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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Bystro #44: Wer ist Swetlana Alexijewitsch?

    Bystro #44: Wer ist Swetlana Alexijewitsch?

    Als erste Vertreterin der belarussischen Literatur überhaupt erhielt die Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch 2015 den Literaturnobelpreis – „für ihr vielstimmiges Werk, das dem Leiden und Mut in unserer Zeit ein Denkmal setzt“, wie es in der Begründung der Jury hieß. 

    Wie wurde die 1948 im westukrainischen Stanislaw geborene Alexijewitsch, die sich bis heute auch immer wieder zu politischen Entwicklungen äußert, zur Schriftstellerin? Wie hat sie ihre dokumentarische Prosa entwickelt? Welche Autoren haben sie geprägt? Auf diese und andere Fragen antwortet die Slawistin und Literaturwissenschaftlerin Nina Weller in einem Bystro.

    Русская Версия

    1. Wie wurde Swetlana Alexijewitsch zur Schriftstellerin? 

    Alexijewitsch hat schon als Schulmädchen Gedichte und Erzählungen geschrieben, die in Zeitschriften gedruckt, beziehungsweise im Radio gesendet wurden. Nach dem Studium der Journalistik in Minsk arbeitete sie als Korrespondentin kleiner Regionalzeitungen in den Gebieten Gomel und Brest und (wie ihre Eltern) als Lehrerin. Anfang der 1970er Jahre kehrte sie nach Minsk zurück und war ab 1976 für die Redaktion der Literaturzeitschrift des belarussischen Schriftstellerverbandes Njoman tätig. Sie erprobte damals unterschiedliche Gattungen, schrieb Erzählungen, Essays, Reportagen und entwickelte sukzessive ihre zwischen dokumentarischem und literarischem Schreiben angesiedelte Form. In ihrem ersten, aus Zensurgründen nie veröffentlichten, von ihr selbst als zu journalistisch empfundenen Buch Ja ujechal is derewni (dt. Ich bin aus dem Dorf weggegangen) thematisierte sie das dörfliche Leben, das auch ihre Kindheit sehr geprägt hatte. Bereits dieses Buch basierte auf Zeitzeugengesprächen. Zur besonderen Form des vielstimmigen Schreibens inspirierte sie der Schriftsteller und Menschenrechtler Ales Adamowitsch, der ihr Kollege bei Njoman war und der neben russischen Klassikern wie Dostojewski ihr wichtigstes Vorbild werden sollte. 

    2. Was ist der literarische, inhaltliche Kern ihres Schaffens?

    Alexijewitschs Schaffen kreist um das Alltagsleben des sowjetischen Menschen im Ausnahmezustand der historischen Katastrophen und im Zwielicht des utopischen Versprechens. In ihren Büchern collagiert sie Berichte, Erinnerungsfetzen, Gedanken gewöhnlicher Menschen zu ihren persönlichen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg, dem Afghanistankrieg, der Tschernobyl-Katastrophe und den gesellschaftlichen Umbrüchen in (post)sowjetischen Zeiten. Ihr Werk erzeugt eine „Geschichtsschreibung von unten“, jenseits der offiziellen sowjetischen Erzählungen von Heroismus und Patriotismus. Alle ihre Bücher basieren auf einer Vielzahl von Zeitzeugengesprächen, die Alexijewitsch unter Verzicht auf eine auktorial wertende Erzählerstimme zu einem chorischen Gesamtwerk komponiert, sodass die erzählende Zeugnisliteratur stets mehr als nur die Summe einzelner Stimmen ergibt. Es sind „kollektive Romane“, Roman-Oratorien, die von Schmerz und Leid erzählen und zugleich dem Vergessen entgegenwirken sollen. Sowohl in ihrer Methode der vielstimmigen dokumentarischen Prosa als auch in ihrem moralisch-humanistischen Anspruch an das Schreiben war Alexijewitsch von Anfang an nachhaltig von Ales Adamowitsch und Daniil Granin beeinflusst. 

    3. Welche Bücher gehören zu ihrem Hauptwerk?

    Die aus fünf Büchern bestehende Folge Golossa Utopii (Die Stimmen der Utopie) gilt als ihr Hauptwerk. Darin hat sie eine Chronik des tragischen 20. Jahrhunderts vom Zweiten Weltkrieg bis zum Ende der Sowjetunion erschrieben und ihre Form der Dokumentarprosa weiterentwickelt. Die Herangehensweise des vielstimmigen Erzählens setzte sie erstmals im Buch U woiny ne shenskoje lizo (Der Krieg hat kein weibliches Gesicht) ein. Es basiert auf Gesprächen mit Kriegsteilnehmerinnen und zeigte den bis dato verdrängten Blick von Frauen auf die zermürbende Kriegsrealität. Es konnte, wie auch Poslednije swideteli (Die letzten Zeugen) mit Erinnerungen an Kriegskindheiten, erst 1985 in zensierter Fassung erscheinen. In Zinkowyje maltschiki (Zinkjungen, 1989) wird vom Krieg der Sowjetunion in Afghanistan und seinen Folgen erzählt, in Tschernobylskaja molitwa. Chronika buduschtschewo (Tschernobyl – Eine Chronik der Zukunft, 1997) von den Auswirkungen der Reaktorkatastrophe im Jahr 1986. Ein kollektives Gesamtbild des Lebens und Leidens im sowjetischen Kommunismus und der postsowjetischen Ära collagierte sie in ihrem Opus magnum Wremja sekond chend (Secondhand-Zeit, 2013). 

    4. Wie ist ihr Verhältnis zu Belarus? 

    Alexijewitsch kam in der sowjetischen Westukraine zur Welt. Ihre Mutter ist Ukrainerin, ihr Vater Belarusse. Nach dessen Militärdienst übersiedelte die Familie nach Belarus, wo sie die belarussische Staatsbürgerschaft annahm. Auch wenn Alexijewitsch ausschließlich auf Russisch schreibt und oft ihre Nähe zur russischen Kultur und zu einem kosmopolitischen Kontext betont, positioniert sie sich klar als Belarussin und belarussische (nicht russische) Autorin. Ihre breite Anerkennung als Vertreterin der belarussischen Literatur in Belarus und in der internationalen Welt erfolgte, wenn auch nicht unumstritten, spätestens mit der Verleihung des Literaturnobelpreises 2015. Noch 2013 hatte sie die belarussische Sprache in einem Interview mit der FAZ als „bäuerlich und literarisch unausgereift“ bezeichnet. Später nahm sie von ihren Äußerungen vehement Abstand und betonte die Gleichberechtigung des Belarussischen und Russischen als Literatursprachen im Kosmos einer mehrsprachigen belarussischen Literaturgeschichte. Den Belarussen gilt sie – wie seinerzeit der Schriftsteller Wassil Bykau – als moralische Stimme.

    5. Sie hat sich 2020 den Protesten in Belarus angeschlossen und musste daraufhin das Land verlassen. Ist sie immer noch politisch aktiv?

    In vielen Interviews zeigte sich Alexijewitsch 2020 überwältigt davon, wie viele Menschen in Belarus, über alle Generationen und sozialen und biografischen Hintergründe hinweg, für demokratische Werte, Menschenwürde und ein Ende der Diktatur auf die Straße gingen und trotz der massiven Gewalt seitens des Staates friedlich blieben. Sie gestand, einen derartigen Protestwillen dem belarussischen Volk nicht zugetraut zu haben. Umso entschiedener positionierte sie sich auf Seiten der Opposition und des Protests und äußerte öffentlich scharfe Kritik am Vorgehen Lukaschenkos. Im August 2020 wurde sie in die Führung des Koordinationsrates der Opposition berufen, der den Machtwechsel vorbereiten und begleiten sollte. Infolge dessen geriet sie selbst unter massiven Druck der staatlichen Behörden. Im September 2020 versuchten unbekannte Männer, sie in ihrer Privatwohnung einzuschüchtern, woraufhin sie zu einer Pressekonferenz direkt vor ihrer Wohnungstür einlud und Diplomaten aus mehreren Ländern sie zur Unterstützung in ihrer Wohnung besuchten. Ende September 2020 verließ sie Belarus und hat sich seither aus dem aktiven politischen Leben weitgehend zurückgezogen. Stattdessen arbeitet sie in Berlin an einem neuen Buch über die Ereignisse nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen, über die Proteste, ihre Niederschlagung und die Folgen für die belarussische Gesellschaft. 

    6. Sie hat auch einen eigenen Verlag ins Leben gerufen. Was ist das für ein Projekt?

    Den Pfljaŭmbaŭm-Verlag (belaruss. Пфляўмбаўм) gründete sie, nach langjähriger Vorarbeit, gemeinsam mit Alena Kaslowa, der jetzigen Verlagsleiterin. Das Verlagsprogramm umfasst ausschließlich Autorinnen, bisher in erster Linie belarussische, darunter auch jene, die bislang kaum oder gar nicht wahrgenommen wurden. „Wir schaffen eine eigene Frauenwelt mit ähnlichen Anschauungen. Die Männerwelt hat überhaupt keine Ahnung, dass diese Frauenwelt existiert“, sagte sie vor der deutschen Presse anlässlich der Verlagsvorstellung auf der Leipziger Buchmesse 2023. Zu den ersten Publikationen gehören etwa Gedichtbände der Dichterinnen Natallja Wischneŭskaja, Sinaida Bandaryna und Jaŭhenija Pfljaŭmbaŭm, der Namensgeberin des Verlages. Auch Werke von zeitgenössischen Schriftstellerinnen wie Tanja Skarynkina und Eva Viežnaviec, deren Roman Was suchst Du, Wolf? mit dem renommierten unabhängigen Jerzy Giedroyc-Preis in Belarus ausgezeichnet wurde, gehören zum Programm. Die Existenz solch eines Verlages gleicht in Zeiten der massiven Repressionen gegen unabhängige Verlage durch die Machthaber in Belarus einem kleinen Wunder. Inzwischen befindet sich der Verlag in Vilnius. 

     

    Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Text: Nina Weller
    Veröffentlicht am 31.05.2023

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  • Ales Adamowitsch

    Ales Adamowitsch

    „Die Lektüre von Adamowitschs Büchern sollte von irgendeiner Art an Atemübungen, von Gartenarbeit, Musikpraxis oder Gebet begleitet werden. Sie bieten keine Katharsis. Sie bezeugen das Scheitern der Menschheit als Projekt der Menschlichkeit“ – schreibt die Lyrikerin Valzhyna Mort.1In der Tat gehören die Werke des belarusisch-sowjetischen Nachkriegsschriftstellers, Publizisten, Literaturwissenschaftlers, Drehbuchautors und Menschenrechtlers Ales Adamowitsch zu den erschütterndsten Werken über die Gräuel des Zweiten Weltkriegs auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Er schrieb über Verbrechen, menschliches Leid und Schuldfragen, aus denen es kein Entrinnen gibt. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit waren es auch sein Kampf um die Aufarbeitung der Tschernobyl-Katastrophe und sein Einsatz für Menschenrechte und Demokratie im unabhängigen Belarus, die seiner Stimme bis heute für viele Belarusen ein großes moralisches Gewicht verleihen.

    „Furchtlosigkeit war das Grundmerkmal seiner Persönlichkeit“2. So beschrieb der Moskauer Literaturkritiker Lasar Lasarew seinen Freund und Kollegen Adamowitsch. Dabei war dessen Leben alles andere als frei von Gelegenheiten, sich zu fürchten.

    Der 1927 als Sohn eines Arztes geborene Adamowitsch wuchs in der Arbeitersiedlung Gluscha auf, nahe der Stadt Bobruisk in der Region von Mogiljow (belarus. Mahiljou) im Osten des Landes – ehemals ein bedeutendes Zentrum jüdischer Kultur. Als der Ort ab 1941 unter deutsche Besatzung geriet, errichteten die Deutschen hier ein Ghetto für die jüdische Bevölkerung und verübten grausame Massaker an Tausenden von Juden und sowjetischen Kriegsgefangenen. Der junge Adamowitsch war Zeuge der Ereignisse und erinnert sich noch Jahre später an die Bilder der sterbenden und toten Menschen aus dem Lager – „wie mir schien, das Schrecklichste, was ich je im Krieg gesehen hatte (wohl, weil es meine erste Erschütterung war).“3 Der Krieg wütet weiter. Während der Vater an die Front geht, schließt sich die Mutter mit dem inzwischen 15-jährigen Ales und dessen Bruder den Partisanen an. Von 1943 bis Anfang 1944 kämpft der Jugendliche in einer Partisaneneinheit gegen die deutschen Besatzer. Das Kriegsende erlebt er schließlich im weit entfernten Altai als Student an der Leninogorsker Hochschule für Bergbau und Metallurgie.

    „Schestidesjatnik“

    Ales Adamowitsch/ Foto © Alamy Stock Foto
    Ales Adamowitsch/ Foto © Alamy Stock Foto

    Seine eigentliche Berufung aber waren die Literatur und der Film. Bereits 1945 kehrte er nach Minsk zurück, wo er an der Philologischen Fakultät der Belarusischen Staatlichen Universität studierte und promovierte. Anschließend arbeitete er bis 1987 am Janka-Kupala-Institut für Literatur an der Belarusischen Akademie der Wissenschaften, welches er ab 1976 leitete. Unterbrochen war seine Minsker Zeit nur durch einen Aufenthalt an der Moskauer Lomonossow-Universität, wo er von 1962 bis 1966 am Institut für Nationalliteraturen als Dozent tätig war. Parallel studierte der vielfach Begabte an der Moskauer Filmhochschule Drehbuch. Seine Zeit dort endete jedoch plötzlich und unfreiwillig, als er sich weigerte, einen Denunziationsbrief gegen die Schriftsteller Andrej Sinjwaski und Juli Daniel zu unterschreiben. Von seiner damaligen Position als Leiter der Abteilung für Belarusische Literatur wurde er postwendend suspendiert, desillusioniert kehrte er nach Minsk zurück. Adamowitschs integere Haltung gegenüber seinen Kollegen und der ideologisch motivierte Rauswurf wiesen ihn als Schestidesjatnik aus. In den Kreisen dieser freiheitlich orientierten Nachkriegsintellektuellen wurde er zu einer anerkannten Größe.

    Er war zudem einer der wenigen belarusischen Intellektuellen, der sich im Belarusischen und im Russischen gleichermaßen zu Hause fühlte und damit eine Brückenfunktion zwischen Moskau und Minsk einnahm. Seine ersten, meist noch auf Belarusisch verfassten literaturkritischen Publikationen der 1950er Jahre thematisierten das Verhältnis von literarischer Stimme, verantwortungsbewusstem individuellem Handeln und Zeitgeschichte. Damit eckte er im kaderdurchtränkten sowjetischen Literaturbetrieb an. Zugleich befeuerte er bis weit in die 1980er Jahre hinein den Diskurs über die Aufgaben und Funktionen von Literatur in Zeiten historischer und gesellschaftlicher Krisen. Der belarusischen Literatur(geschichte) sprach er stets einen eigenen Stellenwert innerhalb der Sowjetliteraturen zu.

    Das Zweigestirn Wassil Bykau und Ales Adamowitsch

    Es ist der humanistisch-ethische Blick auf den Krieg, der Adamowitsch neben Wassil Bykau zum wichtigsten belarusischen Nachkriegsautor machte – sie sind das Zweigestirn der belarusischen Erinnerungsliteratur. Während der wenig ältere Bykau über die eigenen verstörenden Fronterlebnisse schrieb, umkreiste Adamowitsch in seinen Prosatexten das Grauen des Krieges und „die Gewalt (insbesondere die Kriegsgewalt) als historisches und menschlich-psychologisches Problem“4 aus dem Blickwinkel der Generation jener, die im Krieg noch Kinder und Jugendliche gewesen waren. So legte er seinem 1948 erschienenen literarischen Debüt Partisany, das in zwei Bänden5 vom tragischen Überlebens- und Widerstandskampf unter deutscher Okkupation erzählt, seine eigenen Erfahrungen bei den Partisanen zugrunde. Auch wenn er darin den positiven sowjetischen Partisanenhelden im Blick hat, kommen dabei doch die existenziellen Erschütterungen der Kriegszeugen und moralische Verwerfungen wie Kollaboration und Verrat zur Sprache.

    Opfer- und Täterperspektiven

    Insbesondere mit seinen ab den 1970er Jahren entstandenen Werken begann Adamowitsch die Grenzen des Erzählbaren auszuloten und die persönlichen Zeugenerinnerungen der belarusischen Kriegsüberlebenden in die Literatur zurückzuholen. Immer an den Rändern der Zensur, gab er darin sowohl den Opfern als auch den Tätern eine Stimme und brach damit die stereotypen Freund-Feind-Bilder der ideologisierten sowjetischen Kriegsdarstellung auf. In Chatynskaja powest (1971, Chatyner Erzählung)6 tritt in der rückblickenden Perspektive eines ehemaligen Partisanen die Spannung zwischen offizieller und individueller Erinnerung in den Vordergrund. Er erzählt von den Massakern im Dorf Chatyn, das im März 1943 durch das berüchtigte „SS-Sonderkommando Dirlewanger“ mitsamt seinen Bewohnern niedergebrannt worden war. Die Gedenkstätte Chatyn ist bis heute offizielles belarusisches Mahnmal für die Opfer des verheerenden deutschen Vernichtungskriegs in Belarus und steht stellvertretend für Tausende verbrannter Dörfer. Die Bilder des Tötens und Szenerien alptraumhafter Todeslandschaften sind vom Buch in Elem Klimows Idi i smotri (1985, Komm und sieh) eingegangen, den erschütterndsten aller Anti-Kriegsfilme.

    Auch zahlreiche Szenen aus dem Roman Karateli (1980, Henkersknechte)7 finden sich in dem von Adamowitsch mitverfassten Drehbuch wieder. In einer dichten Mischung aus dokumentarischem Material, Zeugenaussagen und fiktiven Passagen entwirft dieser Roman eine Chronologie des Tötens und entfaltet dabei die Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsperspektiven der Täter und ihrer Henkersknechte.8

    Von diesem Moment an hingen Leben und Tod der Siedlung Proletarski, dreihundertsechs Menschen, die den Namen Dirlewanger nie gehört hatten und nie hören würden, davon ab, wie schnell er ans Ziel gelangte, mit seinen langen dünnen Insektenbeinen dem Fahrzeug entstieg und, nachdem er die Instruktionen des Offiziers für die Neulinge in der Strafabteilung abgewartet, den Befehl zum Beginn erteilte.9

    Aus den Psychogrammen der Protagonisten entstehen so „Bilder von Menschen, die nur noch als belebter Teil ihrer Tötungsinstrumente zu verstehen sind.“10 Mit der radikalen Fokussierung auf die Täterperspektive war Adamowitsch seiner Zeit weit voraus.11

    Chorisches Schreiben

    Swetlana Alexijewitsch wurde weltberühmt durch ihre Literatur der „chorischen Zeugenschaft“. Vorbild dafür war Ales Adamowitsch, der auch während der gemeinsamen Arbeit in der Redaktion der Zeitschrift Njoman ihr Mentor gewesen war. Seine Form der vielstimmigen Dokumentarprosa hatte er zwischen 1970 und 1973 entwickelt, als er mit seinen Schriftstellerkollegen Janka Bryl und Wladimir Kolesnik durch die versengten Landschaften der belarusischen Provinz reiste und über 300 Gespräche mit Überlebenden der Kriegsereignisse protokollierte. Behutsam in einen kommentierenden Erzählrahmen gegossen, entstand so in dem Buch Ja z vohnennaj vëski… (1975, Ich bin aus einem Feuerdorf)12 eine verdichtete Erzählung der Zeugenerinnerungen in chorischer Vielstimmigkeit, die auch Vorbild für das weitaus berühmtere Blokadnaja kniga (1977–1981, Blockadebuch) sein sollte. Dafür suchte Adamowitsch mit seinem russischen Kollegen Daniil Granin über einen mehrjährigen Zeitraum Überlebende der Blockade Leningrads auf. In vorsichtiger Annäherung brachte er sie dazu, über ihre persönlichen, teils lang verschwiegenen Erinnerungen zu sprechen und zu erzählen, was sie noch nie erzählt hatten. Beide Bücher sind Meilensteine der literarisch-dokumentarischen Erinnerungsliteratur: Es gelang ihnen wie keinen anderen Werken, kollektive Kriegstraumata in lebendig erzählten Einzelschicksalen sichtbar zu machen.
     


     Ales Adamowitsch (Mitte) am Set des Films „Idi i smotri“, Oktober 1985 / Foto © Jеwgeni Koktysch/sputnikimages/Alamy Stock Foto

    Politisches und humanistisches Engagement

    Adamowitsch tat sich auch in der Endphase der Sowjetunion und in den ersten Jahren der unabhängigen Republik Belarus durch sein politisches und humanistisches Engagement hervor. Ein Initialereignis war das Reaktorunglück von Tschernobyl 1986 und die Verhinderung einer transparenten Aufklärung seitens der sowjetischen Regierung. Dabei hatte er schon Jahre zuvor vehement vor der atomaren Gefahr gewarnt. „Auf keiner Tür der Welt steht die Inschrift: ‚Notausgang‘. Im Falle einer nuklearen Feuersbrunst kann man nirgendwohin fliehen“ – schrieb er bereits 1981.13 Adamowitsch gehörte damit zu jenem kleinen Kreis an Intellektuellen und Wissenschaftlern, die vorausahnend einer nuklearen Katastrophe und ihren dramatischen Folgen entgegenzuwirken versuchten. Für die Aufklärung der Katastrophe von Tschernobyl forderte er schließlich einen „ökologischen Nürnberger Prozess“.14

    Es war wohl sein Glück, dass er den Machtantritt Alexander Lukaschenkos nicht mehr erleben musste. Denn in seinen letzten Lebensjahren war Adamowitschs ganze Kraft in die Menschenrechtsarbeit und den Einsatz für die Unabhängigkeit von Belarus geflossen: 1988 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern der Menschenrechtsorganisation Memorial und der Partei Belaruski Narodny Front „Adradshenne“, die sich für die demokratische Unabhängigkeit des Landes, für die belarusische Sprache und Kultur und für die Aufarbeitung der Stalinschen Verbrechen stark machte. Adamowitsch starb am 26. Januar 1994 an einem Herzinfarkt, kurz nachdem er vor Gericht eine Rede zur Verteidigung der Rechtelage der Schriftsteller der ehemaligen UdSSR gehalten hatte. Seine pazifistisch-humanistische Stimme gilt es über sein umfangreiches Werk, das sich über die Aufarbeitung der traumatischen Kriegserfahrungen des Zweiten Weltkriegs hinaus den universellen Fragen der Verantwortung individuellen Handelns widmet, noch weiter zu entdecken.


     Anmerkung der Redaktion:

    Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.

    Zum Weiterlesen:

     


    Isakava, Volha (2017): Between the public and the private: Svetlana Aleksievich interviews Ales’ Adamovich. Translator’s preface, in: Canadian Slavonic Papers 59, Nr. 3–4, S. 355–75
    Astrouskaya, Tatsiana (2019): Cultural Dissent in Soviet Belarus. Wiesbaden
    Weller, Nina (2018): Vielstimmige Gegengeschichten Kriegserfahrung und Kriegsdarstellung bei Adamovič, Daniil Granin und Svetlana Aleksievič, in: Osteuropa, Nr. 1-2/68 (2018), S. 165–82
    Eine Schuld, die nicht erlischt. Dokumente über deutsche Kriegsverbrechen in der Sowjetunion. Mit einem Geleitwort von Ales Adamowitsch, Köln, 1987

    1. Mort, Valzhnya (2020): Read and See: Ales Adamovich and Literature out of Fire, in: criterion ↩︎
    2. Lazarev, Lazar’ (2005): Zapiski požilogo čeloveka: kniga vospominanij, Moskva ↩︎
    3. Adamowitsch, Ales (1987): Am Anfang waren Worte, in: Eine Schuld, die nicht erlischt: Dokumente über deutsche Kriegsverbrechen in der Sowjetunion, Köln, S. 9-20 ↩︎
    4. So Adamovič zu den Schwerpunkten seines literarischen und wissenschaftlichen Schaffens in einem Fragebogen der Agentur „Publizist!“, in: Adamovič, Ales’ (2001): Prožito, Moskva, S. 6 ↩︎
    5. Zur Dilogie zählen „Vojna pod kryšam“ (1960, „Der Krieg unter den Dächern“) und „Synov’ja uchodjat v boj“ (1963, „Die Söhne ziehen in den Krieg“). Viktor Turov verfilmte beide Teile (1967 und 1969) in prominenter Besetzung mit Nina Urgant und musikalischen Einlagen von Vladimir Vyssozkij. ↩︎
    6. Die belarusische Version „Chatynskaja apovec’“ erschien 1976. Die deutsche Übersetzung (aus dem Russischen von Heinz Kübart) 1974 unter dem Titel „Stätten des Schweigens“ im Aufbau-Verlag, eine Wiederauflage 1985 im Verlag Pahl-Rugenstein. ↩︎
    7. Der volle Titel lautet: „Karateli: Radost’ noža ili žizneopisanie giperboreev“, Moskva, Izdat. Chudožestv. Literatura, 1980. Die deutsche Übersetzung „Henkersknechte: Das Glück des Messers oder Lebensbeschreibungen von Hyperboreern“ (aus dem Russischen von Thomas Reschke) erschien 1982 im Aufbau-Verlag, eine Wiederauflage 1988 bei Suhrkamp ↩︎
    8. Das Buch setzt ein mit einem imaginierten Monolog Adolf Hitlers. Ursprünglich war auch ein Kapitel zu Josif Stalin geplant, das jedoch der Zensur weichen musste. ↩︎
    9. vgl. Adamowitsch, Ales (1988): Henkersknechte: Das Glück des Messers oder Lebensbeschreibungen von Hyperboreern. (Aus dem Russischen von Thomas Reschke). Frankfurt a. M., S. 166f. ↩︎
    10. zit. vom Klappentext der Suhrkamp-Ausgabe (1988) ↩︎
    11. Das Buch erschien 1975 auf Belarussisch unter dem Titel „Ja z vohnennaj vëski…“ im Minsker Verlag Mastackaja literatura und ebendort in russischer Übersetzung (übersetzt von D. Kovalev) 1977 unter dem Titel „Ja iz ognennoj derevni…“ ↩︎
    12. Der Vergleich mit J. Littles Jahrzehnte später verfasstem Roman „Les Bienveillantes“ (2006, „Die Wohlgesinnten“) liegt nahe. ↩︎
    13. Places:Gold: Adamovič Aleksandr Michailovič (1927–1994) ↩︎
    14. Bundeszentrale für politische Bildung: Tschernobyl – die bekannte, unbekannte Katastrophe ↩︎

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  • Blokadniki

    Blokadniki

    Blokadniki ist eine Bezeichnung für die Opfer und die Überlebenden der Leningrader Blockade. Während der Belagerung der Stadt vom 8. September 1941 bis 27. Januar 1944 durch die deutsche Wehrmacht kamen über eine Million Leningrader ums Leben. Die meisten Menschen verhungerten oder erfroren, viele starben im Bomben- und Artilleriebeschuss. Das persönliche Schicksal der Blokadniki wurde lange vernachlässigt: Unmittelbar nach dem Krieg durfte über die Blockade offiziell nicht gesprochen werden, ab den 1960er Jahren wurde sie in der offiziellen Geschichtspolitik zum Symbol nationalen Heldentums und ziviler Standhaftigkeit erklärt. Heutige Blokadniki-Verbände halten größtenteils an diesem Status fest.

    Die Blockade Leningrads ist eines der größten Kriegsverbrechen des 2. Weltkriegs und wird als „größte demographische Katastrophe“ definiert, „die eine Stadt in der Geschichte der Menschheit jemals erfahren musste“.1 Die Deutschen nahmen diese Katastrophe nicht nur in Kauf, sondern zielten auf eine systematische Aushungerung und totale Vernichtung Leningrads ab. Die sowjetische Regierung war weder auf den Angriff der Deutschen noch auf die Belagerung vorbereitet, was die katastrophale Versorgungslage in der Stadt verstärkte.2

    Überleben in der belagerten Stadt

    Die rund drei Millionen Einwohner der Stadt waren nach Schließung des Belagerungsrings von sämtlichen Versorgungs- und Fluchtwegen abgeschnitten. In den Monaten der größten Lebensmittelknappheit bereiteten die Menschen Mahlzeiten aus Tapetenkleister, Schmierfett oder ausgekochten Lederwaren zu, in ihrer Not aßen sie auch Katzen oder Ratten, es kam zu Fällen von Kannibalismus. In dieser Extremsituation gingen die stalinistischen Repressionen weiter.

    Über diese katastrophale Lage und das Leiden der Bevölkerung in der belagerten Stadt existiert eine Fülle an Literatur in Form von Zeugenberichten, Tagebüchern, Erinnerungen, Gedichten oder Prosatexten.3 Zu zentralen Gedächtnismotiven der Erfahrungsgeneration der Blokadniki wurden das 125-Gramm Stück Brot Tagesration (als Symbol für das Hungern), der kleine Hausofen (als Symbol für Kälte und Dunkelheit), die Kinderschlitten (als Symbol für mühsame Transporte und den Tod von Familienangehörigen), vereiste Menschenbündel auf der Straße (als Bild des Massensterbens) und das überall in der Stadt hörbare Tacken des Metronoms (als Symbol für die permanente Gefahr durch Luftangriffe), welches über die in der ganzen Stadt installierten Radiolautsprecher längere Programmpausen anzeigte. Vielen Hörern war es das einzige Lebenszeichen in der stagnierten Situation.4

    Historische Aufarbeitung

    Allerdings dominierten in der öffentlichen Thematisierung der Nachkriegszeit bis in die 1980er Jahre Muster der offiziellen Kriegspropaganda mit Betonung auf Aspekte des Sieges und des Heroismus. Darstellungen des Leidens wurden entweder ausgeklammert oder beschränkten sich auf die Beschreibungen physischer Versehrtheit. Die psychischen Traumatisierungen der Blokadniki wurden nur in privaten Dokumenten und da häufig unter Selbstzensur ausformuliert und spielten im offiziellen Diskurs keine Rolle. Meilensteine in der alternativen literarischen Bearbeitung des Themas sind das Blockadebuch, eine von Ales Adamowitsch und Daniil Granin Ende der 1970er Jahre herausgegebene und collagierte Sammlung von Zeitzeugengesprächen jenseits des Heldenkultur und die dokumentarisch-fiktionalen Schriften Lidija Ginzburgs, die das moralische Dilemma des „Blockademenschen“ und beklemmend-analytische Beschreibungen der Extremerfahrung des Hungers thematisieren.5

    Mit Öffnung der Archive in den 1990ern sind viele weitere persönliche und militärische Zeugnisse aufgetaucht, die den Blick auf die Blockade verschieben und in jüngster Zeit verstärkt von russischen Soziologien, Anthropologen, Psychoanalytikern und Kulturwissenschaftlern aufgearbeitet werden.

    Die Begriffe „Blokadniki“ sowie „Blokadnik“ (mask.) „Blokadniza“ (femin.) selbst waren in ihrer offiziellen Verwendung lange Zeit den Kriegsveteranen vorenthalten, nur jenen Personen also, die an der Leningrader Front gekämpft hatten. Die zunächst umgangssprachliche Verwendung der Begriffe wurde im Laufe der Jahre zur festen und auch rechtlich verankerten Bezeichnung für alle Personen, die während der Blockade in der Stadt waren.6 Seitdem auch die Blokadniki offiziell zu den Kriegsveteranen gezählt werden, haben sie Anspruch auf Zahlung sozialer Leistungen für Kriegsteilnehmer. Die Überlebenden der Blockade kämpfen allerdings bis heute um gesellschaftliche Anerkennung ihrer Traumata.

    Bis heute sind die Blokadniki-Verbände wichtige Erinnerungsakteure im öffentlichen Blockade-Erinnerungsdiskurs. Für die Erfahrungsgeneration der Blokadniki stellen sie eine zentrale Institution der Selbstverständigung und des Austauschs über verbindende Gedächtnismotive und über kulturelle Mythen der Standhaftigkeit, der heroischen Leidensfähigkeit und des kollektiven Märtyrertums dar.

    In den öffentlichen Erinnerungsdiskursen der meisten Verbände dominieren Aktionen zur Bewahrung dieses stark sakralisierten Helden- und Opferstatus der Blokadniki. Die Konkurrenz der Opfergruppen hat in den letzten Jahren zu einem regelrechten moralisch-pathetischen Kampf um die Deutungshoheit des Geschichtsbilds geführt. Viele Mitglieder von Veteranenvereinen sehen sich dem Angriff auf ihren Opfer- und Siegerstatus ausgesetzt und befürchten den Verlust des moralisch-ideologischen Alleinstellungsmerkmals der „Heldenstadt“ Leningrad.

    Emotional aufgeladene Debatten

    Wie stark dieser Mythos den öffentlichen Erinnerungsdiskurs bis heute dominiert, zeigten nicht nur die Neuauflagen alter Stereotype bei den aufwändigen Siegesfeiern zum 70. Jahrestag des Kriegsendes und des Endes der Belagerung, sondern auch die enorm emotional aufgeladenen öffentlichen Debatten, wenn es um die Verteidigung von Tabus im Umgang mit der Erinnerung an die Blockadezeit geht. So löste etwa der unabhängige TV-Sender Doschd (dt. Regen) im Januar 2014 mit einer Online-Umfrage eine öffentliche Welle der Empörung aus. Anlässlich des 70. Jahrestages des Endes der Blockade fragte er, ob man Leningrad 1941/42 nicht besser hätte aufgeben sollen, um möglicherweise Hunderttausende Leben zu retten. Blokadniki-Verbände erhoben den Vorwurf der Verunglimpfung der Opfer und der Geschichte und es folgten gezielte restriktive Maßnahmen gegen den Sender. Einen solchen empörten kollektiven Aufschrei hatte bereits 1989 der Schriftsteller Viktor Astafew ausgelöst, als er in einem Interview mit der Prawda (russische Tageszeitung) eine ähnliche Frage gestellt hatte.


     

     

     

     

    1. Barber, John (2005): Introduction: Leningrad’s Place in the History of Famine, in: ders. / Dzeniskevich, Andrej (Hrsg.):Life and Death in Besieged Leningrad, 1941– 944, London, S. 1 ↩︎
    2. Ganzenmüller, Jörg (2011): Das belagerte Leningrad 1941–1944: die Stadt in den Strategien von Angreifern und Verteidigern, Paderborn; Reidm Anna (2011): Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941–1944, Berlin ↩︎
    3. Tippner, Anja (2011): Die Blockade durchbrechen: Hunger, Trauma und Gedächtnis bei L. Ginzburg, in: Osteuropa 61 (8-9): Die Leningrader Blockade: der Krieg, die Stadt und der Tod, Berlin, S. 281-298; Neue Zürcher Zeitung: Im Strudel der erstarrten Zeit ↩︎
    4. Voronina, Tat’jana (2012): Die Schlacht um Leningrad: Die Verbände der Blockade-Überlebenden und ihre Erinnerungspolitik von den 1960er Jahren bis heute, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 60, S. 1-19; Kirschenbaum, Lisa (2008): The legacy of the Siege of Leningrad 1941–1995: myth, memories, and monuments, Berlin/New York ↩︎
    5. Adamowitsch, Ales / Granin, Daniil (1984/1987): Das Blockadebuch: Erster und zweiter Teil, Berlin; Ginzburg, Lidija (2014): Aufzeichnungen eines Blockademenschen, Berlin ↩︎
    6. Zemskov-Züge, Andrea (2011): Helden um jeden Preis: Leningrader Kriegsgeschichte(n),in: Osteuropa 61 (8-9): Die Leningrader Blockade: Der Krieg, die Stadt und der Tod, S. 135-154; Voronina, Tat’jana: Die Schlacht um Leningrad: Die Verbände der Blockade-Überlebenden und ihre Erinnerungspolitik von den 1960er Jahren bis heute, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 60, S. 1-19 ↩︎

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  • Daniil Granin

    Daniil Granin

    „Schreiben Sie über sich?“ „Ach wo, diesen Menschen gibt es schon lange nicht mehr.“ Seinem letzten Roman Moi leitenant (2011, Mein Leutnant), den der sowjetisch-russische Schriftsteller Daniil Granin in hohem Alter schrieb, sind diese Worte vorangestellt. Der Zwiespalt zwischen dem Kriegserleben des jungen Soldaten, der sich 1941 euphorisch-naiv als Freiwilliger an die Leningrader Front gemeldet hatte, und dem Autor, der in seinen Texten über die Tücken der Erinnerung und die Gefahren der ideologisierten Geschichtsschreibung und des historischen Vergessens schrieb, zieht sich wie ein roter Faden durch Granins umfangreiches Werk. Diese innere Spaltung führte ihn auf dem schmalen Grad zwischen sozialistischem Pathos und Regimekritik zur fortwährenden Reflektion basaler Fragen des Menschseins, des ethisch-moralischen Handelns, der Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit.

    Granin war patriotischer Kriegsveteran und beharrlicher Kritiker des heroischen Mythos vom Großen Vaterländischen Krieg zugleich. Er war ein stiller Mahner, der sich einem ethisch-humanistischen Auftrag verpflichtet sah, aber kein Dissident, der dem sowjetischen System ernsthaft gefährlich werden konnte. Er erlebte die grausamen Verbrechen der deutschen Wehrmacht im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion und kämpfte selbst gegen die Deutschen. Und später suchte er bewusst die Freundschaft mit Deutschen – unter anderem mit Heinrich Böll, Günter Grass oder Christa Wolf.

    Geboren wurde er am 1. Januar 1919 als Daniil Alexandrowitsch German in Zentralrussland. Die Familie zog aber bald nach Petrograd (später Leningrad) um, in die Stadt, mit der sein Leben und sein Werk auf das engste verbunden sind. Auf sein Studium der Elektrotechnik folgte die Zeit als Soldat und Kommandeur einer Panzerkompanie in Ostpreußen und die Mitarbeit am Wiederaufbau der Elektrizitätswerke. Seine aussichtsreiche akademische Karriere am Polytechnischen Institut brach er kurz vor der Verteidigung zu Gunsten seiner schriftstellerischen Tätigkeit ab1, für die er sich das Pseudonym Granin zulegte.

    Das menschliche Ethos bewahren

    Leitend in seinen literarischen und essayistischen Texten war von Anfang die Frage, wie der Einzelne auch unter extremen historischen, politischen oder ideologisch verhärteten Bedingungen sein menschliches Ethos im Alltag bewahren kann. Dies thematisierte er vor allem in der Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Verantwortung des Wissenschaftlers, Ingenieurs und Intellektuellen, die für ihn zentrale Figuren der Wahrheitssuche darstellten.

    Nach ersten kleineren Veröffentlichungen in der Zeitschrift Swesda (dt. „Stern“)2 waren es vor allem die Romane Iskateli (1954, Bahnbrecher) und Sobstwennoje Mnenije (1956, Die eigene Meinung) über die Konflikte zwischen ambitionierten Wissenschaftlern und der engstirnigen Bürokratie der Stalinzeit, die ihn auch international bekannt machten. Zu Granins wichtigsten Büchern der Tauwetterzeit gehörte der Roman Idu na grosu (1962, Dem Gewitter entgegen) über zwei Physiker, die auch in extremen Konfliktsituationen Verantwortungsbewusstsein gegenüber dem wissenschaftlichen Fortschritt bewahren. Dieses Thema verfolgte er auch später in seinem Dokumentar-Roman Subr (1987, Sie nannten ihn Ur) über den bekannten Genetiker Nikolai Timofejew-Ressowski.

    Verklärte Bilder der Vergangenheit

    Eine zentrale Stelle nimmt in Granins Werk jedoch die kritische Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg ein. In seiner Novelle Nasch kombat (1968, Unser Bataillionskommandeur) treffen Jahre nach dem Krieg einige Veteranen zusammen, die 1942 in einem Bataillon der Roten Armee gegen die Deutschen gekämpft hatten. Sie sind physisch und psychisch versehrt, von den Wunden und dem Schock, die Krieg und Gewalterfahrungen an ihnen hinterlassen haben. Dennoch sind sie immer noch vereint in der Gewissheit, heroisch die Verteidigung ihres sowjetischen Vaterlands auf sich genommen zu haben. Ausgerechnet der idealisierte und als Held in Erinnerung gebliebene Kommandeur räumt mit den verklärten Bildern der Vergangenheit auf: Schlechte Vorbereitung seiner militärischen Leitung, ungenügende Ausstattung des Trupps und weitgehende Strategielosigkeit hätten damals vorgeherrscht. Der Tod vieler Soldaten, die traumatischen Erfahrungen und die moralische Überforderung der Überlebenden wären bei besserer Planung und Ausstattung vermeidbar gewesen, so die retrospektiv überraschende Deutung.

    Die kritische Rezeption der Novelle seitens der offiziellen sowjetischen Literaturkritik war vorhersehbar. Der Umgang Granins mit dem Kriegsthema passte nicht ins erinnerungspolitische Konzept der Sowjetunion der Breshnew-Ära, in der das heroische Bild vom Krieg zum umfassenden Kult institutionalisiert wurde.3 Granins autobiographisch motivierte Kritik an der sowjetischen Kriegsführung und an der Sinnlosigkeit des Todes vieler Soldaten, die patriotisch und enthusiastisch in den Krieg hineingestolpert waren, wurde von der Parteipresse scharf gerügt. Dennoch konnte der Text zunächst erscheinen und lag auch bald in Übersetzungen vor.4

    Suche nach dem Schmerz

    „Der Historiker sucht Antworten auf Fragen. Der Schriftsteller sucht den Schmerz. Er sucht den Schmerz auf Fragen, auf die man keine Antwort findet“5, vermerkte Granin 2007 in einem Interview. In vielen Prosatexten und Essays Granins werden die traumatischen Kriegserlebnisse und zwiespältigen individuellen Erfahrungen von Angst, Gewalt, Schuld und Hass thematisiert. Wie viele Autoren seiner Generation, die den Krieg selbst erlebt haben, schreibt Granin damit gegen die heroisierten Siegesmythen an, die die offizielle Kriegserinnerung prägten. Diese sogenannte „Leutenantsprosa“ setzt dem Massenheroismus des offiziellen Diskurses die subjektiven, schmerzhaften, wenig heroischen „Schützengrabenwahrheiten“ entgegen: Dabei werden auch die monströsen Verbrechen der Deutschen und die brutale Gewalt der sowjetischen Armee etwa an deutschen Kriegsgefangen thematisiert, allerdings eher selten in ihrem traumatischen Ausmaß reflektiert. Mit der „Leutenantsprosa“ „fand die emotionale Verstörung Eingang in die Literatur, nicht aber die existentielle Verstörung“.6

    Granin versuchte in seiner Prosa, die ideologischen Überblendungen der ritualisierten Kriegserzählungen aufzubrechen und der eindimensionalen Sicht auf die Vergangenheit entgegenzuwirken. In seiner späten Erzählung Po tu storonu (2003, Jenseits) demontiert er die festgefahrenen Täter-Opfer-Stereotype. Die Verbrechen der Roten Armee werden hier im Treffen und Dialog von zwei ehemaligen Feinden als Resultat einer brutalen Dialektik des Kriegs reflektiert: Sowjetische Soldaten, die die Grausamkeiten der Deutschen erlebt haben, wurden selbst zu kaltblütigen Tätern an Unschuldigen. Ohne die Verbrechen gleichzusetzen plädiert der Text für gegenseitige Empathie. Sowohl in seinen literarischen Texten als auch bei öffentlichen Auftritten stand Granin in seinen letzten Lebensjahren für die Aufarbeitung der auch heute noch vielfach verdeckten historischen Verbrechen und der Leerstellen der Erinnerung.

    Das Blockadebuch

    Wie viele sowjetische Autoren der Kriegs- und Nachkriegsgeneration schrieb Granin dem Schriftsteller eine wichtige gesellschaftliche Funktion zu. Er verstand ihn als Vermittler der aus der authentischen Erfahrung hervorgegangenen historischen „Wahrheit“. Ein Meilenstein in der Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs ist in diesem Zusammenhang das Blokadnaja kniga (Blockadebuch), das Granin gemeinsam mit dem belarussischen Schriftsteller Ales Adamowitsch herausgab. Die Sammlung von Zeitzeugengesprächen und Tagebucheinträgen über die Gräuel der Belagerung Leningrads erschien 1977 bis 1981 stark zensiert. Damit kamen erstmals Überlebende mit ihren ganz persönlichen Erinnerungen an den grausamen Alltag in der belagerten Stadt jenseits der offiziellen sowjetischen Geschichtsschreibung zu Wort.7

    Granin und Adamowitsch wollten, dass das Blockadebuch als Plädoyer für ein menschliches „Heldentum“ verstanden wird, das nicht aus dem Sieg, sondern aus dem Leiden der Blokadniki geboren ist. Mit diesem Buch traten sie auch gegen das Vergessen und für eine Erweiterung des kollektiven Gedenkens auf. Beide Aspekte waren für Granins lebenslange Erinnerungs- und Versöhnungsarbeit8 leitend. Sie findet man sowohl in seinen Erinnerungen Strach (1997, Jahrhundert der Angst), worin er sich mit den Repressionen der Stalinzeit und dem Zusammenbruch der Sowjetunion auseinandersetzt, als auch in seinem viel beachteten autobiographischen Roman Mein Leutnant, worin er nochmals selbst- und gesellschaftskritisch über seine Kriegserfahrungen reflektiert. Auch in seiner letzten großen Rede, die er 2014 anlässlich der Feierstunde zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus im Deutschen Bundestag hielt, und in der er die Blockade Leningrads ins Zentrum des Gedenkens stellte, finden sich diese beiden Gedanken.

    Symbol der Erinnerungskultur

    Granin gehörte zu den wenigen Autoren, die bereits zu Sowjetzeiten populär waren und auch in postsowjetischen Zeiten viel gelesen sind. Im sowjetischen Literaturbetrieb hatte er zahlreiche wichtige Posten inne: Jahrelang leitete er die Leningrader Abteilung des sowjetischen Schriftstellerverbandes, 1989 wurde er zum Präsidenten des neu gegründeten sowjetischen P.E.N.-Zentrums, seit 1986 war er Mitglied der Akademie der Künste in Ostberlin und nach der Wende der Vereinigten Akademie der Künste. Granin war unter anderem Träger des Staatspreises der UdSSR (1978), des sowjetischen Ordens der Völkerfreundschaft (1979), des Leninordens (1984, 1989) und der Goldmedaille Serp i molot (dt. Hammer und Sichel, 1989), sowie des Bundesverdienstkreuzes (2001), und der höchsten russischen Auszeichnung des Andrej-Perwoswanni-Ordens (2008).

    Bis zu seinem Tod 2017 wurde er in Russland als moralische Instanz anerkannt – trotz seiner nicht immer konfliktfreien Positionen. Und über die Grenzen hinaus wird er bis heute als „gesamtdeutsch-russisches Symbol der Erinnerungskultur9 wahrgenommen. Das liegt sicherlich an seinem kontinuierlichen Ringen um ein gesellschaftlich verantwortliches und menschlich gerechtes Handeln. Diese Problematik erlaubte ihm sowohl unter den Bedingungen des Sozialismus als auch unter denen des Kapitalismus einem unverfälschten, wenn auch bisweilen pathetischen Patriotismus zu folgen, und dabei regierungs- und gesellschaftskritisch zu sein.


     

     

    1. Schorlemmer, Friedrich/Thun-Hohenstein, Franziska (2007): „Der Schriftsteller beginnt dort, wo das Dokument endet“ ↩︎
    2. Die Erzählung Variant vtoroj [Dom vtoroj] in der Literaturzeitschrift Zwezda (Nr, 1, 1949), gilt als erste literarische Publikation Granins. Vgl. Čuprinin, Sergej (2009): Daniil Granin, in: Russkaja literatura segodnja: Novyj putevoditel, Moskva, S. 53 ↩︎
    3. Man denke etwa an die Errichtung neuer Denkmäler, wie die gigantisch große Skulptur der Mutter Heimat in Wolgograd (errichtet 1967), an das den „heroischen Verteidigern Leningrads“ gewidmete Monument (erbaut zwischen 1974/75) etc. Vgl. dazu: dekoder: [gnose-4883]Der Große Vaterländische Krieg in der Erinnerungskultur[/gnose] ↩︎
    4. Granin wurde vor allem in der DDR stark rezipiert. Die Publikationen der Novelle Unser Bataillonskommandeur und des Essays Über Barmherzigkeit lösten 1987 in der DDR große Debatten aus. ↩︎
    5. Schorlemmer, Friedrich/Thun-Hohenstein, Franziska (2007) ↩︎
    6. Kukulin, Il’ja (2009): Schmerzregulierung: Zur Traumaverarbeitung in der sowjetischen Kriegsliteratur, S. 235–256 ↩︎
    7. Adamowitsch, Ales/Granin, Daniil: Das Blockadebuch: Erster und zweiter Teil, Berlin 1987, 1984. Die bisher in deutscher Übersetzung vorliegende Fassung basiert auf der zwischen 1977 und 1981 im Verlag Sovetskij pisatel‘ erschienenen, stark verstümmelten Ausgabe. Erweiterte Auflagen, in die fast alle zensierten Stellen aufgenommen wurden, erschienen 2005 im Verlag Terra und 2013 im Verlag Lenizdat. Eine deutsche Übersetzung auf Basis der erweiterten Fassung wird bald erscheinen. ↩︎
    8. Granin, Daniil (2009): Pričudy moej pamjati sowie Granin, Daniil (2002): Istorija sozdanija Blokadnoj knigi, S. 156–161 ↩︎
    9. Gloger, Katja (2017): Fremde Freunde: Deutsche und Russen – Die Geschichte einer schicksalhaften Beziehung, S. 239 ↩︎

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