Volkstragödie, Abenteuer, psychologisches Drama, pyrotechnisches Theater, romantische Verklärung – das alles war der Krieg im sowjetischen Film und noch viel mehr. In der Kriegsdarstellung spiegelte sich der Zeitgeist, und das Verhältnis zu diesem Krieg blieb für die Bestimmung des historischen Bewusstseins der sowjetischen Gesellschaft immer richtungweisend. Der Wechsel der Stile war ein genauso sensibles Merkmal einer veränderten Sicht auf den Krieg wie die Koexistenz von staatstragender und nicht angepasster Kunst im Kriegsfilm. Im Kaleidoskop der Genres und Stile nimmt der Film Idi i smotri (Komm und sieh!) von Elem Klimow eine ganz besondere Haltung ein: Er zeigt Krieg als apokalyptisches und surreales Mysterium.
Die ersten Kriegsfilme, die noch während des Großen Vaterländischen Krieges (1941–1945) gedreht wurden, waren naturalistisch und brutal. „Heute und morgen sind wir gezwungen“, sagte Alexander Dowshenko 1942, „den Rahmen des in der Kunst Erlaubten zu erweitern. Heute schreit unsere Leinwand nach Galgen, brennenden Häusern, die mit gequälten Menschen überfüllt sind, nach Gefolterten, nach lebendig Begrabenen. Die unzähligen Opfer stöhnen: Dreht euch nicht weg von uns, die wir einen unästhetischen Tod gestorben sind.“1
Sowjetische Kriegsfilme: Abenteuer, Märtyrer und pyrotechnisches Theater
Der Film Ona saschtschischaet rodinu (Sie verteidigt die Heimat (1943)) stellte die Figur der Mutter in den Mittelpunkt – eine rächende, gnadenlose, „kastrierende“ Mutter (= Russland), die in den 1930er Jahren im Figurenensemble der sowjetischen Kinematografie fehlte, denn dort dominierte der patriarchalische Vater (Stalin). Diese Frau kann mit dem Beil Feinde erschlagen und den Mörder ihres Sohnes mit dem Panzer niederwalzen. Ihr Hass ist gegen Männer gerichtet, die auf der Leinwand – neben der Vernichtungsarbeit des Krieges – meist bei Trinkorgien dargestellt werden.
Die parallel entstandenen Partisanenfilme verklärten den Krieg auf andere Weise. Es waren Märtyrerfilme wie Soja (1944) oder Marytė (1947), in denen sich junge Mädchen opfern und gefoltert werden, und Abenteuerfilme wie Sekretar raikoma (Der Sekretär des Rayonkomitees (1942)) oder Podwig raswedtschika (Heldentaten eines Kundschafters (1944)), in denen entschlossene starke Männer den Feind besiegen. Sie schlüpfen in die Rolle geheimnisvoller omnipotenter Rächer und spielen mit den dummen Deutschen „Räuber und Gendarm“. Die bärtigen, humorvollen Partisanen werden zu märchenhaften Großväterchen der Nation. Bald geriet der Krieg im Film zum pyrotechnischen Theater. Die perfekten Kriegsspektakel stellen die großen Schlachten nach – von dem auf 70 mm gedrehten Mehrteiler Juri Oserows Oswoboshdenije (Befreiung (1970–1977)) bis hin zu heutigen, von Videospielästhetik geprägten Feuerorgien wie T-34 (2019), einer Panzeroper mit Special Effects.
Menschenschicksale und Romantisierung
Die Lockerungen der Tauwetter-Ära gingen im Film eng einher mit dem Kriegsthema und fanden ihren Ausdruck in den wirklichkeitsgetreuen Schützengrabenfilmen der späten 1950er Jahre: Soldaty (Soldaten, 1956) – der Kriegsalltag, die Menschenschicksale, die Wahrheit der Details, jede leise Andeutung noch unaussprechbarer Zusammenhänge wirkte damals wie eine erste große Offenbarung. Sudba tscheloweka (Menschenschicksal (1959)) oder die erste Geschichte von einer untreuen Kriegsbraut Letjat Shurawli (Die Kraniche ziehen, 1957) wurden zu Ereignissen. Das individuelle Schicksal war plötzlich genauso wichtig wie das der Massen und die entfesselte Kamera ein Ausdruck dafür.
Die 1960er Jahre stellten den Krieg so dar, wie er in Erinnerung geblieben war. Lichte Melancholie der Ballada o soldate (Ballade von Soldaten (1961)) war hier genauso berechtigt wie radikale Expressivität – Iwanowo detstwo (Iwans Kindheit, 1961). Die gewonnene Authentizität wurde durch Romantisierung abgelöst. Und so blieb es bis Alexej Germans Prowerka na dorogach (Straßenkontrolle (1971)) und Larissa Schepitkos Woschoshdenije (Aufstieg (1977)). Krieg wurde zum einzig erlaubten Terrain, auf dem harte existentielle Fragen – nach der (Un)möglichkeit einer Freiheit der Wahl – abgehandelt werden konnten. Die Parabeln haben eine Wahrheit des Krieges tragisch verallgemeinert.
Eine ganz andere Dimension eröffnete Elem Klimow, als er 1984 denselben Krieg als apokalyptisches und surreales Mysterium inszenierte.
Ästhetisierter Horror oder suggestive Beeinflussung?
Elem Klimow und seine Frau Larissa Schepitko begannen zur selben Zeit am selben Thema zu arbeiten. Larissa nahm sich den Stoff des Belarussen Wassil Bykau, Elem den des Belarussen Ales Adamowitsch vor. Nur wurde sein Projekt nach den ersten Drehtagen 1976 gestoppt und erst 1982 wiederaufgenommen. Adamowitschs Drehbuch basierte auf autobiografischen Erlebnissen, die er bereits in mehreren Büchern (Chatyn-Erzählung, Partisanen, Exekutionskommando, Ich bin aus dem Feuerdorf) verarbeitet hatte. Er dachte zunächst an eine Komödie: die Abenteuer eines halbwüchsigen Tollpatsches im Grauen des Krieges. Klimow entschied sich für einen Horrorfilm mit apokalyptischen Zügen. Er forderte den Zuschauer aggressiv heraus: „Komm und sieh!“ Der Titel ist ein Zitat aus der Offenbarung Johannes (Kapitel 5-8): „Und ich hörte ein viertes Wesen sagen wie mit einer Donnerstimme: ‚Komm und sieh!‘ Und ich sah ein blasses Pferd, und der darauf saß, dessen Name war der Tod, und ihm folgte die Hölle.“
Klimow entrollt das Bild einer Apokalypse im Belarus des Jahres 1943, in einem von Hunderten niedergebrannter Dörfer (Klimow sprach von 600, heute zirkuliert eine Zahl von 9000). Klimow weicht von der dokumentarischen Vorlage Adamowitschs und konkreten Ort-Zeit-Bezeichnungen – Chatyn, 1943 – ab, zielt auf Totalität. Auf ein Bild der Vernichtung. Nicht nur der physischen Natur (Wald, Haus, Mensch), sondern der Psyche. Was kommt, nachdem die Hemmschuhe der Kultur abgeworfen werden und die Menschheit in zwei Lager zerfällt: Metzger und Schlachtvieh? Das Individuum schwindet – es ist nicht sein existentielles Drama. Opfer und Henker haben – nach Klimow – keine individuelle Geschichte. Kein Gesicht. Und in Erwartung des totalen Vernichtungskrieges – der Apokalypse – geht es ja um das Geschlecht der ganzen Menschheit. Statt der Frage nach Entscheidung und Schuld, wie sie in anderen Kriegsfilmen dieser Zeit üblich war, wählte Klimow einen anderen Ansatz: „Das Gesicht des Menschen, der dich erschießt, siehst du nicht. Und es ist unwichtig, ob er gezwungen war, schwach oder willens, welche Kompromisse und Gewissensbisse er zu überwinden hatte – er schießt. Eine Differenzierung von Henkern, egal welche Uniform sie tragen, ist unnötig. Eine Differenzierung von Opfern ebenfalls. Wenn Bomben fallen, sehen wir weder Gesichter noch Nuancen. Für mich war die Frage des Stils entscheidend. Ich habe Coppolas berühmte Apocalypse now gesehen. Aber das war ein Kriegsschauspiel – Theater in realer Landschaft. Für mich muss maximale emotionale Einwirkung mit extremer Wahrhaftigkeit einhergehen. Dabei meine ich nicht dokumentarische Authentizität. Unsere Wahrnehmung ist durch Berge von Leichen im Fernsehen beim Abendbrot völlig abgestumpft.“2
Dagegen kämpft Klimow mit hypnotischer Suggestion von Horror, Ekel, Atemnot und Todesangst an. Mit einer für den Zuschauer unmerklich forcierten Vereinnahmung, mit dessen gewaltsamer Platzierung an die Stelle des Helden – und zwar so raffiniert und allmählich, dass der zum Kommen und Sehen Aufgeforderte dies erst wahrnimmt, nachdem die Falle schon zugeschnappt ist und er nicht mehr entrinnt.
In der ersten Szene beobachtet die Kamera aus einiger Entfernung zwei Jungen, die ein Gewehr aus der Erde buddeln, das einem Toten gehörte, ohne zu ahnen, was das bringt. Bereits in der nächsten Szene, als die Mutter den glücklichen Finder Fljora nicht zu den Partisanen in den Wald lassen will, ändert sich die Perspektive. Über die Optik dieses 14-jährigen naiven Dorfjungen öffnet sich der Blick auf den Krieg. Die Kamera schlendert mit ihm durch das Partisanenlager, staunt über die seltsamen Typen und ihr buffoneskes Leben. Doch allmählich verliert das Gewohnte den Charakter des Sicheren, überall lauert der Tod, und er ist allmächtig. Mit der Bombardierung des Waldes beginnt Fljoras Marsch durch alle möglichen Tode: erschossen zu werden oder im Moor zu ertrinken, auf eine Mine zu treten oder im Feuer zu sterben. Der Ton imitiert sein subjektives Hören, die subjektive langsame Kamerafahrt seinen Blick. Der Regisseur rückt den Zuschauer aus der Position des distanzierten Betrachters heraus, immer mehr in das (physiologische) Erleben des Geschehens hinein. In der Drängelei der Massen in der Scheune – in Erwartung eines gemeinsamen unausweichlichen Endes – überkommt den Rezipienten Atemnot, und er empfindet selbst Bedrohung.
Das verzerrte Antlitz des Jungen wird zum Spiegel dessen, was mit dem Gesicht des Zuschauers geschehen kann. Wenn Fljora dem Massaker entkommt, ist er dennoch als Mensch vernichtet, entwürdigt. Erst hier ändert Klimow erneut die Erzählperspektive: Dokumentaraufnahmen vom Ende des Krieges laufen rückwärts. Fljora entlädt sich, indem er immer wieder auf ein Bild des Führers schießt. Auch dessen Leben spult sich rückwärts ab. Bei einem Kinderbild Hitlers hält Fljora inne. Dies wird meist als Zeichen für wieder aufgebaute Menschlichkeit im Opfer gedeutet. Ob der Zuschauer genauso schnell aufzurichten ist und zur Mündigkeit zurückfinden kann, wird dabei nicht beachtet. Doch diesen Effekt wollte Klimow mit seinem radikalen „Hyperrealismus“ und Schockeffekten erreichen. Naturalistische Grausamkeiten, von der distanzierten Kamera emotionslos beobachtet, existieren neben starken Metaphern und der suggestiven Wirkung. Treibsand voller Leichen, Reiter der Apokalypse auf Motorrädern, die aus dichtem Nebel erscheinen; panoramaartige Szenen, die wie Höllenkreise wirken; weißer Schnee, der am Ende plötzlich wie ein Leichentuch die Märtyrer bedeckt.
Klimows Arbeitsmethoden waren, wie so oft bei seinen Filmen, ungewöhnlich. Um bei den Darstellern die Intensität des Grauens zu maximieren, ließ er das Gerücht verbreiten, dass ein tatsächliches Feuer gelegt wird. Anstelle der üblichen Platzpatronen wurden – trotz des erheblichen Risikos – echte Granaten und Leuchtspurgeschosse benutzt. Mit seinem Hauptdarsteller, einem 16-jährigen Moskauer Jungen, arbeitete Klimow nach der von ihm entwickelten „Methode der Posthypnose“. Um ihn vor psychischen Schäden zu bewahren, gab es im Filmstab eine Gruppe von Psychologen und Hypnotiseuren, die den Jungen nach den enormen Belastungen in den Zustand der Ansprechbarkeit zurückholten. Auch den Zuschauer schonte Klimow nicht: „Der denkt, er wisse alles über den Krieg. Aus Büchern, Filmen, aus Familiengeschichten. Doch Information ist nicht alles – gelernt haben wir viel, Gefühle sind uns fremd.“ Klimows Film erschien im selben Jahr wie das Buch des französischen Philosophen Paul Virilio Krieg und Kino (dt. 1986). Beide meinten, unabhängig voneinander, dass es keinen Krieg ohne die Eroberung der Wahrnehmung gebe. Kriegsfilme, die eine derartige psychologische Macht ausüben, gehörten daher in die Kategorie der Waffen. Klimows Film ist auf diese überwältigende suggestive Wirkung ausgerichtet. Die internationale Kritik sah in ihm einen barbarischen Zirkus, eine Mischung aus lyrischer Poesie und expressionistischem Albtraum und – ein gnadenloses Meisterwerk.
Ausländer werden in der russischen Kulturgeschichte häufig nicht nur auf Zelluloid zu Klischeefiguren: Der Franzose galt in Russland oft als ein nicht ernstzunehmender Frauenheld. Und der Deutsche erschien als betrunkener Schlosser namens Schiller, der den nicht weniger betrunkenen Schuster Hoffmann darum bittet, ihm die Nase abzuschneiden. Denn Schiller hatte errechnet, dass die Nase mit ihrer Leidenschaft für Tabak zu viel Ausgaben verursachte. Die Logik eines Deutschen erweist sich als absurde Unlogik: die Zahlen, an die sich der vernünftige Schiller klammert, verraten nicht Verstand, sondern verdecken den Wahnsinn. Nikolaj Gogol, der die beiden Gestalten so in seiner bekannten Erzählung Newski-Prospekt defilieren ließ, entdeckte diesen Bruch, der das Klischee des Deutschen von nun an prägte – später auch im Film.
Der sowjetische Film schien sich dieser Tradition zunächst kaum bewusst. Deutsche, die noch neuen Feinde aus dem soeben beendeten Krieg, kommen hier zunächst kaum vor – außer in kurzen Frontrückblenden. Doch dann werden sie in erster Linie nicht als Deutsche, sondern als betrogene Proletarier dargestellt: Die Grenze verläuft hier zwischen den Klassen und nicht zwischen den Nationen. Filimonow, der Protagonist von Oblomok imperii (Der Mann, der sein Gedächtnis verlor, 1929) erblickt in einem Deutschen gar den eigenen Doppelgänger. Und Hans Klering – als deutscher Kriegsgefangener in Okraina (Vorstadt, 1933) von Boris Barnet – vollendet brillant diese Darstellungstradition, die im Grunde eine Image-Setzung ist: Genauso wie die Heldin des Films ist auch der Zuschauer bereit, diesen schweigenden, Mundharmonika spielenden, einsamen Deutschen – einen naiven, gütigen Kerl – brüderlich zu lieben und vor russischen Chauvinisten zu verteidigen.
Kinder von Karl Marx
In den 1930er Jahren ändert sich das Bild des Deutschen im russischen Film. Es sind die deutschen Arbeiter, die Kinder von Karl Marx, die nun massiv auf der sowjetischen Leinwand erscheinen.
Das geschieht in drei Wellen: Anfang der 1930er Jahre entstehen Filme, die den Kampf gegen die sogenannten Sozial-Faschisten (Sozialdemokraten) darstellen – in denen die Nationalsozialisten selbst aber nicht präsent sind; darauf folgen Volksfrontfilme, die bereits im nationalsozialistischen Deutschland angesiedelt sind. Und schließlich flimmern Bilder vom zukünftigen Krieg mit Deutschland über die Leinwand.1
Straßenkämpfe mit der Polizei und Streikbrechern, Arbeitslosigkeit und hungernde Kinder sind die variierten Themen bei fast gleichbleibenden Sujets dieser Werke: Die Sozialdemokraten – Verräter der Arbeiterklasse – wirken Hand in Hand mit der Polizei und liefern Kommunisten aus.
Entlarvung des Faschismus
Von 1936 bis 1938 kämpfen tausende Freiwillige aus der Sowjetunion in Spanien gegen die Putschisten, die wiederum von deutschen Fliegern der Legion „Condor“ unterstützt werden. Zu dieser Zeit entstehen viele sowjetische Filme, die den Faschismus entlarven sollen, unter Mitwirkung deutscher Emigranten. Diese sind als Drehbuchautoren, Regisseure, Schauspieler und Berater tätig (genauso wie zur selben Zeit russische Emigranten in Deutschland am Bild der Russen im deutschen Kino mitwirken).2
Das dramaturgische Schema der antifaschistischen sowjetischen Filme sieht gewöhnlich so aus: Zu sehen ist das leidende und sich dem Faschismus widersetzende Volk einerseits – und andererseits eine kleine Gruppe von Schurken, eben die Nazis, die das Volk terrorisieren. Die gute deutsche Arbeiterklasse, immer als Vorbild angesehen, wird idealisiert und verklärt, selbst noch Mitte der 1930er Jahre, als die Naziherrschaft sich fest etabliert hat. In all diesen Filmen finden sich entschlossene Kämpfer gegen das Regime, und sie gehen aus der Filmhandlung stets als Sieger hervor. Auch im Epilog von Moorsoldaten heben die Arbeiter die Hände nicht zum Hitlergruß, sondern ballen ihre Fäuste zum Rotfront-Gruß.
„Schule des Hasses“
Mit dem Kriegsausbruch erledigt sich diese Idealisierung der deutschen Arbeiterklasse, die Deutschen werden nun monolithisch dargestellt – als Feind. Das Bild ist eindeutig: der Deutsche ist Faschist und nicht Klassenbruder, ein Schurke, ein Paranoiker, ein Sadist, ein physisch und psychisch kranker Mensch.
Dieses Bild wird zunächst in den Bojewyje kinosborniki (Kriegs-Filmalmanache) verankert, die ab Juli 1941 produziert werden. Sie sollen die politischen Losungen des Tages in Spielszenen verkörpern, Verhaltensmodelle vorführen und die Stimmung der Bevölkerung beeinflussen. Später werden diese Novellen als „Schule des Hasses“ bezeichnet.
Die grobe Satire ist bei der Zeichnung des deutschen Feindes das ausschlaggebende Mittel. Hitler zum Beispiel erscheint in diesen Novellen regelmäßig derb karikiert. Er beherrscht seine Bewegungen nicht – wie ein Spastiker, er spricht nur in hysterisch überdrehtem Tonfall, wirkt lächerlich und krankhaft. Ein totaler Gegensatz zu dem sich kaum bewegenden, mit der Monumentalität eines Denkmals ausgestatteten Stalin, der lange schweigt, um dann die Szene mit einer aphoristischen Pointe zu beenden: als kluger Sieger. In Michail Tschiaurelis Padenije Berlina (Der Fall von Berlin, 1949) beißt Hitler zwar nicht in den Teppich, doch kaut er unentwegt an seinen Fingernägeln, was ihm die Bemerkung von Eva Braun einträgt: „Mussolinis Nägel sehen viel besser aus …“
Für die meisten Filme der ersten Kriegsperiode sind Schematismus und Vereinfachung kennzeichnend, sie leiden an einer auffälligen Grobheit der gewählten Ausdrucksmittel und schockieren durch naturalistische Darstellung der Gewalt. In Ona saschtschischtschajet rodinu (Sie verteidigt die Heimat, 1943, Friedrich Ermler) wird ein dreijähriger Junge vom Panzer zermalmt, in Raduga (Regenbogen, 1943, Mark Donskoj) erschießt der deutsche Kommandant einen gerade geborenen Säugling vor den Augen seiner Mutter.
Was beim Vergleich der Filme aus den 1930er und 1940er Jahren sofort auffällt, ist das Antlitz der deutschen Helden und die Schauspielerwahl: Wenn deutsche Arbeiter bislang von schönen, kräftigen, blonden Athleten gespielt wurden – breites Lächeln, offenes Gesicht mit regelmäßigen Zügen (Boris Liwanow) –, so werden die Faschisten nun von Darstellern verkörpert, die bis dato nur negative Rollen gespielt haben (Michail Astangow oder Sergej Martinson) und dem Zuschauer als Spione, Saboteure oder innere Feinde geläufig sind. Ab 1941 werden die Deutschen plötzlich dünn, schwarzhaarig, etwas krumm und gebeugt. Die Gesichter wirken spitz und verschlossen, als habe das Bild einer Nation binnen zwei Jahren eine unwahrscheinliche Wandlung durchgemacht.
Trotzdem bleibt die Gogolsche Formel „Rationalität als Wahnsinn“ erhalten. Eine satirische Replik auf den logischen Wahnsinn des Deutschen liefert der Komödienregisseur Iwan Pyrjew, indem er 1942 einen ersten Partisanen-Actionfilm Sekretar raikoma (Der Sekretär des Rayonkomitees) inszeniert. Der deutsche Offizier stellt einen gefangenen russischen Partisanen vor die Alternative: Tod oder zwei Kühe, eine Frau, ein Haus, ein Pferd, ein Leben. Die Rechnung ist logisch und die Entscheidung für den Deutschen eindeutig. Im Dialog werden mehrmals die Zahlen durchgegangen: ein Pferd, zwei Kühe, ein Haus, ein Leben – oder den Tod. Die Entscheidung des Russen zu sterben ist für den Deutschen nicht nachvollziehbar. Dem russischen Zuschauer aber verrät die Zahlenlogik des Deutschen dessen völliges Unverständnis darüber, worum es hier eigentlich geht.
Davor hatte Alexander Newskivon Sergej Eisenstein (1938) die Gogolsche Vision des Deutschen aus der Sicht des Russen hochgeholt, vielleicht zum ersten Mal im Film. Wieder geht es um Rationalität als Wahnsinn. Der Film baut auf den einfachen Kontrast zwischen dem Lebendigen (= Russischen) und dem Toten (= Deutschen). Der Kontrast wird als visuelles und akustisches Zeichen gefestigt. Die warmen Stimmen der russischen Frauen singen ein melodisches Lied, das deutsche Horn dagegen gibt disharmonische, schrille und finstere Klänge von sich. Auf der russischen Fahne des Fürsten ist die Sonne zu sehen, auf der deutschen – das (Toten)Kreuz. Doch den prägendsten Kontrast bilden die Körper: Bei den Russen ist es sinnliches Fleisch, seine Fülle, seine Verwundbarkeit. Bei den Deutschen ist der Körper durch ein perfekt geschmiedetes Eisen ersetzt und das Gesicht durch die eiserne Maske. Das ist kein Mensch, sondern ein durchdachtes, gut organisiertes Instrument des Krieges, kein Einzelkörper, sondern eine zielsichere Todesmaschine, die in ihrer Perfektion Sieger sein muss. Auch der Rhythmus ihrer Musik ist mathematisch genau. Doch gerade diese durchgerechnete Mechanik, die perfekte strahlende (die Farbe der Teutonen ist weiß) Rationalität zieht die deutsche Armee in den Tod. Die gut gebaute Todesmaschine kann nichts gegen das Leben ausrichten, weil sie eine Maschine ist. Sie geht in der russischen Naturgewalt ganz profan unter: im Wasser. Ihre eiserne Logik entpuppt sich als Wahnsinn.
Major Stierlitz
Der Bruch (und Durchbruch für den Deutschen) kommt allerdings viel später, in den 1970er Jahren mit Semnadzat mgnoweni wesny (Siebzehn Augenblicke des Frühlings, 1973, von Tamara Lijosnowa). Ein sowjetischer Kundschafter, getarnt als Major Stierlitz, dargestellt von Wjatscheslaw Tichonow, steht ganz oben in der Diensthierarchie, ist befreundet mit der nächsten Umgebung des Führers (Bormann, Kaltenbrunner, Ribbentrop etc.). Und eben diese Hitler-Umgebung erscheint zum ersten Mal auf der Leinwand, das heißt auf dem Fernsehbildschirm, dargestellt als ein Kreis normaler, ja durchaus intelligenter Menschen in gut sitzenden Uniformen. Es löst eine Schockwirkung aus. Lehrer schreiben Briefe an das Zentrale Sowjetische Fernsehen und ermahnen die Filmemacher, sie würden die gesamte ideologische Erziehung untergraben, wenn sie Faschisten als kluge sympathische Menschen darstellen.
Dicke deutsche Kapitalisten
Viel später erreichen den sowjetischen Film die dicken westdeutschen Kapitalisten. Sie haben in den kitschigen Perestroika-Aufschwung-Geschichten irgendwo im Land irgendwas investiert, sich in russische Blondinen verliebt und so für die Völkerfreundschaft gesorgt (Den ljubwi, Tag der Liebe, 1989).
Sie werden liebevoll behandelt, doch ihr Zahlenfetischismus sorgt stets für Lacher. Ein deutscher Geschäftsmann, der seinem russischen Partner vorrechnet, wie unwirtschaftlich dieser seine Geschäfte macht, geht aus dem Dialog als kleinlicher Verlierer hervor. Er kann zwar mit Zahlen umgehen, hat jedoch kein Format, keinen Maßstab und tritt deshalb stets daneben.
Der Russe im deutschen Film
„Zwei kennzeichnende Züge hat angeblich der Russe. Erstens: er ist weich, fühlsam. Zweitens: er ist radikal. Es ließe sich dilettantisch-dogmatisch äußern: erstens – ein Slawe; zweitens – ein Tatar. […] Also diese zwei Gegensätze (das Einfühlsame, zweitens das Radikale) sind hier verschmolzen“,3 so schreibt Alfred Kerr 1927 in dem Aufsatz Russenfilm.
Die Russenfilme der 1920er Jahre4, gedreht von den Deutschen oder russischen Emigranten, bringen einen Hauch unheimlicher Leidenschaft in das deutsche Kleinbürger-Melodram ein und fügen sich in das expressionistische Weltbild (unbeherrschbares Chaos, Tyrannen, Triebhelden) – allerdings mit einem Unterschied: Ihre Hysterie wird als Naturell dargestellt, nicht als künstlerische Überhöhung. Sie braucht weder die mystische Motivierung noch das Milieu der Wahnsinnigen oder Vampire als Erklärung.
Der Russe wird in seinem Naturell als ein geborener Filmschauspieler gesehen. „Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren“, schreibt ein anonymer Autor 1927, „dass das russische Volk seit Jahrhunderten auf dieses Ausdrucksmittel seiner Seele gewartet, dass es sich nun seiner mit einem Fanatismus bemächtigt hat“, um seine Ekstase und Leidenschaft wie „riesige Granitblöcke“ auf Filmmaterial fixieren zu lassen.5 Auch die konkrete historische Situation verlangt russischen Emigranten die Fähigkeit ab, sich dem Schicksalswechsel anzupassen, soziale Rollen und Gesichter wie Masken zu wechseln: So wird der Aristokrat zum Kellner, der Offizier zum Taxifahrer, werden der Grand Duke und die Prinzessin zu Filmkomparsen – etwa in Die Dame mit der Maske (Wilhelm Thiele, 1927), Anastasia, die falsche Zarentochter (1928) von Arthur Bergen.
Brutalität, Naturalismus und große visuelle Effekte
Ein Beispiel für die wilden Phantasien der Europäer über das Reich der zivilisierten Barbaren und heiligen Wunder ist Michel Strogoff (Kurier des Zaren,1927) von Viktor Tourjansky, nach dem Roman von Jules Verne. Der Held muss allerhand Hindernisse bezwingen: wilde Tiere (er beschützt das zarte Mädchen vor durchgegangenen Pferden und Bären im Wald), Naturgewalten (Gewitter) und wilde Menschen (Tataren), ganz abgesehen von den Weiten Sibiriens.
Seine Feinde, Tataren, sehen mal wie Türken aus, mal tragen sie usbekische Kleidung. In ihrer Funktion ersetzen sie Indianer. Taiga und Steppe erscheinen ohnehin wie der Wilde Westen, und die Tataren fesseln dort den Telegraphisten wie in einem amerikanischen Western. Sie entfalten muslimische Fahnen, dann veranstalten sie buddhistische Zeremonien, die unmittelbar von „Zigeunertänzen“ und Harem-Schönheiten abgelöst werden. Brutalität, Naturalismus und große visuelle Effekte (sogar ein brennender Fluss bei Nacht) vervollständigen diesen perfekten ausländischen „Russenfilm“.
In den 1930er Jahren verändert sich das Bild der Russen: aus Verwunderung wird Feindseligkeit. „Bei den Russen herrschte Armut und Schmutz, bei den Deutschen Ordnung und Sauberkeit“ steht in den Erdkunde-Lehrbüchern des Dritten Reichs.6 Dies bebildert Friesennot (Dorf im roten Sturm, 1935, von Willi Krause alias Peter Hagen). Die unheimlichen roten Reiter erreichen das idyllische Dorf der Wolga-Deutschen. Sie sind verschlagen und hinterhältig, morden, vergewaltigen Mädchen, klauen Würste, verwüsten die Kirche und glauben an nichts, auch nicht an Gott. Sie besaufen sich unter dem gekreuzigten Christus und parodieren die Messe. Der Film endet mit einem Massaker: Die zutraulichen frommen Deutschen vernichten die roten Teufel, zünden deren Häuser an und machen sich auf die Suche nach einer neuen Heimat.
Doch nicht nur „rote“ Sadisten und „braune“ Ungeheuer erscheinen auf der Leinwand – aus den Figuren der Fremden werden auch Unterhaltungsmomente gewonnen. Der „liebe“ Deutsche erscheint als kauziger Musiklehrer in Lustige Burschen (Weselyje rebjata/Die lustigen Burschen von Alexandrow, 1934), der nette Russe als ein sentimentaler, singender „Tatar“ – wie Hans Albers in Savoy Hotel 217 (Gustav von Ucicky, 1936). Über Musik – Kosakenchöre, Balalaika-Klänge, Glinka-Romanzen – werden die Feindbilder gemildert. 1939 besetzt die UFA einen Film über Pjotr Tschaikowski mit ihren größten Stars – Zarah Leander und Marika Rökk: Es war eine rauschende Ballnacht, ein Riesenerfolg. 1940 wird Puschkins Postmeister verfilmt und ab Juni 1941 in den besetzten Ostgebieten gespielt, zusammen mit speziell produzierten Agitationsfilmen über das Sowjet-Paradies.
Erstaunlicherweise findet man in westdeutschen Kalter-Krieg-Filmen kaum Russen. Sie erscheinen in der Burleske Genosse Münchhausen (1961) von Wolfgang Neuss. Jetzt wird die Zerrissenheit der Seele satirisch ausgespielt, nicht als nationale Eigenschaft begriffen, sondern als ideologische Heuchelei: Mörderisch ist die trockene, kaum nachvollziehbare Ideologie, der sich die Russen mit militärischer Disziplin beugen, einfühlsam sind sie in biologischen Äußerungen wie Hunger und Sex (sympathische Barbaren, Naturmenschen). Radikal sind sie in der Seriosität absurdester Behauptungen: Die Reise nach Sylt, in die Utopia Kapitalia, wo ihr kaputtes Raumschiff landet, wird als authentische Venuslandung beschrieben.
Deserteure, Mafiosi und Philosophen
Nach der Wiedervereinigung zieht sich die Sowjetarmee aus Deutschland zurück, und auch das Bild des Russen im deutschen Film ändert sich: Ein sympathischer Deserteur taucht in einer deutschen Komödie auf, wenn auch mit Maschinenpistolen, doch unwahrscheinlich blauäugig: Wir können auch anders (1993, von Detlef Buck). Die deutschen Mädchen sind bereit, dem Charme seines zärtlichen Blicks zu verfallen. Wie auch die deutschen Jungs in Good Bye, Lenin (2003) oder Du bist nicht allein (2007) im Westen wie im Osten Deutschlands. Maxim Dessau siedelte diese Geschichte sogar in das Jahr 1943 um, in das schwarzweiße Retrogramm über eine Liebe in Deutschland, zwischen einem Kriegsgefangenen und einer mecklenburgischen Bäuerin: Erster Verlust. Nur der vollends besiegte ehemalige Feind wird in Love-Stories plötzlich zum geeigneten Helden. Ganz normal und ohne Wahn.
In Fernsehkrimis dagegen agieren die alten bösen Russen, die skrupellosen Mafiosi. Oder die unschuldig schuldigen naiven Mädchen, die zur Prostitution gezwungen und von einem blonden deutschen Polizisten gerettet werden (Im Angesicht des Verbrechens, 2010). Hier kann die Liebesgeschichte wieder beginnen.
Auch die aktuellen russischen Filme korrigieren die Bilder von den Deutschen. Nun sind sie wieder Dichter und Philosophen aus dem Land von E.T.A. Hoffmann und Schiller, das mit Russland die tragische historische Erfahrung der Diktatur teilt, sei es ein Ingenieur (Lieber Hans, bester Pjotr, 2015), ein romantisch verliebter SS-Offizier im Todeslager (Paradies, 2016) oder eine in der Taiga, weit vom Terror aufgewachsene, zarte Elsa (Kraj – Am Ende der Welt, 2010).
Diese Entwicklung haben mehrere Filme eingeleitet, darunter: Vladimir Petrovs Fritz Bauer (1930), Il’ja Traubergs Dlja vas naidёtsja rabota (Sie finden hier Arbeit, 1932), Pavel Paškovs Solnze voschodit na zapade (Die Sonne geht im Westen auf, 1932), Pёtr Kirillovs Utirajte slёsy (Wischt die Tränen ab, 1932), Pudovkins Desertir (Der Deserteur, 1933), Ivan Pyrёvs Konveer smerti (Fließband des Todes, nach einem Drehbuch von Michail Romm und Viktor Gusev, 1933), Vladimir Nemol’jajevs Kar’era Rudi (Rudis Karriere, 1934) und Margarita Barskajas Rvanye Bašmaki (Die zerrissenen Stiefel, 1933) leiteten diese Entwicklung ein ↩︎
Dazu gehörten: Borzy (Kämpfer, 1936, Buch und Regie: Gustav von Wangenheim), Borba prodolžaetsja (Der Kampf geht weiter, 1939, Buch: Friedrich Wolf, Regie: Vasilij Žuravlёv), Bolotnyj soldaty (Die Moorsoldaten, 1938, Buch: Jurij Oleša und Aleksandr Mačeret, Regie: Mačeret), Professor Mamlock (1938, nach Friedrich Wolf, Regie: Adolf Minkin und der aus Deutschland kommende Österreicher Herbert Rappoport), Sem’ja Oppengejm (Die Familie Oppenheim, 1939, nach Lion Feuchtwanger, Buch und Regie: Grigorij Rošal, Beratung: Hans Rodenberg). Auch Erwin Piscators Vosstanie rybakov (Aufstand der Fischer, 1934) und Mečislava Maevskajas und Aleksej Masljukovs Karl Brunner (1936). Das Drehbuch zu Letzterem hatte der in die Sowjetunion emigrierte ungarische Regisseur Béla Balázs nach seinem Kinderbuch Karlchen, durchhalten! geschrieben ↩︎
Kerr, Alfred (1927): Russische Filmkunst, S. 11 ↩︎
Raskolnikow, inszeniert 1923 von Robert Wiene, dem Caligari-Regisseur; Pique Dame (1918 von Arthur Wellin mit Alexander Moissi) und Die Hauptmannstochter/Еmel’ka Pugačev (1922), Der zweite Schuss (1923 von Maurice Kroll) nach Puškin; Der lebende Leichnam (1918 von Richard Oswald und 1922 von Rudolf Walter-Fein, 1929 von Fёdor Ocep), Anna Karenina (1920), Kreutzersonate (1922), Auferstehung (1923, alle von Friedrich Zelnik) und Macht der Finsternis (1923 von Conrad Wiene) nach Lev Tolstoj, und immer wieder Dostoevskij: Erniedrigte und Beleidigte (1922, von Zelnik), Die Brüder Karamasoff (1920, von Carl Froelich, 1931 von Fёdor Ocep und Der Idiot/Irrende Seelen (1921) ebenfalls von Carl Froelich mit Asta Nielsen) ↩︎
W. A. (1927): Russische Filmkunst, in: Das Magazin des Phoebus-Theaters, März 1927, Heft 31, S.6 ↩︎
Von deutscher Art: Ein Lesebuch für Mädchen, Paderborn 1930, zitiert nach Volkmann, Hans-Erich (1994, Hrsg.): Das Rußlandbild im Dritten Reich, S. 229 ↩︎
Sergej Eisenstein (1898–1948) wird oft der Leonardo da Vinci des 20. Jahrhunderts genannt – der Filmregisseur, der ein brillanter Zeichner, Kostüm- und Bühnenbildner, zugleich Schriftsteller und Theoretiker war.1
Sein Leben ist fast eine Metapher für das Schicksal eines Künstlers im 20. Jahrhundert – mit allen Wendungen, Verführungen und Konflikten: zwischen dem großbürgerlichen Elternhaus und dem existentiellen Modell eines Avantgardekünstlers; zwischen dem Avantgardisten und dem proletarischen Publikum, in dessen Namen er zu sprechen glaubt und das ihm nicht folgen kann.
Als sowjetischer Linker traf er auf die westeuropäische Bohème und die Maschine Hollywood. In Mexiko drehte er einen Film, den man heute indie nennen würde, finanziert von Upton Sinclair und einigen kalifornischen Millionären, die anonym bleiben wollen. Er hätte im Exil bleiben oder – wie seine Freunde Isaak Babel und Wsewolod Meyerhold – durch ein Sondergericht zur Erschießung verurteilt werden können. Er lernte jedoch, unter Stalin zu leben und mit ihm – zwischen Verboten, Verlockungen, Erpressung, Angst und Anpassung.
Stalinist? Opportunist? Dissident? – Der schillernde Regisseur Sergej Eisenstein gibt bis heute viele Rätsel auf
Die Rezeption dieses zum Klassiker gewordenen Umstürzlers war keineswegs eindeutig. Zu Zeiten der Wiederentdeckung sowjetischer Avantgardekunst wird Eisenstein im Westen von der Generation der 1968er als linker Künstler gefeiert. In seiner Heimat dagegen erblickt die gleiche Generation – nach dem XX. Parteitag – in ihm einen Konformisten. Eisenstein habe, genauso wie die Futuristen in Italien, den Faschismus gefeiert und gestützt, er habe der Stalinzeit ein pathetisches und daher fragwürdiges Monument gesetzt – eine Meinung, die Alexander Solschenizyn einem seiner Protagonisten in den Mund legt. Russische Intellektuelle von heute interpretieren die oft deklarierte Absicht Eisensteins, das Bewusstsein mittels Kunst beeinflussen zu wollen und deren Wirkung zu programmieren, als eine totalitäre Poetik: Die Kunst habe die Gewalt des Staates genährt.
Biographie als Erziehungsroman
Eisensteins Biographie lässt sich bequem in einem soliden Roman unterbringen. Eine bürgerliche Familie zerbricht an der Tyrannei des Vaters und den neurotischen Liebesabenteuern der Mutter. Der Weg des einzigen Sohnes (geb. 10. (22.) Januar 1898 in Riga) steht schon vor der Geburt fest: Er soll – wie der Vater – Architekt werden. Die Revolution 1917 kommt dazwischen, bringt seinen Vater um den Generalsrang und seine Mutter um das Vermögen, ihm gibt sie die Freiheit, selbst zu bestimmen – entgegen der Erwartung von papa, den die Revolution ins Exil treibt. So empfindet sie der Sohn als seine persönliche Befreiung und wird Regisseur.
Mit 27 wird er mit seinem zweiten Film Der Panzerkreuzer Potemkin (1925) als Revolutionskünstler weltberühmt. In Oktober oder 10 Tage, die die Welt erschütterten stellt er die Oktoberrevolution nach – beeindruckender, als sie war. Nachdem er mit seinen experimentellen Drehbüchern in Hollywood scheitert, lässt er sich auf ein Abenteuer ein – einen Film in Mexiko zu drehen, den er allerdings nicht beendet. Er wird von Stalin zurückgerufen, und doch kann er fünf Jahre lang keinen Film machen. Zwei seiner Filme werden verboten, zwei mit Preisen, Orden und hohen Honoraren belohnt. Er stirbt mit 50 in Moskau als gefeierter, doch verbotener Akademiker.
Eisenstein wollte all seinen Biographen zuvorkommen. Bereits 1927 beschloss er, unter dem Eindruck von Freuds Essay über Leonardo da Vinci, eine psychoanalytische Studie über sich selbst zu schreiben; er nannte sie My Art in Life. In den erst Jahre später (1943) begonnenen autobiographischen Aufzeichnungen2 verwandelte er sich in eine literarische Figur aus einem alten Erziehungsroman, welchen er allerdings in der neuen Stilistik des „automatischen Schreibens“ verfasste.
War er ein Homosexueller? Ein Stalinist? Opportunist? Dissident? Darauf gibt Eisenstein in seinen Biographien keine Antwort. So ist es auch kein Wunder, dass in den letzten Jahren weniger Eisensteins Filme oder Schriften das Interesse für ihn anheizten, sondern die Figur des Künstlers selbst. Ihn haben sowohl die Kämpfer gegen den Totalitarismus als auch LGBT-Aktivisten oder Hüter der jüdischen Kultur, zu er sich nicht zählte, für sich vereinnahmt. Es ist ebenso kein Wunder, dass es mehrere Versuche gab, das Leben Eisensteins zu „verfilmen“. Selten jedoch wurde er zu einer tragischen oder pathetischen Figur gemacht, eher zum Helden eines Melodramas mit Slapstickeinlagen.3
Körperlichkeit und Bisexualität
All diese Versuche, Eisenstein in eine Fiktion zu pressen, geraten – unverdient – traditionell, wie auch die Darstellung seiner Körperlichkeit, die für den realen Eisenstein eine andere Dimension hatte. Die Theorie war in seinem Verständnis durch und durch körperlich bestimmt – als Erlebnis von Bisexualität, die für ihn eine Voraussetzung für dialektisches Denken war: „Überhaupt ist ein Genie ein Mensch, der die dialektische Entwicklung des Universums fühlt, der sich in sie einfügen kann. Bisexualität als eine physiologische Voraussetzung muss bei allen creative dialectics vorhanden sein.“4
Während Eisenstein diese Gedanken in seinem mexikanischen Tagebuch notiert, schreibt er auch einen Brief an Magnus Hirschfeld und fragt ihn nach Belegen für Hegels Bisexualität.5 Das war exakt der Rahmen, in dem er sich sah. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.6
Vor seiner Sexualität hatte er Angst. Er verdrängte sie in erotischen Zeichnungen und Scherzen, aber auch in seinen Filmen, die er allerdings nicht als Sublimierung der Erotik, sondern des eigenen Sadismus verstand. Er sah sich als ein Kind, dessen Brutalität durch emotionale Unreife und sexuelle Verklemmtheit entstand. In seiner Kunst – sie war für ihn die einzige Realität und Notwendigkeit – traf er die wunden Punkte des Jahrhunderts: Gewalt und Massenmord, die Erotik der Masse und der von ihr eroberte Raum, Zersplitterung der Wahrnehmung und Sehnsucht nach verlorener Totalität.
Terror, Revolution und Massaker an den Massen
Eisenstein verstand Film als eine Form der Gewaltausübung über den Zuschauer. Nicht nur hinsichtlich des direkten Zeigens von kalkulierten Schockmomenten mit Blut. Von seinen leidenschaftlichen, brutalen, exzentrischen, sensiblen, propagandistischen, experimentellen Filmen waren Douglas Fairbanks und Antonin Artaud, Chaplin und Le Corbusier, die Dadaisten, Psychoanalytiker und Berufsrevolutionäre begeistert. Diese Filme machten Terror, Revolution, die Massaker an den Massen zum Sujet des neuen russischen Films.
Nach der Premiere von Panzerkreuzer Potemkin in Berlin wurde der russische Montagefilm zu einer Mode in Europa und Eisenstein zu seinem berühmtesten Vertreter, zum Theoretiker der neuen Expressivität. Dieser Film transportierte ein neues Filmverständnis, ein anderes Russlandbild und einen anderen Heldentyp. Die Revolution war mit Gewalt verbunden. Mit dieser Gewalt – Pogrom, Zerstörung, Aufstand und Massenvernichtung – setzten sich Eisensteins Filme auseinander. Dabei atmeten ihre apokalyptischen Bilder eine Euphorie des Neuanfangs, und diese wirkte ansteckend. Die neue Ästhetik verblüffte, ihre hypnotische Wirkung konnte nicht gleich eingeordnet werden.
Zwei kennzeichnende Züge
Im Westen gab es unterschiedliche Interpretationsversuche. Die Eigenart des neuen „Russenfilms“ erklärte der Kritiker Alfred Kerr aus Gegensätzen, die in der nationalen Mentalität verankert seien und diese würde durch die geopolitische Grenzlage Russlands – zwischen Europa und Asien, zwischen Zivilisation und Barbarei – bestimmt. „Zwei kennzeichnende Züge hat angeblich der Russe. Erstens: er ist weich; fühlsam. Zweitens: er ist radikal. Es ließe sich dilettantisch-dogmatisch äußern: erstens – ein Slawe; zweitens – ein Tatar. […] Also diese zwei Gegensätze (das Einfühlsame, zweitens das Radikale) sind hier verschmolzen.“7 Die besondere Montagetechnik des Panzerkreuzers Potemkin, die mit der Konfrontation gegensätzlicher Bilder arbeitete, wurde deshalb als eine „russische“ bezeichnet.
Eisenstein jedoch nannte sie nicht russisch, sondern dialektisch. Oskar A. H. Schmitz maß den Film an bürgerlichen Romanen und sprach ihm künstlerische Qualitäten ab, da hier das Individuelle total fehle. Wogegen Walter Benjamin in seiner Erwiderung den überraschendsten und treffendsten Vergleich mit dem amerikanischen Slapstick, dem „Groteskfilm“, anbot: Dieser habe genauso wie Potemkin eine neue Formel gefunden, die den Fortschritt der Kunst markiere – im Gleichschritt mit der Revolution der Technik.8
Die Bewusstwerdung dieser Tatsache und der von Eisenstein reflektierte Zusammenhang zwischen Raum und kollektivem Schicksal, wie er für das 20. Jahrhundert bestimmend wurde, hoben den Film heraus aus dem alten Verständnis, was Kunst war, was Film konnte und was die „russische Seele“ ausmachte.Die Montage intensivierte nicht nur die Bewegung, sie entblößte den Mechanismus des Wirkens der sozialen Maschine.
Damit entwickelte sich Film zu jenem Medium, über das eine Totalität der Sicht auf die Entwicklung der Gesellschaft und der Geschichte erreicht werden konnte. Diese Entdeckung war nicht nur für das neue russische Kino wichtig. Allerdings mit einer Korrektur. Die Gewalt wanderte ins Genrekino ab, wurde ästhetisiert und von der Historie getrennt: Film war ein aggressives Aufputschmittel, doch, anders als bei Eisenstein, von jeder Dialektik befreit.
Klejman, Naum/Korschunowa, Walentina (1984): Eisenstein, Sergej : Yo – Ich, Band 1-2, Berlin ↩︎
Darin ähnelte sich der Ansatz des russischen Regisseurs Gennadi Poloka (Die Rückkehr des Panzerkreuzers, 1996) und dem des kanadischen Regisseurs Renny Bartlett (Eisenstein, 2000). Auch Peter Greenaway verfiel in Muster des herzzerreißenden Melodramas über Liebe und Pflicht (Eisenstein in Guanajuato, 2015), in dessen Zentrum Eisensteins ‚Entjungferung‘ in Mexiko steht. Daraus ist das kitschige Werk eines älteren Mannes geworden, auch wenn der Film mit seiner popartigen Stilistik wie eine Anbiederung beim jüngeren Publikum wirkt. Zu aufwühlender Musik verlässt Eisenstein mit Tränen in den Augen Mexiko und gibt seinen verführerischen mexikanischen Liebhaber dessen Frau und Kindern großzügig zurück, was wenig mit Eisensteins Biografie zu tun hat; dieser ging nach Moskau, weil Stalin ihn zurückbeorderte oder sonst verstoßen hätte. ↩︎
Russisches Archiv für Literatur und Kunst: Tagebuch, 10. März – 22. August 1931, Blatt 138-139 ↩︎
Bulgakowa, Oksana (1998): Eisenstein und Deutschland, Berlin, S. 96-97 ↩︎
In diesem Kontext ist die Arbeit von Alexander Kluge Nachrichten aus der ideologischen Antike: Marx – Eisenstein – Das Kapital (2008), der sich von Eisensteins Idee, [gnose-6407]Karl Marx‘[/gnose] Kapital zu verfilmen, inspirieren ließ, als Versuch einer heroischen Rehabilitation des intellektuellen Elements in Eisenstein gegenüber dem körperlichen zu sehen. ↩︎
Kerr, Alfred (1927): Der Russenfilm, Berlin, S. 14 ↩︎
Mierau, Fritz (1990): Russen in Berlin. Literatur, Malerei, Theater, Film 1918-1933, Leipzig, S. 515-524 ↩︎
Dieser Film hat das Ziel, die Welt zu erschüttern, zum zweiten Mal nach dem Oktoberaufstand: Im September 1926 beschloss eine Kommission des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei unter dem Vorsitz von Michail Kalinin und Nikolaj Podwoiski, dass zum zehnten Jubiläum der Oktoberrevolution ein solcher „zentraler Film“ gedreht werden solle. Der einzige Regisseur, der hierfür in Frage kam, war Sergej Eisenstein (1898–1948). Das Drehbuch, an dem er ab Januar 1927 arbeitete, wurde mehrmals kritisch diskutiert und verändert. Als Eisenstein von einem amerikanischen Korrespondenten gefragt wurde, wer das Buch zu seinem Oktoberfilm schreibe, antwortete er, ohne mit der Wimper zu zucken: „Die Partei.“1
Der eigentliche Film Oktober entstand aber nach den Dreharbeiten am Schneidetisch von Eisenstein: Hier wurde die Dramaturgie bestimmt, die nicht historische Anekdoten, sondern das dialektische Denken visualisierte. 1917 wurde der Winterpalast politisch erobert. Eisenstein sollte die ästhetische Einnahme dieser Zitadelle der Macht vollenden.2
Unmittelbar nach der Abnahme des Drehbuches Anfang März 1927, brach der Drehstab nach Leningrad auf. In Begleitung der damaligen Kommandeure des Oktober-Aufstandes, Nikolaj Podwoiski und Wladimir Antonow-Owsejenko, besuchte man die Originalschauplätze. Schon im April begannen die Dreharbeiten.
Revolution als heilige Geschichte
Oktober war eine Mammutproduktion. Erwartet wurde, dass der Film die Welt genauso erschüttert wie der Oktoberaufstand es zehn Jahre zuvor auch getan hatte. Das Budget überstieg das eines sowjetischen Durchschnittsfilms um das 20fache. Cecil DeMilles Superproduktion jener Zeit, Die zehn Gebote (1923), war der Film, mit dem Eisenstein sein Projekt zu vergleichen wünschte. Konnte in Hollywood als Sujet für solche Unternehmungen nur die Bibel herhalten, so war es in der Sowjetunion der 1920er Jahre die Revolution, wobei ihrem Anführer Lenin die Rolle des Erlösers zukam.
Eisenstein rechnete mit 50.000 bis 60.000 Statisten. Um riesige Menschenmassen vor die Kamera zu bekommen, drehte Eisenstein die Maidemonstration von 1927 als Julidemonstration von 1917 – mit 6000 Menschen. Nur die Losungen wurden ausgetauscht, und Eisenstein choreografierte die Demonstration nach historischen Fotos.
Die Bevölkerung der Stadt bewunderte unter der Bewachung berittener Miliz das Geschehen als ein grandioses Spektakel. Als das Team tagsüber die Szenen der aufgezogenen Brücke in Leningrad drehte, legte es damit den Verkehr lahm. Diese Aufnahmen begleiteten viele witzelnde Feuilletons in den Zeitungen: Ein Banküberfall sei offiziell als Filmdreh ausgegeben worden, damit keine unangenehmen Fragen aufkommen.
Kanon aller späteren Darstellungen
Vom 13. Juni an wurde zehn Tage lang die zentrale Episode des Oktober-Aufstandes, die Erstürmung des Winterpalastes, gedreht. Für diese Szenen wurde nichts gebaut – Eisenstein durfte am Originalschauplatz filmen. 90 Scheinwerfer machten die Nacht zum Tage, dafür wurde in der ganzen Stadt das Licht abgeschaltet, um die nötige Amperestärke zu garantieren. Die Aufnahmen wurden wie Kriegshandlungen an der Front – unter Beteiligung der Armee – organisiert und durchgeführt. 5000 Statisten kamen Abend für Abend auf Befehl des Stadtparteikomitees zum Drehort. Die Kameras standen auf Dächern und Säulen oder hingen über Toreinfahrten. Die Assistenten waren auf Motorrädern unterwegs, während Eisenstein das Massenballett mit dem Megaphon dirigierte.
Dabei waren die Aufnahmen für die historischen Gebäude nicht ungefährlich – zu viel Licht, zu wenig Brandschutz. Noch lange nach Fertigstellung des Films lästerte man, der reale Aufstand hätte bei weitem nicht so viel Schaden angerichtet wie die Dreharbeiten.
Obwohl Podwoiski, der den realen Aufstand angeführt hatte, Eisenstein jeden Tag am Drehort beriet, ließ der Regisseur die Arbeiterbrigaden anders als in der historischen Wirklichkeit nicht über den Seiteneingang, sondern durch das Hauptportal den Palast erstürmen. Diese Erfindung wurde zum Kanon aller späteren Darstellungen: Eisensteins Filmeinstellungen zierten als „historische Fotos“ viele Jahre die Revolutionsmuseen im ganzen Land.
Perversität der Dinge
In seinem Tagebuch notierte Eisenstein: „Das Winterpalais ist für mich Exotik. Wie ein Kaufhaus. Ein Schlafzimmer: 300 Ikonen und 200 Porzellan-Ostereier. Ein Schlafzimmer, das kein Zeitgenosse psychisch ertragen könnte.“3 Das Palais wirkte wie der Fundus eines Filmstudios, wie ein Museum der Vergangenheit. Eisenstein entdeckte die Absurdität der Macht in der Perversität der von ihr eroberten Dinge. Mit ihnen ließe sich die Revolution gestalten, die zur Befreiung von dieser absurden Welt führte.
Beim Drehen mit Doppelgängern der historischen Figuren, kam Eisenstein die Idee eines zutiefst symbolischen Films
Beim Drehen an den Originalschauplätzen, mit Doppelgängern4 der historischen Figuren und mit deren tatsächlichen Beratern, die den Winterpalast zehn Jahre zuvor erobert hatten, kam Eisenstein mehr und mehr die Idee eines zutiefst symbolischen Films, der jede Art von Symbolik als lächerlichen Fetischismus zerstören musste. Jeder Vorgang wurde als eine metaphorische Handlung begriffen und auch so inszeniert. Nicht die Provisorische Regierung, die seit Juli 1917 im Winterpalast residierte, sondern die leeren Mäntel machtloser Minister wurden im Film verhaftet. Zwei Matrosen durchbohrten mit ihren Bajonetten das Bett im Schlafgemach der Zarin. Damit ließ Eisenstein die Soldaten den Winterpalast wie eine Frau gewaltsam erobern.
Im Rausch der Aufputschmittel
Am 12. September waren die Dreharbeiten in Leningrad vollendet. Nun saß Eisenstein im Schneideraum und sollte aus 49.000 Metern belichteten Materials einen 2000 Meter langen Film montieren. Der Film und seine Dramaturgie entstanden letztendlich erst am Schneidetisch. Eisenstein sah seine Mission nicht darin, die historischen Fakten abzubilden, sondern in der Visualisierung des dialektischen Denkens. Seiner Filmtheorie, die in dieser Zeit entstand, gab er die Bezeichnung „intellektueller Film“.
Um die pausenlose Tag- und Nachtarbeit durchzustehen, bekam Eisenstein Aufputschmittel verabreicht. Doch die Allmacht schlug bald in körperliche Ohnmacht um: Eisenstein arbeitete so viel, dass er zeitweilig erblindete. Die Ärzte diagnostizierten totale Erschöpfung und befahlen ihm Bettruhe in einem vollständig abgedunkelten Zimmer. In dem Aufsatz Unser Oktober schrieb er, zehn Tage hätten ihm gefehlt, um den Film zum zehnten Revolutionsjubiläum komplett fertigzustellen.
„Oktober“ war keine Ikone toter und lebender Heroen der Geschichte
Am Abend des 7. November wurden im Bolschoi-Theater nur Ausschnitte aus dem Film vorgeführt. Doch davor war es zu einem Eklat gekommen: An diesem Morgen ging die Trotzki-Opposition in Moskau und Leningrad auf die Straße. Eisensteins Assistent schrieb später in seinen Erinnerungen, dass Stalin persönlich gegen 16 Uhr in den Schneideraum gekommen sei. Er habe gefragt, ob Trotzki in dem Film zu sehen sei, und ließ sich diese Szenen zeigen. Stalin unterrichte die Anwesenden über die Aktion der Opposition, woraufhin Eisenstein die Episoden mit Trotzki herausschnitt.5 Diese Nachricht ging sofort durch die internationale Presse. Eisenstein sah in dieser Weisung keine Einmischung in die künstlerische Freiheit, doch seine europäischen und amerikanischen Kollegen nahmen ihm das später nicht ab.
Reproduktion gestellter Bilderrätsel
Oktober wurde schließlich erst im März 1928 fertig, und seine öffentliche Rezeption war keineswegs eindeutig. Die Werbekampagne sah vor, den neuen Eisenstein-Film in eine Art Wettrennen mit Varieté zu schicken, dem „durch und durch erotischen bürgerlichen Schlager“ von Ewald André Dupont. Eisenstein ärgerte sich maßlos darüber. Die Zuschauer blieben weg. Bei der Kritik war das Echo geteilt. Erwartet wurde ja ein zweiter PanzerkreuzerPotemkin! Das radikale Experiment, das Eisenstein mit diesem Film wagte, verstand damals kaum einer. Die Kritiker warfen Eisenstein historische Lüge, schwere ideologische Fehler und ein totales künstlerisches Versagen vor und sprachen über eine Reproduktion gestellter Bilderrätsel (Béla Balázs).6 Nur wenige erkannten, dass es sich bei Oktober um etwas absolut und gewollt Neues handelte.
Film über das Ende der Dinge
Oktober, der den Mythos der Oktoberrevolution festigen sollte, war keine Ikone toter und lebender Heroen der Geschichte geworden. Natürlich vermochte Eisenstein einige Massenszenen beeindruckender zu zeigen, als sie vermutlich abgelaufen waren. Doch der eigentliche Kern seines Films lag nicht in der Einführung eines Darstellungskanons für das Initiationsereignis der sowjetischen Geschichte. Er lag in Eisensteins intellektuellen Montage-Spielen, in denen mal transparente, mal dunkle Metaphern oder sogar obszöne visuelle Witze den Geschichtsmythos demontieren: Der Kornilow-Putsch gegen die Provisorische Regierung ist als eine Gegenüberstellung zweier Spielzeug-Napoleons inszeniert, der Umsturz der Macht als Demontage eines aus Pappe und Gips nachgestellten Zarendenkmals. Orden, verliehen „fürs Vaterland“, wachsen zu einem Müllberg wertloser Abzeichen an. Der damalige Chef der Provisorischen Regierung Alexander Kerenski steigt endlos die Treppe der Macht empor, doch als sich ihm die Türen zum Thronsaal öffnen, tritt er – dank Eisensteins Schnitt – in das Hinterteil eines mechanischen Pfaus.
Viktor Schklowski, Eisensteins schärfster Kritiker in jenen Jahren, überschrieb 1928 seine Rezension des Films mit Gründe für den Misserfolg. 50 Jahre später gab er zu, dass er den Film erst als alter Mann verstanden habe. Das geschah, nachdem er in den Westen fahren durfte und dort den Wahnsinn des Konsumzeitalters erlebte. Eisenstein sei ihm mit seinem Oktober weit voraus gewesen, da er keine Nachstellung der Revolutionsereignisse von 1917, sondern einen Film über das Ende der Dinge gedreht habe. Bis heute überwältigt dieses Werk die Imagination der Zuschauer, indem er sie zwingt, im Kino nicht nur zu sehen, sondern auch zu denken.
1.Freeman, Joseph (1930): The Soviet Cinema, in: Voices of October: Art and Literature in Soviet Russia, New York, S. 541
2.Russisches Archiv für Kunst und Literatur, 1923- 2-1105, S.75
3.zit. nach Bulgakowa, Oksana (1998): Sergej Eisenstein: Eine Biographie, Berlin, S. 96-97
4.Eisenstein wollte keine Schauspieler besetzen, sondern Doppelgänger der damaligen Politiker Alexander Kerenski oder Lenin finden. Dafür wurden in den Leningrader Zeitungen Anzeigen aufgegeben.
5.Aleksandrov, Grigorij (1976): Epocha i kino, Moskva, S. 117
6.Balázs, B. (1984): Schriften zum Film, Berlin/DDR, Bd. 2, S. 89
Im Februar 1956 verurteilte Nikita Chruschtschow in einer Geheimsitzung auf dem XX. Parteitag Stalins Herrschaft als eine Zeit des Massenterrors und der Geschichtsfälschung. Der damit eingeleitete Entstalinisierungsprozess wurde weltweit in der metaphorischen Umschreibung Tauwetter bekannt und führte zu radikalen Korrekturen im erstarrten Darstellungskanon. Das kollektive Schicksal, dem sich das Individuum fügte – ein wichtiges Merkmal des sowjetischen Films seit den 1920er Jahren – wurde durch Einzelschicksale verdrängt. Filmhelden bekamen zum ersten Mal das Recht auf eigene Erfahrungen, die sich mit der kollektiven nicht zwingend deckten. Ihre Intimisierung kam im Schwarzweiß eines dokumentarischen Realismus daher, der unmerklich das Objektive durch das Subjektive austauschte.
Initialisiert hat diesen Prozess der bekannteste Film des Tauwetters, Letjat Shurawli (dt. Die Kraniche ziehen, 1957) von Michail Kalatosow, der 1958 in Cannes die Goldene Palme gewann – ein Jahr vor Alain Resnais‘ Hiroshima mon amour, in dem es um eine ähnliche private Aneignung der großen Geschichte ging.1
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Im Gegensatz zum Kanon der sowjetischen Kriegsfilme erscheint in Die Kraniche ziehen statt der gewohnten treuen Kriegsbraut eine untreue – ein keineswegs heroisches Mädchen. Die 18-jährige Veronika liebt den Ingenieur Boris, der sich bei Ausbruch des Krieges als Freiwilliger meldet. In einer Bombennacht gibt sie sich dessen Cousin, dem Pianisten Mark, hin und heiratet ihn, ohne zu wissen, dass Boris an der Front gefallen ist. Ihre Verzweiflung über diesen Entschluss, den sie als Verrat an ihrer Liebe, ja an sich selbst auffasst, treibt sie fast in den Selbstmord. Sie verlässt Mark, arbeitet in einem Lazarett und hofft, jeder Vernunft zum Trotz, dass Boris zurückkehrt. Als im Mai 1945 die ersten Züge mit Frontheimkehrern eintreffen, geht sie, weiß gekleidet wie eine Braut, zum Belarussischen Bahnhof, bleibt jedoch in der jubelnden Menge allein.
Die verunsicherten Kritiker
Kalatosow verfilmte ein Erfolgsstück von Viktor Rosow (Wetschno Shiwije, dt. Die ewig Lebenden), das während des Krieges geschrieben und 1956 am neuen Moskauer Theater Sowremennik (dt. Zeitgenosse) uraufgeführt wurde. Seine Sprengkraft allerdings zeigte das Sujet erst im Film.
Die Darstellung der jungen Tatjana Samoilowa und die starke visuelle Sprache des Films stoßen die hier erwartete Geschichte von Schuld und Reue um: Veronika lebt ihr Leben und nicht das der erwarteten Norm, sie trifft ihre eigene Wahl und wird von den Filmautoren dafür nicht verdammt, sondern poetisiert.
Die einheimische Kritik war zwar von dem Film begeistert, wusste jedoch lange Zeit nicht, wie sie die Heldin interpretieren sollte. Die Fachzeitschrift Iskusstwo kino empfahl den Film als Werk „über die Liebe zum Volk und die Treue zu ihm“ und hoffte, dass er den „Sinn für zivile Heldentaten eröffnen werde“.2 Dem Drehbuchautor Rosow wurden dramaturgische Fehler vorgeworfen, da die Verhaltensweise der Heldin der Logik widerspreche; der jungen Veronika wurde ein Weg „in das große Leben“ der Gemeinschaft gewünscht.3
Untreue Braut statt opferbereites Mädchen
Möglicherweise konnten die damaligen Kritiker und Zuschauer einen Bruch nicht verarbeiten: Die Ambivalenz, die von der Figur der Veronika ausging, wich ab von den angebotenen Typisierungen: untreue Braut, nicht opferbereites Mädchen. Die Rätselhaftigkeit ihrer Individualität stand in krassem Gegensatz zu klar konzipierten Menschen, die auf jede komplizierte Frage eine einfache Antwort wussten. Veronika dagegen blieb sich selbst ein Rätsel. Sie gibt im Film weder die untreue Braut noch die gefallene Frau, weder ein Opfer des Krieges noch eines der Umstände, sondern eine Liebende, deren Glaube an ihr Gefühl stärker ist als der an die Realität.
Das Geheimnisvolle ihrer Individualität wurde durch metaphysische Bande betont, die die Parallelmontage und die Dramaturgie zwischen den Liebenden etablierten: In dem Augenblick, da Veronika sich Mark hingibt, trifft eine zufällige Kugel Boris. In dem Moment, da Veronika sich unter den Zug werfen will, zwingt das Schicksal sie, ein Kind zu retten, das obendrein Boris heißt. Die Dramaturgie des metaphysischen Zufalls widersetzte sich den üblichen Motivierungen.4
Kalatosow baute auf bewusste Wiederholungen und Variationen der Schlüsselszenen, also auf poetische und nicht prosaische Verbindungen. Dreimal kommt die Szene auf der Treppe vor, auf der Veronika und Boris sich nicht voneinander lösen konnten. Später stürzt Veronika im zerbombten Haus dieselbe Treppe empor, um die Tür nicht in ihre Wohnung, sondern in den Abgrund aufzustoßen. In seinem Todestraum läuft Boris dieselbe Treppe hoch, um Veronika oben im Brautkleid zu treffen.
Zweimal begegnet Veronikas Blick dem Zug der Kraniche am Himmel. Ihr Blick von oben wiederholt sich in der Szene des Abschieds, der die Liebenden trennt, und am Ende, als die Menschenmasse die verlorene Veronika in sich aufnimmt.
Die Emanzipation der Gefühle, die Loslösung des Persönlichen vom Allgemeinen, spürten auch die deutschen Kritiker in Ost und West, die den Film zum „individuellsten“ aller Kriegsfilme erklärten.5
Die Subjektivierung der Erfahrung wurde durch die Individualisierung der filmischen Perspektive unterstützt. Der Kameramann Sergej Urussewski setzte eine entfesselte Handkamera ein, die im ununterbrochenen „Mitlauf“ die Bewegung der Heldin suggerierte, er fand ausgefallene Blickwinkel, die Veronikas Perspektive vermitteln sollten. Dieses subjektivierte Bild wurde außerdem durch den Ton verstärkt, der sich aus der Überlagerung von Geräuschen, Dialogfetzen und Musik zusammensetzte.
So ließen ausdrucksstarke Einstellungskompositionen, die die Raumverhältnisse deformieren, sowie das expressionistische, kontrastreiche Licht- und Schattenspiel Veronikas psychische Schocks erahnen. Die bei der Bombardierung zerstörte Wohnung wurde durch die Zerstörung der Bildkomposition wiedergegeben, das schwindende Bewusstsein des sterbenden Boris‘ über von unten aufgenommene, sich im Kreis drehende, mehrfach belichtete Baumkronen.
Auch die Massenszenen bekommen dank der bevorzugten Weitwinkelobjektive mit ihren Tiefenschärfen eine neue Dimension: Der virtuos langanhaltende Einsatz der Handkamera ohne Schnitte verlagerte die Montage in die Einstellung und schuf den eigenartigen nervösen Rhythmus des Films.
Das Gesicht der Samoilowa zeichnet Urussewski wie eine Schwarzweißgrafik mit Licht (und Schatten) – jenseits kommerzieller Fotogenität und Erotik.
Der unvermittelte Wechsel von der subjektiven zur objektiven Perspektive, von Nahaufnahmen zu Totalen von ganz oben herab, ergänzt die verwirrte Sicht der Veronika um den totalen Blick auf ihre kleine Figur – mitten im Chaos schwerer Lastwagen oder in der Menge auf dem Bahnhof.
Diese raffinierten visuellen Verunsicherungen betonen die Verzweiflung der Heldin, wobei die aufgepeitschte Emotionalität des Films mitunter an Kitsch grenzte.
Das Weibliche und das Männliche
Die subjektive Sicht, das expressionistische Licht sowie der synkopische Schnittrhythmus waren Veronika gegeben und weiblich kodiert, Boris‘ Geschichte dagegen in das Schicksal der Gemeinschaft eingeschrieben und mit neutralen Totalen verknüpft. Wegen dieser Gemeinschaft war er bereit, sein Leben zu opfern. Doch im Augenblick seines Todes und ihres Selbstmordversuchs wird diese Teilung aufgehoben.
Den Film treibt ein starkes, nicht realisiertes Verlangen voran. Die Liebesszene zwischen Veronika und Mark in einer Bombennacht wurde gewöhnlich als Vergewaltigung oder Sündenfall interpretiert. Doch Kalatosow hatte hier nichts anderes als das klassische Motiv der Verbindung von Eros und Tanatos, Liebe und Tod benutzt. Die Szene variierte das Thema der leidenschaftlichen unerfüllten Liebe, das die Beziehung von Boris und Veronika bestimmte, der Braut des Toten, die einmal der Hypnose eines Lebenden erliegt.
Expressionismus und Neorealismus
Die Kraniche ziehen wurde innerhalb von nur sechs Monaten abgedreht, ein Rekord für die damalige Zeit. Im Film alternierten betont expressive und ruhige neorealistische Szenen. Auf die Alltagsszene im Lazarett folgte der Selbstmordversuch, gedreht und geschnitten wie im Stummfilm. Der auseinandergebrochene Raum mit der umgestürzten Horizontlinie wurde aus extrem kurzen, losen Fragmenten zusammengesetzt. Die Reißschwenks lösten die Formen auf. Kalatosow verband diese verschiedenen Stile frei miteinander, und obwohl die neorealistischen Szenen – der Dialoge wegen – längere Einstellungen erforderten, war die Gesamtlänge der expressiven und naturalistischen Episoden im Film ausgeglichen.
Dieser Film wurde über Nacht zu einem Ereignis, das sich durch nichts angekündigt hatte.6 Auch keiner der späteren Filme von Regisseur Kalatosow oder Kameramann Urussewski erreichte jemals wieder die Kraft der Kraniche, Tatjana Samoilowa spielte nie wieder eine Rolle so suggestiv wie die der Veronika, obwohl sie mehrere internationale Angebote bekam,7 in denen sie ihre Unwiederholbarkeit reproduzieren sollte.
1.Resnais war nach Hiroshima gereist, um einen Dokumentarfilm über den Atombombenabwurf zu drehen; der daraus entstandene Spielfilm erzählte das private Drama einer jungen Französin und ihrer Liebe zu einem deutschen Soldaten, dessen Tod am 2. August 1945 sie als ihr Hiroshima erlebte.
2.in: Iskusstwo kino (1957), Nr. 2, S. 10 und S. 61
3.Turowskaja M. (1957): Da i net, in: Iskusstwo kino, Nr. 12, S. 18
4.So in dem damals gerade im Ausland veröffentlichten Roman Doktor Shiwago von Boris Pasternak, der 1957 im Mosfilmstudio (ungelesen) diskutiert wurde.
5.Bulgakowa O./Hochmuth D. ( Hrsg.) (1992): Der Krieg gegen die Sowjetunion: Katalog des Filmprogramms zur gleichnamigen Ausstellung, Berlin, S. 61-71
6.Kalatosow hatte zwar schon 1930 mit dem poetischen, auf die visuelle Ausdruckskraft bauenden Film Das Salz Swanetiens debütiert, doch drehte er noch 1950 einen typischen Film des Kalten Krieges, Die Verschwörung der Verdammten, und einen genauso plakativen Film über Enthusiasten, die Neuland bezwangen (Der erste Zug, 1955). 1943 bis 1945 verbrachte er in den USA, zunächst in New York, dann in Hollywood, um für die zweite Front zu werben, und hat sich dabei von den affektiven Melodramen Hollywoods beeinflussen lassen. Urussewski war dagegen für seine ungewöhnliche Ausdrucksfähigkeit schon seit Der letzte Schuss (1956)bekannt, hatte jedoch zuvor ebenfalls ausgesprochen konventionelle Filme gedreht(Drei Menschen und Die Kubankosaken), die an Ölgemälde naturalistischer Milieumalerei erinnerten.
7.Sie nahm u. a. Angebote an aus Ungarn (Alba Regia, 1961; Regie: Mihàly Szemes) sowie Italien (Italiano, brava gente, 1965; Regie: Guiseppe de Santis).