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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Ich erlaube mir, ich zu sein“

    „Ich erlaube mir, ich zu sein“

    „Die Geschichte meiner Held*innen ist nicht die Geschichte des Kampfes einer bestimmten Community, sondern der Kampf für ein grundlegendes Menschenrecht – das Recht zu sein.“

    Zum Tag der Menschenrechte bringt dekoder eine Fotostrecke über Transgendermenschen von Oleg Ponomarev. 
    Der 1988 in Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg, geborene Fotograf widmet sich in seinen Arbeiten vor allem sozialen und ethnologischen Themen. Auf dekoder erschienen von ihm bisher Sumbur – ein heilsames Durcheinander und Beim Volk der Mari.

    Gender-Dysphorie ist ein furchtbarer Zustand, der einen dummes Zeug machen lässt. Zum Beispiel im Internet nach Hormonen suchen und sie sich spritzen, bevor man mit Ärzten gesprochen hat. Ich bin einer von ihnen, aber es war der einzige Ausweg. – IGNAT / Fotos © Oleg Ponomarev

     

    Meine Eltern haben mir, bis ich zwölf war, keine Geschlechterrollen aufgedrängt, keine Kleidchen angezogen. Ich fühlte mich als geschlechtsloses Tröpfchen. Mit 15 bin ich von zu Hause weg. Mit 16 erfuhr ich dann, dass es Transgender gibt, und mir war sofort klar, was mit mir los ist. Ich begann, mir den Kopf zu rasieren, und sprach von mir in der männlichen Form. Das hat mich irrsinnig erleichtert. Ich kam in dieser Zeit aufs College, wo mich die Jungs völlig unerwartet akzeptierten. „Hier haben wir ja noch einen Kerl.“ – TIM

     

    Die soziale Geschlechterangleichung begann bei mir mit zehn. Als die Probleme mit meiner Mutter losgingen, dachte ich mir eigene Welten aus, Geschichten, in denen ich lebte.
    Meine Adoptivmutter hat mich später vor dem Kinderheim gerettet, wofür ich ihr sehr dankbar bin, doch mit der Familie hat es nicht geklappt. 
    Im Endeffekt bin ich von dort weg und habe mir Arbeit gesucht. Da musste ich mit dem Manager sprechen. Als wir sprachen, hörte ich, dass seine Stimme durch eine Hormontherapie beeinflusst ist. Wir haben dann viel miteinander unternommen und sind jetzt richtige Freunde. Er hat mir bei der ganzen Hormonsache geholfen. – JURA

     

    Die Beziehung zu meinen Eltern wurde nach der Geschlechtsangleichung noch besser, wir haben gelernt, miteinander zu reden, und verstanden uns dann auch besser. Das haben auch alle damit verbundenen Schwierigkeiten möglich gemacht. Ich denke, ich hatte großes Glück. Sowohl von meiner Seite als auch von Seiten meiner Eltern bestand ein riesiges Bedürfnis in Kontakt zu bleiben. – ALEXEJ

     

    Es war dann irgendwann klar, dass ich in Chabarowsk nichts mehr verloren hatte. Ich zog zu meinem Freund nach Petersburg. Ich bin ihm sehr dankbar, möchte mich bedanken, dass er immer für mich da war und mich unterstützt hat. Er ist Künstler. So begann meine Webcam-Laufbahn und Karriere als Porno-Bloggerin. – ALISA

     

    Kürzlich hatte ich ein Gespräch mit meiner Mutter und sie sagte, sie würde weiter Kontakt zu mir haben wollen, würde aber ihrem zukünftigen Mann oder sonstwem in ihrem privaten Umfeld nicht erklären wollen, warum sie einen Kerl mit Bart ihre Tochter nennt. Das ist zwar traurig, aber ich bin froh, dass sie nicht aufhört mich zu lieben. Ja, ich werde nicht bei ihr wohnen, aber sie hat nicht mit mir gebrochen. Ich kenne Leute, denen die Eltern gesagt haben: „Tschüss, ruf uns bitte nie mehr an.“ – MAXIM (Name geändert)

     

    Mit 19 stieß ich auf das Wort Transgender. Es war eine merkwürdige Situation, denn ich war in dieser Zeit verheiratet. Ich war bei Freunden auf einer Feier, und es stellte sich heraus, dass einer der Gäste ein Transmann war. Ich sah ihn – da zog sich etwas in mir zusammen. Er bemerkte meine Reaktion, wir kamen ins Gespräch, ich stellte Fragen, und er sagte, das sei Transgeschlechtlichkeit. Einige Monate später haben mein Mann und ich uns im Frieden getrennt. – NIKITA 

     

    Seit meiner Kindheit habe ich mich für alle möglichen Protagonisten von Computerspielen, Filmen und Animationsfilmen interessiert und bin in diese Rollen geschlüpft. Ich habe sie vollständig imitiert, alle Details bis hin zu Mimik und Gestik übernommen, aber es waren immer nur männliche Rollen. – OLEG

     

    Sobald ich mir erlaubte, mich so zu entwickeln, wie es mir angenehm war, begann ich mich wie auf einen Fingerschnips hin zu feminisieren. Ich erlaubte mir, ich zu sein, und dann kam der Moment, wo ich merkte, was ich tat, doch da hatte ich schon keine Angst mehr. Das ist nicht gut oder schlecht – es ist einfach so. Wenn das dann Feminisierung oder Geschlechtsangleichung heißt, okay. Ich wollte mir einfach nur gefallen und nicht das Bedürfnis haben, mein Spiegelbild anzuspucken. Und ich will leben, ohne zusammengeschlagen zu werden. Das war’s. – MARINA

     

    Mit 25 wurde mir klar: Transsexualität geht mich an. Ich weiß nicht, was meine Orientierung ist. Obwohl mir zu Beginn der Geschlechtsangleichung meine lesbische Identität sehr wichtig war, wichtiger als die Identität als Transfrau. Lesbische Transfrau, das kam sogar in Transkreisen nicht so richtig gut an. Warum eine Geschlechtsangleichung vornehmen, wenn dir Frauen gefallen? Was soll ich machen, soll ich mich zerreißen? Was bin ich nur für eine Tscheburaschka! Ich verstehe das bis heute nicht und stelle mich auf meinen Seminaren oft vor mit den Worten: „Guten Tag. Ich heiße Katja. Ich bin eine Tscheburaschka.“ – KATHARINA, Aktivistin bei T-Deistwije (dt. T-Action)

     

    Ich bin jetzt freier und fröhlicher. Und muss vor meinen Eltern nichts mehr geheimhalten oder Brustbinder verstecken. An die einzelnen Schritte der Geschlechtsangleichung denke ich voller Freude und kann es kaum erwarten. In sozialer Hinsicht habe ich keine Probleme: Alle, mit denen ich zu tun habe, nehmen mich so, wie ich bin, nur Körper und Stimme müssen noch in Ordnung kommen. Das Finale der Angleichung wird für mich das Ausbleiben von Fragen, die mir gestellt werden. – SASCHA

     

    Meine Gender-Dysphorie begann, als ich eine Brust bekam. Ich schaute in den Spiegel und mir war klar, dass da was nicht stimmt, wenn ich so aussehe. Wie wenn jemand geschwollene Beine kriegt und merkt, dass da was nicht stimmt und zum Arzt geht, damit der was dagegen tut. Durch die Angleichung kann ich ich sein. Es fällt mir jetzt leichter mit Menschen zu kommunizieren, ich werde nicht mehr als Frau angesprochen und bin dadurch glücklicher. Ich fühle mich jetzt sicherer. – DAMIAN

    Fotograf: Oleg Ponomarev
    Bildredaktion: Andy Heller
    Original: Takie Dela
    Veröffentlicht am 10.12.2020

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  • „Sumbur – ein heilsames Durcheinander“

    „Sumbur – ein heilsames Durcheinander“

    Das Studio Sumbur ist ein besonderes Theater: Seine Schauspieler sind an einer psychiatrischen Einrichtung in Petersburg in Therapie und bespielen Festivalbühnen. Der Fotograf Oleg Ponomarev hat die Schauspieler porträtiert und die Studio-Leiterin Irina Kulina interviewt.


    In Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

    Ich mag alles, was wir machen, weil wir es mit der Seele tun. Die Menschen hier sind herzensgut, zuverlässig, tolle Leute, mit denen es Spaß macht zu kommunizieren. Hier hat sich mein Potenzial vollständig entfaltet, beim Theaterspielen, Tanzen, Singen und allem, was ich gerne tue. - IWAN WASSILJEW
    Ich mag alles, was wir machen, weil wir es mit der Seele tun. Die Menschen hier sind herzensgut, zuverlässig, tolle Leute, mit denen es Spaß macht zu kommunizieren. Hier hat sich mein Potenzial vollständig entfaltet, beim Theaterspielen, Tanzen, Singen und allem, was ich gerne tue. – IWAN WASSILJEW
    Eine Zeitlang habe ich nicht am Theaterleben teilgenommen. Es war schwierig, als wäre nichts Wichtiges mehr da. - BOGDAN MAKAROW
    Eine Zeitlang habe ich nicht am Theaterleben teilgenommen. Es war schwierig, als wäre nichts Wichtiges mehr da. – BOGDAN MAKAROW
    Wir realisieren hier unsere Hoffnungen und Möglichkeiten. Möchtest du jemand oder etwas sein – sei es! - ALEXANDER ANDREJEW
    Wir realisieren hier unsere Hoffnungen und Möglichkeiten. Möchtest du jemand oder etwas sein – sei es! – ALEXANDER ANDREJEW
    Ich schaue Filme, lese Bücher und höre internationale Rockmusik wie ‚Dream Theater‘ oder ‚Nightwish‘. Aber das Wichtigste für mich ist das Spiel im Theaterstudio ‚Sumbur‘. - ANDREJ ROMIN
    Ich schaue Filme, lese Bücher und höre internationale Rockmusik wie ‚Dream Theater‘ oder ‚Nightwish‘. Aber das Wichtigste für mich ist das Spiel im Theaterstudio ‚Sumbur‘. – ANDREJ ROMIN
    Das Theater hat mir persönlich geholfen, mich zu entwickeln und etwas Neues im Leben zu entdecken, die Leere zu füllen. Ich will für immer hier im Theater sein. - SWETLANA ALEXEJEWA
    Das Theater hat mir persönlich geholfen, mich zu entwickeln und etwas Neues im Leben zu entdecken, die Leere zu füllen. Ich will für immer hier im Theater sein. – SWETLANA ALEXEJEWA
    Ich saß und wartete auf die Aufnahmekommission für die Einrichtung, in der ‚Sumbur‘ probt. Die Schlange war lang, dazusitzen war langweilig und dauerte. Plötzlich ertönte ein Bajan. Ich freute mich und schaute, wer da spielt. Das war Dima Rasguljajew. Als er aufhörte bat ich ihn, mir das Instrument zu geben. Ich spielte. Nach 15 Minuten kam dann Irina Walentinowna zu mir, die Leiterin von ‚Sumbur‘, und fragte mich ‚Bist du Bühnenkünstler?‘ Und ich ‚Ja, mehr oder weniger.‘  So bin ich zu ‚Sumbur‘ gestoßen. – PJOTR MASLENNIKOW
    Es war so schön, hier auf eine künstlerisch begabte und wohlmeinende Truppe zu stoßen. - ANNA SUJKOWA
    Es war so schön, hier auf eine künstlerisch begabte und wohlmeinende Truppe zu stoßen. – ANNA SUJKOWA

    Für mich ist das Studio ‚Sumbur‘ zum zweiten Zuhause geworden. In jeder Rolle versuche ich besser und besser zu werden. - NATALJA KOLOSUNINA
    Für mich ist das Studio ‚Sumbur‘ zum zweiten Zuhause geworden. In jeder Rolle versuche ich besser und besser zu werden. – NATALJA KOLOSUNINA
    Mir bereiten die Proben große Freude, die Kommunikation mit den anderen und auch mit den Ärzten während der Aufführungen. - MARINA ANTONOWA
    Mir bereiten die Proben große Freude, die Kommunikation mit den anderen und auch mit den Ärzten während der Aufführungen. – MARINA ANTONOWA



    Die ganze Welt ist Theater – und die Menschen darin Schauspieler. Theater ist Luft und ohne Luft – kein Leben. Mir gefällt das Theater sehr, es gibt mir etwas Persönliches. Ich bin dadurch viel selbstsicherer geworden, habe gelernt mich auszudrücken, mein Gedächtnis ist besser geworden und ich habe neue Freunde gefunden.  Das Theater ist ein Meer. Mal trägt dich eine Welle nach oben, mal zieht sie einen runter. Und das Theater ist Wärme, die man Menschen einfach so schenken kann. - MARINA ANISCHEWSKAJA
    Die ganze Welt ist Theater – und die Menschen darin Schauspieler. Theater ist Luft und ohne Luft – kein Leben. Mir gefällt das Theater sehr, es gibt mir etwas Persönliches. Ich bin dadurch viel selbstsicherer geworden, habe gelernt mich auszudrücken, mein Gedächtnis ist besser geworden und ich habe neue Freunde gefunden. Das Theater ist ein Meer. Mal trägt dich eine Welle nach oben, mal zieht sie einen runter. Und das Theater ist Wärme, die man Menschen einfach so schenken kann. – MARINA ANISCHEWSKAJA

    Oleg Ponomarev: Woher kam die Idee für das Studio, womit hat alles angefangen?

    Irina Kulina: Unsere allererste Veranstaltung war ein Ball. Wir haben ein paar Kostüme genäht, Paare gebildet und drauflos getanzt. Das war 2007. So kam der Stein ins Rollen.

    Wir traten in unserem eigenen Zentrum für Psychoneurologie auf, dann gaben wir Gastspiele in anderen Gesundheitseinrichtungen und traten in einer Bibliothek auf – das war ein wichtiger Moment, weil wir damit die Gesundheitseinrichtungen verlassen haben. Es folgten Festivals. Die Bühnen, die wir bespielten, wurden langsam größer.

    Ein Konzept hatten wir nicht wirklich. Vielmehr entwickelte sich das Studio aus der Ergotherapie heraus, wo wir genäht und gestrickt haben und etwas Größeres wollten.

    Wir proben sogar in den Therapie-Werkstätten, haben dort unsere Schränke mit den Kostümen und Requisiten.

    Welche Rolle nimmt das Theater im Leben der Patienten ein?

    Manche empfinden es als ihre Arbeit, sagen: „Ich arbeite im Studio Sumbur. Ich bin Schauspieler.“ Wir proben eigentlich ständig. Sobald sich irgendwo zwischendurch ein bisschen Zeit ergibt, schnappen wir uns ein Instrument und singen, und während wir singen, kommen die anderen dazu.

    Es ist aber trotz allem ein therapeutischer Prozess – man darf ihn gesondert betrachten, es ist einer von vielen Ansätzen, die als Ganzes zu einem Ergebnis führen.

    Im Studio herrscht eine besondere Atmosphäre, hier sind wir alle gleich, es gibt keine Distanz, keinen Arzt im weißen Kittel und auf der anderen Seite den Patienten, es gibt vielmehr die künstlerische Leiterin und die Truppe. Hier bekommen sie etwas, das fast jedes Mitglied der Gesellschaft braucht: das Gefühl, gebraucht zu werden, etwas gut zu können.

    Im Studio sind wir alle gleich, es gibt keinen Arzt im weißen Kittel und auf der anderen Seite den Patienten

    Wie sie sich dadurch verändern, kann man allein bei unseren Gastspielen beobachten. Wenn wir zum Beispiel in eine psychiatrische Klinik fahren. Die ersten Male dort waren schwierig, denn natürlich haben einige unserer Schauspieler schon ihre Erfahrungen damit gemacht, und das waren nicht die schönsten. Aber wenn wir jetzt hinfahren, sagen sie: „Wir kommen von der anderen Seite, nicht als Patienten.“ Man kennt und respektiert sie dort. Ihre Stellung hat sich verändert.

    Einer unserer Patienten sagte einmal: „Wir sind Aussätzige in dieser Gesellschaft. Die Menschen wollen nichts mit uns zu tun haben. Aber im Studio lernen wir uns kennen, verlieben uns, heiraten, haben Kontakt zu anderen. Hier haben wir eine Aufgabe. Hier werden wir gebraucht. Hier ist alles anders.“

    Dieser Satz: „Wir sind Aussätzige“ – ist das ein Gefühl, das die Gesellschaft ihnen vermittelt?

    Natürlich. Sie haben Angst. Angst, auf die Straße zu gehen. Und die Art, wie die Gesellschaft auf sie reagiert, verstärkt die Ängste, die sie ohnehin haben. Sie bewegen sich fast ausschließlich unter ihresgleichen.

    Der Psychiatrie haftet immer noch das Image einer Strafmedizin an, das man nur sehr schwer los wird, und entsprechend nimmt man diese Patienten auch wahr. Viele denken, diese Menschen seien zu nichts fähig, obwohl das eine Lüge ist – und diese Wahrnehmung wirkt sich negativ auf ihren Zustand, und auch auf die Ergebnisse unserer Arbeit aus. Dabei sind sie Menschen wie du und ich. Der eine leidet eben an Bluthochdruck, der andere an Schizophrenie – das ist der einzige Unterschied, beides muss behandelt werden.

    Der eine leidet eben an Bluthochdruck, der andere an Schizophrenie – das ist der einzige Unterschied, beides muss behandelt werden

    Damit die Therapie und die Resozialisierung funktionieren können, braucht es auch eine kritische Selbstwahrnehmung. Wenn diese Menschen nun etwas haben, wofür es sich lohnt, an sich zu arbeiten, wenn sie unter Leuten sind, Zuschauer haben und spüren, dass sie etwas wert sind, oder vielleicht auch nur, dass wir alle gleich sind, und der Arzt, der sie behandelt, neben ihnen steht und alle zusammen singen, dann erst wird ihnen bewusst, dass sie niemand bei dem geringsten – oder auch ohne – Anlass wegsperren will. Sie bekommen dieses Vertrauen, das so wichtig ist und das ich sehr hoch schätze, es entsteht ein Verantwortungsgefühl gegenüber dem Publikum und damit auch diese kritische Haltung sich selbst gegenüber.

    Heißt das, die moderne Medizin hat gelernt, mentale Erkrankungen in den Griff zu bekommen?

    Natürlich gibt es gegen die verschiedenen Krankheiten diverse Medikamente, die sich in ihrer Stärke und Wirkungsart unterscheiden. Andererseits gibt es keine Pille, die das Thema ein für allemal abhaken würde. Und keine Kriterien, nach denen man beurteilen kann, ob jemand einmal unser Patient wird. Das verstehen aber die meisten Menschen in unserer Gesellschaft nicht, sie denken, diese Menschen wären irgendwie anders, sehr weit weg von einem selbst, obwohl uns von unseren Patienten nur der Zufall trennt.

    Die Arbeit des Studios besteht ja nicht nur aus den Auftritten und Theaterstücken – das ist nur die Spitze des Eisbergs. Um auf die Bühne zu gehen, reicht es nicht, seine Rolle oder ein Lied einzuüben, einen Tanz zu lernen.

    Viele Krankheitsbilder sind geprägt von einer fortschreitenden Lethargie, die sich in der Vernachlässigung von selbst einfachsten, alltäglichsten Handlungen äußert: seine Sachen bügeln, sich die Haare kämmen. Aber sobald wir mit unserer Arbeit beginnen, sind sie alle wie gestriegelt. Das Theater motiviert sie dazu, ganz normale Dinge zu tun, die dann später zur Routine werden und automatisch passieren, so wie es sein soll.

    Wenn die Leute im Zuschauerraum sitzen, machen sie sich ja keine Gedanken darüber, dass die Schauspieler nicht nur das Stück auf die Beine gestellt, sondern sich zurechtgemacht, sich rasiert und ihre Sachen gebügelt haben, und dass sie sich diese Mühe gemacht haben, um sich dem Zuschauer zu präsentieren.

    Alles fängt bei diesen kleinen Dingen an, und die Arbeit an diesen Details ist ebenfalls Teil der Studioarbeit.

    Kostüme, Requisiten, Musikinstrumente – das alles kostet Geld. Ihr Studio gibt es nun schon seit zehn Jahren – wie ist die Finanzierung geregelt?

    Es gibt keine. Wir haben mit den Ärzten zusammengelegt und gekauft, was gebraucht wurde. Die Kostüme sind selbstgenäht, die Requisiten gebastelt. Wir brauchen Sponsoren, aber es gibt keine. Offensichtlich interessiert das niemanden.

    Wie geht es weiter? Wie wollen Sie wachsen, welche Pläne gibt es für das Studio?

    Zunächst einmal wird das Material komplexer, wir entwickeln uns wie jedes andere Theater. Wir planen neue Stücke, die aufwendiger sein werden und interessanter, sowohl für uns als auch für die Zuschauer.

    Wir wollen ein Kinderprogramm aufbauen und vor Kindern spielen, in Heimen und Krankenhäusern. Die Kinder sollen nicht nur zuschauen, sondern auch mitmachen können. Wir haben so etwas Ähnliches schon einmal auf unserer Bühne aufgeführt. Es war toll. Unsere Schauspieler, die Ärzte, deren Kinder – alle sind zusammen aufgetreten. Kurz: ein heilloses Durcheinander – Sumbur eben.

    erschienen am 08.06.2018
    Bilder und Interview: Oleg Ponomarev
    Übersetzerin: Jennie Seitz

    Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa.

    Mit dem Fokusthema Russland in Europa widmet sich die Körber-Stiftung der Wiederbelebung eines offenen, kritischen und konstruktiven Dialogs zwischen Russland und seinen europäischen Nachbarn.

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  • Mai: Beim Volk der Mari

    Mai: Beim Volk der Mari

    In unserer Zeit, heißt es, sei die Natur (wenn nicht die ganze Welt) entzaubert. Für diese Menschen gilt das sicher nicht: Die Mari aus der russischen Teilrepublik Mari El.

    Die Mari leben seit mindestens zweitausend Jahren am Flusssystem der mittleren Wolga und am Ural. Sie gehören zur Volksgruppe der Wolga-Finnen: Möglicherweise teilen sie ihre Ursprünge mit denen der baltischen Finnen, ihre Sprache, die zur finno-ugrischen Familie gehört, weist jedenfalls darauf hin. 

    Das Leben der Mari ist noch heute durchdrungen von einer altertümlichen Volksreligion, die das Leben in Einklang mit der Natur lehrt. Die Mari bezeichnen sich selbst oft als die letzten Heiden Russlands oder gar die letzten Heiden Europas. Wobei das nur mit Einschränkungen zutrifft, denn die meisten der ungefähr 650.000 Mari, die heute in Russland leben, sind getauft und Mitglieder der russisch-orthodoxen Kirche. Ihre Traditionen haben sie sich aber in der Tat bewahrt und sie sowohl gegen die Einflüsse des Christentums wie auch des sowjetischen Atheismus aufrecht erhalten.

    Die Mari nennen sich selbst die „kleinen Leute“, sie gelten als scheu, bescheiden und außerordentlich höflich. In ihrer Religion wird die Natur als belebt verstanden und niemals ausgebeutet, erst ihre Gaben machen das Dasein der Menschen möglich. Vielleicht war es die marische Strategie der Nicht-Konfrontation, des Ausweichens, die dem Volk das Überleben bis in die heutige Zeit ermöglicht hat: Der marische Begriff Ju kommt nach Ansicht einiger Forscher der Idee des chinesischen Dao oder dem Brahma der Hindu nahe.

    In heiligen Hainen werden die Götter verehrt, deren höchster der Große Weiße Gott ist: Osh Kugu Yumo. Unter den geringeren Göttern finden sich solche des Feuers und des Windes und zahlreiche Mischwesen aus Gott und Mensch. Die marischen Kultstätten sind meist in Waldgebieten und an Flussufern gelegen. In der Sowjetzeit wurden sie vernachlässigt oder gar zerstört. Seit der Perestroika hat die Kultur der Mari jedoch einen Aufschwung erlebt, heute werden an die 400 heilige Haine von den Mari wieder für ihre Zeremonien genutzt.

    Unsere Fotostrecke, aufgenommen von Oleg Ponomarev während mehrerer Reisen in ein marisches Dorf in den Jahren 2014–2015, zeigt zunächst Szenen aus dem alltäglichen Leben, dann Bilder von der großen alljährlichen Gebetszeremonie. Im Unterschied zur christlichen Religionen werden bei den Mari den Göttern auch Opfergaben dargebracht. Es folgen Aufnahmen vom Fest des Sommerbeginns – in der marischen Kultur ein Anlass, um der Toten zu gedenken. Den Abschluss bildet die Feier der Wintersonnenwende, Shory Kyol. Die Bewohner der Dörfer ziehen in Tiermasken durch die Häuser und bitten um Verköstigung: Nur wenn die Bedürfnisse der Tiere gestillt sind, kann auch der Mensch seiner natürlichen Bestimmung gemäß leben.

    Oleg Ponomarev ist 1988 in St. Petersburg (zu dieser Zeit noch Leningrad) geboren. Er hat an der Abteilung für Fotojournalismus der St. Petersburger Journalistenvereinigung studiert, außerdem an der Fotoschule Zekh von Sergey Maksimishin. Seine Arbeiten wurden in verschiedenen russischen Städten gezeigt, demnächst erscheint in National Geographic eine Fotoserie, in der Ponomarev durchleuchtete Gepäckstücke aus St. Petersburger Metrostationen präsentiert – mitsamt der in ihnen gefundenen, nicht immer für Metrofahrten prädestinierten Gegenstände.

    Fotos: Oleg Ponomarev
    Bildredaktion: Nastya Golovenchenko, Text: Martin Krohs

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