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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Moskau 1980: Die Olympischen Sommerspiele

    Moskau 1980: Die Olympischen Sommerspiele

    Am 3. August 1980 erhob sich vom Rasen des Lushniki-Stadions „Mischa“, das Maskottchen der Olympischen Sommerspiele, in den Moskauer Abendhimmel. Fortgezogen von bunten Luftballons entschwand das Bärchen allmählich den Blicken von hunderttausend begeisterten und größtenteils weinenden Zuschauern. Eine denkwürdige und für den Weltsport folgenreiche Olympiade ging zu Ende. Das freundlich lächelnde Gesicht des kleinen, nun überlebensgroßen Bären setzte einen versöhnlichen Schlusspunkt unter ein Spektakel, das die Hauptstadt der Sowjetunion und des Weltkommunismus erstmals als „Dorf“ globaler Sommerspiele in den Blickpunkt der internationalen Sportöffentlichkeit rückte. Für einen Augenblick ließ es die widrigen politischen Umstände vergessen, unter denen diese Spiele vorbereitet und durchgeführt werden mussten. Und erzeugte jene luftige Leichtigkeit, von denen die Anhänger der olympischen Idee gern sprachen.

    Olympia-Maskottchen Mischa entschwebt in den Moskauer Abendhimmel – Schlusspunkt unter einem Spektakel, das die Hauptstadt der Sowjetunion in den Blickpunkt der internationalen Sportöffentlichkeit rückte. Foto: Sergey Guneev / Sputnik
    Olympia-Maskottchen Mischa entschwebt in den Moskauer Abendhimmel – Schlusspunkt unter einem Spektakel, das die Hauptstadt der Sowjetunion in den Blickpunkt der internationalen Sportöffentlichkeit rückte. Foto: Sergey Guneev / Sputnik

    Gemessen an ihrer Größe und internationalen Bedeutung war die Sowjetunion eine vergleichsweise junge olympische Macht. Erst 1952, sieben Jahre nach dem Sieg im Zweiten Weltkrieg, hatte die politische Führung ihre selbstgewählte Isolation von dem größten internationalen Sportereignis aufgegeben und erstmals an einer Sommerolympiade in Helsinki teilgenommen. In wenigen Jahren stieg sie bis zur Spitze des globalen Sports auf, führte mit einer Ausnahme stets die Medaillenlisten an und wurde zum ebenbürtigen Herausforderer der USA. Schon in den 1960er Jahren gab es Bestrebungen, die Olympischen Spiele nach Moskau zu holen – und das hatte durchaus politische Gründe.

    Sport als internationale Politik

    Bis zum Zweiten Weltkrieg nutzte die Sowjetunion ihren Status als „Mutterland der proletarischen Revolution“ zum Aufbau einer alternativen Körperkultur (fiskultura). Die UdSSR grenzte sich von der „bürgerlichen Welt“ mit ihrem „kapitalistischen Leistungsprinzip“ weitgehend ab und organisierte exklusive internationale Großveranstaltungen wie Spartakiaden, Universiaden oder Friedensfahrten der Radfahrer.

    Nach 1945 revidierte sie, nunmehr umgeben von einem Ring aus „Bruderstaaten“ und aufgrund wachsenden Einflusses auf allen Kontinenten, ihr Verhältnis zum Weltsport und zum eigenen Sportkonzept. Die politische Nachkriegsordnung war durch die „Großen Drei“ bzw. die „Großen Vier“ in Teheran, Jalta und Potsdam durch konventionell diplomatische Konferenzverhandlungen gerade erst festgeschrieben. Dem Sport sollte nun kurzzeitig die Rolle zufallen, friedlich den ersten Rang unter den Stärksten auszuspielen – während unmittelbare militärische Konflikte zwischen den Siegermächten künftig vermieden werden sollten. Der Sport war mit dieser neuen Rolle allerdings überfordert – weil sich Spiel und Politik nicht trennen ließen.

    Oftmals schien es sogar, als ob das athletische Kräftemessen im Stadion den gediegenen Prunk der internationalen Politik längst an Publizität übertraf. Immer pompöser wurden die Inszenierungen der physischen Leistungsschauen und immer glamouröser das Begleitprogramm. Populäre Symbole, suggestive Bilder und neuartige Helden fanden über die Massenmedien rasche Verbreitung. Im Wettstreit der Systeme und Lebensstile wurden die Arenen zum (Ersatz-) Schauplatz für Entscheidungen über Modernität, Fortschritt und Effizienz. Der Sport wurde zügig zu einem der wichtigsten Faktoren der Kulturdiplomatie.

    Sehen und gesehen werden

    Mit Umfang und Ausstattung waren stetig auch Sichtbarkeit und Exklusivität der Olympischen Spiele gewachsen. In die Vorbereitung der Spiele im Sommer 1980 musste und wollte die sowjetische Führung deshalb ein außerordentliches Maß an materiellen und personellen Ressourcen investieren. Wenn die Welt zu Gast sein würde, und sei es nur für die Dauer von zwei Wochen, vom 19. Juli bis zum 3. August 1980, reichten exzellente Sportstätten nicht aus. Um sich als globale Führungsmacht zu präsentieren, musste auch das auswärtige Interesse am Entwicklungsstand von Ökonomie und Infrastruktur, Sozialpolitik und Kulturbetrieb befriedigt werden. Wenigstens an den Schauplätzen der Wettkämpfe in Moskau und Leningrad, dem ukrainischen Kiew, dem belarussischen Minsk und dem estnischen Tallinn sollte alles den Ansprüchen einer Weltmacht genügen.

    Doch letztlich stellte sich das Land nicht nur ins Schaufenster, sondern richtete den Blick auch auf sich selbst. Die Introversion diente der Selbstvergewisserung: „Wer sind wir?“, die Sowjetmenschen, im Angesicht der Welt und wie fällt unsere Leistungsbilanz nach über sechs Jahrzehnten Sozialismus aus? Selbstverständlich wollte eine Mehrheit eher über die Stärken im eigenen Haus unterrichtet werden. Diese bot der Leistungssport in Fülle. In der Begeisterung darüber wurden die infrastrukturellen Schwächen im Schul- und Massensport glatt übersehen oder die Verbannung von Obdachlosen und Bettlern aus den Kernstädten eher gerechtfertigt als moniert.

    Was zu vermuten war und nun die Archive bestätigen, offenbart, wie gewaltig die Kraftanstrengung gewesen ist. Die doppelte performative Aufgabe setzte einen komplexen bürokratischen Akt in Gang. Alle Maßnahmen mussten bis in kleinste Details vom Politbüro der Kommunistischen Partei bis hinunter auf die lokale Ebene durchdekliniert werden. Dass die logistische Herausforderung gemeistert werden konnte, lag an der Pragmatik, mit der die vom IOC gesetzten Standards erfüllt wurden. Bei der Vorbereitung der Moskauer Spiele griffen die „aufgeklärten Bürokraten“ auf Erfahrungen bei anderen sowjetischen Großprojekten und Mobilisierungskampagnen zurück, etwa dem Bau der Baikal-Amur-Magistrale (BAM) oder dem Lastkraftwagenwerk an der Mittleren Wolga (KamAZ) – wenn es also darum ging, Spezialisten und Facharbeiter, vor allem aber junge Leute durch ideelle, aber auch materielle Anreize für ein attraktives Nahziel zu begeistern und zum Mitmachen zu bewegen. Die Spiele waren mit diesen technologischen Vorzeigeobjekten aber nur teilweise vergleichbar: Beträchtliche Zugeständnisse an die Olympische Charta sowie an die internationale Öffentlichkeit mussten einkalkuliert werden. Erstmals würden Tausende Athleten, Trainer, Funktionäre und Zuschauer aus „nicht-sozialistischen“ Ländern ins Land strömen und die Sowjetunion an der Freizügigkeit bei früheren Olympischen Spielen messen.

    Stets mussten die Sportfunktionäre indessen damit rechnen, dass Bedenken des Komitees für Staatssicherheit (KGB) allzu großer Aufgeschlossenheit gegenüber der Welt einen Riegel vorschob. Für den KGB waren die Spiele Ernstfall: Prinzipiell stellte sich die Staatssicherheit darauf ein, dass „die Sicherheitsdienste des Gegners“ und „ausländische antisowjetische Zentren“ die Gelegenheit nutzen würden, die Spiele in Moskau zu diskreditieren. Es sei zu erwarten, hieß es bereits in einem Dossier des KGB-Vorsitzenden Juri Andropow vom 25. April 1979, dass sie „eine Verletzung der Menschenrechte in der UdSSR“ insinuieren, „antigesellschaftliche Elemente“ mobilisieren und „provokative Handlungen“ organisieren würden.

    Boykott der Olympischen Spiele

    Die Vorbereitungen liefen schon auf Hochtouren, als die sowjetischen Truppen am 27. Dezember 1979 in Afghanistan einmarschierten. Die Reaktionen auf die Invasion änderten alle Koordinaten – für die internationale Politik wie für die Organisatoren dieser und aller folgenden Spiele. Boykotte von Olympischen Spielen hatte es schon in der Vergangenheit nahezu regelmäßig gegeben. Das Ultimatum des US-amerikanischen Präsidenten Jimmy Carter vom 14. Januar 1980 und der nachfolgende Druck auf die verbündeten Staaten besaßen indessen eine neue Qualität. Zöge die sowjetische Führung die Truppen nicht binnen kürzester Frist ab, würden die USA in Moskau nicht antreten. Nach dem entsprechenden Beschluss vom 14. Februar 1980 musste es für die Kreml-Führung, das IOC und die sowjetischen Organisatoren vordringlich darum gehen, den Schaden zu begrenzen und die Spiele insgesamt zu retten.

    Die im Westen beginnende Boykott-Kampagne führte dazu, dass mehrere Dutzend Staaten, darunter die USA, Kanada, Westdeutschland und China, ihre Teilnahme absagten. Athleten, Trainer und Funktionäre votierten oftmals dagegen, mussten sich aber entweder fügen oder als unabhängige Sportler unter der olympischen Flagge antreten. Zu letzteren zählten Teilnehmende aus Großbritannien, Frankreich, Italien und den Niederlanden. Die Reihen der westlichen Ablehnungsfront waren zwar keineswegs geschlossen. Der Afghanistan-Konflikt und die Boykottpolitik überschatteten dennoch die gesamten Spiele. Die sowjetische Bevölkerung allerdings wurde über diesen Zusammenhang im Unklaren gelassen.

    In mehrfacher Hinsicht waren die Olympischen Sommerspiele in Moskau trotz der prekären politischen Rahmenbedingungen sogar ausgesprochen erfolgreich. Foto: Valeriy Shustov / Sputnik
    In mehrfacher Hinsicht waren die Olympischen Sommerspiele in Moskau trotz der prekären politischen Rahmenbedingungen sogar ausgesprochen erfolgreich. Foto: Valeriy Shustov / Sputnik

    Moskauer „Friedensfest“

    Gemessen an den massiven Vorkehrungen, um die Kontrolle über das Großereignis „Friedensfest“ zu gewährleisten, umgab die Rumpfspiele eine durchaus entspannte, unverwechselbare Atmosphäre. In mehrfacher Hinsicht waren sie trotz der prekären politischen Rahmenbedingungen sogar ausgesprochen erfolgreich. 74 olympische und 36 Weltrekorde machten das Fehlen insbesondere US-amerikanischer Stars zwar nicht wett. Allerdings sprachen sie für ein hohes Leistungsniveau. Sowjetische Sportlerinnen und Sportler unterstrichen ein weiteres Mal ihren internationalen Führungsanspruch mit insgesamt 195 Medaillen, davon 80 in Gold. Unter den 80 vertretenen Nationen, denen 60 Absagen gegenüberstanden, nahm eine ganze Reihe erstmals an Olympischen Spielen teil, darunter Angola, Vietnam, Mozambique, Nicaragua und Zypern. Höher als jemals zuvor war ebenso der Anteil weiblicher Athleten – 1.115 von insgesamt 5.179.

    Über sich hinauswachsen konnte die Sowjetunion – dieses historische Schicksal teilte sie mit allen vorherigen ambitionierten Ausrichtern – nur im Rahmen ihres Selbstverständnisses und ihrer Möglichkeiten. Gleichwohl überraschte es viele, dass in dem atheistischen Staat der Patriarch der Russischen Orthodoxen Kirche auf der Tribüne des Lushniki-Stadions Platz nehmen durfte und wie selbstverständlich Gebetsräume für Gläubige anderer Glaubensrichtungen eingerichtet wurden. Eine Vorstellung vom Leistungsvermögen des seit den späten 1950er Jahren ausgebauten Sowjettourismus vermittelte die Reisegesellschaft Inturist mit ihren Bussen, „Gidy“ (Reiseführern) und Hochglanzbroschüren.

    „Schneller, höher, stärker“

    Insgesamt bestätigten die Moskauer Spiele bei allem Bemühen um Lockerheit, wie eng der sowjetische Sport seit seinen Anfängen mit dem Staat und seinen eindrucksvollen Machtinszenierungen, inzwischen aber auch institutionell, personell und ideell mit dem Gepränge und der technologischen Innovationsspirale des Weltsports verflochten war. „Schneller, höher, stärker“ – der Slogan der Abschiedszeremonie – fasste die hybride Botschaft solcher säkularen Weihefeste in knappster Form zusammen. Was das Land zu diesem Zweck nicht selbst besaß oder herstellen konnte, beschaffte es sich ohne Umstände aus dem „befreundeten“ oder „feindlichen“ Ausland – nicht selten zu Lasten der knappen Devisenreserven. Solcher Pragmatismus war selbst dem Politbüro nicht fremd, wenngleich es in seinem „streng geheim“ klassifizierten Beschluss vom 14. August 1980 eher die Götter des sowjetischen Olymps beschwor: Ein „großer politisch-moralischer Erfolg“ sei zu verbuchen, manifestiert in den Vorzügen des „sowjetischen Lebensstils“ und der „sozialistischen Demokratie“, des Internationalismus und der Gastfreundschaft, der Disziplin und ideologischen Einheit der Gesellschaft.

    Eine Wende im globalen Sport

    Trotz der beachtlichen Erfolge und der bedingten Öffnung einer für viele noch immer verschlossenen und fremden Welt war „Moskau 1980“ zwangsläufig auch ein Festival verpasster Gelegenheiten. Wie hätten die Organisatoren das Mega-Event gestaltet, wenn es nicht zum Boykott so vieler Sportnationen gekommen wäre? Oder, wäre eine Austragung der Olympischen Spiele bereits im Jahr 1976 für die Sowjetunion vorteilhafter gewesen? Im Nachgang zur Helsinki-Schlussakte von 1975 wäre das symbolische Kapital von Sportkontakten für die internationalen Beziehungen vielleicht noch nicht aufgebraucht gewesen. Generalsekretär Leonid Breshnew, gesundheitlich zwar bereits geschwächt, aber im Zenit seiner Macht stehend, hätte das Großereignis als weiteren Triumph seiner Entspannungspolitik feiern können. Ein „Afghanistan-Syndrom“, das in einem Atemzug mit Amerikas Vietnam-Fiasko genannt werden würde, gab es noch nicht.

    Solche hypothetischen Fragen entbehren nicht einer gewissen Logik. Doch wurde möglicherweise gerade das drohende Scheitern zum Ansporn, die Spiele „um jeden Preis“ zu retten – ganz im Sinne von IOC-Präsident Avery Brundage, der 1972 als Antwort auf den palästinensischen Terror während der Olympischen Spiele von München die trotzige Formel prägte: „The games must go on“. Allerdings stieg nach 1980 die Zahl derer stetig an, die anders dachten. Sicherlich waren die Olympischen Spiele niemals frei von der Spannung zwischen sportlichem Geist und politischer Vereinnahmung gewesen. Die Verschiebungen in der modernen Staatenwelt durch die aufstrebenden jungen Mächte der postkolonialen Epoche konnten die olympische Idee nicht unberührt lassen. „Moskau 80“ wurde also nicht deshalb zur irreversiblen Zäsur, weil dem „westlichen“ Boykott der „östliche“ in Los Angeles 1984 auf dem Fuß folgte. Vielmehr verselbständigten sich langfristige Trends der Desillusionierung.

    Mega-Events im Sport standen nolens volens im Dienst außersportlicher Ziele. Ob medial-kommerziell, nationalpatriotisch, machtdiplomatisch oder antikolonial legitimiert – der „reine Sport“ verlor seine Bindekraft. Juan Samaranch, seit 1980 Präsident des IOC, begründete diese Wende nicht zuletzt mit dem finanziellen Desaster der Olympischen Spiele 1976 in Montreal. Es galt, konsequenter als bisher verlässliche Geldquellen zu erschließen. Mehr oder weniger unabhängige Sponsoren und Medienkonzerne oder direkt Staatsbudgets sollten fortan die Spiele garantieren. Der alte Streit um „Professionelle“ und „Amateure“ im Spitzensport wurde zugunsten Ersterer entschieden. Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung hatte der sowjetische sport-administrative Komplex im Übergang von den 1970er zu den 1980er Jahren noch einmal seine Leistungsfähigkeit unter Beweis gestellt. Danach erodierten die Strukturen in schneller Folge und es mehrten sich die Anzeichen einer allgemeinen gesellschaftlichen Ermüdung, die schließlich zum Zerfall der UdSSR führen sollten.

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  • Napoleon Bonaparte in Russland

    Napoleon Bonaparte in Russland

    Kein Ereignis hat die russische Kultur im 19. Jahrhundert so stark beeinflusst wie der Vaterländische Krieg von 1812 – und kein Herrscher die Gemüter und Geister mehr bewegt als Napoleon Bonaparte. Doch erschöpft sich beider Geschichte nicht in der Erzählung von der Abwehr einer existentiellen Bedrohung von außen und dem „nationalen Erwachen“ russischer Patrioten. Vielmehr erschließt sich aus Briefen und Tagebüchern, Bildzeugnissen, Memoiren und Presseartikeln, Gedichten, Volksliedern und Romanen eine komplexe Wirkungsgeschichte, die wie ein roter Faden auch die Erinnerung von Familien über Generationen hinweg durchzieht. 

    In unterschiedlichen sozialen Milieus wurde kontrovers über die Folgen der französischen Revolution sowie über Glanz und Elend unbeschränkter Macht in der großen Politik wie im privaten Leben debattiert. Im Zuge dieser Auseinandersetzung entstanden Schlüsselwerke, die zum Grundbestand der „russischen Idee“ zählen. Explizit oder nebenbei, metaphorisch oder symbolisch kreisen sie um die Figur des namenlosen Aufsteigers, der sich den französischen Kaiserthron dienstbar machte, militärisch von Sieg zu Sieg eilte und einem halben Weltreich seinen Willen diktierte, bevor er in den Tiefen des russischen Raumes monströs scheiterte.

    Feldzug nach Russland: Schlusskapitel eines Meisterwerks?

    Napoleons Feldzug gegen Russland wurde von den Zeitgenossen als ohne Beispiel in der Neuzeit empfunden. Fjodor Glinka, ein Dichter und hoher Staatsbeamter, forderte deshalb bereits 1816, eine monumentale Geschichte dieses Krieges in Auftrag zu geben. Er war nach dem Einmarsch der Grande Armée 1812 in den russischen Militärdienst eingetreten und hatte vieles aus unmittelbarer Anschauung miterlebt: die Gefechte um Smolensk Mitte August, die große Schlacht bei Borodino Anfang September und wenig später die dramatische Wende in Moskau, die Räumung der Stadt durch die russischen Truppen und den nachfolgenden Großbrand. 

    Daraus ergab sich für ihn die Notwendigkeit, dieses außerordentliche, gewaltige Geschehen mit Sinn zu füllen. Den unzähligen Gerüchten etwa über die Gründe, warum dem auf russisches Territorium vordringenden Massenheer Napoleons keine Entscheidungsschlacht aufgezwungen wurde, sollte Einhalt geboten werden. Statt eines frühen Gegenschlags hatten Krankheiten, Hunger und zahllose Scharmützel die Moral der Invasionsarmee zermürbt. Lediglich ein Bruchteil der weit über 400.000 Soldaten, die am 24. Juni die Memel (polnisch: Niemen) überquert hatten und denen in der Folge weitere knapp 200.000 zugeführt wurden, erreichte gegen Mitte September „Mütterchen Moskau“, das sakrale Zentrum „Mutter Russlands“. Der Armee Napoleons stand eine zarische Streitmacht gegenüber, die nominell ebenfalls über 600.000 Mann verfügte.

    Vergeblich erwartete der bisher erfolgsverwöhnte französische Kaiser auf dem „Verneigungshügel“ vor Moskau eine Schlüsselübergabe durch Emissäre der Stadt. Als schließlich große Teile der überwiegend hölzernen Viertel durch Brandstiftung ein Opfer der Flammen wurden, saß Napoleon mit seiner Generalität im steinernen Kreml fest. Ein schreckliches Drama nahm seinen Lauf: Zum entscheidungslosen Abzug gezwungen, wurden die Reste der Grande Armée auf dem Rückweg Opfer des einbrechenden Winters, grassierender Seuchen und der Angriffe frischer regulärer Kräfte und mobiler Partisaneneinheiten an den Flanken. 
    Im November kam es an der Beresina zur Katastrophe, als russische Truppen die Hauptroute für den Rückzug abschnitten. Zwar gelang der französischen Restarmee durch ein geschicktes taktisches Manöver die Überquerung des Flusses. Die strengen Fröste dezimierten aber unerbittlich die Reihen der nurmehr in Lumpen gekleideten Davongekommenen. Schätzungsweise 20.000 bis 80.000 kehrten aus Russland zurück. Die Verluste auf russischer Seite werden auf 200.000 bis 300.000 beziffert.

    Ob Napoleon den Feldzug gegen Russland als Schlusskapitel eines Meisterwerks plante, ist strittig. Sollte Napoleon mit dem Marsch auf Moskau tatsächlich nach der Weltmacht gegriffen haben, so stieß er ins Leere. Er hatte das in einem Jahrzehnt errichtete Imperium aufs Spiel gesetzt und innerhalb von sechs Monaten an den Rand des Ruins gebracht. Der Nimbus des unbesiegbaren Militärstrategen war zerstört, weil in diesem Krieg die bisherigen Trümpfe nicht stachen. Von seiner Hybris zeugte, dass Napoleon im Angesicht der vernichtenden Niederlage die Pflicht des Oberbefehlshabers verletzte und am 5. Dezember seinen Soldaten den Rücken kehrte, um auf der Flucht nach Paris wieder ausschließlich in die Rolle des Kaisers und Staatsmanns zu schlüpfen. In diesem wohl dunkelsten Moment seiner militärischen Karriere dachte er nicht an Kapitulation, sondern an die Aushebung einer neuen Armee.

    Alltägliche Tyrannen

    Um solche Unbedingtheit zu fassen, bedurfte es adäquater Begriffe und Ausdrucksformen, denn offensichtlich hatte die französische Revolution die Grenzen individueller Macht verschoben. Napoleon schien moralische Schranken hinter sich lassen, absolut frei entscheiden, seinen Willen zum Maß der Politik machen und das Glück zwingen zu können. 
    Der Russlandfeldzug markiert diesbezüglich eine Zäsur: Offener denn je wurden Herrschaft und Persönlichkeit zutiefst ambivalent wahrgenommen. Außerordentliche Leistungen wie etwa das Bürgerliche Gesetzbuch, das allgemeine und gleiche Wahlrecht, eine funktionale staatliche Verwaltung, die Beschleunigung der internationalen Kommunikation und ein überregionales Verkehrswegenetz traten in den Schatten. Die verlustreichen Massenkriege, die imperiale Expansion, polizeistaatliche Überwachung, der Nationalismus von Portugal bis Russland, der sich in einander verstärkenden Freiheitsbewegungen manifestierte, oder die zunehmend maßlose Eigenpropaganda traten umso greller hervor. 

    Strenger Frost dezimierte unerbittlich die Reihen der sich zurückziehenden Grande Armée / Illarion Prjanischnikow, „Im Jahr 1812“, 1874
    Strenger Frost dezimierte unerbittlich die Reihen der sich zurückziehenden Grande Armée / Illarion Prjanischnikow, „Im Jahr 1812“, 1874

    Wer war Bonaparte wirklich, und was geschah mit Menschen, die „Napoleon sein“ wollten, indem sie dies mit scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten gleichsetzten? Alexander Puschkin stilisierte in seinen Gedichten in einer Zeit fortdauernder „Gallomanie“ den Kaiser der Franzosen zum Idealbild des romantischen Helden. Obwohl 1812 manch hochtrabender Traum zerstob, blieb der Glanz eines kometengleichen Aufstiegs. Für seine Grundlegung einer „nationalen“ russischen Literatur aus napoleonischem Geist lobte der Kritiker Wissarion Belinski den Dichter. Denn der große Franzose galt ihm vor allem als Symbol des Protests gegen die Unterdrückung, zumal in Russland, wo die Bauern ebenso aufbegehrten wie junge Offiziere in Geheimgesellschaften. 

    Auf Napoleon beriefen sich aber auch Anhänger nicht-orthodoxer religiöser Gemeinschaften, etwa die zahlreichen Altgläubigen oder die radikale asketische Sekte der „Skopzen“. Sie verbanden Napoleon mit dem vergegenwärtigten Mythos des kommenden Messias, der sie von den Bedrängnissen der Gegenwart erlösen sollte. 
    Wieder andere erwarteten die Wiederkunft des „Antichristen“ gemäß der Johannes-Apokalypse, der über Gläubige wie über Ungläubige richten würde, um sie dem ewigen Leben beziehungsweise der ewigen Verdammnis zuzuführen. Noch am Vorabend des Ersten Weltkriegs behauptete der Schriftsteller Dmitri Mereshkowski, Napoleon verkörpere ein ganzes Jahrhundert. 

    Russische Truppen schnitten im November an der Beresina die Hauptroutefür den Rückzug ab / Januari Suchodolski, „Die Grande Armée überquert die Beresina“, 1866
    Russische Truppen schnitten im November an der Beresina die Hauptroutefür den Rückzug ab / Januari Suchodolski, „Die Grande Armée überquert die Beresina“, 1866

    Gegen diese Sicht setzte Lew Tolstoi in den 1860er Jahren mit seinem monumentalen Roman Krieg und Frieden ein Anti-Denkmal. Der „Übermensch“ Napoleon erleidet einen „Bankrott“ und schrumpft auf „Quasi-Größe“. Im Getümmel unübersichtlicher Schlachten hängt der Ausgang nicht von der Intuition eines großen Mannes, sondern vom Zufall ab. 
    Wie ein Duell gestaltete auch Fjodor Dostojewski seine Abrechnung mit dem Heldenkult. Raskolnikow, der Protagonist des Romans Verbrechen und Strafe, imitiert in seinem schäbigen Dasein den Inhaber absoluter Macht und begeht aus reiner Willkür einen Mord. Napoleon steht für das ultimative Paradigma, einem freien Menschen sei „alles erlaubt“. Eine solche Binnenperspektive war beängstigend, entlarvte sie doch die außerordentliche Persönlichkeit als gewöhnlichen Kriminellen, der sich gottgleich wähnte und deshalb selbst ermächtigte, über Leben und Tod zu entscheiden.

    Warten auf „Bonaparte“

    Napoleon starb am 5. Mai 1821 im Exil auf Sankt Helena. Für Puschkin bedeutete dies, dass seither „die Welt leer“ war. Gleichgültig, ob das einstige Idol bewundert oder verdammt wurde, es hinterließ ein emotionales Vakuum. Machtökonomisch, sicherheitspolitisch und ideologisch schien alles offen. Solange er lebte, war Napoleon der perspektivische Fluchtpunkt nachrevolutionärer nationaler oder imperialer Bestrebungen gewesen. Von ihm aus definierten kühne Freiheitskämpfer und defensive Machtpolitiker ihre Ziele. Zwar hatte der Wiener Kongress 1815 dem Kontinent eine restaurative Reorganisation verordnet, doch wurde nach der turbulenten napoleonischen Herrschaft in und über Europa nichts wieder so wie es gewesen war.

    Napoleon / Jacques Louis David, 1812
    Napoleon / Jacques Louis David, 1812

    Der Herrschertyp des charismatischen Soldaten auf dem Kaiserthron bot, zum wiederkehrenden Muster umgedeutet, eine Anleitung zum Staatsstreich in revolutionären Zeiten. Karl Marx interessierte am „Bonapartismus“ weniger der „18. Brumaire 1799“, also der Ursprung der Legende vom automatisierten Regimewechsel, als vielmehr dessen Parodie durch den „zweiten Napoleon“, den Revolutionsgeneral Louis Napoleon. Der hatte am 2. Dezember 1851 die Nachwehen der Revolution von 1848 zum perfektionierten Coup d‘Ètat genutzt. Weder Bonapartes Neffe noch spätere Epigonen kamen dem Vorbild von 1799 nahe. Sich selbst die Krone aufzusetzen, war kein Privileg Napoleons gewesen. Doch transzendierte die pompöse Inszenierung den banalen Militärputsch in eine quasi-monarchische Zeremonie. 

    Hingegen reduzierte später Lenin wie vor ihm Marx den vielschichtigen Vorgang ausschließlich auf den funktionalen Übergang in die Despotie. Ironischerweise lässt sich das retrospektiv abgeleitete Verlaufsschema keineswegs nur auf die gescheiterten Diktaturen Kerenskis anwenden, sondern auch auf die Umsturztaktik der Bolschewiki im Oktober 1917: Diese nahmen, wie Jacob Burckhardt vormals in anderem Zusammenhang formuliert hatte, mit ausgeprägtem Gespür für die Macht den Staat als „Beute“. Nach dem verheerenden Bürgerkrieg grassierte in Russland die Sehnsucht nach einem „roten Napoleon“ oder „sozialistischen Kaiser“, zumal als Lenin 1924 gestorben war und der Machtkampf um das Erbe des nicht-militärischen Partei- und Staatsgründers eskalierte. Militärführer wie Michail Tuchatschewski, der vor kaltblütiger Gewalt gegen die Opposition in den eigenen Reihen nicht zurückschreckte, oder Wassili Blücher, waren zwei der fünf ersten sowjetischen Marschälle. Doch Blücher saß später in den Schauprozessen der 1930er Jahre über Tuchatschewski zu Gericht, um kurz darauf selbst dem Räderwerk des Terrors zum Opfer zu fallen.

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    Der Vaterländische Krieg von 1812

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  • Der Vaterländische Krieg von 1812

    Der Vaterländische Krieg von 1812

    Als „Vaterländischer Krieg“ ging Napoleons gescheiterter Feldzug gegen Russland im Jahr 1812 in die russische Geschichtsschreibung ein. Er nimmt im kollektiven Gedächtnis Europas den Platz im 19. Jahrhundert ein, der dem Zweiten Weltkrieg im 20. Jahrhundert zufällt. Im russischen Geschichtsbewusstsein stehen „Vaterländischer Krieg“ und „Großer Vaterländischer Krieg“ in einem engen symbolischen Zusammenhang: Zweimal wurde eine existentielle Bedrohung des Staates durch eine beispiellose Kraftanstrengung der „Nation(en)“ abgewehrt. Schier übermächtige, von Erfolgen verwöhnte Streitkräfte aus Kontingenten verbündeter europäischer Mächte, die Grande Armée oder die nationalsozialistische Wehrmacht, werden nahezu aufgerieben. Russische Truppen ziehen in Paris beziehungsweise Berlin ein. 

    Der Krieg von 1812 wird in der Erinnerung mit spekatulären Schlachten in Verbindung gebracht, wie der „entscheidenden Schlacht“ bei Bordino (Louis Lejeune, 1822)
    Der Krieg von 1812 wird in der Erinnerung mit spekatulären Schlachten in Verbindung gebracht, wie der „entscheidenden Schlacht“ bei Bordino (Louis Lejeune, 1822)

    Zwei Katastrophen unvorstellbaren Ausmaßes, zwei verheerende Niederlagen beziehungsweise zwei glänzende Siege ergeben aber noch keine eindeutige Geschichte. Hohe Verluste waren auf beiden Seiten zu beklagen, Prestigegewinn und Machtzuwachs hielten sich die Waage mit neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen.

    Das ambivalente Erbe des Krieges

    Ambivalent war das Erbe von 1812 schließlich auch deshalb, weil sich hier die Wasser teilten. Das „Vaterland“ verteidigten nicht allein Russen, sondern Angehörige anderer Ethnien des Vielvölkerreiches, nicht zuletzt die Bewohner der belarussischen und ukrainischen Lande. Wie im übrigen Europa erfasste sie alle das Gefühl nationaler „Erweckung“. Wie ein Lauffeuer erfasste dieser außerordentliche Krieg den etablierten Kulturbetrieb, die Folklore, die Historiographie und das politische Denken. Maler, Musiker, Dramatiker, Dichter, Romanciers, Bildhauer und Regisseure wurden in 200 Jahren nicht müde, ihn stets aufs Neue nachzugestalten und zum emotionalen Erlebnis zu machen. Die Feierlichkeiten zum 100-jährigen Jubiläum im Jahre 1912 bedeuteten kein Ende des Booms. Selbst heute, über 200 Jahre später, hat der gescheiterte „Marsch auf Moskau“ nichts von seiner suggestiven Ausstrahlung eingebüßt, nicht zuletzt deshalb, weil Hitler das vergebliche „Husarenstück“ wiederholte.

    Es war der erste Krieg seit zwei Jahrhunderten, den Russland auf eigenem Territorium führen musste. Es war ein Krieg, der durch spektakuläre Rückzüge der russischen Armee bis in die Tiefe des Landes hinein geführt wurde. Es war ein Krieg, in dem die russische Selbstwahrnehmung stark verletzt wurde, vor allem dadurch, dass feindliche Truppen in Moskau – damals zwar keine Hauptstadt, aber immer noch ein Symbol der Staatlichkeit – einmarschiert waren. In der Erinnerung wird dieser Krieg jedoch mit spektakulären Schlachten in Verbindung gebracht, in denen auf beiden Seiten zehntausende Soldaten fielen, wie bei der entscheidenden Schlacht bei Borodino, die doch nichts entschied. Die Gemälde und Gravuren mit dem in Brand gesetzten und nahezu vollständig abgebrannten Moskau – dem immer noch nicht restlich aufgeklärten und mythenumwobenen Höhepunkt des Krieges – stehen in der Erinnerung neben Bildern der erfrorenen, verhungerten und halbnackten Soldaten der Grande Armée, die Ende des Jahres aufhörte zu existieren. Scham und Stolz, beides begleitet die Erinnerung an den Krieg von 1812.

    „Die Kinder des Jahres 1812“

    Nicht weniger wichtig ist aber abseits der Frontlinien, Schlachten und Feldzüge das individuelle Erleben des Krieges von 1812, das dem Begriff des „Vaterlands“ (patria), um den schon das Denken der Gelehrten im 18. Jahrhundert kreiste, unbekannte Nuancen hinzufügte. Es formte eine romantische Persönlichkeit, der die Muster der eigenen Erziehung zu eng wurden. Tagebücher, Briefe und Erinnerungen geben Auskunft über diese säkulare Transformation des Fühlens und Denkens. Im Schrecken und im Freiheitsgefühl des Wunderjahres kulminierte eine neue emotionale Kultur, um deren Maßstäbe nun der kaiserliche Hof und die Salons des Adels mit Freimaurerlogen, Lesegesellschaften, außerkirchlichen Frömmigkeitskreisen und patriotischen Geheimzirkeln konkurrieren mussten. Wer etwas auf sich hielt, strebte dem Idealbild eines Europäers nach, wie es etwa aus Nikolaj Karamsins Briefen eines russischen Reisenden oder seiner Schrift Über das alte und das neue Russland herauszulesen war. Tugendnorm und schicklicher Ausdruck von Gefühl, Freundschaft und Leidenschaft unterlagen veränderten Codes, die weit ins 19. Jahrhundert ausstrahlten und teils noch in der Gegenwart modern erscheinen. In Fluss geratene religiöse und moralische Vorschriften und Tabus erlaubten es dem Individuum, Wissen und Selbstvergewisserung in neuen geselligen Formen zu suchen.

    Armeedienst, Bildung und Politik

    Die jungen adeligen Offiziere, die aus den „Ausländischen Zügen“ 1813 bis 1815 (Sechster Koalitionskrieg) siegreich heimgekehrt waren, teilten ein ganz anderes Europa-Erlebnis als ihre lesenden und reisenden Vorväter. Sie knüpften soziale Netzwerke und verschafften dem Freiheitsstreben dichte und verzweigte Strukturen und Resonanzräume, die traditionsbildend wirkten. Trotz sowjetischer denkmalgestützter Vereinnahmungsversuche, die aus den Dekabristen Vorläufer des Roten Oktober machen wollten, durchzieht ihr umfängliches und widersprüchliches Erbe die Epochen über alle Zäsuren hinweg, und sei es bloß als Gestus des Widerspruchs gegen die Zumutungen des „Staates“. 
    Jenseits solcher Zuschreibungen, die meist der Legendenbildung des 19. Jahrhunderts verhaftet sind, repräsentieren die Generation von 1812 und die Rebellen von 1825 ein vielschichtiges gesellschaftliches Umfeld, das zwar vom Adel dominiert war, aber die Folgen des „Volkskrieges“, der Partisanenverbände und des bäuerlichen Aufgebots mitbedachte. So beschleunigte und vertiefte der „Vaterländische Krieg“ eine intellektuelle Revolution, die der sozialen Frage nicht länger ausweichen wollte. Während Poeten wie Michail Lermontow vor allem den ewigen Helden besangen, schuf Lew Tolstoi mit dem Jahrhundertwerk Krieg und Frieden bewusst ein Gegenbild, in dem der Zar fehlbar, gleichsam ein sterblicher Gott war. So hatten es schon einzelne Dekabristen im Verhör zu Protokoll gegeben.

    Anfänge des politischen Denkens

    Wer in die Archive mit den Prozessakten und die privaten Nachlässe eintaucht, begibt sich auf eine aufregende Reise in die Anfänge des politischen Denkens in Russland. Die Übersetzungen politischer Texte des 18. Jahrhunderts aus dem Französischen fielen unter den wissbegierigen Offizieren auf fruchtbaren Boden. Begriffe aus europäischen Diskursen füllten sich mit russischen Inhalten, wurden zurücktransferiert, stießen einen transnationalen Gedankenaustausch an. Es ist wenig sinnvoll, in diesem frühen Ideen-Geflecht „Radikale“ von „Romantikern“, „Konservative“ von „Liberalen“, „Revolutionäre“ von „Reaktionären“, „Aufrührer“ von „Dichtern“ oder „Westler“ von „Slawophilen“ streng unterscheiden oder gar gegeneinander ausspielen zu wollen. Eher besteht die Kunst darin, zu verstehen, wie diese Gegensätze in ein und derselben Person koexistieren konnten. Auch in Verfassungsentwürfen wurden Elemente der „Diktatur“ mit Postulaten der „Demokratie“ und religiöse Toleranz mit dem Gebot einer Staatsreligion unbefangen zusammengedacht.

    Russland als Ordnungsmacht

    Alexander I. und sein Nachfolger Nikolaus I. ernteten die Früchte des Sieges über Napoleon. Nach dem prunkvollen Wiener Kongress beziehungsweise nach dem schockierenden Aufstand von 1825 wandten sich beide von sozialen Reformen ab. Dennoch veränderte sich Russland grundlegend. Es war nicht nur Großmacht geworden, die der Heiligen Allianz der drei Throne bei der politischen Neuordnung des Kontinents den Stempel aufdrückte, sondern öffnete sich gegenüber der europäischen Kultur, wie Europa sich nach Osten öffnete. Wenn fortan die Verhältnisse auf dem Kontinent stabilisiert oder verändert werden sollten, war das Zarenreich stets Zünglein an der Waage, gleichgültig, ob ihm die Rolle eines „Retters“, „Befreiers“ oder „Gendarmen“ Europas zufiel.
    Daraus erwuchs mehr als ein außenpolitischer Einfluss, der bei Aufständen und Revolutionen wie 1830/31 in Frankreich und Polen oder 1848/49 im Deutschen Bund, in Preußen und dem Habsburgerreich auch militärisch zur Geltung gebracht werden konnte. Russland wollte sich zugleich als Hort der legitimen Monarchie zeigen und mit seiner „befriedeten“ Gesellschaft den „anarchischen“ republikanischen Staaten den Spiegel vorhalten. Indessen waren die Kategorien einer „gegenrevolutionären“ Sicherheitspolitik, die innere und auswärtige Belange miteinander verknüpfte und selbst das Privatleben als Feld argwöhnischer Beobachtung entdeckte, keineswegs spezifisch russisch. Überall in Europa und selbst in den transatlantischen Beziehungen wurde nach adäquaten Mitteln gesucht, die „revolutionäre Pest“, deren Ursprung in der Französischen Revolution gesehen wurde, einzudämmen oder ihr frühzeitig vorzubeugen. „Gendarmen“ flanierten offen durch den Alltag der Bürger und Untertanen, nach den Karlsbader Beschlüssen und im deutschen Vormärz eher inkognito.

    Maler, Musiker, Dramaturgen wurden nicht müde, den Krieg stets aufs Neue nachzugestalten (Wassili Wereschtschagin, 1887-1895)
    Maler, Musiker, Dramaturgen wurden nicht müde, den Krieg stets aufs Neue nachzugestalten (Wassili Wereschtschagin, 1887-1895)

    Symptomatisch für die Verschiebung der Machtverhältnisse war nicht zuletzt, dass den Regenten und ihren Kanzleien die Gestaltungshoheit über den wachsenden öffentlichen Raum zu entgleiten drohte. Journale, Zeitungen und Flugblätter unterlagen zwar der Zensur, lieferten aber dennoch wirkmächtiges Wissen und brisante Information. Seit der Jahrhundertwende neu gegründete Universitäten erweiterten die Bildungsgesellschaft in Russland und boten ein Forum für den transnationalen gelehrten Austausch.

    Der Vaterländische Krieg ragt aus dem Zyklus monumentaler Geschichtsbetrachtung hervor. Er war präzedenzlos, auch wenn Zeitgenossen der napoleonischen Kriege die „Zeit der Wirren“ zu Beginn des 17. Jahrhunderts ins Gedächtnis riefen, als auswärtige Mächte die Vakanz auf dem russischen Thron zur Intervention nutzten. Im August 1914 war es anders. Nun sollte der heraufziehende Weltkrieg zum „Zweiten Vaterländischen Krieg“ erklärt werden. Doch bedrohte dieser Krieg die staatliche Ordnung und erschütterte die sozialen Strukturen in ganz anderer Weise als sein vermeintliches Vorbild.

     

    Im Jahr 2012 – zum 200. Jahrestag – wird die Schlacht bei Borodino nachgestellt

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  • Russischer Bürgerkrieg

    Russischer Bürgerkrieg

    Der russische Bürgerkrieg, der nach dem Oktoberumsturz ausbrach, veränderte den eurasischen Großraum zwischen Berlin und Wladiwostok, Budapest und Peking, Murmansk und Teheran tiefgreifender als der Erste Weltkrieg. Er bildete den Kern einer Weltrevolution, die dem 20. Jahrhundert ihren (selbst)zerstörerischen Stempel aufdrückte. In der Erinnerungslandschaft Russlands und Europas hat der Krieg seinen Platz allerdings noch nicht gefunden. Seiner angemessen zu gedenken bedeutet zugleich, ihn nicht länger wie eine Randglosse zu der Friedensordnung zu betrachten, die nach dem Ersten Weltkrieg in Versailles und anderen Pariser Vororten ausgehandelt wurde.


    Am 25. Mai 1918 traf an der Bahnstation der Wolgastadt Samara um 23 Uhr aus Moskau ein Befehl an alle „Räte“ und „örtlichen Kriegskommissare“ entlang der Strecke Pensa – Omsk ein. Unter Androhung drakonischer Strafen, sollten „die Tschechoslowaken“ unverzüglich „entwaffnet werden“. Jeder, der unter Waffen angetroffen würde, sei standrechtlich zu erschießen und seine Einheit in ein Kriegsgefangenenlager zu verbringen. Wer seiner Pflicht nicht nachkam, sollte wegen „ehrlosen Verrats“ zur Rechenschaft gezogen werden. Kein einziger Waggon mit tschechoslowakischen Soldaten durfte nach Osten passieren.

    Ein Befehl und seine Folgen

    Den Aufruf zur Gewalt gegen Bürger der damaligen Donaumonarchie unterzeichnete Lew Trotzki, Volkskommissar für Militärangelegenheiten der bolschewistischen Revolutionsregierung. Die Tschechoslowaken hatten im Weltkrieg an der Seite Russlands und der Alliierten gekämpft. Teile dieser „Legion“ gerieten 1917 in die revolutionären Wirren. Moskau war mit dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk aus dem Krieg ausgeschieden, und die Tschechoslowakischen Corps wollten nun über den Fernen Osten an die Westfront gelangen. Dort wollten sie an der Seite Frankreichs für den Sieg der Alliierten gegen die Mittelmächte, vor allem aber für einen eigenen Staat weiterkämpfen. Sie vereinbarten mit Wladimir Antonow-Owsejenko, dem Kommandeur der Roten Garden im Süden, freies Geleit bei gleichzeitiger Teilentwaffnung. Indessen gerieten tschechoslowakische Einheiten, die sich bereits auf dem Weg nach Sibirien befanden, entlang der Bahnlinie wiederholt in Scharmützel mit probolschewistischen Truppen.

    Trotzkis Befehl spitzte die Lage extrem zu. In der Legion kehrte sich die Stimmung endgültig gegen die Bolschewiki. Die Tschechoslowaken  waren an der Eroberung von Wolgastädten beteiligt, in denen kurzfristig oppositionelle Sozialisten die Macht übernahmen. Ein Schulterschluss mit den Truppen des Admirals der Weißen Armee in Sibirien, Alexander Koltschak, kam allerdings im Herbst 1918 trotz eines Appells der Alliierten nicht zustande.

    Säkulare Katastrophe

    Die Episode mit der Tschechoslowakischen Legion war symptomatisch für die Eskalation der Gewalt beim Übergang vom äußerem zum inneren Krieg. In Bürgerkriegen wird stets um vieles zugleich gekämpft – um „Freiheit“, „soziale Gerechtigkeit“, „wahre Demokratie“, „nationale Selbstbestimmung“ und staatliche Unabhängigkeit. Frieden kann es erst geben, wenn alle Kräfte erschöpft sind und eine Macht sich zum Sieger erklärt. Wohl hatten die Bolschewiki allen politischen Gegnern den Krieg erklärt. Aus ihrer Sicht wurde ein „Krieg der Klassen“ geführt, in dem die Partei des historischen Fortschritts unbedingt triumphieren musste. Vieles spricht allerdings dafür, dass der Bürgerkrieg längst im Gange war, als sie die Macht im Oktober 1917 eroberten. In Briefen und Tagebüchern, Erzählungen und Romanen, Presseberichten und diplomatischen Depeschen spiegeln sich unverbundene Ereignisse an weit verstreuten Orten, die scheinbar einzig von „Anarchie“ und „Chaos“ zeugten. An welcher Stelle auch immer man sich diesem Geschehen nähert, sie führt ins Zentrum einer säkularen Katastrophe.

    Bürgerkrieg: total, global, brutal

    Propagandaplakat der Koltschak-Armee
    Propagandaplakat der Koltschak-Armee

    Im Unterschied zum „Großen Krieg“ breitete sich der Bürgerkrieg über das gesamte Territorium des untergegangenen Zarenreiches aus. Der Bürgerkrieg erfasste Russland schrittweise, sowohl vom Zentrum aus als auch von der Peripherie. Er war „total“, weil er alle Ressourcen des Landes aufbrauchte, und „global“, weil er über Europa und Nordasien hinaus in transatlantische und transpazifische Regionen ausstrahlte. Anstelle einer Demobilisierung sickerten die Weltkriegswaffen in die zivilen Räume des weitläufigen Hinterlandes, aufgerüstet durch Zukäufe aus Mitteln erbeuteter Teile des Staatsschatzes, geplünderter Industriebetriebe und den Bauern abgepresster Lösegelder. Bruchlos verschoben sich die Kämpfe von den Weltkriegsfronten ins Landesinnere und verstrickten verbliebene oder neuentsandte reguläre Truppen ausländischer Mächte in diesen „anderen“ Krieg.

    Was Deutsche, gefolgt von Briten, Franzosen, Amerikanern und Japanern in ihm gewinnen wollten, war zunehmend unbestimmter. Zu ihnen gesellten sich internationale „rote“ Brigaden, angeworbene Kriegsgefangene, lettische Schützen und chinesische Söldner. Die Trennungslinie zwischen Hinterland und Front löste sich auf. Deportation, Vertreibung, Geiselnahme und Pogrom, nicht unbekannt schon im Weltkrieg, häuften sich in den regellosen Kämpfen, verstärkt durch eine Propaganda, die überall „innere Feinde“, „Verräter“ und „Spione“ wähnte.

    Selbstlos und tapfer gegen das Böse

    Auf allen Seiten gehörte der Typus des „Freiwilligen“ zu den wirksamsten Leitbildern. Er kämpfte „selbstlos“ und „tapfer“ gegen „das Böse“ in all seinen Schattierungen. So kämpfte ein „roter“ Freiwilliger gegen den „Klassenfeind“ des „Proletariats“, gegen die „Söldner“ der Entente, gegen Gutsbesitzer, Kapitalisten, Generäle und Popen. Was dies in letzter Instanz meinte, erklärte ein Flugblatt vom Kriegskomitee des Gouvernements Wjatka aus dem Jahre 1918: „Jeder Bauer und jeder Arbeiter, der den Weißen hilft, hilft seinen schlimmsten Feinden und verrät die Sache des Volkes.“

    Bei den „Weißen“ erscheint der Freiwillige als stolzer Ritter. Dieser erhebt das Schwert gegen „jüdische Kommissare“, „chinesische Tschekisten“ oder „unrussische“, „ehrlose“, „heimatlose“, „gottlose“, „schmutzige“, „zu Tieren verkommene“ Bolschewiki, nicht zuletzt aber auch gegen die Feinde des „einigen, unteilbaren Russlands“, gegen „Nationalisten“ und Abtrünnige wie die „Ukrainisierenden“.

    „Die Weißen geben nur ein Pfund, aber uns gibt man zwei Pfund“

    Wie bei einem Eisenbahnzug gab es indessen nicht nur Fernreisende, sondern ein ständiges Ein- und Aussteigen. Truppenkommandeure beklagten Verluste von bis zu 80 Prozent durch Desertion. Selbst „Sperrabteilungen“ aus zuverlässigen Soldaten, die mit Maschinengewehren hinter den Frontlinien postiert waren, konnten auf dem Höhepunkt des Bürgerkriegs im Sommer 1919 den Sog zur Flucht nicht bremsen. Eine Instruktion des Revolutionären Kriegsrats der 13. Armee warnte: „Einheiten können und müssen in ihrer Gesamtheit untergehen, aber sie dürfen nicht zurückweichen.“ Die Rote Armee sah sich einem erbitterten Guerillakrieg ausgesetzt, der nach dem offiziellen Ende des Bürgerkriegs 1921 andauerte. Erst Massenerschießungen, die Einrichtung von „Konzentrationslagern“ und kollektive Strafaktionen, die ganze Dörfer verheerten, brachen den bäuerlichen Widerstand.

    Auch die Weißen Armeen kannten Massendesertion. Ein Rotarmist notierte am 13. Juni 1919: „Jeden Tag laufen weiße Offiziere zu uns über, weil sie bei denen kein Brot haben. Die Weißen geben nur 1 Pfund, aber uns gibt man 2 Pfund.“ Es bedurfte hartnäckiger Überzeugungsarbeit, fanatische weiße Offiziere davon abzuhalten, Kriegsgefangene oder übergelaufene Rotarmisten unterschiedslos erschießen zu lassen. General Lawr Kornilow hatte schon im Januar 1918 die Losung ausgegeben, im Kampf gegen die Bolschewiki „keine Gefangenen zu machen“.

    Die Bilanz der menschlichen Katastrophe, die Russland zwischen 1914 und 1921 erlebte, ist nur ungefähr zu beziffern: Krieg, Terror, Epidemien, und Hunger forderten schätzungsweise zwölf bis dreizehn Millionen Opfer. Heerscharen von Waisen und Versehrten, Flüchtlingen und Obdachlosen bevölkerten Städte und Dörfer, die in archaische Lebensformen zurückfielen. Die Industrie lag am Boden, die Landwirtschaft war zerrüttet. Aus dem jahrelangen Ausnahmezustand resultierte ein latentes Überlebenssyndrom, das jederzeit abrufbar war, etwa mittels Kampagnen gegen innere und äußere „Feinde“. In der Nachkriegsgesellschaft hielt sich eine militarisierte Sprache, die das Unbedingte und Alternativlose betonte. Zu den Verlusten gehören aber auch die zahllosen Emigranten und Exilierten, die einen lange nachwirkenden Aderlass an Expertise und Wissen bedeutete. Nach Schätzungen waren dies bis zu drei Millionen aus Russland – meist Militärs, Kosaken, Geistliche, Adelige, Staatsbedienstete, Unternehmer und Geistesschaffende mit ihren Familien. Rechnet man Bewohner ehemaliger Reichsteile hinzu, liegt die Zahl noch deutlich höher.

    Bürgerkrieg der Erinnerung

    Was hielten die Zeitgenossen von diesem heillosen Krieg im öffentlichen Gedenken wach und gaben es an nachfolgende Generationen weiter? Denkmäler wurden zur Sowjetzeit lediglich für Rotarmisten und an Erinnerungsorten siegreicher Gefechte errichtet. In der weltweit verstreuten Emigration wurde eine Gegenüberlieferung gepflegt. Die sozialen, kulturellen, nationalen, ethnischen, religiösen und regionalen Gegensätze lösten sich indessen im Kosmos sowjetischer Werte nicht einfach auf. Sie überdauerten das Ende des Bürgerkriegs und seine Wiederauflage in der Modernisierungsschlacht Stalins. Der große Sieg im Zweiten Weltkrieg überwölbt das Erbe, ohne es bewältigen zu können. Latent wirkt es bis heute fort.

    Versuche, nach dem Ende des Kalten Krieges eine Brücke zu schlagen, sind nur partiell vorangekommen. Das Projekt eines Denkmals der Versöhnung, das 2017 zum 100. Jahrestag der Revolution auf der Krim errichtet werden sollte, wurde zurückgestellt. Es war nicht nur umstritten, weil es Unvereinbares zusammenführen und allen Seiten gleichermaßen einen „Dienst am Vaterland“ zugestehen wollte, sondern offenkundig auch gesellschaftlich unzureichend vorbereitet. Die wissenschaftliche Forschung der vergangenen drei Jahrzehnte kann nicht aufwiegen, was an schulischer und öffentlicher Vermittlung ausgeblieben ist. Sie hat aber vor Augen geführt, dass in die Bilderwelt des „neuen Dreißigjährigen Kriegs“ maßgeblich Motive des russischen Bürgerkriegs einflossen. Zeitgenossen rekapitulierten die Apokalyptischen Reiter und den Leviathan, verstanden sie als gültigen Ausdruck ihrer individuellen und kollektiven Erfahrung, als Zeichen überwältigender Bedrohung.

    Ansonsten würdigen neue Denkmäler der postsowjetischen Zeit auch einzelne Persönlichkeiten der Weißen, meist in der Provinz, aber mit Unterstützung der Zentralregierung. Ebenso wurden für Gefallene der „Legion“ Monumente errichtet oder Gedenktafeln angebracht, die  auf die gemeinsame Initiative der tschechischen und der slowakischen Regierung mit russischen Regionalbehörden zurückgehen.

    Bipolare historische Wahrnehmungsmuster

    Wohl niemand zweifelt daran, dass eine Auseinandersetzung mit dem hochbelasteten Erbe, das Familien spaltete, Freundschaften zerriss, Nachbarn verfeindete, ganze Bevölkerungsgruppen verfemte und unersetzliche Kulturschätze vernichtete, schmerzlich sein muss. Soll diese Vergangenheit ruhen? Die Überlebenden richteten sich unter den „Siegern“ ein, gingen ins Ausland oder wurden dorthin vertrieben. Wer blieb und anderer Meinung war, schwieg oder verleugnete sich.

    „Dialogisches Erinnern“ könnte die Asymmetrie im historischen Gedächtnis aufheben, wenigstens jedoch einen „Konsens im Dissens“ (Aleida Assmann) anstreben. Verordnet werden kann das nicht. Bipolare historische Wahrnehmungsmuster, die vor allem zwischen „Siegern“ und „Verlierern“ oder „Helden“ und „Schurken“ unterscheiden, werden einer Tragödie, wie sie der Bürgerkrieg gewesen ist, ebenso wenig gerecht wie eine Reduktion des Bürgerkrieges auf seine militärischen Aspekte. Vielmehr erfordern die erbitterten Kämpfe um Ideen und Utopien sowie die darin mehrfach gebrochenen Biographien, in denen „Opfer“ zu „Tätern“ wurden und umgekehrt, eine Überwindung der Sprache einer brutalen und erbarmungslosen Epoche. 
     

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