. 

    Witali Manshos. Collage mit Foto von Iwan Pugatschow
    Witali Manshos. Collage mit Foto von Iwan Pugatschow

    Als sie Witali Manshos die Tüte vom Kopf gezogen hatten, schossen sie ihm ins Knie und zwischen die Beine; dann schlugen sie die Kellertür hinter sich zu. Doch Witali Manshos blieb bei Bewusstsein. 

    „Ich schau an mir runter, das eine Hosenbein voller Blut, das andere auch. Ich bringe meine gefesselten Hände am Hintern vorbei nach vorn. Taste mich an der Wand lang. Ein Stromschlag. Oh, bljad’, Kabel! Ich reiße die Kabel raus, drehe die Aluminiumenden ab, die aus der Wand ragen. Ich binde das Bein oben ab, es blutet weiter. Ich binde weiter unten ab. Die Zehen werden langsam taub, aber es hört halbwegs auf zu bluten.“ Anstatt sich mit seinem abgebundenen Bein hinzulegen, humpelte Witali Manshos nun die Wand entlang; versuchte sich zu orientieren: Wie viele Sonnenaufgänge, wie viele Sonnenuntergänge. Es vergingen drei Tage.  

    Der 29. März 2022 war ein klarer Morgen in Molotschansk: Durch einen Spalt unter der Decke sah Witali gegen sechs Uhr das Morgenrot. Jemand schaute zur Tür herein: 

    „Noch nicht verreckt, du Hund?“ 

     

    Kapitel 1: „Papa, ich will eine Ratte, basta!“ 

    Wynohradne, 23. Februar 2022 

    Der 53-jährige Obergefreite Witali Manshos wurde im Frühjahr 2021 mit dem Status eines Vaterlandsverteidigers aus der ukrainischen Armee entlassen. Er musste eine Verletzung an der Wirbelsäule operieren lassen, bevor er ins Dorf Wynohradne in der Oblast Saporishshja fuhr, zu seiner Familie. 

    „Ich sagte mir, Schluss, ich pfeif auf diese Armee, keine zehn Pferde bringen mich da nochmal hin. Also fuhr ich nach Hause. Und dann, was war das Erste? Ich hab mich zugelötet und das Auto meiner Frau zu Schrott gefahren. Mehr ist mir nicht geblieben. Ich hatte nichts, keine Kopeke“, erzählt Manshos. 

    Etwas später kam dann Geld. Für die 32.000 Hrywnja, die ihm für nicht genommenen Urlaub gezahlt wurden, kaufte er seiner Tochter weiße Sneakers und seiner Frau Stiefel. Für den Rest schaffte er vier Ziegen an. Die brachte er zu den Puten, Enten, Gänsen und Hühnern, die es bereits auf dem Hof gab. Bis zum Winter kaufte er mit Geld von seinem Bruder und seiner Invaliden-Entschädigung noch ein Nachbarhaus. 

    „Es hat acht Zimmer, vier Öfen auf 52 Quadratmeter. Ich hab das alles eingerissen und drei Zimmer daraus gemacht, einen Ofen hab ich als Kamin gelassen“, erinnert sich Witalij. 

    „Unsere Tochter wollte unbedingt ein eigenes Zimmer, wir wollten ihr die Zimmerdecke mit Sternen schmücken“, seufzt Witalis Frau Irina. 

    Am 23. Februar 2022 fordert die Tochter von Witali: „Papa, ich will eine Ratte, basta!“ 

    Also fuhren Witali und Irina zum Markt nach Tokmak. Eine Ratte fanden sie nicht, kauften aber ein Chinchilla und ein Paar Liebesvögel mit roten Köpfen gleich dazu. 

    Abends mussten sie nochmal los, um Gitter für den Käfig zu besorgen. 

    Im Süden der Karte befinden sich Tokmak und Molotschansk, das Dorf Wynohradne liegt etwas nordwestlich davon. Seit März 2022 sind diese Orte von der russischen Armee besetzt. Ebenso Enerhodar im Westen der Karte. Die Gebietshauptstadt Saporishshja (hier im Norden) ist nicht von Russland besetzt, aber häufiges Ziel russischer Raketen-, Drohnen- und Gleitbombenangriffe. © Deep State

    Raketen flogen, und ich betrank mich.

    „Ich schnitt die Gitter zurecht und bastelte den Käfig. Und am Morgen ging es schon los“, erzählt Witali. „Raketen flogen, ich brachte die Familie in den Keller, und betrank mich. Ich habe 500 Liter Wein da unten.“ 

    Die Männer aus Wynohradne fuhren zusammen zum Rekrutierungsamt in Tokmak – um Waffen zu holen.  

    „Und ich auch, besoffen wie ich war, rein ins Auto und nichts wie hin“, sagt Witali. „Auf in den Kampf, verdammt! Also, wir kommen an, der Kommandeur kommt raus – Oberst Witer, Veteran der Antiterroroperation (ATO), verdammt … Wir fordern Waffen: ‚Wir wollen kämpfen‘, und der so: ‚Habt ihr ‘ne Einberufung? Nein? Dann zieht Leine!‘ Der hat uns einfach weggeschickt!“ 

    Laut dem Datenportal Myrotworets und ukrainischen Medienberichten lief jener Oberst Wadim Witer eine Woche später zu den russischen Truppen über und steckte Routen für deren Kolonnen ab. 

    Wieder zu Hause rief Witali seinen älteren Bruder Eduard an, der als Offizier Soldaten der ukrainischen Streitkräfte im Donbas kommandierte. Der sagte: „Witacha, du bist kriegsversehrt, das ist nichts für dich, bleib zu Hause.“  

    Heute fühle sich sein Bruder schuldig, meint Witali: „Na ja, weil er mir sagte, ich soll hierbleiben. Die Jungs hatten mich ja damals angerufen: ‚Witacha, es gibt ‘nen Korridor. Zehn Minuten über Orichiw, mach dich bereit …‘ Aber wissen Sie, das war alles so irreal, was sollte das, dieser Überfall auf uns?“ 

     

    Kapitel 2: „Die Leute hatten den Staat satt“ 

    Enerhodar, 2014 

    Witali Manshos wurde in Saporishshja geboren. Den Zusammenbruch der Sowjetunion erlebte er als Wehrpflichtiger aber in Ferghana (er sagt, dort seien den Soldaten grüne Pionierspaten ausgegeben worden, mit denen sie „aufständische Usbeken erschlagen“ sollten). Witali lebte viele Jahre in Russland. Er arbeitete am Bau eines Wasserkraftwerks an der Angara, löschte Ölbrände in Urengoi, Tjumen und Salechard, fuhr Holztransporte in der Region Krasnojarsk. An die 1600-Kilometer-Trasse durch die Taiga erinnert er sich mit einem Seufzen: 

    „Da gibt’s Orte … Ich liebe diese Strecke bis heute. Nachts wachte ich mit der Frage auf: ‚Warum kann ich nicht dort sein?!‘ Jetzt aber nicht mehr, ich wache nicht mehr auf. Jetzt kann ich überhaupt nicht mehr schlafen.“ 

    1996 machte Manshos mit einem Freund in Moskau eine Firma auf. Sie bauten Stahltüren aus Joschkar-Ola ein: „Nach den Terroranschlägen, als der zweite Tschetschenienkrieg begann, gab’s ‘ne große Nachfrage nach gepanzerten Eisentüren.“ 

    2002 zog er zu seinem älteren Bruder Eduard, nach Enerhodar im Gebiet Saporishshja. 

    „Wenn ich frei hatte, fuhr ich zum Angeln ans Asowsche Meer. Wir haben Grundeln gefangen, die wir in der Stadt verkauften. Aber keiner kaufte sie, die Grundeln wurden schlecht. Ich schenkte sie meiner Freundin, die ich damals gerade erst kennengelernt hatte. Sie war 14 Jahre jünger als ich, und ich beschloss, ihr Mann zu werden“, erzählt Witali. 

    Natürlich war ich gegen die Annexion der Krym. Was sonst? Das ist mein Territorium.

    Dann ließen sich Witali und Irina in Enerhodar nieder. 

    „Was ich über unseren Putsch denke? 1991 kam der Sampolit  zu uns, zerriss das Gorbatschow-Porträt und sagte, der sei ein Vaterlandsverräter und ein Mistvieh. Fünf Tage später hängte er das Porträt wieder auf. Das war der ganze Augustputsch.“ 

    Zum Euromaidan meint Witali: „2014 hatten die Menschen es einfach satt, sie wollten nicht mehr in so einem Staat leben.“ Er war damals Systemadministrator beim Sender Orion Media in Enerhodar. Witali und seine Kollegen sammelten Geld für Zelte und Zigaretten für die Demonstranten; er war aber nicht auf dem Maidan: „Ich war mit allem zufrieden – ich hatte einen stabilen Job und ein normales Leben.“ 

    Die Annexion der Krym tat ihm weh: „Natürlich war ich dagegen. Was sonst? Das ist mein Territorium. Als sie die Krym abzwackten und all das andere, haben wir von jedem Lohn fünf Hrywnja per SMS an die Armee gespendet. “ 

    2015 begriff Witali, dass das „ein heftiger Krieg“ wird. Er brachte seine Frau und das Kind nach Wynohradne (rund 100 Kilometer von Enerhodar). Dort kaufte er ein Haus, anderthalb Hektar Land und legte zusammen mit seinem Bruder einen Garten an. 

    „Mein Bruder ist zwar Soldat, hat aber sehr viel für Gartenarbeit übrig. Er blüht einfach auf dabei. Er hat 300 Apfelbäume gepflanzt, die Äpfel wogen 450 Gramm das Stück. Weinstöcke hat er gepflanzt, Mandelbäume. Und ich wollte leben. Ich wollte einfach leben“, klagt Witali. „Jetzt ist das alles Russische Föderation, verdammt.“ 

     

    Kapitel 3: „Fuck you, Moskali!“ 

    Wynohradne, 26. März 2022 

    In den ersten Tagen des Einmarschs „benahmen sich die Männer wie kleine Kinder, stellten sich vor die Panzer, fuhren in den Wald und gaben sich Verfolgungsjagden“, erinnert sich Irina Manshos. Sie erzählt, wie Witali sich einen 20-Liter-Kanister griff und auf die Straße lief: Er wollte eine Kolonne russischer Panzer anzünden, die an seinem Haus vorbei Richtung Bohdaniwka unterwegs waren. Irina erzählt, wie sie ihn ins Haus zurückzerrte und schrie: „Die überfahren dich einfach, die kannst du nicht allein aufhalten.“ 

    Auch nach dem Einmarsch blieb Witali im Dorf. Am hinteren Scheibenwischer seines Hyundai Santa Fe hatte er eine große ukrainische Flagge befestigt: „Sie flatterte hinten am Auto, und ich saß in Armeekleidung am Steuer.“ Andere Kleidung trug er seiner Frau zufolge gar nicht mehr; er hatte von seiner Dienstzeit noch Hosen, Unterhosen und Socken mit ukrainischen Armeesymbolen. „Leute sagten mir: ‚Du bist vollkommen übergeschnappt!‘, aber ich fuhr weiter, mir doch scheißegal, ich war besoffen. Und dann kam ich mit einigen ATO-Jungs nach Molotschansk und kapiere auf einmal, dass das schon Russland ist. Bei der Brücke sitzt er schon, der Wichser.“ 

    „Ein Russe?“, fragen wir nach. 

    „Ja, ein Maschinengewehrschütze.“ 

    Ich schnappte mir ‘ne Jagdflinte und wollte den MG-Schützen umlegen. 

    „Der wievielte Tag war das?“ 

    „Keine Ahnung, ich war schon dunkelblau. Vielleicht schon der dritte oder sogar vierte. Ich war schon komplett hinüber, verstehste? Nichts mehr gecheckt, gar nichts. Das Rekrutierungsamt hat uns verarscht. 

    „Nicht die beste Zeit zum Trinken.“ 

    „Was blieb denn sonst?“ 

    „Alles Mögliche: sich retten, die Familie in Sicherheit bringen …“ 

    „Mit einem Liter Wein intus bis du nicht mehr du selbst. Und es war mir scheißegal. Ich schnappte mir ‘ne Jagdflinte und wollte den MG-Schützen umlegen. Bloß gut, dass die Jungs sie mir aus der Hand geschlagen haben. Der Schütze beachtete uns nicht mal; aber hinter ihm stand eine ganze Einheit. Die Jungs sagten: ‚Drück aufs Gas, Witacha‘. “ 

    Als sie in sicherer Entfernung waren, nahm Manshos die Flagge vom Auto ab. Aber auf dem Weg zündete er noch mit einem Molotow-Cocktail einen liegengebliebenen Schützenpanzer an: „Den haben sie voll ausgestattet zurückgelassen, weil irgendwas kaputt war. Ich hab das alles aufgenommen und das Video auf Facebook gestellt. Hab ihnen beide Mittelfinger gezeigt, die sie mir später abschneiden wollten: ‚Fuck you, Moskali!‘“ 

    „Allerdings haben mir die Tschetschenen im Keller dann auch gesagt, dass sie die Moskali selbst hassen, weil das alles Schwuchteln sind. Und der Panzer, den ich abgefackelt habe, war längst abgeschrieben.“ 

    Zunächst seien die Russen nicht nach Wynohradne gekommen, sagt Witali: „Das interessierte die ‘nen Scheißdreck“, sie fuhren nur immer wieder die Strecke Moskau–Simferopol. 

    Ich hab alles gefilmt, die Koordinaten durchgegeben: die Standorte und ihre beschissenen Waffendepots. 

    „Sie zogen einfach kolonnenweise durch, mit 200, 300 … Ich hab das alles gefilmt, die Koordinaten durchgegeben, fuhr umher, versuchte ihre Stellungen zu finden. Wo die Geräte für die elektronische Kampfführung stehen. Hab die Standorte abgefilmt und ihre beschissenen Waffendepots“, sagt er. 

    Nach rund einem Monat, am 26. März, saß Witali, der gewöhnlich früh aufstand, auf einer Bank vorm Haus und rauchte. Plötzlich sah er, wie die Zu- und Ausfahrt aus dem Dorf mit Schützenpanzern blockiert wurde und Soldaten von Haus zu Haus gingen.  

    Witali rief seinen Bruder an: „Die Russen gehen durchs Dorf … Soll ich abhauen? –  „Nein, bleib zu Hause, du bist Invalide, dein Krieg ist zu Ende.“ 

    „Ein gepanzerter Wagen schlich hinter den Soldaten her, zu jedem durchsuchten Haus“, erinnert sich Witali.  

    Er rief seinen Bruder nochmal an: „Sie checken schon die Häuser, brechen die Schlösser und Türen auf …“ – „Dann bist du am Arsch.“ 

    „An dem Tag hat mich die Scheiße echt voll getroffen“, betont Witali. 

    Witali Manshos. Foto von Iwan Pugatschow
    Witali Manshos. Foto von Iwan Pugatschow

    Kapitel 4: Borja und das Achmat-Dreieck 

    Keller in Molotschansk, 26. März 2022 

    Am 26. März wurde Irina Manshos um sechs Uhr früh vom Dröhnen der Awtosak geweckt. Sie versteckte Witalis häusliche Armeeklamotten und seine Auszeichnung von Poroschenko, aber die Tasche mit den Armeedokumenten und der Pensionsbescheinigung übersah sie. Als die Soldaten in den Hof kamen, hörte Irina vor Schreck nicht, was sie sagten. Sie seien etwa zu fünft gewesen, erinnert sie sich, „bärtige Kaukasier, mit Akzent“: 

    Witali musste sich ausziehen, die Männer durchsuchten die Schränke. Irina hat noch heute vor Augen, wie sie die saubere Bettwäsche mit dem Pistolenlauf anhoben und auf den Boden warfen. Sascha, die Tochter, lag im Zimmer auf dem Sofa. In der Schublade darunter waren ein Gummiknüppel von der Polizei und ein Luftdruckgewehr. Irina sagt, das hätten sie mal von einem Bekannten bekommen, um Wildenten aus dem Gemüsegarten zu verscheuchen. Sascha weigerte sich aufzustehen. 

    Plötzlich entdeckte Irina, gleichzeitig mit den Soldaten, wie die khakifarbene Tasche aus der Kommode herausragte. „Da waren alle Bescheinigungen: Teilnahme an Kriegshandlungen, Rente …“ Das hat gereicht: „Du kommst mit.“ Die Tochter filmte die Festnahme mit dem Handy. Die Soldaten schrien sie an, zielten auf sie. Während Irina ihre Tochter beruhigte, wurde Witali abgeführt. 

    „Wohin?“, schrie Irina und rannte ihnen nach. 

    „Wir lassen ihn wieder gehen, keine Sorge, wir müssen was klären und lassen ihn dann frei.“ 

    Wenn du genau weißt, die bringen dich um, dann bist du ganz entspannt.

    Mit einem Sack über dem Kopf wurde der ehemalige Kämpfer der ukrainischen Streitkräfte in den Gefangenentransporter gesteckt. Witali erinnert sich, dass er dort drinnen kaum den Boden berührte: Er wurde so sehr verprügelt, dass er von Wand zu Wand flog, von einem Soldaten zum anderen. Sie brachten ihn zu einem Bach, gaben ihm eine Schaufel und sagten, er soll sich sein Grab schaufeln. 

    „Sie nannten mich Abschaum und Bastard. Während sie mich schlugen, sagten sie, dass sie salo [ukrainischer Speck – dek.] aus mir machen. Salo aus einem Chochol.“ 

    „Und Sie haben gegraben?“ 

    „Nee, ich hab gesagt: Wozu graben? Ist doch ein Fluss da, ich füttere lieber die Krebse. Verstehst du, wenn du genau weißt, die bringen dich um, dann bist du ganz entspannt. Außerdem hatten die mich so verdroschen … Ich war blutüberströmt, da macht noch mehr Schmerz keinen Unterschied. Sie schlugen mir die Zähne aus … Ich konnte nichts machen.“ 

    „Erinnern Sie sich an Namen?“ 

    „Sie sagten, sie seien von der OMON in Dagestan. Ich war allein, ohne Zeugen. Wer den Befehl gab, mich zu schnappen und fertig zu machen, weiß ich nicht.“ 

    Witali wurde nicht umgebracht. Stattdessen brachten sie ihn ins Gebäude der Stadtverwaltung von Molotschansk. Zogen ihm den Sack vom Kopf, aber die Handschellen blieben dran. 

    „Ich steh im Korridor, alles fließt aus mir raus: Rotz, Blut, Sabber, Pisse. Wieder musste ich mich ausziehen und durchsuchen lassen.“ 

    Er wurde in den Keller gebracht. Sein Handy rutschte ihm aus der Unterhose. Darin fanden sie ein Foto seines Bruders mit Scharfschützengewehr in der Hand. 

    „Das volle Programm, ich hab versucht, mich zu schützen, mal den Kopf, mal die Beine, die Arme, wo ich eben gerade Halt fand.“ 

    „Hatten Sie denn keinen Pin-Code am Handy?“ 

    „Hatte ich nicht, wozu auch. Die haben mein ganzes Geld vom Konto abgebucht. Hätte nichts genützt, wenn’s gesperrt gewesen wäre.“ 

    ‚Du bist ATO-ler? Dann lernst du jetzt mal meinen Borja kennen.‘ Borja war eine Pistole. 

    ZSU-Socken, ungesichertes Handy, Sie waren eindeutig nicht auf eine Verhaftung vorbereitet.“ 

    „Auf was bitte? Ich hatte keine Angst, hab geglaubt, unsere Leute lassen das nicht zu. Uns kann man nicht aufhalten, uns kann man nicht verraten. Ich war doch in Tschonhar, in Armjansk, dort war alles vermint, al-les vol-ler Mi-nen. Da brauchst du nur eine Selbstfahrlafette hinzustellen, und keiner kommt mehr durch, durch diese Hölle. Alle zehn Minuten – Kawumm! Aber sie haben uns einfach hängenlassen.“ 

    „Sie haben doch selbst gesagt, dass es auch viele prorussische Leute gab.“ 

    „Na ja, ich konnte das trotzdem nicht so recht glauben. Ich war schon zu Hause, raus aus der Armee. Ich hab diesen Wichsern auch gesagt: Ich kämpfe nicht gegen euch. Aber dann haben sie auf meinem Handy den brennenden Schützenpanzer auf Facebook gefunden. Und was ich auf WhatsApp rumgeschickt habe: ‚Hängt euch auf, ihr Russenwichser‘.“ 

    „Sie waren wieder zu fünft. Wieder Sack übern Kopf, und dann volles Rohr: Prügel, Prügel, Prügel.“ Dann kam der Kommandeur dieser OMON aus Machatschkala und sagte: ‚Du bist ATO-ler? Dann lernst du jetzt mal meinen Borja kennen.‘ Und er holte Borja.“ 

    Borja war eine Pistole. Der Kommandeur schlug Witali damit ins Gesicht, sodass er hinfiel. Dann begann er zu schießen: „Er sagte, das heißt Achmat-Dreieck: beide Knie und Pimmel. Ich hatte die Hände am Rücken, konnte nichts machen.“ 

    „Er schoss mir nacheinander in die Knie, zielte mir zwischen die Beine. Aber ich wich aus. Er traf mich am Oberschenkel. Dann wummerte mir ein Rucksack an den Schädel. Einer stach mir mit einem Messer in die Arme.“ 

    Witali streicht sich über die Arme. Er hat Dutzende kleine Narben, von den Handflächen bis zu den Ellenbogen. Am Oberschenkel haben die Kugeln Spuren hinterlassen. 

     

    Kapitel 5: „Da bin ich mal einem Guten begegnet …“ 

    Keller in Molotschansk, 10. April 2022 

    Im März 2022 zog vor Witalis innerem Auge seine gesamte Dienstzeit vorüber. Was ihn rettete, war, dass die Pistole Borja keine tödlichen Geschosse hatte und es im Keller kalt war. Und, dass er selbst halb nackt war (Den Verletzungen nach zu urteilen war es eine Pistole vom Typ Osa, die Gummigeschosse hatten einen Metallkern – Novaya). 

    „Anscheinend hat mein Körper jede Menge Adrenalin ausgestoßen. Ich kam zu mir, guckte: Meine Schuhe sind voller Blut. Ich brachte meine gefesselten Hände am Hintern vorbei nach vorne.“ 

    Drei Tage lang blieb er auf den Beinen, lief im Kellerraum umher. Am Morgen kam der Wächter und wunderte sich, dass Witali noch lebt. 

    „Ich wundere mich selbst, dass ich nicht verreckt bin … Dann wieder Prügel. Und Folter mit Strom. Mit Tapik (Feldtelefon der Armee, das auch zur Folter mit Stromstößen eingesetzt wird – dek), das ist echt scheiße, da musst du zeigen, dass es dich zerreißt, musst dich winden und schreien. Dann drehen sie die Spannung nicht hoch und du überlebst.“ 

    Die einen droschen los, während sich die anderen unterhielten, dann droschen die anderen. 

    „Sie fragten, wen ich in der Stadt vom Militär kenne … Ich sagte, ich bin nicht von hier, ich war in Enerhodar beim Militär. In Molotschansk kenn ich keinen, was wollt ihr von mir? Dann fragten sie nach Geschäftsleuten. Einer der Russen sagte: ‚Zu mir haben sie schon Bauern in den Keller gebracht. Einer wurde einen ganzen Tag verprügelt. Seine Frau brachte 2000 Bucks, und er kam frei. Zwei Tage später wurde er wieder gebracht, wieder verprügelt. Seine Frau brachte nochmal 2000, und er wurde freigelassen.“ 

    Sie hätten mal sehen sollen, wie die teilen …

    Witali hatte da schon gelernt, woran er den Morgen erkannte, weil dann nämlich die Leute „zur Bearbeitung gebracht werden“: „Wenn sie zurückkamen, konnte ich die einzelnen Leute an den Schreien erkennen. Nach dem Mittag fing das an.“ 

    Am 10. April 2022 waren in Molotschansk Explosionen zu hören. Witali erinnert sich, wie alle, die ihn vorher geschlagen hatten, in den Keller gelaufen kamen und sich dort bei ihm versteckten. 

    Sie fingen an: „Witacha, du kennst doch bestimmt diesen Punja aus deinem Dorf?“ – „Kenn ich nicht, wer ist das? (Ich kannte ihn natürlich, aber warum sollte ich …)“ – „Der soll vier Autos haben, Geld ohne Ende, 150 Stück Hornvieh und 200 Schweine. Wir teilen.“ 

    „Sie hätten mal sehen sollen, wie die teilen …“, schnaubt Witali. „OMON-Leute gegen Infanteristen … Sie schrien: Wir haben den zuerst geschnappt. Die anderen: Nein, wir waren die Ersten … Und Punja saß nebenan und brüllte, dass alle ATO-Veteranen Junkies und Mörder sind und er sie hasst … Dann kam der Bürgermeister, der schon vor 2022 Bürgermeister von Molotschansk gewesen war, und nahm Punja mit: Hat ihn gerettet.“ 

    Unter denen, die sich vor dem Beschuss im Keller versteckten, war auch ein Soldat Namens Georgi, Rufname „505“. 

    „Da bin ich mal einem Guten begegnet. Während die anderen über Punjas Besitz stritten, saßen wir nebeneinander und redeten“, erzählt Witali.  

    Georgi fragte: „Was bist du für einer?“ – „ATO-ler.“ – „Dann bist du am Arsch“, schlussfolgerte 505, brach das Gespräch aber nicht ab. 

    Natürlich kooperiere ich zum Wohle meiner Heimat. Der Ukraine.

    Sie kamen drauf, dass Witalis Bruder, der für die ukrainischen Streitkräfte kämpfte, in der gleichen Saratower Militärschule ausgebildet worden war wie Georgi. Sie redeten über die Armee in den 1990ern. Georgi reagierte schockiert darauf, dass man Witali in die Beine geschossen und ihn mit einem Messer malträtiert hatte. 

    „Er brachte mir einen Verbandskasten russischer Produktion. Ich nahm Elastikbinden und wickelte sie mir um die Beine.“ 

    „Danke, Major.“ – „Woher kennst du dich mit Rängen aus?“ 505 hatte keine Abzeichen.  – „Ich spür das.“ 

    Dann erzählte Georgi, dass er Stabsleiter ist, und Witali rezitierte das Gedicht „Wassili Tjorkin“ von Alexander Twardowski

    Als eine halbe Stunde später alle weg waren, musste Witali hoch in das Zimmer von 505 im ersten Stock: „Der Stabsleiter hat gesagt, wir müssen ein Video aufnehmen.“ 

    „‚Ich, Manshos Witali Wladimirowitsch, verpflichte mich, zum Wohle meiner Heimat mit der russischen Armee zu kooperieren.‘ Das habe ich aufs Handy aufgesprochen. Na und? Natürlich kooperiere ich zum Wohle meiner Heimat. Der Ukraine.“ 

     

    Fortsetzung folgt … am 23. Januar 2025. 

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  • „Ich möchte meinem Sohn ein Vorbild sein“

    „Ich möchte meinem Sohn ein Vorbild sein“
    Schlange stehen in den Tod / Illustration © Verstka 

    In Moskau bekommen Vertragssoldaten fast zwei Millionen Rubel (etwa 18.300 Euro), wenn sie einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium unterschreiben. Seit dem Sommer stehen im Butyrski-Rayon der Hauptstadt Männer im Alter von 18 bis 65 Schlange. Sie kommen aus ganz Russland, um sich zum Krieg zu melden. Frauen sind auch dabei.  

    Olessja Gerassimenko hat mit Mitarbeitern der Rekrutierungsstelle gesprochen und mit Dutzenden Männern und Frauen, die in den Krieg ziehen wollen. Wer sind diese Leute? Welche Motive haben sie? Und was könnte sie umstimmen? Ihre Eindrücke schildert sie in einer Reportage für das Portal Verstka

     

    Von der Metro-Station Timirjasewskaja sind es zehn Minuten Fußweg bis zu dem fünfstöckigen Gebäude in der Jablotschkow-Straße. Bei gutem Wetter kommt man unterwegs an einem Dutzend Ständen, Bannern, Litfaßsäulen und Autos mit Plakaten vorbei, die über den Dienst in der Armee informieren und kostenlose Ausrüstung versprechen. An jeder Kreuzung verteilen Promoter in Armeeuniform Flyer und werben für eine neue Arbeit: Krieg führen. Es gehen massenweise Studenten der Moskauer Staatlichen Juristischen Universität an ihnen vorbei. Die künftigen Juristen in farbenfrohen Blazern haben Pause zwischen den Vorlesungen. Den Plakaten mit der Zahl 5.200.000 schenken sie keine Beachtung (Diese Summe – umgerechnet etwa 47.600 Euro – wird jedem für das erste Jahr in der Armee versprochen, die einmalige Prämie von 1,9 Millionen bei Vertragsabschluss eingerechnet – dek). Vor dem Gebäude, in dem die Verträge mit dem Verteidigungsministerium abgeschlossen werden, vermischen sich Studenten und ältere Männer in khakifarbener Kleidung, Polizisten in Schutzwesten, Frauen und Kinder, die ihre Väter in den Krieg verabschieden. Die Studenten gehen an einem Polizei-Jeep vorbei und beachten die Menschenansammlung vor dem Gebäude gar nicht. 

    Vor der Türe stehen zwei Polizisten mit Maschinenpistolen. In zwei Glaskästen stehen Schaufensterpuppen in Militäruniform und ohne Gesichter. Ab neun Uhr morgens baut sich die Schlange auf: Als Erste kommen Leute aus entlegenen Regionen zur Rekrutierungsstelle, die mit dem Nachtzug nach Moskau gekommen sind. Drinnen sieht es hier aus wie in einem gewöhnlichen Moskauer Servicezentrum für Bürgerangelegenheiten. Wartenummern werden elektronisch aufgerufen. In den Tagen, als die Reporterin mit Wartenden sprach, waren bereits Nummern kurz vor hundert an der Reihe, dabei war es noch nicht einmal Mittag. Jedes Mal, wenn sie mit Bewerbern sprach, war der Saal voll.

    Warteschlange vor dem Rekrutierungsbüro in Moskau / Fotos © Verstka

    Die langen Schlangen vor der Rekrutierungsstelle haben sich nach dem 6. August gebildet, als ukrainische Truppen auf das Territorium der Oblast Kursk vorstießen. „Jetzt haben wir 500 Leute am Tag, wir kommen kaum hinterher“, berichtete ein Psychologe der Rekrutierungsstelle im August. „Normalerweise waren die Kollegen im Chill-Modus, gingen abends um sechs nach Hause und hingen tagsüber entspannt im Park ab. Dann passierte Kursk, und jetzt kommen sie, der Zustrom reißt gar nicht mehr ab. Wir arbeiten jetzt bis zehn Uhr abends.“ 

    Dieser Ansturm wurde nicht allein durch einen Überschwang patriotischer Gefühle verursacht. Am 23. Juli – gleichsam in Vorahnung des ukrainischen Vorstoßes über die russische Grenze – hatte der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin einen Erlass unterzeichnet, der jedem Vertragssoldaten, der an der städtischen Rekrutierungsstelle zum Kriegsdienst angenommen wird, 1,9 Millionen Rubel [etwa 17.500 Euro] in Aussicht stellt. Der Bürgermeister rechnete vor, dass unter Berücksichtigung des Solds sowie der Zuschläge aus Moskau und von föderaler Ebene die Summe der Zahlungen an einen Vertragssoldaten „im ersten Dienstjahr über 5,2 Millionen Rubel [etwa 47.800 Euro] betragen wird.“ 

    Seitdem strömen Männer aus allen Regionen Russlands nach Moskau. „Wir haben den Eindruck, dass ein Viertel Moskauer sind, alle anderen sind Auswärtige. Wenn du in Ufa lebst, kannst du natürlich auch dort einen Vertrag schließen. Aber da zahlt dir die Stadt nur 400.000 als Anwerbegeld. Du kannst dir aber auch ein Ticket kaufen, fliegst nach Moskau, holst dir zwei Mille ab und ziehst von hier aus in den Krieg.“ 

    „Wenn sie mich töten, sei’s drum“ 

    Solche Summen würde die überwiegende Mehrheit der Bewerber normalerweise nie auf ihrem Konto zu sehen bekommen.  Im Zusammenspiel mit der Entscheidung Putins, dass erstmals Leute bis zum Alter von 65 Jahren einen Vertrag abschließen können, führte das dazu, dass neben jungen Berufsschülern und Männern in Tarnuniform mit dem Aufnäher „Z“ und Medaillen für die Einnahme von Bachmut nun auch Hunderte Familienväter im Vorrenten- und Rentenalter in der Schlange stehen. Deren Kalkül liegt auf der Hand: „Ich habe mein Leben gelebt, jetzt kaufen wir eine Wohnung für unseren Sohn; wenn sie mich töten, sei’s drum.“ In den Schützengräben hocken jetzt immer mehr Männer über 50, erzählt ein Offizier der Luftlandetruppen, der bei Cherson an der Front kämpft, im Gespräch mit Verstka. Er bezeichnet die Lage hinsichtlich der neuen Vertragssoldaten als „traurig“. „Jetzt stehen wir hier zusammen mit Mobiks [Mobilisierten – dek], und rund 40 Prozent sind älter als 50. Bei den Neuen sind sogar drei Viertel alt. Das ist bedauerlich, aber man muss mit dem arbeiten, was man hat.“

    Die Freiwilligen fortgeschrittenen Alters kommen in der Regel mit ihren Familien zur Rekrutierungsstelle, begleitet von ihren Frauen und Kindern. Einem der Männer fiel während des Gesprächs mit Verstka ein fünfjähriges Kind auf, das mit einer Uniformmütze auf dem Kopf durch den Saal lief, die ihm einer der Wartenden gegeben hatte. Ein Nachbar zwinkerte dem Mann mit Rangabzeichen am Ärmel zu: „Da wächst unsere Ablösung heran.“ 

    „Gott steht auf der Seite Russlands“ lautet die Schlagzeile einer Sonderausgabe der Moskauer Abendzeitung Wetschernaja Moskwa, die im Rekrutierungsbüro ausliegt. Darin ist ein Plakat von 1942 abgedruckt: „Das russische Volk wird niemals auf Knien stehen“ / Fotos © Verstka 

    In der Eingangshalle der Rekrutierungsstelle steht ein Automat für Kaffee, Chips und Brause. An den Wänden hängen Plakate: „Je ausgedehnter die Grenzen, desto weiter weg der Feind“ und: „Der Sieg ist nur eine Frage der Zeit! Zögere nicht!“ In der Ecke liegen frische Zeitungen aus. Einer der Gesprächspartner schickte uns das Foto einer Ausgabe von Wetschernjaja Moskwa. Dort war ein Plakat von 1942 abgedruckt, mit einer Leiche unter den Füßen eines sowjetischen Soldaten und der Aufschrift „Das russische Volk wird niemals auf Knien stehen.“ 

    Im gleichen Saal steht ein Fernseher mit Playstation; man kann dort Atomic Heart spielen, ein Egoshooter des russischen Studios Mundfish. Manche Bewerber würden sich hier die Wartezeit vor dem Bildschirm verkürzen, berichtet unser Gesprächspartner.  

    Wer an der Reihe ist, geht nacheinander zum Arzt, zum Psychologen, zum Juristen, zu Vertretern des Militärs, zum Notar und zu Bankangestellten. Alle, die einen Vertrag unterschreiben wollen, werden pro forma bei Mosgas, Moslift oder einer anderen Einrichtung der kommunalen Wohnungswirtschaft angestellt. Der Redaktion liegen einige dieser Verträge vor. Sie werden abgeschlossen, damit die Vertragssoldaten die zusätzlichen „Moskauer“ Gelder bekommen. Das sind monatlich 50.000 Rubel zusätzlich zum Sold. Ein weiterer Grund für diese Verträge ist die Auszahlung der fast zwei Millionen Rubel von der Moskauer Stadtverwaltung. Diese Zahlungen würden zusammen mit dem Gehalt von Mosgas oder Moslift auf Konten bei der Sberbank, der VTB oder anderen russischen Banken überwiesen, erklärt einer der Mitarbeiter der Rekrutierungsstelle.

    „Was die Kinder und deren Zukunft betrifft – für die wird alles gut“ 

    Den Aussagen angehender Vertragssoldaten nach zu schließen, gehen Patriotismus und Geldnot Hand in Hand. Und die Beamten sind bereit, diese Not auszunutzen. Während diese Reportage in Arbeit war, übertrumpfte der Gouverneur der Oblast Belgorod, Wjatscheslaw Gladkow, die Moskauer Anwerbegelder noch einmal: Er versprach jedem Bürger drei Millionen Rubel, wenn er bis zum 31. Dezember 2024 in einem der Belgoroder Wehrersatzämter einen Vertrag unterschreibt.

    „Die meisten, die hierherkommen, verdienen wenig“, räumt einer der Mitarbeiter der Rekrutierungsstelle ein. „Aber wenn du sie nach ihren Motiven fragst, reden fast alle von patriotischen Gefühlen. Einige erwähnen Schulden. Natürlich sind alle überzeugt, dass sie überleben werden. Aber ganz und gar nicht an den Tod denken, das können sie auch nicht. Und natürlich sind sie nicht bereit, für 30.000 Rubel zu sterben. Die allermeisten haben Kinder, und ihnen ist klar, was das bedeutet. Wenn sie aus patriotischen Motiven den Tod in Kauf nehmen, dann wissen sie, dass damit wenigstens ihre Kinder ‚etwas davon haben‘“.

    Musterung, Notar, Bankverbindung – vor dem Einsatz an der Front steht die Bürokratie: Aufnahme aus der Moskauer Rekrutierungsstelle / Fotos © Verstka 

    Nahezu alle Frauen wüssten das; sie ließen ihre Männer aus diesem Grund bewusst in den Krieg ziehen, ist ein Mitarbeiter überzeugt. „Nun, für die Frauen ist das doch super. Sie sind der Ansicht, dass das für ihre Kinder und für deren Zukunft gut ist. Welche Perspektiven hättest du denn, wenn du in einem Möbelunternehmen für 30.000 (etwa 285 Euro – dek) arbeitest?“ 

    Ein weiteres Motiv sind die kostenlosen AGs in der Schule, zusätzliche Bildungsangebote, Kita- und Studienplätze, die der Staat Kindern von Kriegsteilnehmern verspricht. 

    „Diese Männer denken zum Beispiel viel an eine Hochschulbildung für ihre Kinder. Es gibt immer weniger kostenlose Studienplätze. Und sie wissen, dass sie niemals drei Kindern ein Studium finanzieren können. 

    „Und die Männer selbst haben meist keine Hochschulbildung?“ 

    „Die meisten nicht. Mein Eindruck ist, dass 80 Prozent eine Fachoberschule absolviert haben, 15 Prozent nur die neunte Klasse und fünf Prozent eine Hochschule. Einige davon kommen mit gleich drei Abschlüssen daher. Philosophie, Geschichte. Man kann sie schon an der Kleidung erkennen: Einige kommen in Tarnmontur, Funktionstextilien, bequeme Kleidung… Andere kommen im Blazer. Und du fragst die dann: ‚Was meinen Sie, wie viele Leute kommen im Anzug hierher?‘“ 

    „Jahrelang habe ich am Computer gezockt. Und hier fragen sie dich: Willst du ein neues Spiel spielen?“ 

    In den Gesprächen mit denen, die kämpfen wollen, wird ein weiterer Grund für diese Entscheidung genannt: Die Hoffnung, wenigstens einmal im Leben etwas zu erreichen. „Ein großer Teil der Motive hängt damit zusammen, dass sie keinen Erfolg hatten“, sagt einer der Sozialarbeiter des Zentrums. „Die Kriegserfahrung ist für sie eines der wenigen Ziele im Leben, die sie wirklich erreichen können. Sie sagen das auch offen: Ich bin 35, ein vollkommener Loser, das ist meine letzte Chance.“ 

    Der 30-jährige Dimitri hat ein privates Gymnasium besucht, aber sein Studium an der Technischen Universität lief nicht besonders. Drei Jahre hat er durchgehalten, dann ging er zur Armee. Nachdem er 2019 demobilisiert wurde, arbeitete er auf dem Bau, bei der Feuerwehr, als Kellner, Packer. „Man hatte mir früher schon vorgeschlagen, zur Armee zu gehen, aber ich wollte es lieber im zivilen Bereich versuchen. Dort hat es nicht geklappt. Es gab keine Stabilität. Es hat nicht funktioniert.“ 

    Ein Schuster Namens Iwan sagt, dass er der Heimat etwas zurückgeben will, dass Verwandte von ihm in Kursk leben, dass ihm aber auch das Geld nicht ungelegen kommt. „Gestern war der Abschied. Ich trinke nicht. Ich will Auszeichnungen. Damit mein Sohn sieht, dass ich mich nicht nur im Zivilleben abstrample… Ich will mich verwirklichen.“ 

    „Heldentaten wiegen mehr als Worte“ steht an der Wand der Moskauer Rekrutierungsstelle / Foto © Verstka 

    Der Bauarbeiter Gennadi hat wegen Diebstahls gesessen, dann fand er eine Freundin. „Wir bekamen ein Kind, aber es hat nicht funktioniert. Wir waren aber nicht verheiratet. Und weiter? Ich habe gesoffen und gearbeitet, habe nicht gesoffen und gearbeitet. Ich musste gehen und den Vertrag unterschreiben, damit ich ein besseres Leben beginnen kann. Mein Leben wird in Ordnung kommen. Ich hatte nie einen Wehrpass, konnte nie eine normale Arbeit finden.“ 

    Nikolai war Polier, Schweißer, Bauarbeiter im Hohen Norden: „Es hat mich umhergetrieben. Nirgendwo hat‘s richtig geklappt. Vielleicht kann ich mich hier verwirklichen.“ Der 20-jährige Denis hat „im Zivilleben alles ausprobiert, nichts klappt, vielleicht kommt bei der ‚Spezialoperation‘ was raus.“ 

    Psychologen bezeichnen dieses Problem als „soziales Losertum“, als „Sehnsucht nach irgendeinem Erfolg, die ihnen von einer patriarchalen Gesellschaft auferlegt wird“, als „Streben nach Selbstverwirklichung, wenn sämtliche anderen Möglichkeiten zum sozialen Aufstieg verschlossen sind“. „Für Leute, die in den sozialen Netzwerken leben, gibt es einen Leistungskult, und es scheint, dass der verdammt erfolgreich ist. Aber die harte Lebenswirklichkeit in Russland, ja in der Welt, sieht so aus, dass alles am Arsch ist. Und das ist irgendwie normal“, sinniert einer der Mitarbeiter. „Man kann alles in den Sand setzen, sich wegsaufen, hängenlassen, abkacken; Beziehung kaputt, keine Familie, Jahrelang auf der Couch verbracht, nur am PC gezockt. Und dann bieten sie dir ein neues Spiel an! Es gibt natürlich die Möglichkeit, dass das nicht gut ausgeht. Aber es winken Geld, Ausbildung, Status, Respekt und Aufmerksamkeit durch die Gesellschaft. Dann leuchten die Augen.“

    „Frauen sind lebensfroher, positiver“

    Auch Frauen kommen, um im Krieg Karriere zu machen. „Die sind alle lebensfroher, positiver, über ihnen hängt nicht diese patriarchale Verpflichtung, was zu erreichen, ‚ein Kerl zu sein‘; es gibt keine Enttäuschung von der eigenen Rolle“, sagt einer der Sozialarbeiter. Frauen können einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium abschließen, wenn sie jünger als 45 sind. Pro Woche kommen 15 bis 20 Frauen zur Rekrutierungsstelle. Es seien nicht nur Medizinerinnen und Köchinnen, sondern auch Scharfschützinnen dabei, berichten Mitarbeiter der Rekrutierungsstelle. „Eine Frau hat genauso das Recht, einen solchen Vertrag zu schließen, wie jeder Mann. Aber als was sie mit diesem Vertrag losgeschickt werden, ist Sache der Kommandeure. Als Köchin, Krankenschwester oder mit der Option, mit einem MG in den Wald zu ziehen.“ 

    Eine von ihnen, unverheiratet, jung, schön, sagt: „Dort werde ich jemanden für mich finden.“ Eine andere erzählte, dass ihr Mann im Krieg sei; Kinder hätten sie keine: „Ich will nicht zu Hause sitzen und auf ihn warten; mir geht’s schlecht, ich gehe auch hin.“ Eine dritte ist Sängerin und Tänzerin in einem Ensemble. Nachdem sie zu Auftritten nach Syrien und in die besetzten Gebiete gereist ist, hat sie beschlossen, lieber mit einem militärischen Rang patriotische Lieder zu singen, als in Zivil. Auch eine Mutter mit zwei kleinen Kindern hat sich in der Rekrutierungsstelle gemeldet, eines war drei, das andere war ein Jahr alt. Einer der Informanten, mit denen Verstka sprechen konnte, fragte sie: „Und die Kinder?“ „Denen geht’s gut“, entgegnete die Frau, „die bleiben bei ihrer Oma und bei ihrem Vater.“

    „In den Krieg zu ziehen heißt, das Richtige zu tun“ 

    Die Mitarbeiter der Rekrutierungsstelle in der Timirjasewskaja–Straße berichten, dass fast jeder zweite Bewerber schon einmal in einer Strafkolonie gesessen hat, und zwar wegen der unterschiedlichsten Delikte: von Raub in den 1990er Jahren bis Drogenhandel in den 2020ern. Für viele von ihnen ist der Dienst und ein Rang in der Armee ein Weg, „Jugendsünden“ wieder gut zu machen. „Das Brandmal eines Straffälligen loszuwerden, ist ein sehr starkes Motiv“, sagt einer der Juristen in der Rekrutierungsstelle. „Sie sagen das ganz offen: ‚Ich will nicht, dass meine Haftzeit ein Problem für meine Kinder wird. Eine abgesessene Strafe wäre für sie scheiße, eine Löschung der Vorstrafe ist für sie super. Was wäre, wenn sie zur Polizei wollen?‘ Sie betrachten ihre frühere Tat als Fehler und wollen, dass ab jetzt alles richtig läuft. Und das Richtige ist dann, in den Krieg zu ziehen.“ 

    5,2 Millionen Rubel winken Vertragssoldaten im ersten Jahr. Auf dem Plakat am Ende des Saales steht in weißer Schrift: „Denke daran: Wo du bist, ist Russland“ / Fotos © Verstka 

    Im August kamen auch Leute, gegen die ein Ermittlungsverfahren lief, die noch nicht vor Gericht standen, für die es aber die Möglichkeit gab, in den Krieg zu ziehen, um nicht auf ein Urteil warten zu müssen. Eine davon war eine junge Frau, die erzählte, dass Polizisten sie mit einem Kilo Hasch festgenommen hätten. Ein Strafverfahren wurde eröffnet: „Ich wurde erwischt und musste verschwinden. Und ich habe Kredite laufen… Also bin ich gefahren.“ Trotz des laufenden Strafverfahrens wurden ihr alle Papiere ausgestellt und sie wurde in die Ukraine geschickt. 

    Offiziell möglich wurde ein solcher Weg im September 2024: Die Staatsduma verabschiedete zwei Gesetze über die Befreiung von strafrechtlicher Verantwortung von Straffälligen, wenn sie einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium abschließen und kämpfen. Jetzt können Beschuldigte in jeder Phase des Strafverfahrens an die Front gehen: direkt nach der Verhaftung, während der U-Haft, während der Gerichtsverhandlungen, und wenn jemand schon in der Strafkolonie ist. Es reicht ein Schuldeingeständnis. Schöner Nebeneffekt für die Polizei: Das steigert die Aufklärungsquote. Letztere ist bis heute das wichtigste Kriterium für die Arbeit von Strafverfolgern und Justiz. 

    „Sollen sie mich doch töten – was soll’s?“ 

    Michail war Schweißer. Vor drei Jahren hat er sich scheiden lassen, trotzdem hat er seine Entscheidung, in den Krieg zu ziehen, mit seiner Exfrau besprochen. „Was sie gesagt hat? Ehrlich? Dass ich ein Scheißkerl bin. Aber mein Sohn ist jetzt eingezogen worden, sie wollten ihn gerade nach Belgorod schicken. Aber dann haben sie ihn aus gesundheitlichen Gründen zurückgestellt. Er muss operiert werden: Kiefernhöhlenentzündung. Seine Einheit ist schon los nach Belgorod. Ich will ihn schützen. Damit nicht die Wehrpflichtigen am Krieg teilnehmen müssen. Sonst… da passieren ja schlimme Sachen. Irgendeinen Beitrag werde ich schon leisten können. Schon drei meiner Kameraden sind gefallen, was soll ich da sagen… Ob der Krieg gerecht ist? Wie soll man überhaupt verstehen, ob ein Krieg gerecht sein kann? Seine Grenzen zu verteidigen, das ist natürlich… Aber warum wir über eine fremde Grenze rüber sind, ist auch nicht ganz…“ 

    Viktor ist Veteran des zweiten Tschetschenienkriegs. „Ich mach’s nicht wegen dem Geld. Meine Frau heult, weil ich denke, dass ich da hin muss. Nicht die Jungen sollen kämpfen. Es muss sein, und was soll ich zuhause sitzen, als älterer Mann. Wenn dort die Jungen kämpfen, von denen einige noch keine Frau gesehen haben…“ Drei Fragen später stellt sich heraus, dass Viktors Sohn sieben Monate im Krieg war, zurückkam und sich umgebracht hat. Er hat sich vor der Stadt erhängt und vorher noch seiner Frau die Koordinaten geschickt. Die blieb mit zwei Kindern zurück. Eines ist zehn Monate alt, das andere geht in die dritte Klasse. „Nun, ich hab‘ ihn beerdigt, einen Grabstein aufgestellt. Und jetzt geh‘ ich.“ 

    „Das Glück ist stets mit den Tapferen“ verspricht dieses Plakat / Foto © Verstka

    Jeder, der an die Front will, muss zehn Standardfragen beantworten: Welchen Bildungsstand er hat, wann er das letzte Mal getrunken hat, ob er Drogen nimmt, ob er mal beim Psychiater war, welche Tattoos er hat, was er über den Krieg denkt, warum er den Vertrag abschließen will. Das machen Mitarbeiter des Moskauer sozialpsychologischen Dienstes. Dort wurde 2024 stark gekürzt. Jetzt haben die Mitarbeiter, die früher Moskauern in Notlagen kostenlos geholfen haben, die Aufgabe, künftige Soldaten zu mustern. Einige der Vertragssoldaten haben Verstka erzählt, was sie geantwortet haben. 

    Sergej ist Maurer und neun Jahre zur Schule gegangen. „Warum ich den Vertrag schließe? Viele meiner Bekannten sind gegangen, und ich geh jetzt mit ihnen. Ob ich patriotische Gefühle habe? Nö, einfach viele Bekannte, und ich gehe mit, um ihnen Gesellschaft zu leisten. Alkohol habe ich zuletzt gestern getrunken. Mir sind die Risiken bewusst, das ist mir alles bewusst. Ich lese buchstäblich jeden Tag über die Verluste. Was ich mache, wenn ich zurückkomme? Ich weiß ja nicht, ob ich zurückkomme oder nicht… nun, ich habe Kinder, Familie… Meine Frau hat nichts dagegen…“ 

    Wladimir ist 18. Wenn er den Vertrag erfüllt hat, will er Psychologe werden. „Meine Eltern sind seit meiner Kindheit, wie soll ich sagen, verantwortungslos. Sie haben uns ständig geschlagen. Um meine drei jüngeren Brüder habe ich mich gekümmert. Dann wurde ich meinen Eltern weggenommen und in ein Heim gesteckt, weil sie mich geschlagen haben. …Ich musste, wie soll ich sagen?, schneller erwachsen werden, nun, Verantwortung lernen. Nach der neunten Klasse habe ich ständig gearbeitet. In der Kantine, als Kurier, als Trainer in einer Paintball-Anlage… Ich will hinterher die 10. und 11. Klasse nachholen und an der Hochschule Psychologie studieren. Und weiter, nun, dann in dem Bereich weiterarbeiten. Damit ich was verändere, was besser mache. Ich weiß, dass ich getötet werden kann. Wenn ich falle, heißt das, also… Dann soll’s so sein, dass mein Weg dort zu Ende geht. Überhaupt habe ich, also, es gibt Pläne. Eine Bekannte aus dem Außenministerium hat gesagt, dass die Männer dort nicht hingehen, um zu sterben, sondern um zu siegen.“ 

    Wadim ist Geselle in einer Fabrik, verdient 50.000 Rubel im Monat (etwa 475 Euro – dek). „Ich gehe, damit ich finanziell über die Runden komme, nicht um Leute umzubringen. Ich hoffe, dass wir das in ein bis anderthalb Jahren hinkriegen und zurückkommen.“ 

    Nikolai hat drei Kinder, zwei, drei und fünf Jahre alt. „Mich hält hier nichts mehr“, sagt der dreifache Vater. „Ich muss da unbedingt hin. Mir ist völlig klar, dass ich dort sterben kann. Ein Freund ist schon da. Mich motiviert, dass es jetzt schon in Russland Kampfhandlungen gibt. Ich will, dass das schnell aufhört.“ 

    In der Nähe der Rekrutierungsstelle haben Bewerber ihr Gepäck abgestellt. Viele kommen von weit her, weil in Moskau die höchsten Prämien bezahlt werden / Foto © Verstka 

    Alexander ist Oberstleutnant der Reserve. Er hat 30 Jahre Militärdienst hinter sich, vom Fernen Osten bis nach Jaroslawl. „Ich will den Vertrag wegen der Kinder. Einer wird vier, die älteste ist 17. Meine Frau hat zuerst geschimpft, doch dann hab‘ ich mich durchgesetzt. Sie hat verstanden, dass es mir um die Kinder geht. Ob man den Krieg hätte vermeiden können? Natürlich. Wenn der Westen sich nicht eingemischt hätte, wenn sie unser Land nicht betrogen hätten, wenn sie unsere Kinder und unsere Nation nicht erniedrigt hätten, dann hätte man den Krieg natürlich vermeiden können. Ich denke, es ist richtig, dass wir für uns und unsere Kinder einstehen; das ist das Wichtigste. Der Krieg endet mit unserem Sieg. Ich denke, Odessa muss erobert werden, dann sehen wir weiter, wenn der liebe Gott uns beisteht.“ Wer genau auf welche Weise russische Kinder erniedrigt hat, erklärt der Oberstleutnant nicht. 

    Waleri hat 2016 schon einmal einen Vertrag als Soldat abgeschlossen. Danach arbeitete er auf dem Bau, dann fuhr er Taxi, dann war er wieder auf dem Bau. „Es gab einen Durchbruch in die Oblast Kursk, und ich beschloss hinzugehen. Ob ich wohl erfahren bin und mir das ganze Risiko wirklich bewusst ist? Ich bezweifle es. Wenn ich mir das gut überlegt hätte, wäre ich wohl nicht hier. 

    Aber mein größtes Problem ist ein finanzielles. Das mag einem vielleicht komisch vorkommen, aber ich liebe meine Heimat sehr. Ob ich meine, dass der Krieg gerecht ist? Na, ich weiß nicht, jetzt hat er schon begonnen… Meine Meinung ist, dass man den hätte vermeiden können, aber davon verstehen andere mehr als ich… Aber wenn es nun schon passiert ist, muss man bis zum Ende gehen, und das ist nicht abzusehen… Hauptsache zurückkommen.“ 

    Dmitri, der wegen drei verschiedenen Straftatbeständen verurteilt wurde, unter anderem wegen Flucht aus dem Arrest, ist mit seiner Frau nach Moskau gekommen. Die letzten fünf Jahre ist er für Yandex Taxi gefahren. „Warum ich so traurig bin? Ich bin alle. Bin lange nicht mehr in der großen Stadt gewesen. Und die Arbeit jeden Morgen, um vier aufstehen, bis drei oder fünf hinterm Steuer sitzen. Ich sag‘ meiner Frau immer, wie sehr ich das alles satt habe… Ich will wenigstens ein bisschen Veränderung. Wir haben uns hingesetzt und beschlossen, dass ich kämpfen gehe. Ich will den Mist wieder gut machen, den ich mit meinem Bruder gebaut habe. Der ist wegen einer Dummheit gestorben, sein Enkel ist für mich wie mein eigener. Von außen betrachtet, denke ich, dass der Enkel wenigstens stolz sein wird, dass sein Opa in den Krieg gezogen ist und sich verdient macht. Er ist für mich der einzige. Dem Enkel wird es besser gehen, wenn ich unsere ganze Vergangenheit wegwische. Mein Enkel macht Gott sei Dank Sport, der wollte hier auch an der Konsole zocken…“ 

    Sein eigenes Kind ist schon erwachsen, aber Dimitri hat keinen Kontakt zu ihm. 

    Andrej ist Militärangehöriger und erneuert seinen Vertrag, der in diesem Jahr auslief: Seine Brigade geht nach Syrien, aber er wartete auf einen Platz in der Einheit bei der „Spezialoperation“. „Ein Soldat lebt zu Friedenszeiten quasi ‚auf Pump‘. Und jetzt ist die Zeit, seine Pflicht dem Staat gegenüber zu erfüllen. Ist nicht alles so einfach – eine Hypothek aufnehmen und dann ein paar leichte Übungen mitmachen. Im Krieg entfalten sich die Menschen. Wenn sie versteckt schlechte Menschen waren, dann wird das dort sofort sichtbar. Das Alltagsleben verändert stärker als der Beschuss und das eigentliche Kriegsgeschehen. Erdunterstände, Schlamm, keine Gelegenheit, sich zu waschen. Am Kriegshandwerk gefällt mir das Kollektive, zusammen eine Sache und ein Ziel zu haben, das allen klar ist. Und nach dem Krieg gehe ich in Rente. Ich hab‘ immer davon geträumt, mir einen Brummi zu kaufen und Fernfahrer zu sein.“ 

    Wladimir ist Schweißer auf dem Bau und offensichtlich nicht mehr nüchtern. Er sagt aber, er habe nur Bier getrunken, und das gestern. Er sei gekommen den Vertrag zu unterschreiben, vor allem, um seinem Sohn ein Beispiel zu sein: „Er wird dieses Jahr 17; er soll wissen, dass man sich vor nichts zu fürchten braucht.“ Er ist sich der Risiken für Leib und Leben bewusst. Dass der Vertrag bis zum Ende der Spezialoperation gilt, weiß er. Suizidgedanken hat er keine. 

    In der Nähe des Rekrutierungsbüros versammeln sich die Bewerber / Foto © Verstka 

    „Warum ich in den Krieg ziehe? Waren Sie schon mal in Belgorod? Dann können Sie das nicht verstehen. Ich will nicht, dass sie zu mir kommen. Ich will, dass der Krieg so schnell wie möglich zu Ende ist. Warum er begonnen hat? Einerseits: Wenn nicht wir, dann wären die hierhergekommen. Obwohl, ich weiß nicht, ob sie gekommen wären?…“ 

    Pawel hat 25 Jahre gedient, zuletzt in der Nationalgarde. Seit 2017 ist er in Rente. Er habe sich mit allen gestritten, weil er den „Verfall und den Schweinkram“ gesehen habe. „Alle meine Freunde sind jetzt bei der Spezialoperation. Sie rufen an, wenn sie Heimaturlaub haben, erzählen… Ich habe beschlossen, zu ihnen zu fahren. Was soll ich hier noch? Meine Frau schimpft, was ich da will… Aber meine Kumpel sind alle dort, was soll ich da hier rumsitzen?“ 

    Alexander ist Direktor eines holzverarbeitenden Unternehmens. Bei seinem Vater wurde Darmkrebs entdeckt und er will ihm helfen: „Uns fehlt das Geld für die Operation. In der neuen Krebsklinik sagen sie, das kostet zusammen mit der Reha 35 Millionen Rubel [etwa 320.000 Euro – dek]. Wir haben bereits eine Hypothek auf dem Haus. Also bin ich sofort hierhergefahren. Die Lage ist natürlich so la la. Ich habe eine Vollmacht geschrieben, damit werden sie klarkommen. Einen Kredit bekomme ich nicht mehr, weder privat noch für die Firma. Meine Eltern arbeiten in einer Chemiefabrik, ständig sind sie dort Strahlung ausgesetzt. Wahrscheinlich hat das den Krebs ausgelöst. Jetzt stellte sich heraus, dass die Fabrik sie einfach so entlassen kann. Leute wie sie behält man dort nicht. Sie leben in Samara, dort verdient man im Schnitt fünfzigtausend [etwa 465 Euro – dek]. So ist eben unser Russland.“ 

    Ilja ist 53. Er sagt, dass man „für die Heimat“ in den Krieg ziehen müsse. „Ich bin Patriot und versuche, meine Tochter im gleichen Geist zu erziehen. Seit 2014 beobachte ich die Lage, sehe fern, meine Frau schimpft, dass ich den Kasten tagelang nicht ausschalte. Odessa, Transnistrien, das alles holen wir uns.“ 

    Der Traktorfahrer Arkadi unterschreibt den Vertrag, weil er „eine bessere Wohnung und die Kinder absichern“ will. „Die Risiken? Nun, wenn sie mich töten – was soll’s? Stimmt es denn, dass der Vertrag bis zum Ende der Spezialoperation gilt? Nicht nur für ein Jahr? Na, dann bleibe ich eben bis zum Ende. Umentscheiden werde ich mich nicht. Wenn ich gehe, dann geh‘ ich!“ 

    Iwan ist Monteur. Er macht keinen Hehl daraus, dass es ihm ums Geld geht. „Was ich über den Krieg denke? Da habe ich noch gar nicht drüber nachgedacht. Das ist eine politische Entscheidung, das geht mich nichts an. Kann sein, dass er gerecht ist, vielleicht ist er ungerecht. Aber die geringen Löhne in Russland… Du bist gut ausgebildet, du bist belesen, du arbeitest fleißig, aber Geld hast du keines. Wenn ich im zivilen Leben ein Gehalt von 200.000 hätte [etwa 1.865.- Euro – dek], würde ich um nichts in der Welt in den Krieg ziehen. Aber bei uns im Land sind nicht wir diejenigen, die über das Geld entscheiden. Es gibt Leute, die für uns die Entscheidungen treffen, das hängt nicht von uns ab. Ob ich zur Wahl gegangen bin? Ein paar Mal war ich da. Das letzte Mal habe ich für Putin gestimmt.“ 

    Der Bauarbeiter Sergej will den Vertrag unterschreiben, um „seinen Leuten zu helfen“. „Ich habe lange gedacht: zwei Jahre. Selbst wenn ich in einem zivilen Job 200.000 verdienen würde, würde ich trotzdem gehen. Stimmt es wirklich, dass der Vertrag bis zum Ende der Spezialoperation gilt? Eigentlich war doch die Rede von einem Jahr … Nun gut, verstehe. Meine Jungs sind ja sowieso da. Hauptsache, der Krieg ist bald zu Ende.“ 

    Der Maurer Dimitri hat gestern ein alkoholfreies Bier und eine Flasche Wodka getrunken. Sein Bruder dient schon im Krieg, er hat keine Wohnung und mit seiner Schwester hat er sich zerstritten. „Rausgeschmissen hat sie mich, ich habe nichts, wo ich wohnen kann.“ 

    „Morde sind OK, Raub ist OK“ 

    Die Rekrutierungsstelle kann Bewerber ablehnen, wenn sie wegen sexualisierter Gewalt oder Extremismus in Haft sind oder ein entsprechendes Verfahren gegen sie läuft. „Drogen sind OK, solche Delikte sind ja weit verbreitet“, erklärt einer der Sozialarbeiter. „Mord oder Raub ebenfalls. Da kommt es darauf an, was die Leute so erzählen. Es gibt ja keine eigene Kompanie für solche Leute: Alle sitzen zusammen im Schützengraben, da kann man keine Konflikte zwischen den Soldaten brauchen“.  

    Vor der Rekrutierungsstelle segnet ein Priester die Neulinge / Foto © Verstka

    Ein weiterer Grund für eine Absage ist eine starke Drogenabhängigkeit, die beim Bewerbungsgespräch auffällt, oder eine Krankengeschichte beim Psychiater. Die Mitarbeiter schauen sich auch die Tätowierungen der Bewerber an. Leute mit aufwändigem Körperschmuck kommen selten in die Rekrutierungsstelle. Die meisten Anwärter haben ein, zwei Tattoos, die sie sich in der Armee oder in der Haft stechen ließen. Einen Stern, eine Rose… „Die ganze Welt liegt mir zu Füßen“ auf Latein, „Nur Gott ist mein Richter“… Während sich unsere Reporterin mit Bewerbern unterhielt, kam ein Mann in die Rekrutierungsstelle, der hatte auf dem Bein ein Hakenkreuz tätowiert. Ein andere hatte die Ziffern „14/88“ auf der Schulter. „Wir haben überlegt, ob wir denen absagen“, räumt einer der Mitarbeiter ein. „Aber sie waren beide schon bei der Spezialoperation, beide haben bei Wagner gedient. Sie hatten Medaillen für die Einnahme von Bachmut dabei und haben Fotos gezeigt.“ 

    „Ok, ich habe so ein Tattoo. Aber wer will mir was vorwerfen, wenn wir gegen die da kämpfen?“, rechtfertigt sich einer der beiden Wagner-Kämpfer, der nicht mehr bei privaten Militärunternehmen dienen wollte. „Ich will einen militärischen Rang und Sozialleistungen.“ „Der Grund dafür, dass wir Leute mit Hakenkreuz nicht haben wollen, ist nicht, dass wir persönlich etwas gegen Hakenkreuze hätten“, erklärt man uns die Kriterien der Rekrutierungsstelle. „Aber in einer Einheit dienen die unterschiedlichsten Leute. Sie waschen sich auch zusammen. Wenn jemand dieses Symbol sieht, könnte es zu einer Situation kommen, die wir vermeiden wollen.“  

    Die Mitarbeiter sagen selbst, dass es ihre Aufgabe sei, alle in den Krieg zu schicken. „Ich hab‘ noch niemandem abgesagt, sagen wir mal so. Warum? Nun, weil das schräg wäre: Da will jemand für Putin sterben, und ich soll ihn aufhalten? Im Gegenteil! Wenn da einer kommt, der sein Leben aufs Spiel setzen will, wäre es doch merkwürdig, wenn ich ihm sagte: Geh‘ beim Wachdienst arbeiten!“ 

    „Wenn ich aber merke, dass jemand Zweifel hat, dann helfe ich ihm zweifeln“, sagt der Mitarbeiter weiter. „Ich weiß nicht, ob ich der Einzige hier bin, der so ist. Wir haben keine Teamsitzungen, wo sie uns eine Linie vorgeben. Aber die Frage, ob jemand die Risiken für Leben und Gesundheit versteht, muss immer gestellt werden. Ich sage ihnen das auch offen: Sie können ums Leben kommen. Sie können sterben, du könntest ohne Beine zurückkommen. Das weckt manchmal Zweifel.“ 

    „Habe ich Sie richtig verstanden – ich kann nicht nach einem Jahr zurück?“ 

     Die Information, bei der einigen Bewerbern die Gesichtszüge entgleiten, ist der Umstand, dass der Vertrag keineswegs nur über ein Jahr läuft, sondern unbefristet. Ein typisches Gespräch hierzu sieht so aus: 

    „Das der Vertrag automatisch verlängert wird, wissen Sie?“ 

    „Nein, davon wurde nichts gesagt. Ich gehe für ein Jahr.“ 

    „Nein, Sie gehen nicht für ein Jahr.“ 

    „Aber ich höre das jetzt zum ersten Mal. Und wozu habe ich dann für ein Jahr unterschrieben?! Da steht’s doch.“ 

    „Ihr erster Vertrag gilt ein Jahr. Aber sofort nach Ablauf wird er automatisch verlängert. Der Grund dafür ist ein Erlass von Wladimir Putin vom September 2022. Demnach gelten alle Verträge mit der Armee unbefristet bis die Spezialoperation beendet ist. Das wurde so geregelt, damit die Soldaten, die über die Mobilmachung zwangsweise eingezogen wurden, sich nicht ärgern, weil sie dort schon das dritte Jahr hocken, während die Vertragssoldaten kommen und gehen. Also gilt der Vertrag bis zum Ende der Spezialoperation.“ 

    „Und könnte die in einem Jahr beendet sein? Ich hab‘ doch nur für ein Jahr unterschrieben…“ 

    „Ein Erlass des Präsidenten ist juristisch stärker als ein Vertrag mit dem Verteidigungsministerium. Deswegen werden Sie bis zum Ende des Krieges bleiben. Könnte das Ihre Entscheidung ändern?“ 

    „Nein doch… da kann man wohl nichts machen… Aber ich werde doch mal gehen können… Auf Fronturlaub, auf Dienstreise nach Hause…?“ 

    „Einige ‚Frischlinge‘ wissen nichts von der automatischen Verlängerung“, bestätigt einer der Juristen. „Die glauben, dass sie einen Vertrag über ein Jahr unterschreiben, dort die Ausbildung absitzen und reich zurückkommen.“ 

    Im Sommer werden vor dem Rekrutierungsbüro Erfrischungen angeboten / Foto © Verstka  

    „Bloß nicht ins Gras beißen“  

    Sergej ist keine dreißig, er nuschelt und zittert. „Warum der Vertrag? Ich hab‘ keine Wahl. Die Schulden, die Wetten. Eigentlich war das Mamas Entscheidung. Sie hat mich gezwungen. Ich bin ein Stück Scheiße. Ich hab‘ alle enttäuscht…“ Der Mann bricht in Tränen aus. Später stellt sich heraus, dass er spielsüchtig ist: Millionen Schulden, Verbraucherkredite, das Geld seiner Eltern und seiner Partnerin hat er verspielt, sein Lohn geht für neue Einsätze drauf. Nachdem er die Kontaktdaten einiger Suchtberatungsstellen erhielt, beschloss Sergej, nicht zu unterschreiben. 

    Vor einem Einkaufszentrum in der Nähe des Rekrutierungsbüros wird ebenfalls um Freiwillige für die Armee geworben / Foto © Verstka 

    Bei der Rekrutierungsstelle kann man sich nur so lange noch umentscheiden, bis der Anwärter und der Kommandeur den Vertrag unterschrieben haben. Sobald die Dokumente unterschrieben sind, besprechen die frischangeworbenen Soldaten mit den Offizieren, wo sie die nächsten Tage verbringen werden. Sie können nicht sofort zu ihrer Einheit, es gibt zwei, drei Puffertage. Man könnte nach Hause fahren, doch das macht kaum jemand. Deshalb setzen sich die meisten in die Busse zum Lager Avangard im Patriot-Park in Odinzowo. „Dort wohnen sie in Kasernen, werden verpflegt, es entsteht wohl ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl. Dann geht’s zurück zu uns, und sie werden mit dem Bus zu ihren Einheiten gebracht.“ 

    Jeden Tag werden Listen mit Personen, die es sich anders überlegt haben, an das Militär geschickt. Jede Absage wird dokumentiert, in die Listen werden die Gründe eingetragen, in welcher Phase sich jemand umentschieden hat, und mit welcher Begründung. Die Daten werden dann analysiert, „weil es für die Militärs wichtig ist, dass möglichst wenigen abgesagt wird und möglichst wenige sich weigern.“ Jeden Tag gibt es etwa hundert, mit denen aus medizinischen Gründen kein Vertrag zustande kommt. Von vierhundert, die übrig bleiben, wird nochmal etwa ein Dutzend nachträglich ausgemustert. Zum Beispiel weil sie schwer alkoholabhängig sind oder in der Vergangenheit Gewalttaten gegen Kinder verübt haben. 

    Niemand kann einfach so die Rekrutierungsstelle verlassen. Man muss sich in Zimmer 306 melden. Dort sitzt neben dem Notar ein Angestellter, der Passierscheine für den Ausgang ausstellt. Man muss dann erklären, warum man hergekommen ist, wenn man schon keinen Vertrag schließen wollte. Die Passdaten werden aufgeschrieben und man wird unter Begleitung zum anderen Ende des Gebäudes geführt, dann über den Busparkplatz zum Tor.

    Die anderen fahren von hier in den Krieg. 

    In schneeweißen Pavillons, die mit künstlichen Blumen geschmückt sind, warten die Soldaten und ihre Familien. Wenn die Männer den Befehl bekommen, steigen sie in den Bus und fahren zu ihrem Stützpunkt. 

    Ein folkloristisch gekleidetes Musik-Ensemble spielt auf dem Parkplatz hinter der Rekrutierungsstelle. Hier verabschieden sich die Männer von ihren Familien und steigen in die Busse, die sie zu ihrer Einheit bringen / Foto © Verstka 

    Als wir mit einem der Anwärter sprechen, spielen nebenan Musikerinnen Akkordeon und Zither. Sie sind in reich verzierte Kaftane gekleidet und tragen Kokoschniks mit künstlichen Perlen auf den Köpfen. Es ist eine der Kulturbrigaden von Moskonzert, die „sich an der Unterstützung der Streitkräfte Russlands und des Staates beteiligt“.  

    Wenn keine Musiker da sind, kommt die Musik draußen aus Lautsprechern. Während eines der Interviews ist im Hintergrund die Stimme von Viktor Zoi zu hören: „Wünsch mir Glück im Kampf, wünsch mir, dass ich nicht ins Gras beiße.“ Jeden Tag ist im Hinterhof ein Priester anwesend. Vor der Abfahrt zum Stützpunkt können die neuen Rekruten dort beichten, mit dem Priester sprechen und gemeinsam beten. Es gibt auch eine Feldküche, wo kostenlos Buchweizengrütze und Büchsenfleisch ausgegeben werden. „Wir ziehen guter Dinge los“, sagt einer der Beteiligten zu Verstka

    Aus Dokumenten, die Verstka vorliegen, geht hervor, dass seit August mehr als 14.000 Personen von dieser Rekrutierungsstelle aus an die Front geschickt wurden. Berechnungen der BBC und Mediazona zufolge hatte von den mehr als 70.000 Soldaten, die seit Beginn des vollumfänglichen Angriffskrieges gegen die Ukraine getötet wurden, jeder Fünfte nach Kriegsbeginn einen Vertrag mit der Armee geschlossen. 2024 waren unter den Militärangehörigen aus Russland, deren Tod aufgrund offen zugänglicher Quellen bestätigt ist, immer häufiger Soldaten, die älter als 40, 50 oder gar 60 ware, und dabei weder Kampferfahrung noch eine spezielle Ausbildung hatten. 

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    Der Omsker Unternehmer Viktor Schkurenko ist einer der reichsten Menschen in Sibirien. Als jemand, der sich offen gegen den Krieg ausspricht, lebt und arbeitet er nach wie vor in Russland. Einige glauben, dass der FSB ihn schützt, andere – seine Steuermilliarden. Sogar Wladimir Solowjow hat bereits gefordert, Schkurenko hinter Gitter zu bringen, aber der Geschäftsmann selbst glaubt an die Gesetze und ist der Meinung, dass er für seine Ansichten nicht belangt werden kann. Jewa Belizkaja und Olessja Gerassimenko erzählen für Holod die Geschichte eines Milliardärs aus Omsk, der vom NATO-Beitritt Russlands träumt. 

    Der Unternehmer Viktor Schkurenko in seinem Chefsessel / Foto © Holod.media
    Der Unternehmer Viktor Schkurenko in seinem Chefsessel / Foto © Holod.media

    Im August 2022 klopfte ein Polizist an die Tür des Omsker Milliardärs Viktor Schkurenko. Der Grund für seinen Besuch war eine anonyme Anzeige – jemandem passte nicht, dass Schkurenko Iwan Urgant zu einer Betriebsfeier eingeladen hatte. Der TV-Moderator hatte sich gleich am ersten Tag der „militärischen Spezialoperation“ in der Ukraine offen gegen die russische Invasion ausgesprochen. Er postete ein schwarzes Quadrat mit der Bildunterschrift „Angst und Schmerz“ in den sozialen Netzwerken. Daraufhin setzte der Erste Kanal seine Show Wetscherny Urgant ab. 

    „Sie wollten mir ein Strafverfahren anhängen“, erzählt Schkurenko, ohne konkret zu sagen, wen er mit „sie“ meint. „Aber die Polizei konnte keinen Tatbestand finden.“ Der Omsker Unternehmer erklärte kurz die Sachlage, woraufhin der Polizist mit den Worten „So ein Blödsinn“ wieder abgezogen sei. 

    Schkurenko hatte keine Angst vor dem Beamten. Es war nicht das erste Mal, dass er mit den Behörden zu tun hatte. 1997 saß er sogar einmal auf der Anklagebank, wegen Steuerhinterziehung. Bei der Urteilsverkündung 2000 ermahnte der Richter, der Schkurenkos Großvater hätte sein können, den damals 28-Jährigen mit erhobenem Zeigefinger, so etwas bloß nicht noch einmal zu tun, und verurteilte ihn zu einer einjährigen Bewährungsstrafe. Seitdem seien die Gesetze der Russischen Föderation und das Strafgesetzbuch seine „Bibel“, sagt der Geschäftsmann. 

    Im April 2024 feierte der Milliardär seinen 52-jährigen Geburtstag. In den vergangenen zehn Jahren ist er regelmäßig unter den Top-10 der reichsten Einwohner von Omsk. Seine diversen Firmen erwirtschaften einen Umsatz von insgesamt 70 Milliarden Rubel [etwa 675 Millionen Euro – dek], die Hälfte davon außerhalb der Region Omsk. „Meine Persönlichkeit besteht zu 90 Prozent aus dem Geld, das ich verdiene“, sagt Schkurenko von sich selbst, „meine politische Einstellung ist nichts weiter als ein Hobby.“ 

    Das „Hobby“ gefällt nicht jedem: Schkurenko sorgt regelmäßig für Gesprächsstoff – auch außerhalb seiner Geschäftstätigkeit. Mal lädt er Drag Queens zu Betriebsfeiern ein, mal unterstützt er öffentlich Iwan Urgant, mal bringt er den Soziologen Grigori Judin nach Omsk oder den Regisseur Andrej Smirnow, um dessen jüngsten Film Sa nas s wami (dt. Auf uns und euch) einem breiten Publikum zu präsentieren. Der Streifen, der die stalinistischen Repressionen thematisiert, schaffte es nicht in die russischen Kinos. 

    In den 30 Jahren seiner Karriere hat Schkurenko nach eigenen Angaben 280 Geschäfte in Russland und Kasachstan eröffnet, von Hypermärkten bis zu Discountern (u. a. Niskozen, Pobeda, Eurospar). Der Unternehmer besitzt rund 200.000 Quadratmeter an Immobilien, die er verpachtet. Er kauft, übernimmt und investiert aktiv. Er treibt Sport in seinem eigenen Fitnesscenter, kauft Lebensmittel in seinen eigenen Supermärkten, trinkt seinen Kaffee in den Skuratow-Cafés, in die er rund 26 Millionen Rubel investierte, und nach seinem Ableben kann er auf die Dienste eines Krematoriums zählen, das er selbst erbaut hat. 

    Im Januar 2024 eröffnete Schkurenko eine Filiale seiner Handelskette in Moskau und erwarb eine Lizenz für die Einfuhr von Alkohol. Er plant, zum wichtigsten Importeur in ganz Russland zu werden. Er beschäftigt rund 7.000 Arbeitnehmer und zahlt über eine Milliarde Rubel Steuern in den Haushalt der Region Omsk. In dem Ausdruck „zu mutig“, mit dem die Gesprächspartner von Holod Schkurenko gerne beschreiben, schwingen unterschiedliche Emotionen mit: mal Verachtung, mal Bewunderung. 

    „Was hat das denn mit Mut zu tun? Was sage oder tue ich schon groß?“, ereifert sich Schkurenko ist im Gespräch mit Holod. „Umfragen zufolge unterstützen 20 Prozent der Bevölkerung die Spezialoperation nicht. Ich bin eben einer davon. Na und? Das ist meine Meinung, ja! Ich verstoße nicht gegen das Gesetz. Ich halte keine Versammlungen oder Kundgebungen ab. Ich finanziere niemanden, der verboten ist. Ich arbeite kaum mit dem Staat zusammen. Ich bin ein vorsichtiger Mensch, aber ich habe ein soziales Gewissen, das es mir nicht erlaubt, die Füße still zu halten.“ 

    „Wie sollte man das nicht unterstützen?“ 

    Bis 2003 war Schkurenko vollkommen loyal gegenüber der Staatsmacht. Als Schüler hatte er Gorbatschow verehrt, als Student unterstütze er Jelzin, und als Unternehmer den frühen Putin, dem er 2000 seine Stimme gab: „Es war doch der reinste amerikanische Traum, besser konnte man es sich nicht ausmalen. Das Bruttosozialprodukt verdoppeln? Wunderbar, was will man mehr? Wie konnte man Putin nicht lieben für diese Idee?“ 

    Die Verhaftung von Michail Chodorkowski 2003 verursachte die ersten Erschütterungen in Schkurenkos Ansichten. Seine Einstellung zum herrschenden Regime veränderte sich nicht über Nacht, aber damals wurde ihm bewusst, dass „etwas falsch lief“. Doch die ungute Vorahnung wurde von den nächsten Wahlen zerstreut. 

    2008 stimmte Schkurenko für Dimitri Medwedew, den er an allen Fronten unterstütze: „Die vier Jahre Medwedew waren eine glückliche Zeit in meinem Leben. Seine Beziehungen zu Obama, was er mit der Wirtschaft gemacht hat – das war ein Wunder! Wie er die Unternehmer vor den Silowiki verteidigte! ‚Freiheit ist besser als Unfreiheit‘ – wie sollte man das nicht unterstützen?“ 

    Vor lauter Begeisterung für Medwedew richtete Schkurenko sich sogar einen Instagram-Account ein. 2012 hatte er in einer Kolumne von Andrej Kolessnikow im Kommersant gelesen, dass der russische Präsident sich als einer der ersten bei dem „bourgeoisen Netzwerk“ angemeldet hätte. „Sein Gespür für die neusten digitalen Technologien war einwandfrei, ich vertraute ihm ganz aufrichtig“, sagt Schkurenko. Er lud sofort die App herunter, lief aus dem Hinterzimmer seines Supermarkts, knipste die Verkaufsregale und postete spontan sein erstes Foto. 

    Nach dem Beginn der vollumfänglichen Invasion in der Ukraine wechselte Dimitri Medwedew, nun stellvertretender Vorsitzender des russischen Sicherheitsrates, zu militaristischer Rhetorik und wurde zu einem der wichtigsten Wortführer der „Kriegspartei“. „Der einstige Bewunderer von Steve Jobs hat sich in einen Anti-NATO-Fabulisten verwandelt. Er hat seine Wahl getroffen. Aber meine Ansichten waren schon immer liberal und sind es geblieben“, sagt Schkurenko. 

    Seine Meinung gegenüber Medwedew hat der Milliardär geändert, aber Instagram blieb er treu. Es ist bis heute das einzige soziale Netzwerk, das Schkurenko nutzt. Jetzt, 12 Jahre später, hat er rund 7.400 Follower. Genauso vielen Menschen gibt er heute Arbeit. 

    Kein Aktivist 

    Als 2011 verkündet wurde, dass Medwedew den Präsidentenposten räumt und Putin wieder das Ruder übernimmt, war Schkurenko endgültig desillusioniert: „Mir ging es schlecht, ich war dagegen.“ Es ärgerte ihn, dass die Staatsmacht gegen das Gesetz verstoßen hatte. 

    Putin wählte der Milliardär nie wieder. 2012 gab er seine Stimme Michail Prochorow, 2018 Xenia Sobtschak. Er wurde sogar ihr Vertrauensmann für die Oblast Omsk. Denjenigen, die ihm Kurzsichtigkeit vorwarfen, erklärte er, dass Sobtschak, Prochorow und Nawalny für ihn ein und dasselbe wären: Leute, die öffentlich für liberale Werte eintraten, und es wäre ihm egal, ob sie Politiker, Clowns oder Protegés des Kreml seien. Putin betrachtete er als jemanden, der sich schon zu lange an seinen Sessel klammerte. „Also habe ich gegen ihn gestimmt“, sagt Schkurenko. 2024 setzte er sein Häkchen hinter Wladislaw Dawankow. 

    Schkurenko sagt, er sei wütend gewesen, als die Krim an Russland angegliedert wurde; die Wirtschaft stagnierte, die Realeinkommen begannen zu sinken. Er war traurig, als Boris Nemzow ermordet wurde. Er war glücklich, als Chodorkowski freikam und Swetlana Alexijewitsch den Nobelpreis für Literatur erhielt. 2020 war er so empört darüber, dass Medwedew samt der ganzen Regierung zurücktrat, dass er 15.000 Rubel [zum damaligen Kurs etwa 170 Euro – dek] an den TV-Sender Dozhd spendete, der darüber berichtete. Dann hörte er, dass Michail Mischustin zum neuen Premierminister ernannt wurde, und beruhigte sich wieder. Er bereute sogar, dass er so impulsiv mit seinem Geld um sich geworfen hatte. 

    Als Alexej Nawalny mit Vergiftungserscheinungen ins Krankenhaus eingeliefert wurde, checkte Schkurenko auf einer Geschäftsreise nach Tomsk im Hotel Xander ein, in dem auch Nawalny im August 2020 übernachtet hatte. Schkurenko verfolgte das Schicksal Nawalnys, machte sich Sorgen um ihn und „wollte, dass er am Leben bleibt“. Und obwohl der gebürtige Omsker der Meinung war, dass ein politisches Programm nicht auf dem Kampf gegen Korruption gründen könne und eine Führungspersönlichkeit innerhalb der Nomenklatura heranwachsen sollte – wie im Falll von Gorbatschow –, bewunderte er Nawalny für seinen Mut und sein entschlossenes Handeln: „Als Politiker hat er das Richtige getan, als er nach Russland zurückkehrte. Das war mutig, ehrlich, einfach gut!“ 

    Als Nawalny nach seiner Genesung im Januar 2021 erneut verhaftet wurde, verfolgte der Unternehmer die vierstündige Live-Sendung auf Dozhd. Mehr allerdings auch nicht. 

    „Ich bin kein Aktivist, kein Politiker. Ich kann keine Revolution machen. Und ich glaube auch nicht, dass irgendjemand anders sie machen kann. Ich bin nicht für eine Revolution unter Nawalny, sondern für bürgerliche Freiheit, für eine sanfte Revolution! Für einen Machtwechsel, für die Bildung, für liberale Werte.“ 

    Der Unternehmer ist noch nie mit einem Plakat auf die Straße gegangen oder hat an Kundgebungen teilgenommen. Die einzige Massenveranstaltung, an der er in den letzten Jahren teilgenommen hat, war Gorbatschows Beerdigung. Weil er den Tod des ersten Präsidenten der UdSSR als eine „persönliche Tragödie“ empfunden habe, sei er extra nach Moskau geflogen. 

    Er habe nicht die Macht, die Situation im Land zu verändern, sagt Schkurenko. „Für mich geht nichts über die Marktwirtschaft und die westlichen Demokratien. Aber wie soll ich darauf Einfluss nehmen?“, räsoniert er. „Wenn mein Land diese Richtung einschlägt, freue ich mich. Wenn es seinen eigenen, besonderen Weg sucht, bin ich unglücklich. Als Unternehmer kann ich mein eigenes Glück schmieden, aber da sind noch 140 Millionen andere Menschen im Spiel. In dieser Hinsicht hege ich keine Illusionen. Es hat keinen Sinn, sich vor die Schießscharte zu werfen. Ich werde wütend sein, unglücklich, aber ich will keine Revolution machen, sondern Geld!“ 

    Eine Filiale der Supermarktkette „Pobeda” in Omsk – eine von vielen Ketten im Handelsimperium des sibirischen Milliardärs Viktor Schkurenko / Foto © imago 

     

    Erst das Geschäft, dann die Familie 

    Geld macht Schkurenko seit Beginn der 1990er Jahre. Im ersten Jahr seines Studiums an der Wirtschaftsfakultät der Staatlichen Universität Omsk lernte der spätere Unternehmer seinen zukünftigen Geschäftspartner kennen – seinen Kommilitonen und Tischnachbarn Dimitri Schadrin. Sie stellten bald fest, dass sie beide auf The Doors und auf Genesis standen. Schkurenko lud Schadrin zu sich nach Hause ein, um bei Kaffee und Cognac Peter Gabriel zu hören. 

    In den nächsten fünf Jahren paukten sie zusammen für Prüfungen, trieben Sport, gingen mit Mädchen aus und spielten im Studententheater. Dann unternahmen sie gemeinsam ihre ersten geschäftlichen Schritte: 1992 reisten sie zum ersten Mal nach Moskau, deckten sich mit Champagner, Jeans, Zigaretten und Schnaps ein, füllten ein ganzes Zugabteil mit den Kisten und fuhren zurück, um alles zu verkaufen. 

    Innerhalb von drei Jahren schossen die Umsätze so in die Höhe, dass sie dazu übergingen, Schreibmaschinen und Damenstrumpfhosen mit Lastwagen und Militärflugzeugen zu transportieren: „Du gehst zum [Flughafen – dek] Schukowski, wartest auf einen Militärflug von Moskau nach Omsk, verhandelst mit den Piloten und fliegst los. So machte man das damals“, sagt Schkurenko. 

    Der Wendepunkt war das Jahr 1996, als nach der Privatisierung die Banken begannen, die Aktien von ehemaligen Staatsunternehmen und deren Mitarbeitern aufzukaufen. Nicht jeder wollte seine Zeit damit verschwenden, zur Bank zur laufen. Also fingen Schkurenko und Schadrin die Aktieninhaber vor den Werkstoren ab und tauschten die Wertpapiere gegen Bargeld. Auf diese Weise verdienten sie ihre ersten Dollar-Millionen. Nachdem sie ein solides Kapital zusammen hatten, konzentrierten sich die Partner auf Lebensmittel, gründeten eine Firma und eröffneten die erste Lebensmittelkette in Omsk. 2003 wurde das Unternehmen unter dem Namen Schkurenko Handelsgesellschaft registriert. 

    Seinen Erfolg misst Viktor Schkurenko am Umsatz seines Unternehmens. „Für mich ist das Geschäft wichtiger als die Familie“, sagt er. „Familie und Religion sind für normale Menschen, die keinen ausgeprägten Ehrgeiz haben. Meine Religion ist der Kapitalismus. Wachstum als Ausdruck des Erfolgs – bis ins Unendliche! Darin sehe ich den Sinn meines Lebens: nicht stehen zu bleiben. Wenn ich manchmal schlaflose Nächte habe, dann ist es wegen der Geschäfte.“ 

    Einmal verkrachten sich die jungen Geschäftspartner: Schadrin lernte ein Mädchen kennen, nahm Geld aus der Gemeinschaftskasse und kaufte damit eine Einzimmerwohnung. Es war ein Einzelfall, aber prägend – Schkurenko empfand das als Hochverrat. „Wir hatten Erfolg, weil wir uns nach diesem Vorfall gegenseitig in den persönlichen Ausgaben bremsten“, sagt er. 

    Schkurenkos persönliche Ausgaben liegen laut eigener Aussage bei etwa 100.000 Rubel [ca. 950 Euro – dek] im Monat. Wenn seine Familie nicht wäre, für die er etwa eine weitere Million [9.500 Euro – dek] ausgibt, würde er noch asketischer leben, sagt er. 

    Alle sechs Jahre tauscht er seinen Porsche Cayenne gegen einen neuen aus. An den Wochenenden mietet er eine Hütte im Wald und fährt alleine Langlaufski. In der Stadt bewohnt er eine 250-Quadratmeter-Wohnung, die noch nicht abbezahlt und ohne großen Luxus eingerichtet ist. Auf dem Sofa mummelt sich der Millionär in eine Ikea-Decke und liest Sorokin, Pelewin oder Flaubert. 

    Das einzige, wofür er abgesehen vom Geschäft bereit ist, Millionen auszugeben, ist das Reisen. Seine Frau erinnert sich gerne daran, wie sie 2018 in der Karibik am Strand neben Penelope Cruz und Javier Bardem gelegen haben. Ein Jahr später machte die Familie Urlaub auf den Seychellen – auf der teuersten Privatinsel der Welt, North Island. Die Insel bietet Platz für maximal 22 Besucher. Auf Booking.com liegen die Preise für eine Übernachtung in einer Villa auf North Island zwischen acht- und zehntausend Euro. 

    Eine EuroSpar-Filiale in Moskau. Für die Handelskette mit Sitz in den Niederlanden führt Schkurenko das Russland-Geschäft / Foto © Imago 

     

    „Das Land hat einen Fehler begangen“ 

    Drei Tage vor dem Einmarsch in die Ukraine, am 21. Februar 2022, postete Schkurenko ein Foto von einer Ziegelsteinmauer mit einer Antikriegslosung auf Instagram

    Zwei Jahre später kann man in Russland für solche Posts und Kommentare in den sozialen Medien eine Haftstrafe bekommen: bis zu 15 Jahre Straflager. Wie zum Beispiel der Renter Michail Simonow, der für seine Posts auf VKontake sieben Jahre wegen „Diskreditierung der Armee“ hinter Gitter sitzt. Doch Schkurenko glaubt weiterhin an das Gesetz und hat nicht vor, etwas zu löschen: „Das ist weder eine Diskreditierung der Armee noch eine öffentliche Antikriegsaktion. Das war noch vor Beginn der Spezialoperation. Ich habe gegen kein Gesetz verstoßen. Sie müssen die Gesetze genau lesen! Sie werden nichts finden!“ 

    Als der Krieg ausbrach, war Schkurenko besorgt, aber er war gleichzeitig sicher, dass sein Business das überstehen würde. Und er sollte recht behalten. Nach dem Februar 2022 hat sich für ihn nichts verändert, nur „dass das Geld jetzt zwei Tage unterwegs ist anstatt fünf Minuten“. Auch seine persönliche Haltung ist gleich geblieben: „Ich bin Humanist. Ich halte das für einen Fehler, damals wie heute. Sowohl wirtschaftlich als auch menschlich. Das Wichtigste für ein Land ist das menschliche Kapital, nicht Territorium. Man hätte die Spezialoperation nie beginnen dürfen. Am 24. Februar 2022 hat unser Land meiner Meinung nach einen Fehler begangen!“ 

    Nicht alle seine Mitarbeiter teilen seinen Standpunkt. „Es gibt Leute, die das ganz anders sehen“, sagt der Unternehmer. „Mein Filialleiter hat sich zum Beispiel ein Z auf sein Auto geklebt. Er hat mich mit diesem Auto herumgefahren, beim Abendessen haben wir gestritten … Ich diskutiere auch jetzt noch manchmal mit dem einen oder anderen in der Kantine. Aber ich würde niemals auf die Idee kommen, deswegen jemandem zu kündigen oder sein Gehalt zu kürzen.“ 

    Mit seinem Geschäftspartner Dimitri Schadrin spricht er seit fünf Jahren nicht mehr über Politik. Auch der habe eine „andere Meinung zur Spezialoperation“. Schadrin, ehemaliger Abgeordneter im Stadtparlament von Omsk und in der gesetzgebenden Versammlung der Partei Einiges Russland, leitet heute die Vereinigung der unabhängigen Handelsketten in Russland (Sojus nesawissimych setej) und unterstützt das Vorgehen der Machthaber. 

    „Ob er mein Freund ist? Ich bin 52 Jahre alt, ich brauche keine Freunde!“, erklärt Schkurenko. „Er ist mein guter Bekannter und Geschäftspartner. Manchmal feiern wir unsere Geburtstage zusammen.“ 

    Schadrin selbst wollte sich nicht äußern und hat gebeten, nichts über ihn zu schreiben. 

    „Ich habe eine negative Einstellung zum Staat, aber ich lebe damit, dass meine Steuern in die Verteidigung fließen, denn in erster Linie bin ich Unternehmer“, sagt Schkurenko. „Das ist meine Selbstverwirklichung. Das ist mein erstes, zweites und zehntes Ich. Ich habe nicht vor, irgendwo hinzugehen, ich arbeite hier, ich lebe hier, ich liebe dieses Land. Wenn ich aufhören würde, Steuern zu zahlen, wäre ich kein Unternehmer mehr. Das wäre, als würde ich aufhören zu atmen.“ 

    Durch Staatsaufträge erwirtschaftet Schkurenko Hunderte von Millionen von Rubel, aber insgesamt machen sie kaum mehr als ein Prozent seines Gesamtumsatzes aus. Einem der Geschäftsführer der Handelskette zufolge sind das kleine Aufträge: Sie versorgen regionale und kommunale Krankenhäuser mit Butter, Milch und Quark. 2021 stattete Schkurenkos Firma die für 1.650 Personen ausgelegte Kantine des neuen Universitätsgebäudes mit Backöfen, Kühlschränken und Arbeitsplatten aus, erzählt uns Alexander Kostjukow, Jurist und Vizerektor für Bauwesen an der Staatlichen Universität Omsk. 

    „Wir sind in der Lebensmittelbranche tätig“, erklärt Schkurenko. „Der Staat schreibt die Aufträge aus, meine Mitarbeiter bewerben sich. Ich habe keinen Einfluss auf die Entscheidungen. Sie können Waren an den Staat verkaufen oder nicht, ich sage bei den Besprechungen nicht: ‚Macht keine Geschäfte mit dem Staat‘. Wenn man mir diese Aufträge plötzlich entzieht, habe ich kein Problem damit. Ich habe nicht vor, ihre Zahl zu erhöhen und mich in diese Richtung zu entwickeln.“ 

     In jedem Geschäft in Russland hängt so eine Tafel, an der Kunden Informationen über das Unternehmen einsehen können / Foto © Holod
    In jedem Geschäft in Russland hängt so eine Tafel, an der Kunden Informationen über das Unternehmen einsehen können / Foto © Holod

    „Ich würde nie einem Obdachlosen 100 Rubel geben“ 

    Für Schkurenko steht, wie er selbst sagt, sein Unternehmen stets an oberster Stelle. Den Teamgeist seiner Mitarbeiter zu stärken, zahlt sich ebenfalls aus. Auf die weithin bekannten Betriebsfeiern seines Handelsunternehmens, die Schkurenko seit über 20 Jahren organisiert, will er auch angesichts der „Militärischen Spezialoperation“ nicht verzichten. In der Oblast Omsk nennt man sie „jährliche Orgien“, „verrückte Teekränzchen“, „Feste der absoluten Freiheit und Toleranz“. Tausende Mitarbeiter aus acht Regionen, in denen der Omsker aktiv ist, feiern mit, und das Budget für die Party beträgt 20 Millionen Rubel (etwa 186.000 Euro – dek). 2023 kamen die Feiern zum Tag der Stadt Omsk mit einer kleineren Summe aus: 18 Millionen Rubel.          

    Für Schkurenko kommt es gar nicht in Frage, dieses Geld an Arme, Flüchtlinge oder politische Häftlinge zu verteilen: „Wohltätigkeit ist für mich Totschka rosta (dt. Wachstumspunkt), ein Wettbewerb für Dorfschulkinder, die Unternehmer werden wollen. Den finanziere ich. Aber ein Obdachloser wird nie 100 Rubel von mir bekommen!“ 

    Schkurenko behauptet, noch nie auf der Straße Almosen gegeben zu haben. Bekannte von ihm erzählen allerdings, er habe anderer Leute Geldstrafen wegen Demonstrationen oder Äußerungen gegen den Krieg beglichen und an ein Hilfsprojekt für politische Gefangene gespendet. Sie räumen aber auch ein, dass das alles Peanuts für ihn sind. Schkurenko weicht diesem Thema aus.  

    „Ich helfe nur den Starken! Denen, die jung und begabt sind. Den Schwachen gebe ich nichts. Wieso sollte ich, wem bin ich das schuldig?! Ich zahle ja Steuern. Alles andere ist Aufgabe des Staates! Ich verdiene seit vielen Jahren jede Kopeke aus eigener Arbeit, und ich werde dem Staat die sozialen Probleme nicht aus der Hand nehmen. Ich hasse Paternalismus! Und für meine Mitarbeiter veranstalte ich tolle Partys.“  

    Kritische Stimmen, die anonym bleiben wollen, wissen wiederum nichts von seinem Engagement für politische Gefangene, erwähnen aber, dass er Abgeordnete und Beamte protegiert. 2017 etwa zahlte er die Konkursschulden von Alexej Sajapin, einem Abgeordneten der Partei Einiges Russland im Stadtrat von Omsk.  Und 2019 klagte er die Schulden von Wjatscheslaw Tarassow ein, der damals Verwaltungsleiter des Bezirks Tewris in der Oblast Omsk war.  

    Schkurenko sagt hingegen, er habe nie Omsker Beamte gesponsert, sondern nur Unternehmern unter die Arme gegriffen, die er persönlich kannte. Das macht er auch jetzt noch. „Es gibt viele, denen ich was leihe, ja“, sagt er. „[Dem Unternehmer Viktor] Skuratow hab ich 500 Millionen geliehen (etwa 4,6 Millionen Euro – dek), das wissen alle. Na und? Der zahlt mir irre Zinsen.“ Er erkläutert: ‚Irre’ ist immer mehr als das Deposit. Vor ein paar Jahren hat er zum Beispiel einen Kredit mit 18 Prozent Jahreszinsen vergeben.  

    „Wenn mich jetzt ein Gouverneur um einen Kredit für einen guten Zinssatz bitten würde, ich würde nicht nein sagen“, sagt Schkurenko, fügt aber hinzu, dass keine Beamten an ihn herantreten, sondern Geschäftsleute. „Tarassow hab ich Geld geliehen, weil er eine Molkerei besitzt. Nicht viel, drei Millionen Rubel (etwa 27.800 Euro – dek), außerdem ihm persönlich und nicht seiner Firma. Auf die Firma wollte er keinen Kredit aufnehmen. Anfangs zahlte er mir Zinsen, dann hörte er auf. Fünf Jahre hat er das Geld nicht zurückgezahlt. Als er Verwaltungsleiter wurde und wir immer noch nicht quitt waren, hab ich ihn verklagt. Hab sogar verloren, wenn ich mich recht erinnere, weil es verjährt war. Das Geld hab ich also nicht mehr gesehen. Dafür sitzt er jetzt im Gefängnis.“  (Der Politiker wurde im März 2022 wegen schweren Betrugs zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt – dek).            

    Schkurenko sagt, für ihn sei auch Sajapin nur ein Unternehmer, mehr nicht. „Er ist kein Staatsbediensteter, er war Abgeordneter im Stadtrat, das ist er jetzt nicht mehr. Er ist absolut kein einflussreicher Mann, er hatte eine Firma, die mit Computertechnik handelt. Und dann war er bankrott, ja. Ich hab ihm tatsächlich geholfen, habe seinen Kredit abgelöst, er hat ihn dann von mir zurückgekauft. Warum ich das gemacht habe? Er hat sich an mich gewandt und um Hilfe gebeten. Ich kenne ihn gut, wir haben schon zusammen Wanderungen gemacht und Wodka getrunken. Wieso sollte ich ihm nicht helfen?“ 

    „Wieso ist dieses Arschloch noch nicht im Knast?“ 

    Bei den jährlichen Betriebsfeiern, wo auch schon mal eine Drag-Show, Ritterspiele und Crash-Tests mit Bürotechnik auf dem Programm standen, ist Schkurenko auch persönlich mit von der Partie. Er verbringt die Nacht mit seinen Angestellten, verweigert niemandem ein Selfie oder einen Trinkspruch. Mal kommt er, in einen schwarzen Umhang gehüllt, auf einem Rappen geritten, mal in einem rostigen, mit Graffiti vollgesprühten Shiguli angefahren. 2022 ließ er sich von vier Bodybuildern mit nackten, goldbemalten Oberkörpern auf einem Thron hereintragen. Auf der Bühne erwartete ihn bereits Iwan Urgant. 

    Eine Woche nach dieser Veranstaltung zog der Talkmaster Wladimir Solowjow gegen den Omsker vom Leder. Er nannte Urgant eine „Kackwurst im Eisloch“ und Schkurenko eine „Schande für Omsk und ganz Russland“. Einen Monat später kam Solowjow noch mal auf den Geschäftsmann zurück und zog ihn fünf Minuten lang live auf Sendung als „regionalen Schweinehund und Kotzbrocken“ durch den Dreck. „Noch dazu schnappt er sich den Namen Pobeda (dt. Sieg)“, sagte Solowjow, bezugnehmend auf eine von Schkurenkos Handelsketten. „Steht er schon vor Gericht? Ist seine Firma schon bankrott? Alle 2.500 Deppen (damit sind die Gäste der Betriebsfeier gemeint – Anm. Holod) wandern schnurstracks an die Front, wenn sie auch seiner Meinung sind. Wieso ist dieses Arschloch noch nicht im Knast?“                 

    Für die Unterstützung von Urgant wurde Schkurenko auch vom Regisseur Nikita Michalkow angegriffen. Und der Vorsitzende der Moskauer Abteilung des Verbraucherschutzvereins, Jewgeni Tschirwin, wetterte: „Ein Verräter unterstützt einen Verräter und ist auch noch stolz darauf, das ist unverzeihlich!“ Russlands Urteil über Schkurenko sei gefallen. Tschirwin rief die sibirische Bevölkerung zum Boykott seiner Läden auf, Schkurenko solle von ihnen keinen Rubel mehr kriegen.  

    Eine anonyme Anzeige, ein Besuch von der Polizei und 5.000 Rubel Strafe (etwa 46 Euro – dek) wegen Ruhestörung standen am Ende dieser Geschichte. Der Boykott kam nicht zustande. Der Gesamterlös der Holding wuchs innerhalb eines Jahres in Rubel um zehn Prozent, auch der Einzelhandel erzielte ein Plus, und der Gewinn der Café-Kette Skuratov Coffee, in die Schkurenko investiert, ist um 50 Prozent gestiegen.  

    „Ich habe kein Gesetz übertreten, und wenn ich jemandem auf den Schlips getreten bin, dann ist das nicht mein Problem“, kommentiert Schkurenko die Kritik. „Ich bin gegen Wolodin und alle Gesetze, die sie da der Reihe nach beschlossen haben, aber formell hab ich kein Gesetz gebrochen, insofern sind meine Handlungen nichts Außergewöhnliches. Ich will weder Gouverneur werden noch Bürgermeister oder Abgeordneter. Von mir geht keinerlei Bedrohung aus. Ich trete mit niemandem in Konkurrenz. Gut, vor 20 Jahren hab ich mal meine Steuern nicht gezahlt, aber jetzt zahle ich alles. Sogar in Russland braucht es einen formellen Grund für ein Strafverfahren. Und eine Geldstrafe kann ich ja berappen, wenn nötig.“                           

    Seine Unabhängigkeit, sagt eine Auskunftsperson (ein Oberstleutnant des FSB im Ruhestand Anm. Holod), komme Schkurenko bestimmt teuer zu stehen. „In den Anfangsjahren war ein FSB-Oberst Teilhaber an einer seiner Firmen“, sagt er. „Die Jungs [Schkurenko und Schadrin] hatten eine kryscha und keine nennenswerten Probleme. Das ist eine wichtige unternehmerische Kompetenz: der Zeit und den Möglichkeiten entsprechend für die eigene Sicherheit zu sorgen. Das haben alle gemacht. Schkurenko hat hundertprozentig auch heute noch eine kryscha. Da war zuerst der Oberst, dann noch ein zweiter, und jetzt ein Moskauer General.“ In der Wirtschaftsdatenbank Spark konnte Holod keine Hinweise auf einen eventuellen dritten Teilhaber finden.    

    Schkurenko sagt, seit Jelzins Erlass über die staatliche Strategie zur wirtschaftlichen Sicherheit im Jahr 1996 hätten er und seine Unternehmen „keine kryscha mehr gehabt und auch keine derartigen Angebote erhalten“. „Wir haben keine FSB-Männer und keine Oberste als Teilhaber, hatten wir nie!“, braust er auf. „Aber sollen sie doch glauben, was sie wollen! Na klar, der FSB wird mich beauftragt haben, für Nadeshdin zu unterschreiben und seine Partei zu sponsern. Auch Urgant habe ich unter seiner Fuchtel eingeladen, und Vertrauensmann von Präsidentschaftskandidatin Xenija Sobtschak bin ich auch auf FSB-Befehl geworden …“ Schurenko fängt beinah an zu brüllen. 

    Quellen aus Unternehmertum, Beamtenschaft und Medien sind sich einig, dass Schkurenkos Sicherheit erstens durch seinen Respekt vor dem Gesetz und zweitens durch seine Steuern gewährleistet ist. „Ich bezweifle, dass er überhaupt so etwas wie eine kryscha hat“, sagt Oleg Malinowski, der Chefredakteur von RBK Omsk, der Schkurenko als einen der wichtigsten Schlagzeilenhelden der Region schon lange kennt. „Das Einzige, was ihn schützt, ist sein kluger Kopf. Er ist einer der stärksten Steuerzahler, der Staat profitiert ziemlich von ihm. ’Seine kryscha ist also der Staat selbst, ob es ihm gefällt oder nicht.“ 

    „Ich mache überall in Russland Geschäfte und hänge nicht von den lokalen Behörden ab. Wenn sie mir hier blöd kommen, gehe ich eben woandershin. Lasse alles liegen und ziehe mit meinem Geld in eine andere Region.“ Das Gerede davon, dass er von irgendwem protegiert werde, bringt Schkurenko in Rage. „Hinter meinem Business steht keiner außer mir!“ 

    Ein Jahr nach dem Skandal mit Urgant bat Schkurenko 2023 seine Mitarbeiter, als Märchenfiguren verkleidet zur Betriebsfeier zu kommen. Er erklärte die Party zur Hommage an die TV-Sendung Proisschestwije w strane Multi-Pulti (dt. Ein Vorfall im Land Multi-Pulti) mit Iwan Urgant, Alexej Serebrjakow und Alexander Gudkow. Sie alle haben sich auf die eine oder andere Weise gegen die „Spezialoperation“ geäußert. Kurz vor Jahresende wurde die Sendung ohne offizielle Begründung aus dem Programm gestrichen.  

    Schkurenkos Angestellte erzählen, ihr Chef habe während dieser Feier in der Lastschale eines Hebekrans hoch über der Menge geschwebt. Er trug eine orangenfarbene Perücke und einen schwirrenden Propeller auf dem Rücken. Dreitausend Leute begrüßten ihn mit Jubel und Applaus. „Ich bin heute Karlsson vom Dach!“, schrie der Boss ins Mikrofon. „Zuerst wollte ich mich als Hahn von den Bremer Stadtmusikanten verkleiden, doch das wäre für Solowjow ein gefundenes Fressen gewesen!“      

    NATO-Träume 

    Schkurenko postet seine Ansichten regelmäßig auf Instagram, das in Russland verboten ist – mehrmals im Monat. Seit dem Februar 2022 empfiehlt er den neuen Song des DDT-Leaders Juri Schewtschuk und posiert vor der Skulptur Net wojne (dt. Nein zum Krieg), die mit ebenjener Phrase auf dem Sockel in Novosibirsk steht. Er dokumentiert seine eigenen „Gespräche über das Wichtige“, nämlich wie er auf einem Feriencamp mit den Kindern über Humanismus und Freiheit sprach. Er präsentiert, wie er auf die Auszeichnung des „ausländischen Agenten“ Memorial mit dem Friedensnobelpreis ein Gläschen Calvados hebt. Und er schlägt vor, die nächste Versammlung des Sicherheitsrats der Russischen Föderation in der Tretjakow-Galerie vor dem Bild Apofeos wojny (dt. Apotheose des Kriegs) von Wassili Wereschtschagin abzuhalten. 

    Die Kommentare unter Schkurenkos Posts sind unzensiert. Die Einen unterstützen und feiern seinen Mut, die Anderen beschimpfen ihn wüst und hetzen ihm die Staatsanwaltschaft auf den Hals. 

    „Ich bin gegen jede Zensur: im Internet, im Krankenhaus, in der Bibliothek“, sagt er. „Gegen die Todesstrafe, gegen das Verbot von Abtreibung, Meinungsfreiheit und kreativer Selbstverwirklichung … Es macht mich fertig, dass man für einen Kommentar im Gefängnis landen kann, dass Regisseure verhaftet und Künstler unter Druck gesetzt werden! Dass Berkowitschs Theaterstück mit der Goldenen Maske ausgezeichnet wird, monatelang aufgeführt wird und dann plötzlich ein ominöser Experte auftaucht, der darin eine Rechtfertigung von Terrorismus sieht!“ 

    Schkurenko wollte Kirill Serebrennikows Ballett Nurejew sehen, doch während er noch den Flug plante, wurde es bereits verboten. „Die Duma diskreditiert sich mit ihren Initiativen selbst, trifft immer noch üblere Entscheidungen. Es ist unfair und tragisch, aber da kann man jetzt nichts machen. Man kann nur zusehen. Und den Menschen zeigen, dass es auch anders geht.“ 

    „Es ist immer noch mein Land“, sagt der Unternehmer. „Aber nicht meine Regierung. Der russische Patriotismus trägt den Abdruck eines Kampfstiefels. Deswegen muss man vorsichtig sein. Aber man darf nicht aufhören, kreativ zu sein, sich in äsopischer Sprache zu äußern. Und ich werde in Metaphern sprechen, um nur ja kein Gesetz zu brechen. Um auf alles gefasst zu sein.“      

    Schkurenko hat Respekt vor „den Stärksten“, vor jenen, die „sich in die Schlacht warfen“ wie Solschenizyn und Pasternak. „Aber außer ihnen gab es noch Tarkowski und Andrej Smirnow, die äußerlich buckelten, aber in ihrem Inneren brodelte es. Als Gorbatschow kam, gingen wir alle auf die Straße, um ihn zu unterstützen. Und wenn eine neue Regierung kommt, werden wir wieder draußen stehen.“ Schkurenko glaubt an die Unausweichlichkeit eines Wandels. „Wir sind ein europäisches Land, und das, was bei uns jetzt passiert, ist widernatürlich. Ich bin überzeugt, dass wir wieder mit Europa kooperieren werden. Dass Russland eines Tages der NATO beitritt. Das wäre mein Traum! Weil wir dann weniger für die Rüstung ausgeben müssten und mehr Geld für Bildung da wäre. Ich warte einfach darauf.“

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    Dreieinhalb Jahre Haft lautete das Urteil. Alexej Gaskarow ist einer von mehr als 30 Menschen, die nach einer Demonstration auf dem Bolotnaja-Platz vom 6. Mai 2012 in umstrittenen Prozessen vor Gericht gestellt wurden. Der Protestzug war durchs Moskauer Stadtzentrum zum Bolotnaja-Platz gezogen, dann kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Polizisten und Demonstranten, gefolgt von einer Verhaftungswelle.

    Nur einen Tag danach trat Präsident Putin seine neue Amtszeit an. Seitdem hat sich in Russland viel verändert. Gaskarow, linker Aktivist, jetzt 31 Jahre alt, saß die meiste Zeit davon hinter Gittern. Nun wurde er entlassen – und zum gefragten Gesprächspartner. Wie hier im Interview der Journalistin Olessja Gerassimenko für snob. In dem Gespräch, das sie per Du führt, fragt sie nach seiner persönlichen Geschichte dahinter: Wie blickt er auf die Ereignisse von damals? Wie war der Lageralltag? Und wie nimmt er die Veränderungen im Land wahr?

    War der Prozess gegen dich fair?

    Insgesamt bereue ich, dass wir der Teilnahme am Prozess zugestimmt haben. Wir hätten, wie die politischen Gefangenen der Sowjetunion, mit dem Rücken zu ihnen stehen und schweigen sollen. Und es nicht als Versuch betrachten, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Aus der Zeit in Chimki war ich noch voller Illusionen, und auf mehreren Videos war klar zu sehen: Die Sequenzen, in denen ich vorkam, lagen vor dem Zeitpunkt, als den Ermittlern zufolge die [Bolotnaja- dek.] Unruhen begannen. Ich dachte, das ist ganz einfach, ich zeige ihnen die Videos, und alles ist in Ordnung.

    Im Endeffekt zählte ich Beweise auf, die Richterin nickte, aber es folgte keinerlei Reaktion. Überhaupt sah das ganze Verfahren so aus: Die Entscheidung ist schon gefallen, das Urteil geschrieben, lasst uns das hier alles möglichst schnell hinter uns bringen.      

    Du hast einen Polizisten geschubst und einen Soldaten aus der Absperrung gezerrt?

    Das habe ich ja nie geleugnet. Übrigens ist nach der Kundgebung am Bolotnaja-Platz erstmal ein Jahr vergangen, ich arbeitete gerade an einem wichtigen Projekt, hatte nur noch eine Woche Zeit, und es war uncool, verknackt zu werden. Auch an diesem Sonntag, an dem die Bullen mich abholen kamen, musste ich zur Arbeit. Ich bin zum Laden rausgegangen, um Katzenfutter zu kaufen, und da steht diese ganze Clownsmannschaft vor dem Haus – zwei Jeeps, ein Kleinbus. Da stiegen dann so junge Typen aus, gestylt wie rechte Skinheads, ich dachte, das ist die [gnose-3259]BORN[/gnose] und überlegte, was ich jetzt mache, da zückten sie schon ihre Dienstmarken.

    Warst du in diesem Moment erleichtert?

    Nein, im Gegenteil. Vor der BORN hätte man davonrennen oder sonst was machen können. Jedenfalls haben die mich festgenommen und mir lange nicht gesagt, weshalb. Mit dem Gesicht nach unten im Bus und so, dieser Stil. Ich konnte mir schon ein paar Gründe ausmalen, weshalb – wir haben damals die Wohnheime der Firma Mosschelk und den Zagowski-Wald verteidigt, kurz vor der Festnahme haben Leute, die jetzt im [gnose-2183]Bataillon Asow[/gnose] kämpfen, versucht, meine Frau und mich zu überfallen. Mit denen hab ich mich angelegt – und das wurde gefilmt.

    Also, es gab so einiges. An die Bolotnaja-Sache hatte ich überhaupt nicht gedacht. Und als sie mir dann sagten, dass ich angeklagt würde, sah ich mir das an – das war der reinste Stuss – und sagte, ok, ich werde alles gestehen: Wir liefen in der Menschenmenge, ein [gnose-2717]OMON-Mann[/gnose] griff dann einen Kerl an, es entstand ein Gerangel, man versuchte, sie auseinanderzubringen, und da hieß es, ich hätte einen Polizisten am Bein gezogen.

    Als Beweise dienten ein Video schlechter Qualität und ein Gutachten mit dem Ergebnis, dass ich das nicht war. Aber ich wusste ja, dass ich das war, und sagte gleich: Leute, jetzt mal ein bisschen vernünftig. Aber ihnen war egal, ob ich da was gestehe oder nicht. Hätte ich einen [gnose-3265]212-er[/gnose] gestanden oder gegen jemanden ausgesagt, das wäre wohl was anderes gewesen …   

    “Ich versammelte ein Auditorium von etwa fünfzig Zuhörern und schlug der Leitung vor, so etwas wie Seminare zu veranstalten.”

    Wollten sie das von dir?

    Nix da. Wieso hätten sie mich auch nach der Organisation von Unruhen fragen sollen, wenn sie doch selber wissen, unter anderem aus eigenen Abhöraktivitäten, dass da niemand irgendwas geplant hat. Sie haben sich strikt auf die Sache mit dem Bein beschränkt. Später fanden sie noch etwas, was ich schon ganz vergessen hatte. Vor der Absperrung war ein Gedränge entstanden, manche fielen hin, und ich habe einen an der Schulter gezerrt, um Platz zu schaffen. In der Anklageschrift stand, ich hätte auf diese Weise die Absperrkette durchtrennt, damit alle durchkommen und die Massenunruhen losgehen können. Dabei war diese Absperrung auf der anderen Seite.     

    Erzähl von der Haft. Das wollen alle hören. Sowas wie Aufstehen um 6, Nachtruhe um 10.

    Mhm. Natürlich leben die Drogensüchtigen, die da auf Entzug sind, vor allem nachts. Wenn Schlafenszeit ist, fangen die einen an zu rauchen, die anderen kochen Tschifir. Das blendet man einfach aus, man hat einen geregelten Tagesablauf, und das ist im Prinzip gesund. Am Sport hindert dich niemand: Es gibt ein Reck, einen Barren, ein paar Gewichte. Hier in Freiheit hat man immer Arbeit oder irgendwas zu tun, aber dort war ich so durchtrainiert wie nie. Hauptsache, man sucht sich immer eine Beschäftigung, damit man bloß keine Freizeit hat.  

    Mit wem hast du gesessen?

    Die Hälfte der Zeit war ich in Untersuchungshaft, mit ganz verschiedenen Leuten. Typen mit [gnose-3217]Paragraph 228[/gnose] mit krassen Geschichten, etwa wie Teenagern Haschisch aus Holland mit der Post geschickt wurde, und die kriegen 15 Jahre dafür. Von meinem eigenen Fall zu erzählen, war mir sogar peinlich – allen um mich herum blühten mehr als 10 Jahre. Als die Verhandlung begann, saßen wir in der [gnose-3269]Butyrka[/gnose], dort waren Diebe, irgendwelche Psychos, Jugendliche, Straßenkinder, Dagestaner. Leute von Rosoboronexport, vom Asien-Pazifik-Forum und von der Olympiade, gegen die ermittelt wurde, hab ich auch kennengelernt, mit Jemeljanenko hab ich trainiert.    

    Im Straflager lebten im allgemeinen Vollzug 300 Männer, davon waren 80 Prozent Einheimische aus Tula, die im Suff irgendwen angefallen, Datschen ausgeraubt und kleinere Überfälle begangen haben. Aber was ist das Geile am Lager? An ein und demselben Ort sitzt sowohl der Obdachlose, der in einer fremden Datscha überwintert, deswegen eingesperrt wird und hier sogar besser lebt als in Freiheit, als auch der Unternehmer, der einen Milliardenschaden angerichtet hat und gerade noch draußen auf seiner Yacht umhergeschippert ist.

    Alexej Gaskarow / Foto © Tanya Hesso/Snob
    Alexej Gaskarow / Foto © Tanya Hesso/Snob

    Als du rauskamst, hast du gesagt, das Wichtigste war, mit der Realität in Verbindung und gesund zu bleiben. Wie bleibt man dort gesund? Ist das Essen ok?

    Da ich von draußen gut unterstützt wurde, war ich fast nie in der Kantine. Ich hatte dort eine Mikrowelle. Die Strafvollzugsbehörde hat jetzt so einen Ansatz, dass sie einen nicht daran hindern, sich das Leben angenehmer zu machen. Die müssen da irgendeine Strategie zur Verbesserung der Haftbedingungen erfüllen, das Budget wird aber immer gekürzt. Wenn man ankommt, ist alles übelst, es tropft von der Decke, überall Schimmel. Aber sie haben nichts dagegen, wenn du das selber angehst. Du erklärst das zur humanitären Hilfe, und bekommst Teekocher und Mikrowelle, sogar ein Beamer hing bei uns, mit dem wir Filme guckten.

    Soweit ich weiß, wolltest du dort eine Weiterbildung machen.

    Leider musste ich feststellen, dass an der Universität, die mit dem Straflager kooperiert, unter dem Deckmantel der Bildung einfach ein Verkauf von Diplomen stattfindet. Ich hab dort etwas anderes gemacht: Bei meiner Arbeit habe ich oft alle möglichen Grundlagen von Unternehmertum und Planung gelehrt, und mit mir saßen Leute im Knast, mit denen man interessante Gespräche führen konnte – Bankchefs, Leute aus Ministerien.

    Es gab da eine Abendschule, die nötigen Räumlichkeiten. Ich versammelte ein Auditorium von etwa fünfzig Zuhörern und schlug der Leitung vor, so etwas wie Seminare zu veranstalten. Jeder soll sich ein Projekt ausdenken, und wir planen es innerhalb von 8 Monaten (da sollte ich entlassen werden) konkret durch, am Ende kommt ein Business-Plan heraus. Zuerst haben sie das kategorisch abgelehnt, von wegen, du sitzt doch wegen der Bolotnaja-Sache und willst da bestimmt nur politische Diskussionen führen. Doch dann kam ein neuer Chef, und der ist uns entgegengekommen. Das war wie ein Stück Freiheit.  

    Als ihr nacheinander verhaftet wurdet, sagten alle, das wird der Prozess des Jahrhunderts, alle werden sich wegen euch, für euch zusammenschließen, und im Endeffekt – du bist schon draußen, und der Bolotnaja-Prozess, obwohl er noch gar nicht ganz zu Ende ist, interessiert keinen mehr. Hast du nicht umsonst gesessen?

    Na ja, was heißt umsonst. Ich hatte ja keine Wahl. Was Bolotnaja betrifft … Die Entscheidung, bei dieser ganzen Bewegung mitzumachen, war bereits mit Risiken verbunden. Wenn man das mit der Ukraine vergleicht, obwohl das bei vielen nicht gern gesehen ist: Wären die Ereignisse auf dem Bolotnaja-Platz weitergegangen, glaube ich nicht, dass die Leute vor Erschießungen Halt gemacht hätten.

    In Kiew sind ein Haufen Leute umgekommen, und wir hier sollen uns von irgendwelchen Haftstrafen abschrecken lassen. Die haben willkürlich ein paar Personen herausgegriffen und eingesperrt, die Logik ist klar: Wer auch immer du bist, wenn du dich gegen den Zaren stellst, wirst du leiden. Was kann die Antwort darauf sein? Wir müssen den Mythos der Wirksamkeit solcher Repressionen entlarven.  

    Aber das stimmte ja. Es sind wirklich alle vor einem Hieb mit dem Schlagstock zurückgeschreckt, vom Gefängnis ganz zu schweigen. Viele Oppositionelle sagen, der Kampf gegen diese Regierung sei keinen Zentimeter persönlichen Wohlbefindens wert. Du bist praktisch der einzige, der nicht so denkt. Fühlst du dich einsam?

    Die meisten Leute waren noch nie im Gefängnis, und sie glauben wirklich, das sei das Ende: Ich komme ins Lager – und das war’s. Ich hab das alles einfach relativ normal erlebt. Aber ich überlege mir das so: Wenn die Staatsmacht Andersdenkende mit Repressionen unterdrückt, schrauben die Menschen ihre Aktivität zurück, und ihr Bedürfnis, sich für irgendetwas einzusetzen, schwindet, und so gerät das System eher aus den Fugen, als dass es stabiler würde, wie sich die Regierung das vorstellt. Das Land wird weniger konkurrenzfähig.  

    Aber die Leute müssen wenigstens minimale Aktivität beibehalten. Es ist schlimm, dass so viele den passiven Weg einschlagen. Bei den Ressourcen, die da sind, könnten wir es besser haben, aber viele sind auch so zufrieden. Dadurch kann sich das System lange halten. Man muss nicht die direkte Konfrontation suchen. Das dachte ich auch schon auf dem Bolotnaja-Platz, wir wollten eigentlich schon weggehen, weil wir begriffen hatten, dass diese ganzen Sitzstreiks und dergleichen ja genau das sind, was die Regierung braucht. Es gibt auch andere Wege, man muss sich ja nicht auf Demonstrationen und Kundgebungen beschränken.

    “Im Gefängnis wurde mir klar, wie stark der Einfluss der Machthaber auf die Gehirne der Menschen ist.”

    Meinst du jetzt die Philosophie der kleinen Dinge?

    Unter anderem. Ich habe zum Beispiel gelesen, dass viele, die am Bolotnaja-Platz aktiv waren, jetzt ehrenamtlich tätig sind. Und das ist ja wirklich nicht so schlecht. Hauptsache, die Energie bleibt erhalten. Oder was anderes: Der Kampf gegen Korruption, all diese Publikationen wirken sich auf das System aus, da kann man sagen was man will. Es gibt auch Leute in der linken Szene, die finden, es muss eine progressive Besteuerung geben, die können ja ihre Argumente vorbringen. Oder man gründet angesichts all dieser Konflikte irgendeine Friedensbewegung.   

    Im Gefängnis wurde mir klar, wie stark der Einfluss der Machthaber auf die Gehirne der Menschen ist. Dort kommen Leute zusammen, die keinen großen Hang zum Reden haben. Richtige Bauern. Alle nur erdenklichen Mythen haben sie im Kopf. Aber wenn du mit ihnen beisammen bist, brauchst du nicht mal groß zu streiten – einfach durch Gespräche und durch den Kontakt haben sich sogar die ärgsten Sturköpfe verändert. Insofern ist jede Arbeit, die die Verbreitung von Informationen und eine wenigstens minimale Aufklärung zum Ziel hat, wichtig.

    Und wovon hast du sie überzeugt?

    Von allem möglichen. Unter anderem was generell ihre Einstellung zur Opposition betrifft. Am Anfang war es sogar ganz angenehm für mich, von wegen, ach, auf dem Bolotnaja-Platz, das waren sowieso alles nur Junkies, die für Heroin auf die Straße gegangen sind – da haben sie mich in Ruhe gelassen. Aber mit der Zeit sehen die Leute ja, was du liest, welche Filme du auf dem Kultursender guckst, dass du beim Verfassen eines Berufungsantrags helfen kannst, … und sie merken, dass du kein Idiot bist, der für eine Dosis Heroin demonstrieren gehen würde. Es gab viele Konflikte über die Vorgänge in der Ukraine, vor allem weil viele einsaßen, die schon im [gnose-3273]Donezbecken[/gnose] gekämpft hatten, zurückkamen und verhaftet wurden.

    Weswegen?

    Rowdytum, Diebstahl, Plünderung, so typische Soldiers of Fortune. Und sogar über diese äußerst komplexe Frage ist es uns gelungen zu reden, die Wogen zu glätten.  

    Du bist in einem Land ins Gefängnis gekommen und in einem anderen wieder raus. Wie war es, über Nachrichten zu erfahren, dass draußen historische Ereignisse passieren? Tat es dir leid, dass du sie nur aus der Distanz sahst? Oder war das eher beruhigend?

    Ehrlich gesagt, zweiteres. Ich hatte oft Schwierigkeiten, mich zu positionieren. Als zum Beispiel massenweise Flüchtlinge aus der Ukraine zu uns kamen, kamen auch welche und arbeiteten hier im Lager. Man beginnt mit ihnen zu reden und versteht, da gibt es eine Ideologie, aber es gibt auch die Geschichten der Menschen, und sich festzulegen war schwierig. Ich hab mir echt gedacht, wie gut, dass das für mich nur im Hintergrund läuft.  

    Wie sieht es mit deiner Arbeit aus? Was willst du machen?

    An oberster Stelle stehen jetzt materielle Probleme. Viele fragen mich, ob ich in die Politik gehen werde, die haben alle so hohe Erwartungen, aber was ist das schon für eine Politik heute. Ohne eigene Mittel ist es unmöglich, politisch aktiv zu sein. Natürlich sage ich, dass man sich vor dem Knast nicht zu fürchten braucht, aber trotzdem ist das ein ernstzunehmender Verlust – dreieinhalb Jahre. Eine Menge nicht realisierter Möglichkeiten und angehäufter Probleme.    

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