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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Operation Entmenschlichung

    Operation Entmenschlichung

    Noch nie gab es in russischen Gefängnissen so wenige Insassen: Etwas mehr als eine halbe Million Menschen verbüßen derzeit ihre Haftstrafe. Vor 20 Jahren waren es etwa doppelt so viele, nach den USA war Russland das Land mit den meisten Gefangenen pro 100.000 Einwohner.

    Was sich in den letzten 20 Jahren allerdings nur wenig verändert hat, sind die Haftbedingungen. Heute gibt der russische Staat täglich nur etwas mehr als umgerechnet zwei Euro pro Gefangenen aus. Ein Haftplatz in Deutschland kostet rund das 60-fache. Abgesehen von oft katastrophalen Haftbedingungen müssen sich die Gefangenen in Russland auch besonderen Knast-Gesetzmäßigkeiten unterwerfen: Erniedrigungen und Folter seitens der Justizmitarbeiter oder Mitinsassen gehören dort faktisch zur Tagesordnung. Zwar gibt es bestimmte Ausnahmen, wie sie die Leiterin der Gefangenen-Hilfsorganisation Rus Sidjaschtschaja Olga Romanowa beschreibt, insgesamt sei das russische Gefängniswesen aber systematisch darauf ausgerichtet, Menschen zu brechen.

    Eine Innenansicht solcher Praktiken liefert Oleg Senzow. Der ukrainische Regisseur wurde 2014 verhaftet und nach einem als politisch-motiviert eingestuften Prozess wegen Terrorismus verurteilt. Erst im Zuge eines Gefangenenaustauschs kam Senzow im September 2019 frei. In der Novaya Gazeta gibt er einen Einblick hinter Gitter und reiht sich damit ein in das traditionsreiche Genre russischer Gefängnisliteratur.

    Der ukrainische Regisseur Oleg Senzow liefert eine Innenansicht russischer Gefängnisse / Foto © Anna Artemjewa/Novaya Gazeta
    Der ukrainische Regisseur Oleg Senzow liefert eine Innenansicht russischer Gefängnisse / Foto © Anna Artemjewa/Novaya Gazeta

    Alle Gefängnisse ähneln sich wie traurige Verwandte. Jedoch nur äußerlich – in ihrer inneren Struktur unterscheiden sie sich: Es gibt welche, wo es schlecht ist, und solche, in denen vollständige Finsternis herrscht. Für einen Außenstehenden, der nicht im System steckt, sind diese Unterschiede schwer zu erkennen und zu verstehen. Kommt eine Überprüfungskommission ins Gefängnis oder in die Strafkolonie, dann ist dort alles in bester Ordnung, die Häftlinge haben keinerlei Beschwerden, die Anstaltsleitung ist zuvorkommend, die Prüfer sind zufrieden. Das wirkliche Gefängnisleben wird für die Zeit des Kommissionsbesuchs weggepfercht und übertüncht. Ist die Kommission wieder weg, geht alles wieder seinen gewohnten Gang, manchmal den Gang der Höllenkreise.

    Lager, in denen die Häftlinge gebrochen werden sollen

    Der schwer auszusprechende Name des kleinen Städtchens am Polarkreis wird dem Durchschnittsbürger nichts sagen. Den Häftlingen sagt er hingegen sehr viel. Labytnangi oder umgangssprachlich Labytki, kennen fast alle, die einsitzen, wie auch den nicht weniger traurigen Nachbarort, die Siedlung Charp, die „Polareule“. Sie wurden in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts als Lager errichtet, in denen die Häftlinge unter den schweren Bedingungen des hohen Nordens gebrochen werden sollten – und das ist noch heute so. Ihr Ziel ist nicht, die Häftlinge zu bessern oder sie arbeiten zu lassen (außer acht Monaten im Jahr Schneeschippen gibt es hier nichts zu tun), sondern sie in eine gehorsame Herde Vieh zu verwandeln. Dese Aufgabe wird seit vielen Jahren mit großem Erfolg erfüllt. Im Prinzip wird in Russland jede Strafanstalt mit dem Ziel errichtet, jemanden zu brechen und zu vernichten, menschliche Körper und Schicksale zu zermalmen. Nur geschieht dies mancherorts auf alltägliche Art, routinemäßig, während es woanders wie am Fließband läuft und ein unvorstellbar perverses Niveau erreicht.

    Außer acht Monaten im Jahr Schneeschippen gibt es nichts zu tun

    Dort gibt man dir gleich auf der Schwelle zu verstehen, dass du in ein Fegefeuer geraten bist, in dem du keinerlei Rechte hast, Beschwerden zwecklos sind und es niemanden gibt, bei dem man sich beschweren könnte. Die Ankömmlinge werden allein deshalb gnadenlos geschlagen, weil sie existieren; das ist die sogenannte „Aufnahme“. Es ist eine obligatorische Prozedur, praktisch ein Ritual. Hier wird dir auch beigebracht, dass du die Mitarbeiter der Anstaltsverwaltung nie anders als mit „Bürger Vorgesetzter“ anzureden und für jede Handlung um Erlaubnis zu fragen hast, etwa, um an einem Uniformierten vorbeizugehen: „Erlauben Sie, dass ich vorbeigehe, Bürger Vorgesetzter?“ Die Häftlinge haben laut und im Chor zu grüßen, ganz gleich, wie oft man den betreffenden Mitarbeiter an diesem Tag schon gegrüßt hatte, mit einem klaren und freundschaftlichen „Guten Tag, Bürger Vorgesetzter!“

    Nach der „Aufnahme“ wird dir eine Zusammenarbeit mit der Verwaltung nahegelegt, wobei klargemacht wird, dass es hier im Lager keine einfachen mushiki gibt, sondern nur kollaborierende krasnyje und erniedrigte petuchi. Dabei musst du wählen, zu wem du gehören willst.

    Wenn du dich für deine eigene Variante entscheidest, ein anständiger Häftling zu bleiben, wird dir mit Hilfe entsprechender Werkzeuge zu verstehen gegeben, dass du falsch liegst. Gut die Hälfte der Neuankömmlinge schlägt sich schon in der Quarantäne auf die Seite der Roten, der Rest versucht standhaft zu bleiben. Diejenigen, die nicht umgehend gebrochen werden können, werden langfristig bearbeitet; sie werden praktisch über die gesamte Haftzeit hinweg psychischem und physischem Druck ausgesetzt.

    Drohungen mit Vergewaltigung sind ständige Begleiter

    Während der zweiwöchigen Quarantäne wirst du regelmäßig schikaniert. Die Anstaltsordnung pauken, patriotische Lieder und die Hymne der Russischen Föderation singen, in Reih und Glied marschieren, im Gleichschritt – das sind die Pflichtteile der Anfangslektion im Umerziehungsprogramm. Diesen Schwachsinn abzulehnen, nicht in eine Kooperation einzuwilligen und die entsprechenden Papiere nicht zu unterschreiben, das trauen sich nur wenige. Für die gibt es allerdings spezielle Behandlungen, die in der sogenannten petrowka stattfinden. Das ist ein kleines einzeln stehendes Gebäude mit zwei Zellen und drei Büroräumen für die operativen Mitarbeiter. Hier behandelt man die Ungehorsamen besonders grausam, denn, wie es so schön heißt: „Operative drehen nicht Däumchen“. Schläge, Erniedrigungen, Elektroschocks, nackt in einer kalten Zelle oder in einem nassen Knastkittel zu stecken – das ist nicht das Schlimmste, was dir passieren kann.

    Vielleicht wirst du für einen Tag in eine Matratze eingerollt und herumgeworfen wie eine Puppe. Oder noch schlimmer: Man steckt dich in Embryohaltung in eine Metallkiste und verschließt sie wie einen Safe, in dem man keine Luft bekommt und unter sich macht, weil eine Toiletten- oder Mittagspause bei diesem Abenteuer nicht vorgesehen ist.

    Drohungen mit Vergewaltigung sind ständige Begleiter der erniedrigenden Behandlung.

    Für den Häftling gibt es nur ein Mittel, sich gegen diese Folter zu wehren, nämlich, sich aufzuschlitzen. Mit einer Klinge, einem Stück Glas oder Metall, mit den Zähnen. Sich die Adern aufschneiden, aufreißen, damit man ins Gefängnislazarett gelangt, wo man sich von diesem Albtraum ein wenig erholen kann. Kommst du so weichgekocht wieder hoch ins Lager, hat das Leiden des Häftlings jedoch kein Ende. Du gerätst in ein eigenartiges Zombieland, in dem sämtliche offizielle Regeln mit idiotischer und perverser Genauigkeit befolgt werden; darüber hinaus gibt es noch einen Haufen eigener Regeln, lokale Raffinessen, die sich die werte Verwaltung hat einfallen lassen. Wagemutige, die gegen dieses System kämpfen, gibt es wenige, und wenn die sich nicht fügen, wird ihnen übel mitgespielt, dann werden sie gebrochen, durch den Dreck gezogen, aber die Hände sollen sich dabei andere schmutzig machen. Die besonders Standhaften werden in die jeschka gesteckt, ins JePKT, das sich im benachbarten Charp befindet, wo sich der nächste Kreis der Hölle angesiedelt hat.

    Nur ein Mittel, sich gegen diese Folter zu wehren

    Der die gesamte Haftzeit hindurch leidende mushik sieht, wie vor seinen Augen die Barackenmeister „ausfliegen“ und herumschnüffeln mit ihren Schergen, den sogenannten kosly (dt. Ziegenböcke), die nicht angerührt, geschlagen oder erniedrigt werden. Er sieht jene, die ihr Gewissen für ein kleines bisschen süßeres Leben verkauft haben, die für die Verwaltung der Strafkolonie arbeiten, die mithelfen, den übrigen Häftlingen das Regime reinzudrücken. Viele halten es nicht aus, geben auf und gehen zu den Roten, wo es leichter ist, wärmer, und wo es eine Chance gibt, dass man früher auf Bewährung freigelassen wird.

    Das aus zehn Mitarbeitern pro Schicht bestehende Team ist nicht in der Lage, 500 Lagerhäftlinge in dieser sklavischen Hörigkeit zu halten. Also wurde ein System geschaffen, bei dem die Hälfte der Insassen offen oder insgeheim mit der Verwaltung zusammenarbeitet und dabei hilft, die Ordnung und die Atmosphäre der Angst und des Misstrauens aufrechtzuerhalten. Du kannst nichts machen oder etwas sagen, was den Mitarbeitern nicht zugetragen würde.

    Jeder der kosly führt im Laufe des Tages seine kleine Liste in die er alle Verfehlungen einträgt, alles, was er gesehen oder gehört hat, jede Information über andere Häftlinge, die für die operativen Mitarbeiter nützlich ist – auch über Denunzianten wie er selbst einer ist. Am Ende des Tages sammelt der Barackenmeister all diese Zettel auf einem Haufen und stellt den Gesamtbericht über die Baracke zusammen. Der wird am Morgen den Operativen übergeben, die das alles bearbeiten und entsprechende Maßnahmen treffen. Und schon wird jemand zur Bestrafung in die petrowka abgeführt.

    Bei den Roten herrscht untereinander heftige Konkurrenz. Sie versuchen alle, sich diensteifrig nicht nur bei der Verwaltung hervorzutun, sondern auch bei dem eigenen Barackenmeister, um auf der lokalen Hierarchieleiter aufzusteigen. Dabei werden gegeneinander Intrigen gesponnen und sowohl Mitarbeiter als auch andere Häftlinge in diese Machenschaften hineingezogen. Nicht alle können so wendig oder zynisch sein, daher justiert das System die benötigten Leute ständig neu und stößt die ungeeigneten ab. Dieses verbrauchte Menschenmaterial wird als Wolle oder Krätze bezeichnet, mit dem weder die Roten selbst und umso weniger die mushiki etwas zu tun haben wollen.

    Die Barackenmeister mit ihren engsten Untergebenen schröpfen nicht nur andere Häftlinge, wenn diese Pakete bekommen oder sich etwas im Gefängnisladen gekauft haben, sie gehen auch in größerem Stil vor. Unter Mithilfe des operativen Personals und der aus der Masse aller Insassen angeworbenen Unterhändler werden unerträgliche Bedingungen geschaffen oder verschleierte Fallen für Erpressungsopfer aufgebaut, die angesichts der Gefahr, in den „Gockelstall“ zu geraten (die Sonderbaracke für gefallene petuchi), bereit sind zu zahlen. Manchmal ist das eine einmalige Aktion, manchmal eine regelmäßige. Und es ist längst nicht gesagt, dass ein solch gejagter kabantschik tatsächlich draußen Geld hat. Dann ruft er flehend zu Hause an, und es wird ein Auto verkauft oder ein Kredit aufgenommen.

    Die umfassende Atmosphäre der Rechtlosigkeit, des Misstrauens, der Gewalt und der Angst innerhalb eines Lagers, das durch einen Verbotskanon eingefriedet ist, gleicht dem Modell eines kleinen totalitären Staates. Kafka und Orwell in einem. Dort zu existieren und dabei Mensch zu bleiben, ist sehr schwer. Diese Atmosphäre sorgt in jeder Weise dafür, dass du dich in einen gehorsamen Sklaven verwandelst, in einen Zombie, ein Tier, das bereit ist, seinen Artgenossen an die Kehle zu gehen, um das eigene Leben leichter zu machen, und das auf alle Fragen der Prüfer antwortet: „Keine Beschwerden, Bürger Vorgesetzter!“ Weil die Kommission wieder abfährt, die petrowka aber bleibt.

    Jedes Gefängnis ist ein Abbild der Gesellschaft

    Bis ins Unendliche lassen sich die Schrecken des Gefängnisses, die Folter und die Erniedrigungen beschreiben. Man kann all die gottverdammten Orte des Strafvollzugsystems in Russland aufzählen, die all jene auswendig kennen, die sich mit diesem Thema beschäftigen. Man kann hunderte Überprüfungsmissionen engagierter Menschenrechtsbeauftragter schicken, die in Wirklichkeit Beauftragte der Gefängnisverwaltung sind. Oder sogenannte Gesellschaftskommissionen, die vor allem aus ehemaligen Mitarbeitern bestehen, die keinerlei Verfehlungen feststellen werden. Ändern wird sich dadurch nichts. Jedes Gefängnis ist lediglich ein Abbild der Gesellschaft, die es erschafft. Ein Land, das zwei Schritte von einem totalitären Staat entfernt ist, kann keine anderen Gefängnisse haben. Man könnte Labytnangi dem Erdboden gleich machen, doch würde dieser Furunkel an anderem Ort erneut aufbrechen – weil dieser Staat von innen heraus krank ist.
     

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    „Je weiter weg von Russland, desto besser“

    Der ukrainische Regisseur Oleg Senzow war fünf Jahre in russischer Haft. Im September 2019 kam er frei durch einen Gefangenenaustausch. In einem der wenigen Interviews bisher spricht der ukrainische Filmemacher mit Dimitri Bykow über die Krim, über Putins Perspektiven und darüber, was Russland und die Ukraine ganz grundlegend unterscheidet. 

    Oleg Senzow kam im September im Rahmen eines Gefangenenaustauschs der Haft frei / Foto © president.gov.ua unter CC BY-SA 4.0
    Oleg Senzow kam im September im Rahmen eines Gefangenenaustauschs der Haft frei / Foto © president.gov.ua unter CC BY-SA 4.0

    Dimitri Bykow: Oleg, was hat Putin gegen Sie persönlich?

    Oleg Senzow: Ich halte mich nicht für so wichtig. Er hat ja nicht nur mich festgehalten, viele andere hält er bis heute fest. Ich glaube nicht, dass persönliche Abneigung eine Rolle spielt. Vielleicht, wenn er alle freigelassen hätte außer mir …

    Aber er kann Sie trotzdem überhaupt nicht leiden.

    Das beruht auf Gegenseitigkeit.

    Aber Sie würden ihn leben lassen?

    Er hat mich ja nicht umgebracht. Aber ich träume davon, ihn in Den Haag zu sehen, hinter so einer, wie sagt man … 

    Hinter Gittern?

    Nein, hinter der Glasscheibe. Das würde ich gerne sehen.

    Denken Sie, das wird bei uns [in Russland – dek] noch lange so weitergehen? Hat er noch viel Zeit?

    Es gibt eine einfache Zahl: 2024. Sie schien mal sehr weit weg, aber mit jedem Jahr rückt sie näher. Das ist praktisch übermorgen.

    Ich träume davon, Putin in Den Haag zu sehen

    Wann genau war die Krim verloren? Das Militär sagt, hätte es einen Befehl gegeben, dann hätte es Widerstand geleistet.

    Das hätte gar nichts gebracht. Selbst wenn es einen Befehl gegeben hätte – hätte das Militär denn Widerstand leisten können? Hätte ich die militärischen Einheiten dort nicht gesehen, hätte ich mir vielleicht Illusionen gemacht. Aber da konnte von Kampfbereitschaft keine Rede sein. Und das war allen wohl bewusst.
    Kein Kommando, kein noch so fester Wille, keine politische Entscheidung hätte bei diesem Zustand der Armee was ausrichten können. Also war das [der ausbleibende militärische Widerstand – dek] keine Absage ans Blutvergießen. Vielmehr hatte Janukowitsch die Armee schon vorher ruiniert … Schon da war alles verloren. Dass man etwas hätte tun können – dieses Gefühl gab es höchstens in den ersten paar Tagen.

    Gut, aber wenn die neue Regierung sofort Abgesandte auf die Krim geschickt, das zur obersten Priorität erhoben und sich darauf konzentriert hätte …

    Nein. Die Annexion der Krim war keine spontane Entscheidung von Putin. In den Stabsquartieren liegen immer Pläne bereit für den Fall einer solchen politischen Entscheidung: Putin schnippt mit den Fingern, und man bringt ihm eine Karte. Nichts Besonderes – Kriegsspiele sind das tägliche Brot der Stabsoffiziere des Generalstabs und des FSB … Ich bin sicher, dass da auch Pläne für Charkiw liegen … ach was, für die ganze Ukraine.

    Die Annexion der Krim war keine spontane Entscheidung von Putin. Es liegen immer Pläne bereit für den Fall einer solchen politischen Entscheidung

    Die Krim gehörte zu den Zielen, aber die politische Entscheidung ist gefallen, als Janukowitsch geflohen war. Putin war überzeugt, dass hinter allem die Amerikaner stecken. Das ist sein verzerrtes Weltbild: Alles geschieht nur, um ihm persönlich zu schaden. In diesem Fall – um die Olympischen Spiele zu ruinieren. Also hat er sich gesagt: Wenn ihr mir so kommt, dann komm ich euch so.

    Warum wurden Sie überhaupt verhaftet? War das möglicherweise auch von langer Hand geplant?

    Das war reiner Zufall. Die Jungs, die sie da gefasst hatten, haben einfach alle Namen genannt, die sie kannten; und ich war immerhin erwachsen, ein Regisseur, ich war auf dem Maidan …
    Zuerst hat die Polizei wegen Rowdytums gegen mich ermittelt, dann hat sich der FSB eingeschaltet und sich diese bescheuerte Formulierung ausgedacht: „ … mit dem Ziel, Druck auf die Machtorgane auszuüben und den Austritt der Krim aus der Russischen Föderation zu organisieren“.

    Fangen die sofort an zu foltern?

    Man nennt das „heißes Verhör“. Ein Standardverfahren, damit der Gefangene keine Chance hat, den Schock zu überwinden. Keinerlei Anwälte, versteht sich.

    Wurden damals auf der Krim die [russischen] Pässe zwangsweise ausgestellt?

    Es hieß: Wer nicht innerhalb eines Monats schriftlich Einspruch erhebt, wird automatisch russischer Staatsbürger. Ich bin nicht hingegangen und hatte es auch nicht vor, weil das für mich eine Okkupation war: Was soll ich mit einem Dokument des Besatzungsregimes? Warum soll ich in meinem Land, der Ukraine, gegen irgendwas Einspruch erheben? Ich brauche keine Abmachungen mit Okkupanten.

    Haben Sie immer noch den ukrainischen Pass?

    Ja, klar, wo soll er denn hingekommen sein? Sie haben versucht, mir den russischen anzudrehen. Selbst im Gefängnis haben sie versucht, dass ich quasi zufällig eine Bestätigung unterschreibe. Aber ohne Erfolg.

    Mein Eindruck war, dass Sie sich irgendwann aufs Sterben vorbereitet haben. Vielleicht am zwanzigsten oder dreißigsten Tag des Hungerstreiks

    Das war Ihr Eindruck. Ich bin kein Selbstmörder. Ich hatte nicht vor zu sterben. Das war eine Art Berufsrisiko: Wenn man zum Angriff übergeht, rechnet man mit der Möglichkeit, getötet zu werden. Aber man will zum Ziel kommen. Das war eine kalkulierte, in gewissem Sinn sogar eine künstlerische Aktion: Ich habe das [den Beginn des Hungerstreiks – dek] bewusst mit dem Beginn der Fußball-WM abgestimmt, damit es wahrgenommen wird. 

    Ich bin kein Selbstmörder. Ich hatte nicht vor zu sterben

    Ich wusste, dass ich mindestens einen Monat durchhalten würde und der Höhepunkt auf das Finalspiel fallen muss. Etwa 20 Tage vorher habe ich angefangen, meine Nahrungsaufnahme zu reduzieren.

    Ich habe mir gerade Losnitzas Spielfilm Donbass noch einmal angeschaut, der auf dokumentarischem Material basiert, Sie haben ihn bestimmt gesehen …

    Nein, noch nicht, aber ich habe viel gehört.

    Hier [in der Ukraine – dek] wirkt er ganz anders als in Russland. Ich verstehe nicht, wie jemand, der diesen Film gesehen hat oder einfach mit der Realität im Donbass einigermaßen vertraut ist, nicht mit Fäusten auf die Moskauer losgeht. Auf mich, zum Beispiel.

    Die Menschen hier sind eben anders, das ist unsere Schwäche und unsere Stärke. Manche würden sicher gern auf Sie losgehen. Andere empfangen Sie mit offenen Armen, als Freund, der dort drüben auch kämpft … Die Ukraine ist keine homogene Gesellschaft. Das ist gut, weil uns niemals ein Diktator unterwerfen wird, ein Putin ist bei uns undenkbar. Aber es ist auch schlecht, weil wir uns ständig untereinander bekriegen. Das spielt Putin in die Hände.

    Sie denken also, es kann keinen ukrainischen Putin geben? Einen stillen Silowik

    Nein, unmöglich. Die Menschen hier sind ganz anders. So etwas wird es hier nicht geben, nicht annähernd.

    Das haben wir auch gedacht, bis ungefähr 1996

    Ihr habt die Befreiung 1991 erlebt, so wie wir 2004. 1993 habt ihr eure internen Auseinandersetzungen gehabt, einen Putsch, danach ging es bergab: Tschetschenien, das hätte die Gesellschaft wachrütteln sollen, aber stattdessen hat es sie nur tiefer reingeritten. Das, was euch hätte verändern sollen, hat euch auf einen schlechten Weg geführt. Der Putsch von 1993 und zwei Tschetschenien-Kriege – daraus ist Putin entstanden. Bei uns war alles anders.

    Könnte Putin einen großen Krieg beginnen, wenn es ganz schlecht für ihn läuft?

    Es läuft doch gut für ihn. Zum Glück ist er kein Irrer und auch kein Führer, der Millionen im Namen einer Idee vernichten will. Er will einfach mit möglichst geringen Verlusten alles rausholen, was geht. Aber für diese Ambitionen bezahlen wir mit Tausenden von ukrainischen Leben. Das ist die Tragödie.

    Das Problem ist nicht nur Putin, sondern das Problem sind die Russen selbst

    Ihr habt einfach ein völlig anderes Verhältnis zu diesem Krieg. Ich war fünf Jahre lang in Russland: Man hat dort nicht das Gefühl, dass Putin diesen Krieg entfacht und bis heute 13.000 Ukrainer umgebracht hat. Und das geht jeden Tag so weiter. Dabei mimt er noch den Friedensstifter – das ist das Zynische. Und viele Russen glauben ihm, das macht mich fertig. Das Problem ist nicht nur Putin, sondern das Problem sind die Russen selbst.

    Ich habe das Gefühl, viele hier haben Russland schon abgeschrieben. Sie denken, dass sich bei uns nie etwas ändern könnte.

    Das heutige Russland ist sicher nicht zu ändern. Über das Russland von morgen vermag ich nicht zu urteilen. Es müsste dort eine rational denkende Minderheit siegen. Die heutige Mehrheit ist völlig passiv: Man sagt ihnen „Demokratie“ – dann gibt es Demokratie. Man sagt ihnen „Monokratie“ – dann gibt es eben Monokratie.

    Aber es gibt auch Stimmen, die sagen, genau das sei das wahre Russland. Das Russland unter Putin.

    Das wäre sehr traurig. Ich kann bloß eine Parallele ziehen, auch wenn die nicht ganz sauber ist, weil sich in der Geschichte nie etwas eins zu eins wiederholt: Das Dritte Reich. Der Zweite Weltkrieg war eine Fortsetzung des Ersten, der Samen des Faschismus fiel auf fruchtbaren Boden, ein blutrünstiger Führer kam an die Macht. Die Nation muss verstehen, wie weit sie von ihrem Weg abgekommen ist. Sie hat den Verstand verloren. Wenn sie sich besinnt, die fremden Gebiete zurückgibt, die Zerstörungen wiedergutmacht – dann können wir über zukünftige Beziehungen nachdenken. Wenn nicht – dann eben nicht.

    Es gibt Erkrankungen des nationalen Geistes, die man nicht überlebt. Die deutsche Nation war an Krebs erkrankt und hat ihn überlebt. Das Deutschland, das wir heute sehen, ist ein anderes Land.

    Russland leidet auch an Krebs. Aber das Dritte Reich ist das vierte Stadium, und ihr seid im dritten. Macht euch nichts vor – vielleicht ist es viel schlimmer. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird es das auch. Ich glaube nicht daran, dass eine Nation aus dem Nichts heraus wiedergeboren wird. Es braucht einen Bruch, eine Zäsur. Wie die aussehen wird, weiß ich nicht, ich bin kein Hellseher.

    Und was Sie selbst angeht – wussten Sie, dass Sie vorzeitig entlassen werden, dass Sie nicht 20 Jahre sitzen würden?

    Eindeutig.

    Aus irgendeinem Grund wusste ich das auch.

    Russland könnte auch vorzeitig freikommen, aber ich sage ganz ehrlich – damit bin ich hier in der Minderheit, die Mehrheit sieht das anders. Dass Putin nicht freiwillig geht, weiß ich auch. Die Möglichkeit „Ich bin müde, ich trete ab“ gibt es nicht.

    Lebenslänglich also?

    Die Deutschen haben eine nationale Katastrophe gebraucht.

    Vielleicht wird er irgendwann auch zum Teufel gejagt …

    Ich würde laut applaudieren! Aber das wird kein Maidan. Der Maidan ist nicht euer Genre. Der russische Aufstand, schrieb Puschkin einmal, ist sinnlos und erbarmungslos.

    Denken Sie, die Krim wird irgendwann wieder ukrainisch sein?

    Ganz sicher.

    Welchen Eindruck haben Sie bislang von Selensky?

    Schwer zu sagen. Innen drin ist er aufrichtig. Er möchte die nationale Einheit und das Ende des Kriegs. Dass ihm Fehler unterlaufen – ich habe ihn ja kritisiert für den Ton im Gespräch mit den Freiwilligen, das war meines Erachtens kein Ton eines Oberbefehlshabers – aber das sind Einzelheiten. Dass was er zur Beendigung des Kriegs unternimmt, unterstütze ich im Großen und Ganzen, aber hier ist die Hauptsache, nicht die rote Linien zu übertreten. Nicht zu verraten, wofür unsere Leute gestorben sind.

    Innen drin ist Selensky aufrichtig. Er möchte die nationale Einheit und das Ende des Kriegs

    Selensky hat es sehr schwer. Er bekommt viel Druck von seinen Leuten, von Deutschland und Frankreich, Putin ködert ihn, an Putins gütige Absichten glaube ich nicht. Die Leute um Selensky sind teilweise gut, teilweise undurchsichtig. Dass er Gefangene zurückholt, ist gut. Den Donbass zurückzuholen ist bislang nicht möglich. 

    Wäre die Unabhängigkeit nicht vielleicht besser?

    Auf keinen Fall. Die Krim ist ukrainisch – Punkt. Die Ukraine hat seit der Unabhängigkeit wenig gemacht, um sie zu integrieren, das sehen wir ein. Das Problem ist, dass man erst jetzt darüber nachdenkt. Das hätte man früher tun sollen. Aber sie muss zurück.

    Die Brücke steht schon …

    Gut so! Dann geht’s schneller runter, wenn die Zeit gekommen ist, für die Tränen der ukrainischen Mütter zu bezahlen.

    Was halten Sie von Nawalny? Hat er Perspektiven, und was denken Sie von ihm als Mensch?

    Mein Kriterium, um Leute zu beurteilen, ist die Krim. Nawalny hat nicht vor, sie zurückzugeben, für ihn ist sie so was wie ein Butterbrot. Nicht, dass euch das Butterbrot im Hals stecken bleibt.

    Das ist leicht gesagt.

    Nehmen war einfach, zurückgeben dagegen ist schwer? Ihr habt euch lange vorbereitet und schnell zugegriffen. 

    Mein Kriterium ist die Krim. Nawalny hat nicht vor, sie zurückzugeben

    Umgekehrt geht das genauso – lange vorbereiten und schnell zurückgeben.

    Sie glauben also nicht an eine Union mit Russland?

    Niemals. Und die große Mehrheit der Ukrainer glaubt auch nicht daran, will keine. Die Zeiten der Union mit Moskau sind vorbei! Je weiter weg von Russland desto besser. Mag sein, dass Russland einmal anders war und irgendwann anders sein wird, aber in seinem Inneren hat sich der Eiter angestaut, und der ist jetzt ausgetreten. Putin ist das wahre Gesicht des heutigen Russland. Heute trägt Russland das Gesicht Putins. So gesehen ist die Unterstützung für ihn echt und die Popularität verdient.

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