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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Dezember: Prokudin-Gorski

    Dezember: Prokudin-Gorski

    Dies ist eine der eigentümlichsten Episoden aus der Geschichte der russischen Fotografie, und sie ist bis heute noch nicht vollständig erforscht.

    Ein junger Mann aus einer St. Petersburger Adelsfamilie begeistert sich für das damals noch junge Fach Chemie. Er studiert bei Dimitri Mendelejew, dem russischen Entwickler des Periodensystems der Elemente. 1889 geht Sergej Prokudin-Gorski („so der Name unseres Helden“, müsste man schreiben, wäre man sein Zeitgenosse) nach Berlin, wo er für zwei Jahre an der Technischen Universität unterrichtet. Zugleich forscht er zur Darstellung der Spektralfarben in der Fotografie und schließt Bekanntschaft mit Adolf Miethe, ebenfalls Chemiker. Miethe hatte eine Technik entwickelt, um mittels dreier übereinander projizierter Schwarzweiß-Diapositive (die Farbfotografie im eigentlichen Sinne wurde erst 1935 von Kodak praxistauglich gemacht) eine vollfarbige Abbildung eines fotografierten Objektes zu erhalten.

    1901 kehrt Prokudin-Gorski nach St. Petersburg zurück. Er entwickelt die fotochemischen Methoden weiter, die er in Berlin erlernt hat, und in ihm reift ein Plan heran: Er will die Menschen, Landschaften und Bauwerke Russlands fotografisch dokumentieren – in Farbe. Etwas ähnliches hatten vor ihm nur die Peredwishniki versucht, aber sie waren Maler gewesen, ihre Ausrüstung beschränkte sich auf Palette und Staffelei. Prokudin-Gorski würde mehr benötigen: Die modernste Fotoausrüstung seiner Zeit, zerbrechlich, schwer und voluminös – und eine Menge Geld. Er musste den Zaren für sein Vorhaben begeistern. Dies gelang ihm nicht zuletzt durch ein Portrait des Schriftstellers Lew Tolstoi, das er bei einer Audienz an die Wand projizierte.

    Nikolaus II finanzierte ihm ein mobiles Labor, das in einer Pferdekutsche untergebracht wurde und sogar einen Eisenbahnwaggon mit einem zweiten Labor. Und er stellte ihm Dokumente aus, die es ihm ermöglichten, sich auf den geplanten Routen frei zu bewegen – keine Selbstverständlichkeit im damaligen Russland. 1909 machte Prokudin-Gorski sich auf den Weg. Bis 1915 bereiste er das Zarenreich: den Westen Russlands, die Wolga-Gebiete, den Kaukasus, Mittelasien, Teile von Sibirien. Er fotografierte seine Sujets, wie er sie vorfand: Es mischen sich Arbeitsszenen, Ansichten industrieller Anlagen, Stadtpanoramen, Portraits. Insgesamt entstanden so über 3.000 Aufnahmen.

    Zur geplanten großen Wanderausstellung seiner Bilder kam es in Russland nicht mehr, bald nach Beginn des ersten Weltkriegs versiegte die Finanzierung. 1917, nach der Oktoberrevolution, musste Prokudin-Gorski das Land verlassen, ging erst nach Norwegen, dann nach London und schließlich nach Paris, wo er 1944 starb. Sein Archiv wurde von der Library of Congress (Washington DC) erworben und ist heute in digitaler Form öffentlich zugänglich.

    Die von Adolf Miethe entwickelte Technik, die Prokudin-Gorski verwandte, beruhte auf dem Prinzip dreier verschiedenfarbiger Filterscheiben (rot, grün und blau), die vor drei vertikal übereinander angeordneten Glasplatten-Negativen angebracht waren. Auf diese Weise konnte nur jeweils das entsprechende Teilspektrum des Lichts auf die einzelne Glasplatte einwirken. Während der Aufnahme wurden die Platten eine nach der anderen belichtet.

    Zum Betrachten der Bilder existierte ein spezieller Dreifarben-Projektor, der die drei nacheinander entstandenen Einzelbilder, wiederum durch entsprechende Farbfilter, an die gleiche Stelle projizierte, so dass sich ein vollfarbiges Bild ergab.

    Diese additive Dreifarben-Fotografie bringt einige Besonderheiten mit sich, so scheint etwa ein bewegtes Objekt in verschiedenen Farben zu schillern – unten in der Fotoserie zu sehen beim Wasser auf dem Bild des Schleusenwärters Karlinski oder auch beim Gesicht eines der Besatzungsmitglieder des Dampfschiffs Scheksna. Hier finden sich weitere technische Details zu dieser längst vergessenen Fotografier-Methode.

    Prokudin-Gorski wurde 1863 auf dem Familiengut Funikowa Gora im Gouvernement Wladimir geboren. Mit ihm und seinem Werk befassen sich verschiedene Buchveröffentlichungen, auf Deutsch unter anderem beim Gestalten-Verlag. Ein russisches Internet-Projekt widmet sich der Erforschung seiner Reisen und seines Werks, ein anderes rekonstruiert die Aufnahmeorte und dokumentiert ihren heutigen Zustand im Vergleich zum historischen. Einen Dokumentarfilm auf Prokudin-Gorskis Spuren drehte 2013 der Moskauer Journalist Leonid Parfjonow. Wohl keine andere visuelle Quelle erschließt die Realitäten des späten russischen Zarenreichs mit solcher Unmittelbarkeit wie die Aufnahmen dieses wissenschaftsbegeisterten Forschers und Fotografen.

    Oben: Selbstbildnis Sergej Michailowitsch Prokudin-Gorski am Flüsschen Skuritskhali, bei Batumi, Georgien, 1912

     

    Bahnhof von Borodino. Als Fotolabor ausgerüsteter Eisenbahnwaggon, Borodino, 1911
    Bahnhof von Borodino. Als Fotolabor ausgerüsteter Eisenbahnwaggon, Borodino, 1911

     

    Preobrashenski Kirche, innerhalb der Kremlmauern, Belosersk, 1909
    Preobrashenski Kirche, innerhalb der Kremlmauern, Belosersk, 1909

     

    Mittagessen während der Heuernte, 1909
    Mittagessen während der Heuernte, 1909

     

    Kornblumen im Roggenfeld, 1909
    Kornblumen im Roggenfeld, 1909

     

    Bauernmädchen, 1909
    Bauernmädchen, 1909

     

    Holzfäller am Fluss Swir, 1909
    Holzfäller am Fluss Swir, 1909

     

    Zwischen dem Staubecken am Fluss Tschussowaja und dem Reschotka-Flüsschen, 1912
    Zwischen dem Staubecken am Fluss Tschussowaja und dem Reschotka-Flüsschen, 1912

     

    Hütte des Siedlers Artemi, mit Spitznamen Kot [Kater], der seit über 40 Jahren dort lebt, 1912
    Hütte des Siedlers Artemi, mit Spitznamen Kot [Kater], der seit über 40 Jahren dort lebt, 1912

     

    Ernte nahe dem Dorf Bytschi, 1912
    Ernte nahe dem Dorf Bytschi, 1912

     

    Mühlen im Bezirk Jalutorowsk im Gouvernement Tobolsk, 1912
    Mühlen im Bezirk Jalutorowsk im Gouvernement Tobolsk, 1912

     

    Beim Spinnen von Garn, Dorf Iswedowo, 1910
    Beim Spinnen von Garn, Dorf Iswedowo, 1910

     

    Blick über die Stadt von der Kreml-Mauer aus, Belosersk, 1909
    Blick über die Stadt von der Kreml-Mauer aus, Belosersk, 1909

     

    Igumen Xenofont, Vorsteher des Klosters in Werchoturje, 1910
    Igumen Xenofont, Vorsteher des Klosters in Werchoturje, 1910

     

     

    Links: Wundertätige Ikone der Gottesmutter Hodegetria in der Mariä-Entschlafens-Kathedrale, Smolensk, 1912.
    Rechts: Phelonion aus Seidenbrokat, zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, an der Schulterpartie perlenbestickter karminroter Samt. Im Museum von Rostow Weliki, 1911

     

    Mönche bei der Feldarbeit, Kartoffelsaat. Gethsemane-Kloster, 1910
    Mönche bei der Feldarbeit, Kartoffelsaat. Gethsemane-Kloster, 1910

     

    Friedhof des Uspenski-Klosters, 1909
    Friedhof des Uspenski-Klosters, 1909

     

    Links: L. N. Tolstoi in Jasnaja Poljana, 23. Mai 1908 (der Verbleib des originalen Negatives ist unbekannt, hier handelt es sich um die Reproduktion eines durch Prokudin-Gorski selbst angefertigten dreifarbigen fotolithografischen Abzugs)
    Rechts: Arbeitszimmer von L. N. Tolstoi in Jasnaja Poljana, 1908

     

    Links: Im Museum von Borodino. Kugeln und Geschosse aus der Schlacht bei Borodino (1812), 1911
    Mitte: Befestigungsanlagen auf dem Schlachtfeld von Borodino, wo ein Denkmal errichtet werden soll, 1911
    Rechts: Gemälde von Napoleon, zwischen 1905 und 1915

     

    Grenze zwischen Europa und Asien bei der Bahnstation Urshumka. In der Nähe von Tscheljabinsk, 1910
    Grenze zwischen Europa und Asien bei der Bahnstation Urshumka. In der Nähe von Tscheljabinsk, 1910

     

    Wolgaquelle, 1910
    Wolgaquelle, 1910

     

    Pinchus Karlinski, 84 Jahre alt. Davon 66 im Dienst als Schleusenwärter der Tschernigow-Schleuse, 1909
    Pinchus Karlinski, 84 Jahre alt. Davon 66 im Dienst als Schleusenwärter der Tschernigow-Schleuse, 1909

     

    Dampfschiff Tjumen des Verkehrsministeriums, auf dem Prokudin-Gorski den Fluss Tobol befuhr. Prokudin-Gorski ist auf dem Deck des Schiffes zu sehen, an einem Tisch sitzend, 1912

     

    Mannschaft des Dampfschiffs M. P. S. Scheksna, auf dem Prokudin-Gorski von der Mündung des Flusses Swir bis Rybninsk fuhr, 1909
    Mannschaft des Dampfschiffs M. P. S. Scheksna, auf dem Prokudin-Gorski von der Mündung des Flusses Swir bis Rybninsk fuhr, 1909

     

    Blick auf die Stadt Tobolsk von Norden. Vom Glockenturm der Preobrashenskaja-Kirche aus, 1912
    Blick auf die Stadt Tobolsk von Norden. Vom Glockenturm der Preobrashenskaja-Kirche aus, 1912

     

    Herstellung von Stahlbeton-Rahmen für die Wände einer Schleuse, Beloomut, 1912
    Herstellung von Stahlbeton-Rahmen für die Wände einer Schleuse, Beloomut, 1912

     

    Eine Speiche wird aus einem Damm gezogen (nach der Methode von Poiré), 1909
    Eine Speiche wird aus einem Damm gezogen (nach der Methode von Poiré), 1909

     

    Signalmast beim Dorf Burkowo, 1909
    Signalmast beim Dorf Burkowo, 1909

     

    Schmelzöfen der Eisenhütte bei Satka, 1910
    Schmelzöfen der Eisenhütte bei Satka, 1910

     

    Österreichische Kriegsgefangene vor einer Baracke nahe Kiappeselga / Kannesemga, 1915
    Österreichische Kriegsgefangene vor einer Baracke nahe Kiappeselga / Kannesemga, 1915

     

    Arbeit in der Eisenmine, bei Bakal, Ural 1910
    Arbeit in der Eisenmine, bei Bakal, Ural 1910

     

    Auf der Draisine über die Murmansk-Bahnstrecke, bei Petrosawodsk, 1915
    Auf der Draisine über die Murmansk-Bahnstrecke, bei Petrosawodsk, 1915

     

    Brücke der Transsibirischen Eisenbahnlinie über den Fluss Kama nahe Perm am Ural, 1910
    Brücke der Transsibirischen Eisenbahnlinie über den Fluss Kama nahe Perm am Ural, 1910

     

    Die Evgenieski-Mineralwasserquelle Borshomi, Georgien, zwischen 1905 und 1915
    Die Evgenieski-Mineralwasserquelle Borshomi, Georgien, zwischen 1905 und 1915

     

    Versand des Borshomi-Mineralwassers. Borshomi, Georgien, zwischen 1905 und 1915
    Versand des Borshomi-Mineralwassers. Borshomi, Georgien, zwischen 1905 und 1915

     

    Menschen in Dagestan, zwischen 1905 und 1915
    Menschen in Dagestan, zwischen 1905 und 1915

     

    Links: Bambus-Hain. Tschakwi, Georgien, zwischen 1905 und 1915
    Rechts: Knurrhahn. Batumi, Georgien, zwischen 1905 und 1915

     

    Eine Gruppe von Arbeitern bei der Tee-Ernte (griechische Frauen), Tschakwi, Georgien, zwischen 1905 und 1915
    Eine Gruppe von Arbeitern bei der Tee-Ernte (griechische Frauen), Tschakwi, Georgien, zwischen 1905 und 1915

     

    In der Abwiege-Abteilung der Teefabrik von Tschakwi, Georgien, zwischen 1905 und 1915
    In der Abwiege-Abteilung der Teefabrik von Tschakwi, Georgien, zwischen 1905 und 1915

     

    Haus von Umsiedlern mit einer Gruppe von Landarbeitern bei Nadeshdinsk, zwischen 1905 und 1915
    Haus von Umsiedlern mit einer Gruppe von Landarbeitern bei Nadeshdinsk, zwischen 1905 und 1915

     

    Beobachten einer Sonnenfinsternis am 1. Januar 1907. In der Nähe der Bahnstation Tschernjajewo im Tian-Shan-Gebirge oberhalb der Saljutkin-Minen, Golodnaja Steppe 1907
    Beobachten einer Sonnenfinsternis am 1. Januar 1907. In der Nähe der Bahnstation Tschernjajewo im Tian-Shan-Gebirge oberhalb der Saljutkin-Minen, Golodnaja Steppe 1907

     

    Die rechte Kuppel der Sher-Dor-Moschee, Samarkand, zwischen 1905 und 1915
    Die rechte Kuppel der Sher-Dor-Moschee, Samarkand, zwischen 1905 und 1915

     

    Der Emir von Buchara, zwischen 1905 und 1915
    Der Emir von Buchara, zwischen 1905 und 1915

     

    Sarten-Frau in einem Paranja, Samarkand, zwischen 1905 und 1915
    Sarten-Frau in einem Paranja, Samarkand, zwischen 1905 und 1915

     

    Studenten in einer Medresse (Islamschule), Samarkand, zwischen 1905 und 1915
    Studenten in einer Medresse (Islamschule), Samarkand, zwischen 1905 und 1915

     

    Friseure auf dem Registan in Samarkand, zwischen 1905 und 1915
    Friseure auf dem Registan in Samarkand, zwischen 1905 und 1915

     

    Arbeiter, zwischen 1905 und 1915
    Arbeiter, zwischen 1905 und 1915

     

    Hanffeld, 1910
    Hanffeld, 1910

     

    Bildredaktion: Nastya Golovenchenko
    Text: Martin Krohs
    Veröffentlicht am 01.12.2016

     

    Weitere Themen

    April: Liebe in Zeiten des Konflikts

    Mai: Beim Volk der Mari

    Juni: Grooven auf den Leeren Hügeln

    Juli: Gefundene Fotos

    August: Olympia 1980

    September: Fischfang auf Sachalin

    Oktober: Restricted Areas

    November: Einst war hier das Meer

  • November: Einst war hier das Meer

    November: Einst war hier das Meer

    Im November wird dekoder zu einer Galerie. Wir zeigen ein Kunstprojekt, das auf langsame Wahrnehmung angelegt ist, auf ein gemächliches Eintauchen – ein Projekt, in dem sich Bild und Text zu einer Einheit verbinden.

    Die Künstlerin und Fotografin Anastasia Khoroshilova nimmt in der russischen Fotografie-Szene eine Sonderstellung ein. Sie ist in Moskau geboren, hat an der Folkwang-Schule in Essen studiert und wohnt derzeit in Berlin. Ihre Sujets aber findet sie weiterhin in Russland, wobei sie ein besonderes Augenmerk auf die Themen richtet, die den großen visuellen Narrativen entgehen: auf die subtilen Spuren, die das Leben des Einzelnen hinterlässt, auf das Schicksal der namenlosen Menschen, auf ihre Verletzlichkeit und immer wieder auf die russische Provinz. Mit deren Bildwelt und ihrem unaufhaltsamen, an ein stilles, unendlich langsam fortschreitendes Naturgeschehen erinnernden Wandel beschäftigt sich auch diese Arbeit. Ein Ort aus den Erzählungen von Turgenjew, zugleich Heimat der Vorfahren von Anastasia Khoroshilova, verwandelt sich über die mehr als zehn Jahre, die sie sich ihm fotografierend nähert, in eine Landschaft des Übriggebliebenen, eine zeitvergessene Lichtung, bis er allein aus verblassender Erinnerung zu bestehen scheint – kaum mehr als die Metapher seiner selbst.

    Anastasia Khoroshilova ist Mitglied der Deutschen Fotografischen Akademie und Dozentin an der Rodchenko School of Photography and Multimedia in Moskau. Ihre Arbeiten wurden in zahlreichen Einzelausstellungen unter anderem in Wien, Tokyo, Toronto, Moskau und St. Petersburg gezeigt und sind in den Sammlungen des Stedelijk Museum, Amsterdam, der Pier 24 Photography Collection, San Francisco, und vielen anderen vertreten. Wir freuen uns besonders, dass die Fotografin uns ihre neue Arbeit Einst war hier das Meer zur online-Erstveröffentlichung anvertraut hat.

    Blick auf Beshin Lug (Beshin-Wiese), von Norden
    Blick auf Beshin Lug (Beshin-Wiese), von Norden

    Von 2003 bis 2004 habe ich an der Serie Beshin Lug (Beshin-Wiese) gearbeitet. Sie war den Realien des russischen Dorfes in postsowjetischer Zeit gewidmet. Die Reisen, die ich dafür machte, eher Expeditionen, dienten dem Ziel, dokumentarisches Fotomaterial für visuelle Forschung zu sammeln. Der Titel der Arbeit stand für mich damals in Zusammenhang mit russischen Werken, wie der gleichnamigen Erzählung von Iwan Turgenjew, dem Film von Sergej Eisenstein und dem Roman mit dem Titel Roman von Vladimir Sorokin. Inzwischen ist dieser Arbeitstitel für mich zu etwas Allgemeinerem geworden, zu einem Symbol dessen, was ich im sich verändernden Raum des russischen Dorfes entdeckte.

    Im Dorf Bogorodizkoje (aus der Serie Beshin Lug, 2004)
    Im Dorf Bogorodizkoje (aus der Serie Beshin Lug, 2004)

    2015 und 2016 habe ich mich dem Thema des russischen Dorfes erneut zugewandt. Die Veränderungen, die ich nun sah, erschienen mir noch grundlegender und unumkehrbarer. Der metaphorische Charakter dessen, was schon geschehen war und sich weiterhin vor meinen Augen abspielte, erhielt einen klar umrissenen Sinn: den des Verschwindens. Und so basiert die Arbeit Einst war hier das Meer auf der Metapher des Fortnehmens. 

    Im Dorf Chludnewo, Maria Iwanowna (aus der Serie Beshin Lug, 2004)
    Im Dorf Chludnewo, Maria Iwanowna (aus der Serie Beshin Lug, 2004)

    Die Ortschaften, die ich vor mehr als 10 Jahren besucht hatte, haben sich sich bis zur Unkenntlichkeit verändert. Dörfer verwandelten sich in Datschen-Siedlungen und wurden von Städten aufgesogen. Die abgelegenen Dörfer verschwinden – einerseits physisch, aber auch, nach und nach, aus der administrativen Topographie. Das Dorf beispielsweise, in dem mein Urgroßvater zur Welt kam, wurde fast vollständig von seinen Einwohnern verlassen.

    Die Aufnahmen entstanden vielfach an historischen „Turgenjewschen Orten” (in den Gebieten Orlow und Tula). Die historische Beshin-Wiese ist heute ein Ort, der gelegentlich von Touristen aufgesucht wird, ab und zu werden lokale Feste gefeiert. (Die Beshin-Wiese selbst liegt mitten in einem Wirrwarr elektrischer Leitungen, es gibt auch eine stillgelegte Sandgrube – unerlaubt in einem Schutzgebiet ausgehoben – und ein Privathaus am Rand der Wiese).

    In der Ortschaft Seljonaja Sloboda (aus der Serie Beshin Lug, 2004)
    In der Ortschaft Seljonaja Sloboda (aus der Serie Beshin Lug, 2004)

    Fast alle „Turgenjewschen Orte“, die einst existierten und die in das Leben der Einheimischen eingeschrieben sind, gibt es heute nur noch in den Akten des Katasteramtes. Man kann sie der Erinnerung nach ausfindig machen, oder anhand einer bestimmten Anordnung der Bäume und ihrer Arten.

    Das Projekt beschreibt das Dorf sozusagen als Grundtyp, verallgemeinernd. Auf den Bildern sind fast keine Menschen zu sehen, kaum Spuren ihrer Anwesenheit zu bemerken.

    Die Titel der Bilder ergeben sich aus dem dokumentatorischen Anspruch des Projekts. Sie bilden gemeinsam mit meinen Notizen den textuellen Teil der Arbeit.

    Anastasia Khoroshilova

    2016

     

    Im Dorf Nawolok
    Im Dorf Nawolok
    Wera Iwanowna Lusanowa. In Nawolok
    Wera Iwanowna Lusanowa. In Nawolok
    Maria Iwanowna. In der Ortschaft Pokrowskoje (Nishnjaja Ljubowscha)
    Maria Iwanowna. In der Ortschaft Pokrowskoje (Nishnjaja Ljubowscha)
    Beim Dorf Kolotowka
    Beim Dorf Kolotowka
    Im Dorf Beshin Lug, Haus des Generals (ehemalige Schule)
    Im Dorf Beshin Lug, Haus des Generals (ehemalige Schule)
    Valentina Fjodorowna Petrowa. Im Dorf Chotjash, Pooserje
    Valentina Fjodorowna Petrowa. Im Dorf Chotjash, Pooserje
    Слева: Деревня Велевашево. Справа: In der Ortschaft Golun. Pferdehof auf dem Gut der Grafen Golizyn
    Слева: Деревня Велевашево. Справа: In der Ortschaft Golun. Pferdehof auf dem Gut der Grafen Golizyn
    St.-Nikolas-Kirche auf Lipno, 13. Jh., Altarapsis
    St.-Nikolas-Kirche auf Lipno, 13. Jh., Altarapsis
    Viktor Iwanowitsch Jakowlew. Inseldorf Woizy
    Viktor Iwanowitsch Jakowlew. Inseldorf Woizy
    Bei der Ortschaft Pokrowskoje (Nishnaja Ljubowscha). Hauptstraße
    Bei der Ortschaft Pokrowskoje (Nishnaja Ljubowscha). Hauptstraße

    Früh am Morgen. Gestern war ich noch in Moskau, jetzt – auf Nowgoroder Boden. Nach zwölf Jahren bin ich wieder hier. Ich gehe schnellen Schrittes zur Anlegestelle am Ilmensee, wo ein Boot auf uns wartet. Mein Körper fühlt den Schlafmangel, der Rucksack hängt schwer auf den Schultern, das Stativ baumelt unbequem am Arm. Ich ärgere mich über mich selbst wegen dieser spontanen Idee, jetzt auf die Insel zu fahren – irgendwann später wäre das sicher auch noch möglich gewesen.

    An der Anlegestelle treffe ich Leute. Wir kommen ins Gespräch. Einer, in einem gestreiften Hemd, ist, wie sich herausstellt, ein bekannter russischer Schriftsteller. Eine andere, mit Strohhut, ist Restauratorin, Ehefrau eines Archäologen. Außerdem ist dort eine Künstlerfamilie. Sie sind mit ihren Kindern, verschlafen und in Wolldecken gepackt, zur Anlegestelle gekommen. Auch sie wollen nach Lipno hinüber.

    Das Wetter spielt nicht mit! Dicke Wolken ballen sich zusammen, es zieht wohl ein Gewitter auf. Wir sind jetzt schon über eine Stunde hier. Jelena (sie betreut ein Museum und begleitet uns) sagt, wir sollen noch ein wenig warten. Ich hatte keine Zeit zum Frühstücken, das lässt mich mein Magen jetzt spüren. Nochmal vergeht eine halbe Stunde.

    Endlich kommt aus einem Haus nebenan ein Fischer. Ich schaue zu, wie er ohne Eile zwei einfache, sehr alte Boote aneinanderbindet. Danach fängt er an, mit einer abgeschnittenen Flasche das Wasser aus ihnen herauszuschöpfen … „Man braucht ziemlich lange da rüber”, sagt er.

    Na gut, genug. Ich verzichte, sage, die Überfahrt sei für meine Fototausrüstung zu gefährlich. Die Frau mit Hut will auch nicht mehr zur Insel übersetzen. Die anderen tauschen Blicke, möchten aber anscheinend weiterhin fahren.

    Auf dem Weg ins Hotel wird mir klar: Auf die Insel muss ich trotz allem. An der Anlegestelle im Ort überrede ich den Besitzer eines Bootes, der Touristenfahrten auf dem Fluss Wolchow anbietet.

    Ich bin auf der Insel Lipno. Kämpfe mich durch hohe Sträuche und Gras. Brennnesseln brennen an den Beinen, einen Pfad gibt es nicht. Es ist sehr heiß, der Rucksack klebt am Rücken. Ich räume mir den Weg mit dem Stativ frei. Ich schaue zum Himmel: Ein Gewitter wird es doch nicht geben. Mit einem Mal sehe ich eine Kuppel, dann eine Apsis und schließlich finde ich mich vor einer Kirche wieder. Rundherum Stille. In der Ferne sind Vögel zu hören. Jelena macht die Tür auf, und wir treten hinein.

    Durch die Fenster fällt gedämpftes Licht in die Kirche. Die Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit. Die Umrisse alter Gerüste von Restaurationsarbeiten zeichnen sich ab. An den Wänden erkenne ich Fresken. Jelena erzählt mir von der Geschichte der Kirche. Ihre Worte, bemerke ich bald, klingen wie von weit weg.

    Schweigend hole ich meinen Fotoapparat hervor. Wir sind allein. Es ist still, gelegentlich klickt der Verschluss. Ich fotografiere wenig. Ich spüre: Dieser Tag wird mir lange im Gedächtnis bleiben.

    Ich gehe hinaus. Sergej kommt zu mir herüber. Er lebt auf der Insel, mit seiner Mutter. Sie bleiben sogar den Winter über hier, mit Vorräten an Proviant und allem Nötigen, ohne Strom und Telefon. Sonst wohnt hier niemand.

    Sergej ist unleidlich, wir haben ihn gestört. Meine Frage, ob ich ihn fotografieren kann, wehrt er gleich ab, unterbricht mich grob, dreht sich von mir weg und geht. Das ist seine Insel und seine Kirche. Wir sind für ihn Zufallsbesuch, lästige Touristen.

    Wir kehren zum Boot zurück. Am Ufer treffen wir auf unsere Bekannten vom Vormittag: den Schriftsteller und die Künstlerfamilie. Sie haben es doch bis hierher geschafft. Über einem Lagerfeuer braten Fleischspieße. Wir unterhalten uns über das Wetter und über Moskau. Der Kapitän des Bootes schaut mürrisch auf seine Uhr.

    Anastasia Khoroshilova

    2015

     

    Im Dorf Beshin Lug
    Im Dorf Beshin Lug
    Links – Im Dorf Stekolnaja Slobodka. Rechts – Maria Iwanowna
    Links – Im Dorf Stekolnaja Slobodka. Rechts – Maria Iwanowna
    In Pokrowskoje (Nishnaja Ljubowscha). Historisches Zentrum der Ortschaft
    In Pokrowskoje (Nishnaja Ljubowscha). Historisches Zentrum der Ortschaft
    Das Örtchen Petrowskoje. Beim Gutshaus von Warwara Petrowna Turgenjewa, Teiche
    Das Örtchen Petrowskoje. Beim Gutshaus von Warwara Petrowna Turgenjewa, Teiche
    Ortschaft Wjashi-Sawerch, Verwaltungsgebäude
    Ortschaft Wjashi-Sawerch, Verwaltungsgebäude
    Links – im Dorf Tschastowa. Rechts – Pelageja Alexejewna Kuljabina, Dorf Guschtschino
    Links – im Dorf Tschastowa. Rechts – Pelageja Alexejewna Kuljabina, Dorf Guschtschino

    Ich kehre in das Dorf Beshin Lug (Beshin-Wiese) zurück. Seit genau einem Jahr war ich nicht mehr hier. Ich möchte noch einmal Maria Iwanowna fotografieren. Sie ist 86 Jahre alt und hat ihr ganzes Leben am gleichen Ort zugebracht. Ihr Haus an der Malenkaja-Straße finde ich recht schnell. Im Hof erwartet mich ihre Tochter. Ich bitte sie um Erlaubnis einzutreten.

    Maria Iwanowna spricht während der Aufnahme nicht, sie schaut nur unverwandt ins Objektiv. Meine Arbeit wird von ständigen Kommentaren der Tochter begleitet. Sie ist beunruhigt, dass der Ofen in ihrem Haus schief sei, und das Zimmer nicht mit Ruschniki geschmückt. Sie seien ganz stockig und vergammelt und zu nichts mehr gut. Sie will nicht, dass der Ofen ins Bild gerät.

    Maria Iwanowna sagt kein Wort und posiert geduldig, ohne ihre Tochter zu beachten.

    Ich bitte sie, sich für die letzte Aufnahme auf die Bank vor dem Hauseingang zu setzen. Wir gehen in den Hof hinaus. Maria Iwanowna geht hinter mir, setzt sich schweigend hin. Wir sprechen nicht miteinander. Für eine Weile sind nur die Klickgeräusche des Kameraverschlusses zu hören. Danach herrscht wieder Stille.

    Ich habe heute viel vor, muss noch an viele andere Orte. Ich bedanke mich und packe die Geräte zusammen und verabschiede mich.

    Maria Iwanowna nickt mir zu. Dann, auf einmal, winkt sie mich zu sich. Ich gehe zu ihr hin, und jetzt spricht sie das erste Mal mit mir: „Wollen Sie wissen, was hier früher war?“ „Ja, natürlich“, antworte ich höflich und richte mich auf eine Erzählung über die Kolchose ein, die es im Ort früher gab.

    Maria Iwanowna hält für einen Augenblick inne, schaut in die Ferne und sagt: „Einst war hier das Meer.“

    Dann geht sie ins Haus zurück.

    Anastasia Khoroshilova

    2016

     

    Inseldorf Woizy
    Inseldorf Woizy
    Links – beim Dorf Schelamowo. Lindenallee auf dem verschwundenen Gut Turgenjews. Rechts – Sergej Wasiljewitsch Tolstow, im Dorf Tschortowo
    Links – beim Dorf Schelamowo. Lindenallee auf dem verschwundenen Gut Turgenjews. Rechts – Sergej Wasiljewitsch Tolstow, im Dorf Tschortowo
    Im Dorf Speschnewo
    Im Dorf Speschnewo
    Speschnewo, Dorfplatz, Ruine der Kirche des Heiligen Johannes des Theologen
    Speschnewo, Dorfplatz, Ruine der Kirche des Heiligen Johannes des Theologen
    Beim Dorf Tschastowa, Fluss Msta
    Beim Dorf Tschastowa, Fluss Msta

    Fotos und Texte: Anastasia Khoroshilova
    Bildredaktion: Nastya Golovenchenko, einführender Text: Martin Krohs

    Weitere Themen

    März: Alexander Gronsky

    April: Liebe in Zeiten des Konflikts

    Mai: Beim Volk der Mari

    Juni: Grooven auf den Leeren Hügeln

    Juli: Gefundene Fotos

    August: Olympia 1980

    September: Fischfang auf Sachalin

    Oktober: Restricted Areas

  • Oktober: Restricted Areas

    Oktober: Restricted Areas
    Dieselelektrisch betriebenes U-Boot, das größte jemals gebaute – Oblast Samara, 2013 / Fotos © Danila Tkachenko
    Dieselelektrisch betriebenes U-Boot, das größte jemals gebaute – Oblast Samara, 2013 / Fotos © Danila Tkachenko

    Was vom Fortschritt übrig bleibt: Danila Tkachenko fotografiert Relikte technischer Utopien im postsowjetischen Raum. Viele der Objekte befinden sich in Restricted Areas, ehemaligen Sperrzonen, die früher nur einem sehr engen Kreis von Mitarbeitern zugänglich waren. Einsam stehen die technischen Gebilde auf Tkachenkos Fotografien da, außerhalb aller Zivilisation, die Farbe ist bis auf ein Minimum zurückgenommen, die Zeit scheint in Schnee und Eis zum Stillstand gekommen zu sein.

    Danila Tkachenko (geboren 1989 in Moskau und Absolvent der dortigen Rodchenko School of Photography and Multimedia) begreift sich als Visual Artist, der mit den Mitteln der Dokumentarfotografie arbeitet. Zu seiner Serie Restricted Areas sagt er: „Ich suche auf meinen Reisen Orte, die einen großen Stellenwert für den technischen Fortschritt hatten und die nun verlassen sind. Diese Orte haben ihre Bedeutung verloren zusammen mit der utopischen, nun obsolet gewordenen Utopie: Die perfekte technokratische Zukunft, die nie eingetreten ist.“

    Tkachenko ist einer der wichtigsten Vertreter der jungen russischen Fotokunst. Für seine Serie Escape, die modernen Einsiedlern in Russland gewidmet ist, wurde er 2014 mit einem ersten Platz beim World Press Photo Award ausgezeichnet. Auch Restricted Areas (entstanden von 2013 bis 2015) wurde vielfach prämiert, das zugehörige Buch in fünf Sprachen übersetzt. Derzeit wird die Arbeit im Rahmen des Europäischen Monats der Fotografie in der traditionsreichen Ostberliner Fotogalerie Friedrichshain gezeigt, ergänzt durch Archivmaterial zu den abgebildeten Objekten. Die Ausstellung läuft bis zum 28. Oktober.

    Landekapseln für Rückkehr der Astronauten und Forschungsausrüstung zur Erde –  Kasachstan, Gebiet Qysylorda, 2013
    Landekapseln für Rückkehr der Astronauten und Forschungsausrüstung zur Erde – Kasachstan, Gebiet Qysylorda, 2013
    Verlassenes Observatorium – Kasachstan, Gebiet Almaty, 2015
    Verlassenes Observatorium – Kasachstan, Gebiet Almaty, 2015

     

    „Tschaika" – Antenne für Troposphärenfunk  – Russland, Autonomer Kreis der Jamal-Nenzen, 2014
    „Tschaika“ – Antenne für Troposphärenfunk – Russland, Autonomer Kreis der Jamal-Nenzen, 2014

     

    Berijew WWA–14, Amphibien-Flugzeug mit Senkrechtstart-Möglichkeit (VTOL) – Russland, Monino bei Moskau, 2013
    Berijew WWA–14, Amphibien-Flugzeug mit Senkrechtstart-Möglichkeit (VTOL) – Russland, Monino bei Moskau, 2013

     

    Förderpumpen auf einem erschöpften Ölfeld –  Russland, Republik Baschkortostan, 2014
    Förderpumpen auf einem erschöpften Ölfeld – Russland, Republik Baschkortostan, 2014

     

    Sarkophag über einem 4 km tiefen Bohrloch, seinerzeit eine der tiefsten wissenschaftlichen Bohrungen weltweit – Russland, Region Murmansk, 2013
    Sarkophag über einem 4 km tiefen Bohrloch, seinerzeit eine der tiefsten wissenschaftlichen Bohrungen weltweit – Russland, Region Murmansk, 2013

     

    Test auf Wasserkontaminierung in einem See bei Osjorsk (früher Tscheljabinsk-40). Im Jahr 1957 kam es hier zum ersten Kernkraftunfall; er wurde etwa 30 Jahre lang geheimgehalten. Die Stadt ist umgeben von Seen, die bis heute radioaktiv kontaminiert sind
    Test auf Wasserkontaminierung in einem See bei Osjorsk (früher Tscheljabinsk-40). Im Jahr 1957 kam es hier zum ersten Kernkraftunfall; er wurde etwa 30 Jahre lang geheimgehalten. Die Stadt ist umgeben von Seen, die bis heute radioaktiv kontaminiert sind

     

    Geborgenes Wrack des Passagierschiffs „Bulgaria“, bei dessen Untergang 122 Menschen ertrunken sind – Republik Tatarstan, 2014
    Geborgenes Wrack des Passagierschiffs „Bulgaria“, bei dessen Untergang 122 Menschen ertrunken sind – Republik Tatarstan, 2014

     

    Schutzschirm gegen die biologischen Einflüsse von Radarstrahlung – Kasachstan, Qaraghandy Gebiet, 2015
    Schutzschirm gegen die biologischen Einflüsse von Radarstrahlung – Kasachstan, Qaraghandy Gebiet, 2015

     

    Anlage zur Kohleverarbeitung. Russland – Republik Komi, 2014
    Anlage zur Kohleverarbeitung. Russland – Republik Komi, 2014

     

    Busludscha-Denkmal zu Ehren der sozialistischen Bewegung Bulgariens – Bulgarien, Chadschi Dimitar, 2015
    Busludscha-Denkmal zu Ehren der sozialistischen Bewegung Bulgariens – Bulgarien, Chadschi Dimitar, 2015

    Fotos: Danila Tkachenko
    Bildredaktion: Nastya Golovenchenko, Text: Martin Krohs
    Veröffentlicht am 01.10.2016

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    April: Liebe in Zeiten des Konflikts

    Mai: Beim Volk der Mari

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    August: Olympia 1980

    September: Fischfang auf Sachalin

  • September: Fischfang auf Sachalin

    September: Fischfang auf Sachalin

    Satt und speckig wölbt sich das Ölzeug des Fischers auf Deck, der Kabeljau im Tanzschwung schwebt prall vorm glasigen Himmel, eine bleigraue Welle scheint wie gewischtes Wachs, wie der Rand eines übergroßen Fingerabdrucks hinter der schwankenden Schaluppe zu stehen: In den Fotografien von Oleg Klimov gibt es kaum einmal eine Bildfläche. Die Gegenstände seiner Fotografie sind in höchstem Maße plastisch, es sind Dinge, Volumina, die Aufnahmen strotzen geradezu vor Relief und Tiefe.

    Mit solcher empfindungsstarker, sinnlicher Dokumentarfotografie ist Oleg Klimov (geb. 1964 in Tomsk, nun in Moskau lebend) zu einem der renommiertesten Reportagefotografen Russlands geworden. In den 1990er Jahren hat er als Kriegsfotograf die Konflikte des postsowjetischen Raums dokumentiert. Doch sein Thema ist schon immer auch das Wasser. Er machte die Wolga zum Inhalt seiner Arbeiten, drei Mal verbrachte er Monate am Weißmeer-Ostsee-Kanal, um sich mit einem fotografisch-forscherischen Projekt – Klimov ist studierter Astrophysiker – auf die Spuren des Zusammenhangs zwischen Bild und Politik zu begeben: Der Kanal wurde von Strafarbeitern erbaut, der Bauvorgang selbst vom großen sowjetischen Fotografen Alexander Rodtschenko in hochgradig ästhetisierender Weise dokumentiert, ohne jegliche Achtung des menschlichen Leids und Unrechts. Klimov, der einige Zeit Dozent an der zu Ehren Rodtschenkos benannten Schule für Fotografie und Multimedia in Moskau war, hat sich diesen Fall ethischer Blindheit des fotografischen Dokumentalisten auch schreibend zum Thema gemacht.

    Seit 2007 erforscht Klimov mit der Kamera die Meeresgrenzen Russlands, immer wieder kehrt er auf die Kurilen und die Insel Sachalin zurück. Dort, nördlich von Japan im Ochotskischen Meer, hat er die Fischer auf ihren Fahrten begleitet. Von den dabei entstandenen Aufnahmen werden einige hier erstmals gezeigt.

    Die Insel Sachalin gehört zur Oblast Sachalin – der einzigen Region Russlands, die sich vollständig über 59 Inseln erstreckt.

    Alles, was man aus der Oblast Sachalin verkaufen kann, ist Erdöl, Gas und Fisch.

    ​​Ein Fischer wirft einen Rochen über Bord, der sich zufällig im Netz verfangen hatte. Die Arten der Fische und ihre Anzahl sind durch Quoten begrenzt, weswegen der Rochen nur Platz wegnimmt auf dem Fischerboot № 47.
     

    Eigentlich fängt nur einer auf dem Schiff den Fisch – und zwar der Kapitän. Alle anderen helfen ihm dabei.Es werden „Küsten-“ von „Meeresarbeitern“ unterschieden. Letztere nennt man auch Mobr, von Matros-Obrabotschik: Matrose, der den Fisch zerlegt. Hier bereitet ein Mobr erstmal das Fangnetz vor.

    Fischer „schütten“ ihren Fang in den Laderaum des Fangschiffes Taimanija. Als Mobry arbeiten vor allem Einheimische.

    Die einfachen Obry, Fischverarbeiter zu Lande, brauchen keinerlei Qualifikation und sind meist Zugereiste, auf der Suche nach dem schnellen Geld.

    ​​Die Mobry erhalten ein Vielfaches an Gehalt gegenüber den Obry. Letzten Endes hängt die Höhe des Lohns auch von der Fangmenge ab.

    Ein gefangener Hai an Bord des Fangschiffs Star.

    Fischwilderer in der Terpenija-Bucht bei Poronaisk auf Sachalin. Wer kann, verkauft den Fang nicht in Russland, sondern in Japan, China oder Korea. Auch die Wilderer. Denn das bringt bedeutend mehr ein.

    Dorsch und Seelachs sind so rentabel wie die Öl- und Gasförderung auf Sachalin. 

    Die Menschen auf den Inseln leben in Armut und vom Fisch. Den verkaufen sie in Russland und Japan, die bis heute darüber streiten, zu wem die Inseln eigentlich gehören.

    ​​Fisch überall – selbst im Aufenthaltsbereich.

    Beliebter Zeitvertreib zwischen den Fangzeiten: Domino-Spiel auf einem Fischerboot.

    Die Fischer werden ähnlich wie Zeitarbeiter eingesetzt – sie bleiben für die gesamte Dauer der Fangfahrt auf dem Meer.

    Fisch satt: Eine Lachszucht auf den Kurilen.

    An der Küste gibt es kaum genügend Infrastruktur, wie sie die Sowjetbehörden nach 1945 eigentlich geplant hatten.

    ​​Die Fischverarbeiter sind meist Saisonkräfte. Sie kommen aus allen möglichen ehemaligen Sowjetrepubliken, aus Russland, aus China oder aus ärmeren Inselgegenden des Stillen Ozeans.

    Die Einheimischen nennen die Saisonarbeiter die „Zugezogenen“. Obwohl es auf den Kurilen keine wirklich Einheimischen gibt, letzten Endes besteht die große Mehrheit aus „Zugezogenen“.

    Da ein Teil des Fisches exportiert und nicht in Sachalin auf den Markt gebracht wird, ist der Fisch in den Geschäften vor Ort nicht günstiger als zum Beispiel in Moskau, manchmal sogar teurer.

    Ein Fischer fängt Lodden (die dort „Ujok“ genannt werden) an der Küste des Ochotskischen Meeres, unweit des Dorfes Wsmorje auf Sachalin.

    Fotos: Oleg Klimov
    Bildredaktion: Nastya Golovenchenko
    einführender Text: Martin Krohs
    Veröffentlicht am 02.09.2016

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    Januar: Backstage im Bolschoi

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    Juni: Grooven auf den Leeren Hügeln

    Juli: Gefundene Fotos

    August: Olympia 1980

    Das Ochotskische Meer

    Omsk

  • August: Olympia 1980

    August: Olympia 1980

    August 2021 – der Monat der Olympischen Spiele in Tokio.

    41 Jahre vorher, im Jahr 1980, war Moskau der Ort der Spiele. Damals boykottierten die USA und viele westliche Staaten das Sportereignis – Auslöser war der sowjetische Einmarsch in Afghanistan.

    Die Fotografin Anastasia Tsayder hat sich angesehen, was heute noch in Moskau von den damaligen Spielen zeugt, wie die Architektur das Stadtbild prägt, wie die Sportstätten nun genutzt werden.

    Die Bauwerke stammen zum Großteil aus den Jahren 1975–1978. Ihre futuristische Architektur sollte die Hoffnung auf eine lichte Zukunft zum Ausdruck bringen. „Viele dieser Gebäude, die eigentlich als Botschafter aus der Zukunft entworfen wurden“, sagt die Fotografin zu ihrer Serie, „wirken heute wie außeridische Gäste aus der Vergangenheit.“

    Anastasia Tsayder wurde 1983 in St. Petersburg geboren, wo sie an der Fakultät für Fotokorrespondenten des Petersburger Journalistenverbands auch ihre Ausbildung erhalten hat. Sie lebt derzeit in Moskau. Ihre Arbeiten wurden international veröffentlicht (u. a. The Guardian, Die Zeit, WIRED, GEO, Prime Russian Magazine, Colta). 2015 war sie Finalistin des russischen Kandinsky-Preises, eines Analogons zum Londoner Turner Prize. Die hier gezeigten Fotos sind in den Jahren 2012–2014 entstanden.

    Der Sportkomplex Druzhba (dt. Freundschaft), fertiggestellt 1980, war der Wettkampfort für die Volleyballer. Heutzutage finden hier Tennismeisterschaften und Musikveranstaltungen statt. Fotos © Anastasia Tsayder
    Der Sportkomplex Druzhba (dt. Freundschaft), fertiggestellt 1980, war der Wettkampfort für die Volleyballer. Heutzutage finden hier Tennismeisterschaften und Musikveranstaltungen statt. Fotos © Anastasia Tsayder
    Turnhalle des Olympischen Sportkomplexes in Moskau. Die 1980 fertiggestelltе Sportanlage ist immer noch die größte in Europa. Während der Olympischen Spiele in Moskau fanden hier Wettkämpfe in 22 unterschiedlichen Disziplinen statt. Heutzutage gibt es hier Sport- und Musikveranstaltungen, außerdem Büros, Bars, Cafes, verschiedenste Geschäfte und einen Kleidermarkt.
    Turnhalle des Olympischen Sportkomplexes in Moskau. Die 1980 fertiggestelltе Sportanlage ist immer noch die größte in Europa. Während der Olympischen Spiele in Moskau fanden hier Wettkämpfe in 22 unterschiedlichen Disziplinen statt. Heutzutage gibt es hier Sport- und Musikveranstaltungen, außerdem Büros, Bars, Cafes, verschiedenste Geschäfte und einen Kleidermarkt.
    Schwimmhalle des Moskauer Olympiakomplexes
    Schwimmhalle des Moskauer Olympiakomplexes
    Punktrichter-Tribüne in der Krylatskoje-Arena. Das 2300-Meter-Becken für Kanu- und Rudersport wurde speziell für die Olympischen Sommerspiele in Moskau errichtet, wird seitdem allerdings nicht mehr regelmäßig genutzt.
    Punktrichter-Tribüne in der Krylatskoje-Arena. Das 2300-Meter-Becken für Kanu- und Rudersport wurde speziell für die Olympischen Sommerspiele in Moskau errichtet, wird seitdem allerdings nicht mehr regelmäßig genutzt.
    Außenansicht des Bitza-Reitsportstadions. Der 1980 errichtete Sportkomplex ist immer noch das größte Reitsportstadion in Europa. Während der Olympischen Spiele in Moskau fanden hier alle Pferdesport-Wettkämpfe statt. Der Komplex wird auch weiterhin für den Pferdesport genutzt.
    Außenansicht des Bitza-Reitsportstadions. Der 1980 errichtete Sportkomplex ist immer noch das größte Reitsportstadion in Europa. Während der Olympischen Spiele in Moskau fanden hier alle Pferdesport-Wettkämpfe statt. Der Komplex wird auch weiterhin für den Pferdesport genutzt.
    In den Gängen des Dynamo-Stadions. Der Dynamo-Sportpalast wurde 1980 eröffnet und war Austragungsort der Basketballwettkämpfe. Das Stadion, die Heimat des Fußballclubs Dynamo Moskau, wurde inzwischen fast vollständig abgerissen und wird derzeit in völlig neuer Form wieder aufgebaut.
    In den Gängen des Dynamo-Stadions. Der Dynamo-Sportpalast wurde 1980 eröffnet und war Austragungsort der Basketballwettkämpfe. Das Stadion, die Heimat des Fußballclubs Dynamo Moskau, wurde inzwischen fast vollständig abgerissen und wird derzeit in völlig neuer Form wieder aufgebaut.
    In der 1979 errichteten Sportanlage im Olympischen Dorf konnten die Sportler trainieren. Hier trainierten Schwimmer, Leichtathleten, Basketballer, Boxer und Gewichtheber. Auch heute noch findet hier Kampfsport- und Leichtathletiktraining für Kinder und Erwachsene statt; die Schwimmanlage ist in Betrieb.
    In der 1979 errichteten Sportanlage im Olympischen Dorf konnten die Sportler trainieren. Hier trainierten Schwimmer, Leichtathleten, Basketballer, Boxer und Gewichtheber. Auch heute noch findet hier Kampfsport- und Leichtathletiktraining für Kinder und Erwachsene statt; die Schwimmanlage ist in Betrieb.
    In der kleinen Gymnastikhalle des Olympiakomplexes turnten seinerzeit nicht die Kleinen – sondern die Großen ihrer Disziplin mit Band und Ball.
    In der kleinen Gymnastikhalle des Olympiakomplexes turnten seinerzeit nicht die Kleinen – sondern die Großen ihrer Disziplin mit Band und Ball.
    Die Reithalle des Bitza-Reitsportstadions wurde 1980 fertiggestellt und ist immer noch in Betrieb.
    Die Reithalle des Bitza-Reitsportstadions wurde 1980 fertiggestellt und ist immer noch in Betrieb.
    Das internationale Terminal am Flughafen Scheremetewo. Es wurde 1980 fertiggestellt, kurz bevor die Olympischen Spiele begannen. Während der Spiele wurden an diesem Terminal beinahe eine halbe Million internationaler Fluggäste abgefertigt.
    Das internationale Terminal am Flughafen Scheremetewo. Es wurde 1980 fertiggestellt, kurz bevor die Olympischen Spiele begannen. Während der Spiele wurden an diesem Terminal beinahe eine halbe Million internationaler Fluggäste abgefertigt.
    Die Lobby des Hotels Kosmos, das 1979 hauptsächlich für Besucher fertiggestellt wurde,   aber auch eines der Olympischen Pressezentren beherbergte.
    Die Lobby des Hotels Kosmos, das 1979 hauptsächlich für Besucher fertiggestellt wurde, aber auch eines der Olympischen Pressezentren beherbergte.
    Konzertsaal im Olympischen Dorf, hier konnten die Sportler pausieren. Während der Olympiade traten Folklore-Ensembles auf, es gab Theaterstücke und Disko. Heute ist das Gebäude eine Spielstätte der Moskauer Philharmonie.
    Konzertsaal im Olympischen Dorf, hier konnten die Sportler pausieren. Während der Olympiade traten Folklore-Ensembles auf, es gab Theaterstücke und Disko. Heute ist das Gebäude eine Spielstätte der Moskauer Philharmonie.
    Museum der Verteidigung Moskaus und Sitz der Staatsanwaltschaft. In diesem Gebäude waren das Pressezentrum und die Leitung des Olympischen Dorfs untergebracht.
    Museum der Verteidigung Moskaus und Sitz der Staatsanwaltschaft. In diesem Gebäude waren das Pressezentrum und die Leitung des Olympischen Dorfs untergebracht.
    Feuerschale für das Olympische Feuer in der Großen Sportarena des Lenin-Zentralstadions und das Maskottchen Mischa, der Bär. Das Maskottchen der Olympischen Sommerspiele 1980 wurde als Denkmal in Lushniki aufgestellt. Die Große Sportarena des Lenin-Zentralstadions in Lushniki war 1956 erbaut und für Olympia 1980 renoviert worden. Hier fand die Eröffnungs- und Abschlusszeremonie statt.
    Feuerschale für das Olympische Feuer in der Großen Sportarena des Lenin-Zentralstadions und das Maskottchen Mischa, der Bär. Das Maskottchen der Olympischen Sommerspiele 1980 wurde als Denkmal in Lushniki aufgestellt. Die Große Sportarena des Lenin-Zentralstadions in Lushniki war 1956 erbaut und für Olympia 1980 renoviert worden. Hier fand die Eröffnungs- und Abschlusszeremonie statt.

     

    Fotos: Anastasia Tsayder
    Bildredaktion: Nastya Golovenchenko
    Veröffentlicht am 01.08.0216, aktualisiert am 30.07.2021

     

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    März: Alexander Gronsky

    April: Liebe in Zeiten des Konflikts

    Mai: Beim Volk der Mari

    Juni: Grooven auf den Leeren Hügeln

    Juli: Gefundene Fotos

    Moskau 1980: Die Olympischen Sommerspiele

  • Juli: Gefundene Fotos

    Juli: Gefundene Fotos

    Eine große Altbauwohnung in St. Petersburg. Die Wohnung steht leer, die Bewohner sind längst ausgezogen, längst verstorben. Es waren viele.

    Die Wohnung soll entrümpelt werden, das Alte soll fort, doch es sind Menschen vor Ort, die gerade für dieses Alte einen Blick haben: eine Gruppe Architekten und der Fotograf Max Sher. Ihm fallen Fotoalben der früheren Bewohner in die Hände. Aufnahmen aus den 1960ern, den 1970ern, den 1980ern. Der Fotograf ist Sohn eines Archäologen, und mit einem solchen Blick – einem archäologischen – macht er sich ans Betrachten.

     

    Gefundene Fotografien, Gebrauchsfotografie: Hinter den englischen Stichwörtern found photography und vernacular photography steht eine aktuelle Bewegung, die dem alltäglichen Bild einen hohen Wert beimisst. Die Fotos, mit denen sie arbeitet, entdeckt sie auf Flohmärkten, Dachböden, ja auf der Straße. Das gefundene Bild wird zum zufälligen Zeugnis eines Lebens, das real war wie das eigene, das noch nicht lang vergangen ist, das doch fremd bleibt und sich nie ganz erschließt. Sammeln und Zusammenstellen ist hier Forschung und Kunst zugleich.

    Die Fotos, die Max Sher in der Petersburger Wohnung fand, offenbaren auf doppelte Weise eine besondere Welt. Es ist die Zeit des Tauwetters, dann die Breshnew-Zeit. Eine schüchterne Romantik durchwehte die Sowjetunion, man war nicht mehr ständig beobachtet, nicht mehr alle, nicht auf Schritt und Tritt kontrolliert. Liedermacher sangen nicht von der Partei, sondern vom Leben. Und die Archäologie – sie spielt nicht nur beim forschenden Fotografen, sondern auch in den Fotoalben selbst eine wichtige, wenn auch kaum sichtbare Rolle – wurde zu einer Nische der Freiheit: Sie erlaubte es zu reisen, um zu forschen, auch denen, die keine Fachleute waren. Im Sommer „zu Ausgrabungen” zu fahren, in den Süden, in die Natur, wurde zum verbreiteten kleinen Abenteuer.

    Eine besondere Welt zeigen diese Bilder auch, weil die Alben aus einer Kommunalka stammen. Aus einer Wohnung, in der man zusammenlebte, ob man es wollte oder nicht: meist eine Familie pro Zimmer, oft die des Lehrers neben der der Schauspielerin, die der Professorin neben der des Säufers. Die Kommunalka ist legendär, im guten wie im üblen Sinne. Sie hat eine ganze Generation geprägt, mit ihrem Mangel an Privatheit, ihrem Zwang zum endlosen Improvisieren, den Streits, den Versöhnungen, den verschlungenen Geschichten, die sie gebar.

    Die Dame mit dem strengen Blick: Galina Babanskaja, geboren 1920 in dieser Wohnung, gestorben 2002 ebenfalls in dieser Wohnung. Sie war Ethnografin und Archäologin. Ihr gehörten die Alben, sie waren ihr persönliches Familienarchiv. Babanskajas erster Mann, Alexander Bernstam: einer der führenden Archäologen der UdSSR. Er starb 1956 – in dieser Wohnung –, nachdem die sowjetische Propaganda auf ihn als einen „kirgisischen Bourgeois” eingehackt hatte (Bernstam ist auf den Fotos nicht zu sehen, dafür aber mehrfach Galinas zweiter Mann, Wenjamin Awerbach, ein Ingenieur, gestorben 2009). Und, Verkettung von Umständen: Zwischen der Familie des Fotografen Max Sher und den Personen auf den Fotos gab es eine Verbindung, wenn auch nur eine haarfeine. Max Shers Vater war Bernstam einmal begegnet, 1951, das Treffen hatte seine Begeisterung für den zukünftigen Beruf geweckt. All das ließ sich nun nach und nach rekonstruieren.

    Alle hier gezeigten Fotos stammen aus den gefundenen Archiven, mit Ausnahme der quadratischen, die Max Sher in der Wohnung vor ihrer Entrümpelung aufgenommen hat. Max Sher ist 1975 in St. Petersburg, damals Leningrad, geboren, wuchs in Sibirien auf, studierte Linguistik in Kemerowo und Straßburg und wandte sich 2006 der Fotografie zu. Seine Fotografien sind international publiziert, waren nominiert unter anderem für den niederländischen Paul Huf Award und den Cord Prize. Aus seiner Arbeit mit gefundenen Fotografien ist ein Buch entstanden mit dem Titel A Remote Barely Audible Evening Waltz – ein Zitat aus einem Roman von Sascha Sokolov.

    Die Bilder in den Alben waren bereits vergessen, der Container, der sie vernichtet hätte, stand auf der Straße bereit. Sie wurden erhalten, und nun schauen wir, Fremde, sie an: Worüber diskutierten diese Menschen rauchend am Besprechungstisch? Wie klangen ihre Stimmen? Wer fotografierte die Troika der Stechfliegen? Wohin kämpfte sich der Bus durch die tauenden Schwaden von Schnee?

    Fotos: Max Sher
    Bildredaktion: Nastya Golovenchenko
    Text: Martin Krohs
    Veröffentlicht am 01.07.2016

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    Januar: Backstage im Bolschoi

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    April: Liebe in Zeiten des Konflikts

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    Juni: Grooven auf den Leeren Hügeln

  • Juni: Grooven auf den Leeren Hügeln

    Juni: Grooven auf den Leeren Hügeln

    60.000 Besucher, Musik von Blues über Reggae bis zur Elektronik, freier Eintritt, viel Natur und eine gewaltige Portion Idealismus: Beim Festival Pustye Kholmy, die „Leeren Hügel“, kommt einem unweigerlich Woodstock in den Sinn oder der Burning Man in Nevada. 

    Fast zehn Jahre lang trafen sich jedes Jahr im Juni musik- und sonnenhungrige Städter zum gemeinsamen Feiern und Chillen – immer in der Provinz, nicht zu weit von Moskau, in der Oblast Kaluga oder Smolensk, und immer an den Ufern von Flüssen oder Seen.

    Im Jahr 2011, bei einem der letzten grossen Leeren Hügel (die während des Festivals alles andere als leer sind), war der Fotograf Nikita Shokhov mit dabei. Shokhov, Jahrgang 1988, geboren in Ekaterinburg und zur Zeit dieser Aufnahmen noch Student an der Rodchenko School of Multimedia in Moskau, hatte sich zuvor schon als Fotograf des Moskauer Nachtlebens einen Namen gemacht. Auf dem Festival wechselte er nun vom Schummerlicht der Klubs in die pralle Sonne – ließ den Blitz aber auf dem Fotoapparat. „Der Blitz“, sagt Shokhov „bringt eine Übertreibung in die Körperoberflächen“ – und lässt sie mal besonders natürlich, mal fast künstlich-plastisch erscheinen. Nikita Shokhov hat 2014 einen dritten Platz im World Press Photo Award errungen und hat sich seit Neuestem einer sehr technischen Fotografie zugewandt: Er fängt das Fließen der Zeit in Aufnahmen mit einer Scanner-Kamera ein.

    Auch das „Festival der freien Schöpfungen“, wie sich die Leeren Hügel selber nannten, gibt es in dieser Form nicht mehr – Einzelprojekte aus dem Programm werden nun gesondert an anderen Orten fortgeführt. Es bleiben legendäre Erinnerungen und die nie versiegende Sehnsucht nach Ursprünglichkeit, Sommer, Freiheit und Musik.

     

    Fotos: Nikita Shokhov
    Bildredaktion: Nastya Golovenchenko, Text: Martin Krohs
    Veröffentlicht am 01.06.2016

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    November: Arnold Veber

    Oktober: Denis Sinjakow

    Dezember: Norilsk

  • April: Liebe in Zeiten des Konflikts

    April: Liebe in Zeiten des Konflikts

    Wo Ukrainer und Russen aufeinandertreffen, gibt es heute meist böses Blut. Der Konflikt zwischen den Staaten hat zahllose Freundschaften zerstört und ganze Familien auseinandergerissen. Doch nicht jeder lässt sich anstecken vom Geist der Feindschaft, wie die Fotografin Oksana Yushko zeigt: Sie hat Paare besucht, bei denen der eine Partner aus der Ukraine stammt, der andere aus Russland. Bis vor kurzem lag in solchen Liebesbeziehungen nichts Besonderes, plötzlich aber werden sie zu Laboratorien der Verständigung: In ihrem täglichen Leben schaffen diese Paare sich Welten, in denen das Menschliche zählt, nicht die Politik.

    Oksana Yushko kommt aus der Pressefotografie. Sie hat die Journalismusschule der Zeitung Iswestija besucht, für russische und internationale Medien wie Stern, Mare, Financial Times und Russki Reporter gearbeitet und zuletzt den Prix Bayeux Calvados 2014 gewonnen. Sie selbst ist Russin, stammt aus einer russisch-ukrainischen Familie und lebt mit ihrem ukrainischen Partner Artur Bondar, ebenfalls einem Fotografen, in Moskau (die beiden sind auf dem letzten Bild unserer Serie zu sehen). Über ihr Projekt schreibt sie: „Ich selbst habe es nie so empfunden, dass Russen und Ukrainer etwas trennt. Ich sehe überhaupt keinen Unterschied. Seit meiner Schulzeit weiß ich, dass wir alle zusammengehören – nicht nur Russen und Ukrainer. Beim Reisen, wenn ich Freunde in allen möglichen Ländern besuche, empfinde ich das gleiche. Ich wollte von Liebe und Freundschaft berichten und nicht über Krieg und Aggression.“

    Engelina Georgijewna und Viktor Kusmitsch leben in der Ukraine, in Charkiw. Hier habe ich mit dem Fotoprojekt begonnen: mit meiner russischen Mutter und meinem ukrainischen Vater. Sie haben sich im Studium kennengelernt an der Staatlichen Universität Charkiw und leben seit mehr als 50 Jahren zusammen.

    Dima ist in Moskau geboren, Wlada kommt aus Kiew. Kennengelernt haben sie sich in Georgien und ihre Beziehung lange Zeit über große Entfernung aufrechterhalten. Jetzt leben sie mit ihrem einjährigen Sohn Lew in New York.

    Alexej ist Ukrainer, geboren in Odessa. Olga ist Russin. Ihre Liebesgeschichte begann drei Jahre bevor dieses Foto entstand. Olga machte damals Urlaub in Odessa und suchte einen Fotografen, der Bewerbungsfotos von ihr machen könnte. Alexej war der passende Mann. Mittlerweile lebt das Paar zusammen mit Töchterchen Lisa in der Nähe von Moskau.

    Bogdan ist Ukrainer, geboren und aufgewachsen in Rawa-Ruska in der West-Ukraine. Irina ist Russin und hat, bis sie 17 war, in Norilsk gelebt. Sie haben sich an einer Straßenkreuzung kennengelernt. Bogdan hatte dort mit seinem Motorrad angehalten und Irina gesagt, sie würde eine bezaubernde Schwiegertochter für seinen Vater abgeben. Sie leben seit über 25 Jahren zusammen.

    Tatjana ist Ukrainerin, geboren in Tschernihiw. Sergej ist Russe aus dem Gebiet Amur. Sie haben sich während ihres Studiums in Kiew kennengelernt. Tatjana hatte seit ihrer Schulzeit vom Fernen Osten geträumt, und Sergej lud sie zu sich nach Hause ein. Ein Jahr später waren sie verheiratet und in die Stadt Seja im Gebiet Amur gezogen. Sie sind seit mehr als 30 Jahren zusammen.

    Alexander Fjodorowitsch ist Russe, geboren in Sibirien. Er kämpfte im Großen Vaterländischen Krieg als Kapitän auf der Krim-Partisan. Irina Grigorjewna ist Ukrainerin. Sie leben seit fast 30 Jahren zusammen. Vor drei Jahren wurde bei Alexander Fjodorowitsch Alzheimer diagnostiziert. Sie leben auf der Krim.

    Julia und Edik sind in Horliwka in der Ost-Ukraine geboren. Julias Familie kommt aus Orenburg in Russland und aus Tscherkassy in der Ukraine. Ediks Eltern kommen aus Lipezk in Russland und dem Gebiet Donezk in der Ost-Ukraine. Heute sind Julia und Edik Flüchtlinge aus der Ost-Ukraine und leben mit ihrem vierjährigen Sohn Dima in Moskau.

    Alexander ist Ukrainer. Irina ist Russin. Am 7. August 2015 feierten sie ihr 33-jähriges Zusammensein. Ihre Liebesgeschichte begann beim Tanzen. Damals besuchte Alexander die Militärschule und Irina arbeitete als Krankenschwester. Sie reisen um die Welt und sammeln dabei Frösche als Glücksbringer.

    Dima kommt aus Russland, Sascha ist in der Ukraine geboren. Sascha ist Mitglied der internationalen Organisation FEMEN. Sie sind sich zum ersten Mal begegnet, als Dima als Fotograf eine Reportage über FEMEN in Kiew machen wollte. Damals begann ihre Beziehung. Jetzt leben Sascha und Dima in Paris.

    Irina ist Russin, Alexander ist aus der Ukraine. Seine Familie lebt in Tscherkassy in der Ukraine. Er hat Irina 2006 auf einer Geschäftsreise kennengelernt. Seither leben sie zusammen in Moskau. Im Jahr 2006 wurde ihr Sohn Nikita geboren.

    Waldis und Lejla haben letztes Jahr in Moskau geheiratet, aber die Hochzeitsnacht im Hotel Ukraina verbracht. Waldis ist aus Kiew, wo er gelebt hat, seit er zwei war, hierhergezogen, um mit Lejla zusammenzuleben. Sie sind sich am Ufer der Moskwa begegnet, es war Liebe auf den ersten Blick.

    Wladimir ist in Moskau geboren, Jewgenija ist aus Charkiw. Sie haben sich kennengelernt, als sie beide ihre Großmutter in einem Dorf im Gebiet Kursk besucht haben. Nach drei Jahren Fernbeziehung zog Jewgenija nach Moskau. Dort leben sie jetzt zusammen mit Töchterchen Arischa.

    Marina kommt aus Kiew, Jewgeni aus dem Gebiet Rostow in Russland. Sie leben mit ihren sechs Kindern in Moskau. Die Jüngste ist Xenija. Sie haben sich in einem Dorf in der Nähe von Moskau kennengelernt, in dem sie beide lebten. Jetzt wohnen sie in Pereslawl-Salesski, wo Jewgeni Priester ist.

    Waleri kommt aus der Ukraine, aus Odessa. Sweta lebt in Sankt-Petersburg, in Russland. Sie haben sich in Odessa kennengelernt, als Sweta dort zu Besuch war. Ein Jahr später haben Sweta und Waleri geheiratet. Sie mögen beide Yoga, andere Kulturen und exotische Dinge.

    Sergej kommt aus Donezk. Alla ist in Ufa, in Russland, geboren. Sie haben sich 2006 auf einem Forum der Orthodoxen Kirche in Kiew kennengelernt. Ein Jahr später zog Alla nach Kiew, wo das Paar seitdem lebt. Sie haben zwei Kinder, Dascha (7) und Ljoscha (3). Mindestens einmal im Jahr besuchen sie die Verwandten in Russland.

    Darija komm aus Sumi in der Ukraine, Maxim wurde in Karaganda geboren und zog später nach Woronesh in Russland. Seit einem halben Jahr leben sie in Moskau. Sie sind sich auf dem Weg von Kaluga nach Woronesh begegnet, wo sie durch eine Mitfahrgelegenheit zufällig im selben Auto saßen. Sie unterhielten sich die sechs Stunden auf dem Weg nach Woronesh ohne Pause, am nächsten Tag waren sie ein Paar.

    Igor ist im Gebiet Luhansk in der Ukraine geboren. Er ist Musiker. Olga ist aus Koroljow, aus dem Gebiet Moskau. Sie haben sich auf einem Konzert kennengelernt und sind seit mehr als 17 Jahren zusammen. Olga und Igor haben 2 Töchter, Jana und Veronika.

    Artur ist Ukrainer. Oksana ist Russin, aber sie ist in der Ukraine geboren. Ihre Mutter ist Russin, ihr Vater Ukrainer. Ihre Liebe begann vor drei Jahren. Mittlerweile arbeiten und reisen sie zusammen, besuchen Freunde und Familie in Russland, in der Ukraine und auf der ganzen Welt. Oksana ist die Fotografin dieser Serie.

    Fotos: Oksana Yushko
    Bildredaktion: Nastya Golovenchenko, Einführungstext: Martin Krohs
    Veröffentlicht am 03.04.2016

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