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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Wladimir Kara-Mursa

    Wladimir Kara-Mursa

    Das Schicksal von Wladimir Kara-Mursa ist unter Russlands politischen Gefangenen bisher beispiellos: Die russische Staatsmacht hat ihn für 25 Jahre ins Gefängnis geschickt. Das ist die gesetzlich vorgesehene Höchststrafe – mehr, als jemals zuvor im postsowjetischen Russland gegen einen Oppositionellen verhängt wurde.1 Sogar Kara-Mursa selbst, ein erfahrener Oppositioneller und studierter Historiker, hatte nicht damit gerechnet. Wenige Tage vor seiner Verurteilung im April 2023 erklärte er vor Gericht: „Ich war mir sicher, dass mich nach zwei Jahrzehnten in der russischen Politik, nach allem, was ich gesehen und erlebt habe, nichts mehr überraschen könnte. Wie ich zugeben muss, habe ich mich getäuscht. Dass die Undurchsichtigkeit und die Missachtung der Verteidigung in meinem Prozess selbst die ,Prozesse‘ gegen sowjetische Dissidenten in den 1960er und 1970er Jahren übertreffen würde, hat mich doch überrascht. Ganz zu schweigen von der Härte der geforderten Strafe und dem Ausdruck ,Feind‘. Da sind wir nicht mehr in den 1970ern, sondern schon in den 1930ern.“2

    Der russländische Staat betrachtet Kara-Mursa schon seit langem nicht als legitimen Gegner, sondern als Feind, den es zu zerstören gilt. Das kommt auch in der Anklage gegen ihn zum Ausdruck: Sie lautete nicht allein auf das Verbreiten von „Fake-News“ über das Vorgehen der russischen Armee in der Ukraine und auf die Zusammenarbeit mit einer „unerwünschten Organisation“, der Stiftung Freies Russland, sondern auf Hochverrat.3Trotz allem hat Kara-Mursa sich ebenso hartnäckig gezeigt wie der Kreml-Kritiker Alexej Nawalny. Seine politische Aktivität in Russland hat er selbst nach Moskaus Großangriff auf die Ukraine nicht eingestellt. Was hat ihn dazu angetrieben, und was steht hinter der grausamen Reaktion des Kreml?

    Der Oppositionelle Wladimir Kara-Mursa – Sohn einer Familie der russischen Intelligenzija, Journalist und politischer Aktivist – blieb auch nach dem Großangriff Russlands auf die Ukraine vom Februar 2022 im Land / Foto © Michał Siergiejevicz/wikimedia unter CC BY-SA 2.0
    Der Oppositionelle Wladimir Kara-Mursa – Sohn einer Familie der russischen Intelligenzija, Journalist und politischer Aktivist – blieb auch nach dem Großangriff Russlands auf die Ukraine vom Februar 2022 im Land / Foto © Michał Siergiejevicz/wikimedia unter CC BY-SA 2.0

    Kara-Mursa ist ein renommierter russischer Oppositioneller. Schon viele Vertreter der liberalen Opposition in Russland haben große Beharrlichkeit, Mut und Talent bewiesen. Auch die grundsätzliche Weigerung, Russland zu verlassen, verbindet Kara-Mursa mit anderen Oppositionellen wie Ilja Jaschin. Kara-Mursa hat dazu erklärt: „Ich glaube, dass ich nicht das Recht hätte, politisch aktiv zu sein, die Leute zum Handeln aufzurufen, wenn ich irgendwo anders in Sicherheit säße.“4 Was Kara-Mursa von seinen Weggefährten unterscheidet, sind seine ausgesprochen elitäre Herkunft sowie seine internationalen Verbindungen und Aktionen.

    Die Familie Kara-Mursa führt ihre Herkunft bis auf den Mongolen-Herrscher Dschingis Khan zurück. Aber er gehört auch einer anderen Art von russischem Adel an, der Intelligenzija.5 Sein Vater Wladimir Kara-Mursa senior, in den 1990ern ein bekannter TV-Moderator, studierte bereits in vierter Generation an der Moskauer Staatsuniversität, dem heiligen Gral der russischen Hochschulbildung. Der ethnisch diverse Stammbaum der Familie – sie hat russische, jüdische, lettische und armenische Wurzeln6 – ist durch die zahlreichen Tragödien des sowjetischen Jahrhunderts mitgeformt worden, vom Gulag bis zum herrschenden Antisemitismus. 

    Geboren in Moskau, aufgewachsen in London

    Kara-Mursa wurde 1981 in Moskau geboren. Nach der Scheidung seiner Eltern ging er im Alter von 14 Jahren mit seiner Mutter nach London, kehrte jedoch immer wieder nach Russland zurück. Sein Geschichtsstudium in Cambridge schloss er Anfang der 2000er Jahre mit dem Master of Arts ab. Nach seiner Verurteilung bekundete Adam Tooze, einer der bedeutendsten zeitgenössischen Historiker, bei dem Kara-Mursa in Cambridge studiert hatte, seine „Demut […] angesichts dieses großartigen historischen Zielbewusstseins“ und seine Hochachtung vor Kara-Mursas „außergewöhnlichen Mut“.7 

    Kara-Mursa strebte keine Laufbahn als Intellektueller an, auch wenn er 2011 ein kurzes Buch publiziert hat. Darin befasst er sich mit einem der wenigen Versuche einer moderaten Liberalisierung von oben, die es in der russischen Geschichte gab. Das Interesse an dieser Geschichte ist unter den jungen Aktivisten der liberalen Opposition nicht weit verbreitet. Doch Kara-Mursa beschäftigten mit Blick auf das Kabinett der konstitutionellen Demokraten (Kadetten) unter Nikolaus II., das nach der Revolution von 1905 für einige Monate regierte, wohl die historischen Parallelen:8 Der Zar habe die Liberalisierungs- und Demokratisierungsbestrebungen im Ansatz erstickt, „den Weg zu einer friedlichen Reform des Landes versperrt“ und damit weiteren Tragödien den Boden bereitet, schrieb Kara-Mursa. Die Analogien zum modernen Russland waren damals, 2011, ebenso offenkundig wie heute. Trotzdem zeugt sein Buch von einem unbeirrbaren Optimismus, was Russlands Zukunft angeht: „Das Leben ist stärker als der Tod“, lautet sein Fazit. Auch die bolschewistische Revolution sah er lediglich als vorübergehendes Hemmnis auf Russlands Weg hin zu der von ihm angestrebten Demokratie. 

    Zwischen Politik und Journalismus

    Im engen politischen Sinn war Kara-Mursa ausschließlich dem konservativen Flügel des russischen Liberalismus und dessen verschiedenen Organisationen verbunden: „Demokratische Wahl Russlands“, „Union der rechten Kräfte“ (SPS), „Solidarnost“ und „RPR-Parnas“.9 Boris Nemzow, der an all diesen Parteien führend beteiligt war, stellte ihn während seiner Zeit als Duma-Abgeordneter als Referenten ein und holte ihn so in die Politik. Dank der guten Beziehungen seines Vaters war Kara-Mursa von Kindheit an mit Nemzow bekannt und die beiden wurden gute Freunde. Kara-Mursa hatte verschiedene Funktionen in diesen Bewegungen inne, stellte sich jedoch nur einmal selbst als Kandidat zur Wahl – bei den Wahlen zur Staatsduma 2003 in einem Moskauer Wahlbezirk. Dort wurden massive „administrative Ressourcen“ gegen ihn eingesetzt und er kam – mit offiziell 8,59 % der Wählerstimmen – auf den zweiten Platz. Eine weitere Kandidatur, diesmal für die Regionalduma der Oblast Jaroslawl, ließen die Behörden unter Verweis auf seine doppelte Staatsbürgerschaft nicht zu.

    Statt einer wissenschaftlichen oder politischen Karriere schlug Kara-Mursa schließlich eine Laufbahn als Journalist ein und trat damit in die Fußstapfen seines Vaters. Wladimir Kara-Mursa senior war viele Jahre lang für NTW tätig gewesen – den „größten und erfolgreichsten privaten TV-Sender Russlands“, der damals dem Oligarchen und Medientycoon Wladimir Gussinski gehörte. 2001 wurde der Sender durchsucht und auf Linie gebracht – eine der ersten, entscheidenden Maßnahmen im Zuge der Übernahme der Medien durch Putin. Kara-Mursa senior wechselte zu dem russischen Auslandssender RTVi. 2004, einige Monate, nachdem er seine erste – und letzte – Wahl verloren hatte, fing auch sein Sohn dort an. Schon nach kurzer Zeit wurde ihm die schwierige und ehrenvolle Aufgabe angeboten, das neue RTVi-Büro in Washington aufzubauen und zu leiten.

    Kara-Mursa hebt sich vom Gros der liberalen Oppositionellen Russlands ab, weil er viele und tiefgehende Verbindungen zu „den Angelsachsen“ hat, wie die russische Propaganda die USA und Großbritannien heute gern nennt: Er ist nicht nur russischer, sondern auch britischer Staatsbürger, hat einen Abschluss der Universität Cambridge, war Korrespondent verschiedener Nachrichtenmedien in Washington mit ständigem Wohnsitz in den USA, wo seine Frau und seine drei Kinder leben; und er war eng mit dem konservativen US-Senator John McCain befreundet, der ihn zu einem seiner Sargträger bestimmte.10 

    Trotz seiner klar pro-westlichen Haltung, die er mit dem Mainstream des russischen Liberalismus teilt, erweckt Kara-Mursa nicht den Eindruck, übermäßig naiv gegenüber dem Westen zu sein. Das liegt vielleicht daran, dass er ihn gut kennt, anders als viele andere russische Oppositionelle vor ihrer notgedrungenen Emigration.11 Er stand auch nicht für eine Haltung, die das Ende des Kalten Krieges als unumschränkten Triumph des Westens sah. Die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstandene Ordnung betrachtet er als gescheitert. Zwar bezeichnet er die Vergrößerung der NATO als „durchschlagenden Erfolg“, da sie die Grenzen der freien Welt erweitert habe. Doch zugleich sagt er: „Der schwerste Fehler des Westens in den frühen 1990ern war, dass er nicht bereit für die Herausforderung war, ein demokratisches Russland zu integrieren.“12 Die mittel- und osteuropäischen Länder hätten in den frühen 1990ern erhebliche Demokratisierungsanreize von den europäischen und transatlantischen Institutionen erhalten, die russischen Liberalen hingegen nicht. 

    Aktivist und Lobbyist für die Magnitski-Liste

    Mit seinem Wohnsitz in Washington hatte Kara-Mursa beste Voraussetzungen, um als Lobbyist für Sanktionen gegen russische Amtsträger zu werben, die in Korruption oder Menschenrechtsverletzungen verwickelt waren. Er trug entscheidend zur Verabschiedung der sogenannten Magnitski-Liste bei.

    Die Idee, dass der Westen persönliche Sanktionen gegen die obersten Vertreter des Regimes verhängen und umsetzen sollte, stammt ursprünglich von Boris Nemzow. Den russischen Investigativjournalisten Irina Borogan und Andrej Soldatow zufolge brachte er sie Ende 2007 ins Spiel.13 Sein Motiv für diesen Schritt seid demnach die Verzweiflung angesichts der politischen Situation in Russland gewesen. Die Umsetzung erforderte langfristige Lobbyarbeit, die ganz offen durchgeführt wurde. Neben dem ehemaligen russischen Ministerpräsidenten Michail Kassjanow und Nemzow selbst, die beide häufig in Washington waren, traf auch Kara-Mursa regelmäßig mit führenden Vertretern des US-Kongresses zusammen.

    Die Magnitski-Liste wurde durch Bill Browder ermöglicht, einen Investor, der zum Vorkämpfer für die Verhängung von Sanktionen gegen russische Amtsträger wurde, nachdem er beim russischen Regime in Ungnade gefallen war. Der für Browders Fondsgesellschaft Hermitage Capital Management tätige Moskauer Steuerexperte Sergej Magnitski hatte den russischen Behörden vorgeworfen, den Fonds betrogen zu haben. Der Hintergrund des Falls Magnitski und vor allem Browders Rolle dabei sind bis heute umstritten.14 Außer Frage steht jedoch, dass Magnitski infolge seiner Nachforschungen ins Gefängnis kam und dort furchtbaren Bedingungen ausgesetzt war. Nachdem er erkrankte und nicht ärztlich behandelt wurde, starb er 2009 im Gefängnis. 

    Die Magnitski-Liste wurde 2012 vom US-Kongress verabschiedet. Ursprünglich zielte sie nur auf die Personen, die als verantwortlich für Magnitskis Schicksal angesehen wurden. Später fand das Gesetz jedoch breitere Anwendung, sodass potenziell alle russischen Amtsträger betroffen waren – etwas, worauf Kara-Mursa gezielt hingearbeitet hatte. Alexej Nawalny lobte das Gesetz als „ausgezeichnet“, der Kreml reagierte zornig und nannte es „seltsam und barbarisch“.15 Er revanchierte sich mit einem Verbot der Adoption russischer Kinder durch US-Staatsbürger.16

    Für Kara-Mursa selbst stand seine Tätigkeit als Journalist nicht im Widerspruch zu seiner aktiven Lobbyarbeit für Sanktionen: „Unter den Bedingungen eines autoritären Regimes […] ist das weniger eine politische als eine staatsbürgerliche Betätigung“, erklärte er.17 Der Kreml sah dies allerdings anders. Er ließ ihm durch den russischen Botschafter in den USA ausrichten, dass er ihn „nicht mehr als Journalist“ betrachte. Sein Engagement kostete Kara-Mursa seinen Posten bei RTVi.

    Wahrscheinlich hat es ihn auch fast das Leben gekostet: Lange vor dem Nowitschok-Angriff auf Nawalny in Sibirien wurde Kara-Mursa 2015 Opfer eines politisch motivierten Giftanschlags – einer der ersten dokumentierten Fälle dieser Art in Putins Russland. Und es blieb nicht bei dem einen Mal: 2017 erlitt Kara-Mursa erneut eine lebensbedrohliche Vergiftung. Er selbst schildert das so: 

    „Innerhalb von Minuten wurde ich plötzlich krank […] Ich konnte meinen Puls spüren, hatte Atemnot, schwitzte und verspürte Brechreiz. Ich ging auf die Toilette, kehrte dann zum Meeting zurück und lehnte mich gegen die Wand. Meine Kollegen legten mich aufs Sofa und riefen den Krankenwagen. In zehn bis fünfzehn Minuten war ich von einem völlig gesunden Menschen zum Todeskandidaten geworden.“18

    Kara-Mursa kam ins Krankenhaus, fiel ins Koma und erholte sich wieder. Die russischen Behörden führten nie ernsthafte Ermittlungen zu dem Anschlag auf sein Leben durch. Eine gemeinsame Recherche des Investigativnetzwerks Bellingcat mit dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel und dem russischen Onlinemedium The Insider brachte ans Licht, dass Kara-Mursa von Mitgliedern des selben FSB-Teams beschattet worden war, das sehr wahrscheinlich auch den Giftanschlag auf Nawalny verübt hatte.19 

    Klartext selbst hinter Gittern

    In über zwanzig Jahren politischer Tätigkeit hat Kara-Mursa mehr als genug getan, um den Zorn des Kreml auf sich zu ziehen. Er gehört zu denen, die den Kampf gegen Putin auf die internationale Ebene gehoben und speziell in den USA vorangetrieben haben. Zugleich ist er auch einer derjenigen, die sich nicht allein auf Putin beschränkten, sondern auch die kleineren Rädchen im Getriebe ins Visier nahm. Ausgerechnet eines dieser „Rädchen“ sollte schließlich sein eigenes Schicksal besiegeln. Unter den Richtern, die ihn zu 25 Jahren Haft verurteilten, war auch Sergej Podoprigorow, der selbst auf der „Magnitski-Liste“ steht. Er war es, der Sergej Magnitski 2008 in Untersuchungshaft nehmen ließ.

    „Ich liebe mein Land und glaube an unsere Menschen“, sagte Kara-Mursa in seinem Schlusswort vor Gericht / Foto © IMAGO / ITAR-TASS

    25 Jahre in der winzigen, nur drei mal anderthalb Meter großen Zelle eines Hochsicherheitsgefängnisses sind eine furchtbar lange Zeit, besonders für jemanden wie Kara-Mursa mit angeschlagener Gesundheit.20 Trotzdem hat Kara-Mursa an einem überraschenden Ort Trost gefunden: In der russischen Geschichte. Sogar hinter Gittern spricht er weiter Klartext. In einer schriftlich zwischen zwei Gefängnissen geführten Debatte mit Alexej Nawalny schrieb er im September 2023: „Der politische Wandel kommt in Russland stets unerwartet“ – 1905, 1917 und 1991. Auch wenn die Demokratie dem Land bisher versagt blieb, vertraut Kara-Mursa darauf, dass die nächste Chance kommen wird: „Ich glaube, wir können es schaffen.“ Bei seinem Kampf gegen die Autokratie hat Kara-Mursa stark auf internationale Sanktionen gesetzt. Und Großbritannien, die EU und die USA haben tatsächlich Sanktionen verhängt, vor allem nach dem Großangriff auf die Ukraine. Nach dem Zusammenbruch der Oppositionspolitik bleibt ihm nur die Hoffnung, dass ein solches unerwartetes, dramatisches Ereignis Russland verändern wird – oder dass der Westen ihn rettet, vielleicht durch einen Gefangenenaustausch. Ein anderer Weg aus dem Gefängnis in Omsk, in das man ihn gebracht hat, ist nicht in Sicht.


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  • Jewgeni Roisman

    Jewgeni Roisman

    Wer vor fünf Jahren in der Uralmetropole Jekaterinburg, der viertgrößten Stadt Russlands, den Bürgermeister Jewgeni Roisman sprechen wollte, wusste, wo dieser zu finden war: Man reihte sich einfach freitags in die Warteschlange am Rathaus ein. Roisman pflegte als wohl einziger Bürgermeister einer russischen Großstadt einen Politikstil der offenen Türen. Er führte stundenlang Einzelgespräche und hörte sich die Probleme und Beschwerden der Bürger an. Diese Sprechstunde behielt er auch nach seinem Rücktritt 2018 bei. Für viele blieb er der „Volksbürgermeister“. Oft ging es um Anliegen, bei denen er nichts ausrichten konnte, aber er versuchte, den Leuten Ratschläge zu geben. Wenn möglich, schaltete er auch jemanden aus seinem einflussreichen Bekanntenkreis ein – er wusste, wo er den Hebel ansetzen musste. 

    Im August 2022 hörten die Bürgersprechstunden von einem Tag auf den anderen auf. Roisman wurde wegen „Diskreditierung der Streitkräfte“ und Kritik am Angriff Russlands auf die Ukraine festgenommen und ein paar Tage später wieder freigelassen. Roisman lehnt den Krieg aus einer festen moralischen Überzeugung ab. Er nennt ihn den „Triumph des Bösen“ und zeigt sich verzweifelt, dass so viele Menschen Russland sich „behexen“ ließen. Zudem hat er enge persönliche Beziehungen zur Ukraine, der Heimat seiner Großmutter. Obwohl er so gut wie sicher mit einer Haftstrafe rechnen muss, sagt Roisman, er fühle sich „an den [russischen] Boden gebunden“ und werde „keinen Millimeter“ aus seinem geliebten Russland weichen.1 Er riskiert dafür fünf Jahre Gefängnis. 

    Roisman wird oft als „prominenter Kreml-Kritiker“ und „Oppositioneller“ bezeichnet. Allerdings passen die Kategorien, mit denen russische Oppositionspolitiker typischerweise charakterisiert werden, nicht ohne weiteres auf ihn. Der ehemalige militante Anti-Drogen-Aktivist, der gegen „abstrakten Humanismus“ ist, kann kaum als klassischer Liberaler gelten.2 Aber er ist ebenso frei von Sowjetnostalgie und schätzte Boris Jelzin sehr. Auf die Frage nach seinen politischen Forderungen nennt er das liberale Mindestprogramm: Freie und gerechte Wahlen, Pressefreiheit und eine unabhängige Justiz.3 Obgleich er seit über zwanzig Jahren politisch aktiv ist, hat er wenig von einem Berufspolitiker und versteht sich auch nicht als solcher.

    Auch vor Beginn seiner politischen Laufbahn führte Roisman ein Leben, das alles andere als typisch für einen russischen Oppositionellen ist. Es war von Skandalen begleitet, die teils dokumentiert sind und zum Teil bis heute Rätsel aufgeben. 

    Der verlorene Sohn des Urals 

    Roismans Lebensgeschichte ist unauflöslich mit Jekaterinburg verbunden. Hier wurde er 1962 geboren, als die Stadt noch Swerdlowsk hieß. Seine Familie entstammt der Arbeiterschicht. Die Mutter war im Schwermaschinenbau-Großbetrieb Uralmaschsawod als Erzieherin im Betriebskindergarten tätig, der Vater im selben Betrieb als Energietechniker. Roisman hat einen russisch-jüdischen Hintergrund und bekennt sich zu beiden Identitäten.4 

    In der Schule tat er sich schwer und hatte Disziplinprobleme. Mit vierzehn Jahren ging er ab und wurde nach einigen kurzzeitigen Arbeitsverhältnissen zum Kleinkriminellen. 1980 kam es zur Festnahme und Anklage wegen Mitführens eines Messers, Diebstahl und Betrug. Um welche Delikte es dabei konkret ging, bleibt unklar. In dem Urteil gegen ihn heißt es, er habe Wohnungseinbrüche begangen und Frauen, mit denen er nähere Beziehungen unterhielt, bestohlen und betrogen, was er jedoch bestreitet. 

    Roisman verbrachte drei Jahre hinter Gittern und resozialisierte sich in dieser Zeit.5 Nach seiner Entlassung arbeitete er in dem Betrieb, in dem auch sein Vater tätig war. Zugleich setzte er seinen Bildungsweg fort – erst an der Abendschule und dann an der Gorki-Universität des Uralgebiets, wo er mit Unterbrechungen ganze neunzehn Jahre lang studierte und schließlich einen Abschluss in Geschichte und Archivwesen machte. 

    Im Laufe der darauffolgenden Jahre, in denen er in der Öffentlichkeit tätig war, hat sich Roisman ein recht vielschichtiges Image erworben. Er ist belesen, in der russischen und jüdischen Geschichte zuhause und zugleich berühmt für seine Wutausbrüche und seinen Hang zu Vulgärausdrücken. Er besitzt die Tiefsinnigkeit eines Vertreters der russischen Intelligenzija, schreibt Gedichte und hat ein Ikonenmuseum mit freiem Eintritt gegründet. Zugleich ist er auch Marathonläufer und ein mit allen Wassern gewaschener, tougher Typ – viele seiner Landsleute würden ihn als echten mushik [Pfundskerl – dek] bezeichnen. Und in der russischen Öffentlichkeit ist er vor allem durch seine Rolle bei der Drogenbekämpfung bekannt. 

    Der Drogenbekämpfer

    In den 1990er Jahren hatte Jekaterinburg neben zahlreichen anderen Missständen auch mit einem explosionsartigen Anstieg des Heroinkonsums zu kämpfen. Roisman hatte sich zu dieser Zeit mit einem Juwelierbetrieb erfolgreich als Unternehmer etabliert. Als gesundheitsbewusster Abstinenzler war er empört über die Zustände in der Stadt und beschloss, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.6 1999 gründete er mit zwei Gefolgsleuten die Stiftung Stadt ohne Drogen. Zu ihren Methoden gehörte es, „Leute, die des Drogenhandels verdächtigt wurden, mit einem Schild um den Hals durch die Straßen zu führen, ihre Häuser niederzubrennen und vermeintliche Dealer und Drogenkonsumenten zusammenzuschlagen“.7 Diese Selbstjustiz nahm offen rassistische Formen an und richtete sich gegen Roma und Tadschiken.8

    Die Stiftung wollte nicht nur die Dealer vergraulen, sondern auch die Süchtigen heilen. Sie eröffnete Rehabilitationszentren, die auf Zwangsentzug setzten. Die Drogensüchtigen wurden „mit Handschellen ans Bettgestell gefesselt und starrten an die Decke“.9 Roisman bekennt sich bis heute zu diesen Methoden und sagt, sie seien notwendig, wirksam und nicht übermäßig drakonisch gewesen.10 Einige seiner Mitstreiter landeten jedoch wegen Freiheitsberaubung im Gefängnis – seiner Meinung nach aus politischen Gründen, was sicherlich nicht ganz ausgeschlossen ist. 

    Roisman konnte bei seinem Krieg gegen Drogen auf einen mächtigen Verbündeten zählen: eine lokale Verbrecherorganisation, die sich nach dem in Jekaterinburg ansässigen Maschienenbaukonzern Uralmasch nannte. Ihre Schläger beteiligten sich an zahlreichen Gewaltaktionen gegen den Drogenhandel. Die Organisation war in den 1980er Jahren von jungen Männern aus dem Arbeitermilieu gegründet worden, die sich bei einem Sportzentrum trafen. Sie hatten genau den gleichen Hintergrund wie Roisman selbst.11 Die Gruppe begann mit Schutzgelderpressungen, weitete dann ihre Aktivitäten aus und etablierte sich schließlich als Unternehmen, das von der lokalen Elite – bis hinauf zum Gouverneur der Oblast Swerdlowsk – als legitim anerkannt wurde. 

    Die Verbindung zwischen Uralmasch und Stadt ohne Drogen wird von niemandem bestritten; allerdings gehen die Meinungen darüber auseinander, wie sie genau aussah. Manche sagen, Uralmasch habe den Kreuzzug gegen Drogen „organisiert“. Nach Roismans Darstellung „unterstützte“ die Gruppe die Stiftung, weil Heroin etwas so Schlimmes war, dass sogar Gangster Angst davor hatten.12 In jedem Fall konnte sich die Uralmasch über die Finanzierung verschiedener Wohltätigkeitsorganisationen und gemeinnütziger Initiativen als legitim etablieren. Sie plante nun, auch politisch aktiv zu werden und hatte eine lokale Partei gegründet, die Gesellschaftlich-Politische Union. Ihr russischer Name – Obschtschestwenno-polititscheski sojus – hat sicher unbeabsichtigt dieselben Anfangsbuchstaben wie der Ausdruck für „Organisiertes Verbrechersyndikat“ (OPS). Der Vorsitzende der Partei war ins Stadtparlament gewählt worden.13 Ein Programm, das auf Fremdenfeindlichkeit und hartes Durchgreifen setzte, versprach politisch ambitionierten Kriminellen gute Erfolgschancen bei den Wählern.

    Tatsächlich waren viele Menschen in Jekaterinburg zufrieden mit der Entwicklung und Roismans Popularität stieg.14 Der Gouverneur der Region, Eduard Rossel, wurde auf ihn aufmerksam und nahm ihn in sein Beraterteam auf. Damit begann eine lange politische Laufbahn voller Höhen und Tiefen.

    Mr. Roisman geht nach Moskau

    Ende der 1990er war Jekaterinburg noch vom Zusammenbruch der Sowjetunion gezeichnet. Metallbau und Maschinenindustrie hatten schwer gelitten. Doch mit dem Aufblühen der Finanz- und IT-Branche wendete sich das Schicksal der Stadt allmählich zum Besseren. Zudem war sie Hauptstadt der Oblast Swerdlowsk, einer Region mit starkem Identitätsbewusstsein, deren Beziehung zu Moskau traditionell von Spannungen geprägt ist. Als Anfang der 1990er Jahre eine Reihe ethnischer Republiken Autonomie beanspruchte, gab es in dieser Region die größte nicht ethnisch motivierte Bewegung für wirtschaftliche und politische Autonomie. 1993 erhob Gouverneur Rossel die Region sogar einseitig zur Republik Ural. Dieses Experiment wurde schon kurz darauf wieder beendet, aber bis heute legt die Elite in Jekaterinburg Wert auf Unabhängigkeit von Moskau und es gibt dort eine lebhafte Oppositionspolitik. 

    Roismans erste Vorstöße auf das Gebiet der Politik, hatten jedoch nichts mit politischer Programmatik, Opposition oder regionaler Identität zu tun, sondern waren rein persönlich motiviert. Seine Popularität und seine Methoden hatten ihm die Aufmerksamkeit der Strafverfolgungsbehörden eingetragen. Er stand zunehmend unter Druck und war mehrmals in Polizeigewahrsam genommen worden. Heute sagt er, er habe „nie in die Politik gewollt“ und „ein ganz bestimmtes Ziel“ verfolgt: „Dem Gefängnis zu entgehen und die Zerschlagung der Stiftung und Zerstörung meines Geschäfts zu verhindern“.15 Kurz, es ging ihm nur um die parlamentarische Immunität. Er trat als unabhängiger Kandidat an und gab sich bodenständig, ortsverbunden und wehrhaft. Als Wahlslogan verwendete er ein Zitat aus dem berühmten Film Brat-2: „Die Macht liegt in der Wahrheit“. Die Regionalregierung unterstützte ihn, und er hat es geschafft 2003 in die Staatsduma gewählt zu werden.16 

    Als Abgeordneter nahm Roisman von Anfang an eine pragmatische Haltung ein. Die Handlungsunfähigkeit des Parlaments fasste er in dem Spruch zusammen: „In der Duma ist es wie in der Armee: Wenn du nicht weißt, was du tun sollst, tust du am besten gar nichts.“ Aber er war nicht grundsätzlich gegen eine Zusammenarbeit mit der Regierung. Er erklärte sich bereit, sie zu unterstützen, wenn sie „ehrlich und korrekt“ handle.17 Auch für die Förderung durch Oligarchen zeigte er sich offen. So bot Michail Chodorkowski, damals der reichste Mann Russlands und ein großzügiger Förderer der Opposition, kurz vor seiner Verhaftung an, Roismans Wahlkampfteam finanziell zu unterstützen. Dieser sagt, er habe das Angebot abgelehnt. Aber er erhielt seine gute Beziehung zu dem ehemaligen Oligarchen aufrecht, was er damit begründete, dass in diesen Zeiten „jeder Verbündete wichtig“ sei.18

    Roisman stand nie für eine bestimmte Partei oder Ideologie. Er hat Parteien für seine Zwecke genutzt, aber sich niemals ernsthaft mit Parteipolitik befasst oder selbst eine Partei gegründet. Eine Zeit lang stand er der von Sergej Mironow geführten Partei Gerechtes Russland nahe, dann der von dem Milliardär Michail Prochorow geführten Partei Rechte Sache. Beide Parteien befinden sich an den entgegengesetzten Enden des politischen Spektrums. Und in beiden Fällen war die Zusammenarbeit von kurzer Dauer – wahrscheinlich, weil der Kreml etwas gegen Parteien mit starken, unabhängig gesinnten Kandidaten hat.

    Der letzte Bürgermeister von Jekaterinburg 

    Als Reaktion auf die Proteste gegen Wahlfälschung und die Bewegung für freie Wahlen 2011/2012 beschloss der Kreml, auf lokaler Ebene mit Demokratie zu experimentieren. Die Gouverneurswahlen wurden wieder eingeführt und oppositionelle Kandidaten durften sich registrieren lassen. Roisman kandidierte in seiner Heimatstadt als Bürgermeister. Seine Freundschaft mit dem Milliardär Prochorow kam ihm dabei zustatten – die neue Partei des Milliardärs unterstützte seine Kandidatur. 

    Gegen die Partei Putins gewählt zu werden ist kein leichtes Unterfangen. Doch die Gemüter in der Region waren aufgewühlt. 2012 war – zur großen Enttäuschung der lokalen Eliten und der Bevölkerung – ein Außenseiter aus Tjumen als amtierender Gouverneur eingesetzt worden. Das Thema der lokalen Identität wurde wieder virulent und beherrschte die Stimmung im Vorfeld des Wahlkampfs.19 Der Spitzenkandidat der Regierungspartei war kaum bekannt und hatte einen Teil seiner Berufslaufbahn in einer anderen Region verbracht. Roisman hingegen positionierte sich als Kandidat „von hier“. Er verkündete triumphierend: „Als ich Abgeordneter wurde, bin ich nicht nach Moskau gezogen und habe nicht angefangen, Geld zu scheffeln. Ich habe vom ersten bis zum letzten Tag den Kontakt zu meinen Wählern gepflegt.“20 Im Wahlkampf wurde mit schmutzigen Tricks gearbeitet. Die Regierung versuchte, Roisman aus dem Rennen zu katapultieren, indem sie Mitglieder seines Wahlkampfteams bedrohte und eine Verleumdungskampagne startete, die sich um seine dubiose Vergangenheit und seine angeblichen Beziehungen zum kriminellen Milieu drehte.21 Gegen jede Wahrscheinlichkeit gewann er mit 33 Prozent der Stimmen.

    Doch mit der Wahl zum Bürgermeister hörten die Schwierigkeiten nicht auf. Jekaterinburg hatte damals faktisch zwei Stadtoberhäupter – den gewählten Bürgermeister und den „City-Manager“. Letzterer wurde vom Stadtrat ernannt, in dem die Regierungspartei Einiges Russland die Mehrheit hatte, und war unter anderem für das Budget zuständig. So war Roismans Handlungsspielraum begrenzt, während die Regionalregierung begann, die Voraussetzungen für die Abschaffung der Bürgermeisterwahlen zu schaffen. Nach Roismans Sieg in Jekaterinburg und Nawalnys gutem Abschneiden bei den Bürgermeisterwahlen in Moskau 2013 erschien es dem Kreml nicht mehr ratsam, es mit kommunaler Demokratie zu versuchen – schließlich hatte sich gezeigt, dass dabei tatsächlich die Opposition siegen konnte. Roisman suchte die Nähe der nicht-systemischen Opposition und nahm an einer Demonstration für Frieden in der Ukraine teil. Hatte er sich zunächst uneindeutig zur Krim-Annexion geäußert, so verurteilte er sie später unmissverständlich.22 Er versuchte, den Einsatz noch einmal zu erhöhen, indem er bei den Gouverneurswahlen als einheimischer Kandidat gegen den von oben eingesetzten und nicht aus der Region stammenden Amtsinhaber antrat. Doch inzwischen hatte sich das Zeitfenster wieder geschlossen. Seine Kandidatur wurde nicht zugelassen, und wenige Monate darauf wurden Bürgermeisterwahlen in der Region wieder abgeschafft. Im Mai 2018 trat der letzte gewählte Bürgermeister von Jekaterinburg zurück. Er stand nun wieder außerhalb der Politik, auch wenn er für diejenigen, die sich in die Warteschlange vor seiner Wohltätigkeitsorganisation, der Roisman-Stiftung, einreihten, der „Bürgermeister des Volkes“ blieb.23

    Die Geschichte von Roismans Auf- und Abstieg zeigt, welch große Bedeutung das Lokale hat und wie unwichtig im Vergleich dazu Etiketten sind. Sein Leben ist von Kompromissen geprägt, die zu einem großen Teil dubios sein mögen. Im Interesse seiner Stadt und ihrer Einwohner, seines Landes und auch seiner eigenen Person war er bereit, mit dem organisierten Verbrechen, Oligarchen und den politisch Mächtigen zu kooperieren. Doch die Mächtigen waren daran nicht interessiert, und selbst als machtloser Bürgermeister, der seine Meinung offen sagte, hatte er für ihren Geschmack noch zu viel Macht. Als 2022 der Angriffskrieg auf die Ukraine begann, hat dieser Mann, der Russland so leidenschaftlich liebt, kompromisslos Haltung gezeigt. Er war nicht bereit, sich mit dem Bösen abzufinden, selbst wenn ihn das die Freiheit kosten sollte.


    1. Skaži Gordeevoj (YouTube): Evgenij Rojzman: «Kakoe my imeem k ėtomu otnošenie?», 16. August 2022 ↩︎
    2. Redakcija (YouTube): Evgenij Rojzman: istorija «Goroda bez narkotikov», 6. Mai 2021 ↩︎
    3. Skaži Gordeevoj (YouTube): Evgenij Rojzman: «Kakoe my imeem k ėtomu otnošenie?», 16. August 2022 ↩︎
    4. Roismans Verhältnis zur Religion ist komplex. Er ist zwar gläubig, lehnt es jedoch ab, sich als „iudej“ (so der russische Ausdruck für Anhänger der jüdischen Religion) zu bezeichnen und gehört offenbar keiner bestimmten Religion an. Skaži Gordeevoj (YouTube): Evgenij Rojzman: «Kakoe my imeem k ėtomu otnošenie?», 16. August 2022 ↩︎
    5. Russisch: krasha, moschenitschestwo. Roisman bestreitet nicht, dass dies die Anklagepunkte in der Gerichtsverhandlung gegen ihn waren. In einem Interview gibt er an, er habe einen „Spekulanten“ bestohlen. In einem anderen sagt er, er habe gestohlen und beim Kartenspiel betrogen. Da die UdSSR kein Rechtsstaat war, lässt sich der tatsächliche Sachverhalt nicht aufklären. vDud’ (YouTube): Rojzman – o predateljach i legalajze, 23. Januar 2018; Gordonua.com: Ėks-mėr Ekaterinburga Rojzman: JA dejstvitelʹno igral v karty, voroval, obmanyval i chodil s nožom. Otsidel tri goda, 16. März 2020 ↩︎
    6. Skaži Gordeevoj (YouTube): Evgenij Rojzman: «Kakoe my imeem k ėtomu otnošenie?», 16. August 2022; Favarel-Garrigues, Gilles (2023): La verticale de la peur: ordre et allégeance en Russie poutinienne, S.133-139 ↩︎
    7. Saucier, R./Kingsbury, K./Silva P. (Hrsg., 2011): Treated with cruelty: abuses in the name of drug rehabilitation. New York, S. 27–29 ↩︎
    8. Sova-center.ru: Galina Koževnikova. Radikalʹnyj nacionalizm v Rossii i protivodejstvie emu v 2005 godu ↩︎
    9. news.bbc.co.uk: Poachers turned gamekeepers?, 23.03.2000 ↩︎
    10. Redakcija (YouTube): Evgenij Rojzman: istorija «Goroda bez narkotikov», 6. Mai 2021 ↩︎
    11. It’s my city (YouTube): Evgenij Rojzman — o tjurʹme, OPS «Uralmaš», FSB i LGBT, 25. September 2020 ↩︎
    12. Volkov, Vadim (2002): Violent Entrepreneurs, 2002, S. 120-121. Die – schwer beweisbare – Theorie einer „Front […], die die im Drogenhandel der Stadt dominierenden Banden vertreiben sollte, um Platz für neue Anbieter zu schaffen“ wird von Mark Galeotti zurückhaltender referiert: inmoscowsshadows.wordpress.com: Policing Politics in Ekaterinburg: local elites turn to cops for “stop Roizman” campaign; Redakcija (YouTube): Evgenij Rojzman: istorija «Goroda bez narkotikov», 6. Mai 2021 ↩︎
    13. Volkov, Vadim (2002): Violent Entrepreneurs, 2002, S. 120-121 ↩︎
    14. Saucier R./Kingsbury K./Silva P. (Hrsg., 2011): Treated with cruelty: abuses in the name of drug rehabilitation, New York, S. 27–29 ↩︎
    15. Skaži Gordeevoj (YouTube): Evgenij Rojzman: «Kakoe my imeem k ėtomu otnošenie?», 16. August 2022 ↩︎
    16. Panjuškin, Valerij (2014): Rojzman: Uralʹskij Robin Gud, S. 103 ↩︎
    17. vDud‘ (YouTube): Rojzman – o predateljach i legalajze, 23.01.2018; Redakcija (YouTube): Evgenij Rojzman: istorija ‚Goroda bez narkotikov‘, 6.05.2021 ↩︎
    18. vDud‘ (YouTube): Rojzman – o predateljach i legalajze, 23.01.2018 ↩︎
    19. Kiselev, Konstantin (Znak): Tjumenizacija vsej strany, 20.12.2012 ↩︎
    20. Jackson, Patrick (BBC News (Yekaterinburg)): No room at the Duma, 30.11.2007 ↩︎
    21. Galeotti, Mark (inmoscowsshadows.wordpress.com): Policing Politics in Ekaterinburg: local elites turn to cops for “stop Roizman” campaign ↩︎
    22. Doždʹ: Evgenij Rojzman o Kryme: za Ekaterinburgom zakreplena Kerčʹ, 14.04.2014, Gordon.ua: Ėks-mėr Ekaterinburga Rojzman: Ja dejstvitelʹno igral v karty, voroval, obmanyval i chodil s nožom. Otsidel tri goda, 16.03.2020 ↩︎
    23. Es handelt sich hier um eine andere Stiftung als „Stadt ohne Drogen“. Nach seiner Wahl zum Bürgermeister geriet Roisman in Konflikt mit einem Mitgründer von „Stadt ohne Drogen“ und wurde offenbar aus der Stiftung hinausgedrängt. Beljanin, Aleksej (Meduza): Čto proischodit s fondom ‚Gorod bez narkotikov‘, 28.10.2014 ↩︎

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  • Ilja Jaschin

    Ilja Jaschin

    „Leute, macht euch keine Sorgen, alles ist gut.“1 Er ist ein junger Mann, Ende 30, mit Brille und leichtem Bart, ein Lächeln im Gesicht, und er wird die nächsten achteinhalb Jahre im Gefängnis verbringen. Wenn er dann entlassen wird, darf er für weitere vier Jahre kein Internet mehr nutzen. Dieses Urteil hat ein Moskauer Gericht am 9. Dezember 2022 gegen den russischen Oppositionspolitiker Ilja Jaschin verhängt.

    Nachdem er für mehr als 20 Jahre gegen Putin und Autokratie in Russland gekämpft hat, ist für Ilja Jaschin damit der Moment gekommen, in dem er dem anderen bedeutenden oppositionellen Politiker nachfolgt: Alexej Nawalny, der ihn als seinen „ersten Freund, den ich in der Politik getroffen habe“ bezeichnet.2 Weil er „Fake-Nachrichten“ über die russische Armee verbreitet habe, wurde Ilja Jaschin zu dieser Haftstrafe verurteilt. Um welche „Fakes“ es dabei geht? Um die Verbrechen, die die russische Armee in Butscha begangen hat. Jaschin hat darüber auf seinem sehr populären Youtube-Kanal gesprochen. 

    Der Grad der Zermürbung der Opposition ist beachtlich in Russland. Und gleiches gilt für die Anzahl der Inhaftierungen. Es ist nicht so, als sei Jaschin nicht gewarnt gewesen. Als ob das politische Klima – und das Schicksal seiner Mitstreiter – nicht schon genug wäre, war Jaschin auch bereits mehrfach zu Strafen verurteilt worden, ein eindeutiger Wink der Behörden, dass er in Russland nicht länger erwünscht ist.

    Ilja Jaschin selbst bezeichnet sich als „linksliberal“: „Die höchste Priorität in der Politik hat für mich das menschliche Leben. Ich bin gegen Sozialdarwinismus … Aber ich bin kein Linker (lewak) im traditionellen Sinn … Ich bin ein normaler, europäischer Linksliberaler.“3 
    Seine politische Karriere führte ihn von der Oppositionspartei Jabloko, die eher links einzuordnen ist, zur eher rechtskonservativen PARNAS. Aber solche Zuschreibungen wie „links“ und „rechts“ sind im russischen Kontext eher irreführend: Ilja Jaschin ist in erster Linie ein Liberaler und ein Demokrat. Er möchte erklärtermaßen, dass Russland eine Demokratie und ein Rechtsstaat wird.

    Ilja Jaschin wurde 1983 in Moskau geboren, in eine Familie, die der „technisch-wissenschaftlichen Intelligenzija“ angehörte. Seine Eltern arbeiteten in einem Forschungslabor für Strahlenphysik und in den 1990ern hatten sie einen kleinen Familienbetrieb.4 In jedem Fall führte ihn nicht die Rebellion gegen sein Elternhaus in die Politik.5 Seine Familie war vielmehr eine „Jabloko-Familie“, die in der Küche viel über Politik diskutierte.6 Jaschin studierte Politikwissenschaften in Moskau und schrieb seine Abschlussarbeit über ein sehr praxisnahes Thema: Organisationsmethoden des Aktivismus. Seine Promotion fing er an, beendete sie aber nicht, sondern ging stattdessen zur Praxis über.

    Zwischen Parteibüro und Straßenprotest

    So begann Jaschins politische Karriere noch in einer ganz anderen Ära, als man noch von einer Opposition in Russland sprechen konnte, die, in seinen Worten, „als Ergebnis eines legalen Vorgangs an die Macht kommen kann“.7 Dies sei im Russland von heute so unmöglich geworden, dass „Opposition“ vor allem bedeutet: „die Wahrheit zu sagen und zu versuchen, die Öffentlichkeit entsprechend zu informieren … es geht eher um Dissidententum als um Opposition“8. Jaschin ist ein hartnäckiger Politiker, ein Mann mit Prinzipien, und das seit mehr als 20 Jahren, während derer es viele Gelegenheiten für Kompromisse – oder Kompromittierung – gegeben hätte. Er hielt sich fern vom Big Business, pflegte einen bescheidenen Lebensstil und ging nie auf politische Projekte ein, die offensichtlich vom Kreml lanciert worden waren.9

    Jaschin war im Jahr 2000 in die Politik gegangen, als Putins militärische Rhetorik („Wir werden die Terroristen überall verfolgen […], wenn wir einen auf dem Klo erwischen, legen wir ihn um“10) und Taten – der zweite Tschetschenienkrieg – noch ganz am Anfang standen. Im Gespräch mit Juri Dud sagte Ilja Jaschin später über diese Zeit, dass er den Tausch von Freiheit gegen Sicherheit als eine „Zeitbombe“ empfunden habe, die die Zukunft Russlands gefährde.11 Und Jabloko, so fügte er hinzu, sei damals die einzige größere Partei gewesen, die gegen den Krieg in Tschetschenien eingetreten sei. 

    Jaschin stieg in den Reihen von Jabloko, vor allem ihres Jugendverbandes, auf. Wahlniederlagen hatten die Moral der alten Garde stark angeschlagen, was wiederum ein Segen für aufstrebende junge und energetische Kräfte wie ihn war. Sie sehnten Taten herbei und wollten unbedingt das Partei-Image als zahmes Mitglied der Intelligenzija loswerden. Als Jabloko nicht mehr im Parlament vertreten war, wurde der Bedarf nach neuen Protestformen nur noch größer. Und Jaschin war nicht der einzige, der nach Erneuerung strebte, sondern mit ihm tat dies zur gleichen Zeit und in der gleichen Partei noch Alexej Nawalny.

    JASCHIN UND NAWALNY

    Vergleiche zwischen Jaschin und dem bekannten Oppositionspolitiker Alexej Nawalny sind kaum vermeidbar. Beide sind ethnische Russen, gut befreundet und fast aus der gleichen Generation, Nawalny ist nur sieben Jahre älter. Vor mehr als 20 Jahren waren sie beide bei Jabloko in Moskau aktiv, teilten sich Büros und unternahmen, jeder auf seine Art, von dort aus den Versuch, die russische Opposition zu erneuern. Zunächst ging es ihnen vor allem um einen Generationswechsel, darum, die alte Garde abzulösen, von der sie das Gefühl hatten, dass ihr Weg nirgendwo hinführt. So beschreibt Jaschin rückblickend die Haltung, die sie beide verbunden habe.12 

    Beide Politiker unterscheiden sich aber auch voneinander. Während Nawalny für sein hitziges Temperament bekannt ist, gilt Jaschin als eher besonnen. Aber, wie auch Nawalny, beschreiben ihn Beobachter als „entschlossen, ehrgeizig, selbstbewusst und mit dem kulturellen Kapital und Charisma ausgestattet, das eine politische Führungspersönlichkeit ausmacht“.13 Zugleich haben sie auch politische Differenzen: Jaschin war stets immun gegenüber nationalistischen Tönen, wie sie zu Nawalnys frühem politischen Programm gehörten14.

    „Als der Krieg begann, wusste ich sofort, was ich tun muss. Ich muss in Russland bleiben, lautstark die Wahrheit sagen.“ – das Bild zeigt Jaschin in früheren Zeiten, als Straßenprotest noch zugelassen wurde /Foto © Bio-photos/wikimedia unter CC BY-SA 4.0
    „Als der Krieg begann, wusste ich sofort, was ich tun muss. Ich muss in Russland bleiben, lautstark die Wahrheit sagen.“ – das Bild zeigt Jaschin in früheren Zeiten, als Straßenprotest noch zugelassen wurde /Foto © Bio-photos/wikimedia unter CC BY-SA 4.0

    Von 2001 bis 2005 stand Jaschin Jablokos Moskauer Jugend vor. Die Orangene Revolution in der Ukraine beeindruckte ihn sehr, er fuhr auch zum Maidan nach Kyjiw.15 Schließlich wurde Jaschin zum „informellen Anführer“ von Oborona, einer nichtregistrierten Jugendorganisation, die junge Liberale versammelte. Inspiriert war sie von ähnlichen Jugendbewegungen, die eine bedeutende Rolle bei den sogenannten Farbrevolutionen spielten, wie etwa in der Ukraine, aber auch während der Massendemonstrationen in Serbien16. Abseits von institutionalisierter Politik und Wahlen versuchte Oborona den Kampf gegen den Autoritarismus zu erneuern und auf die Straße zu bringen. Hinzu kam die Idee, statt auf die üblichen Protestformen auf provokante Performances und Flashmobs zu setzen.17 So gelang es Jaschin und anderen Aktivisten, mit Bergsteigerequipment ein Banner an einer Brücke nahe des Kreml zu installieren, auf dem stand: „Gebt den Bürgern die Wahlen zurück, ihr Dreckskerle!“

    Überzeugter Wahlkämpfer – auf verlorenem Posten

    Oborona war jedoch nicht darauf ausgerichtet, in Wahlkämpfe einzusteigen, das war ein anderes Feld, während Jaschin schon zu dem geworden war, was sein Freund Alexis Prokopijew, der ihn damals kennenlernte, als „europäischen Politiker“ bezeichnete: „In Frankreich oder Deutschland wäre er ein Abgeordneter oder Minister gewesen, mit Leichtigkeit! Er hat es einfach drauf.“18 Jaschin war bereit, stundenlange Überzeugungsarbeit zu leisten, Wahlkampf zu führen – wie etwa Jahre später in der ländlichen Region Kostroma, wo er vor einer Handvoll älterer Menschen in irgendwelchen Höfen auftrat. 

    2008 war er Mitbegründer von Solidarnost, einer Bewegung, die sich den heiligen Gral des russischen Liberalismus zum Ziel gesetzt hatte: die Einheit seiner sich bekriegenden Lager und Gruppierungen. Und Solidarnost gelang es tatsächlich, Politiker der unterschiedlichen Strömungen zu vereinen, darunter Boris Nemzow, einen der bekanntesten russischen Liberalen. Doch Jabloko missfiel Jaschins Engagement außerhalb der Partei, die bei Solidarnost Menschen wähnte, deren „politischer und persönlicher Ruf inakzeptabel“19 sei. Jaschin wurde aus der Partei geschmissen. Er selbst war davon überzeugt, der eigentliche Grund für den Rauswurf sei seine Kritik an Parteiführer Grigori Jawlinski gewesen, dem dominierenden Gründungsmitglied von Jabloko.

    Jaschin wurde nun zum engen Verbündeten und Freund von Boris Nemzow, folgte seinem politischen Mentor in die liberale Partei PARNAS. Nach der Ermordung Nemzows im Februar 2015 führte Jaschin zusammen mit seiner Parteikollegin Olga Schorina dessen letztes politische Projekt zu Ende: einen Bericht über den Krieg im Osten der Ukraine.20 Beide waren der Überzeugung, dass „der Versuch, den Krieg zu stoppen, der eigentliche Patriotismus“ sei.21

    Gegen Wahlfälschung 

    Gleichzeitig mobilisierte Jaschin auch die Leute, auf die Straßen zu gehen: Am 5. Dezember 2011 organisierte Solidarnost eine Protestaktion gegen Wahlfälschung in Moskau. Die Demo war ein unerwarteter Erfolg. Jaschin war unter denen, die nach der offiziellen Kundgebung noch zur Lubjanka marschierten. Diese nicht genehmigte Aktion brachte ihm 15 Tage Haft ein.22 Diese Demonstration wurde zum Ausgangspunkt der Bewegung für freie Wahlen, der bis heute wichtigste Protestzyklus unter Putin. Die Bewegung für freie Wahlen gab Jaschin, der schon ein talentierter und erfahrener Redner war, eine noch größere Bühne. Er war schließlich auch unter denen, die sich im März 2012 weigerten, den Puschkinplatz im Zentrum Moskaus zu verlassen – einen Tag, nachdem die offiziellen Wahlergebnisse Putins Rückkehr ins Präsidentenamt vermeldeten. Dies brachte Jaschin eine weitere Arreststrafe ein.23

    Was Jaschin wie auch vielen anderen russischen Oppositionellen versagt blieb, war eine Chance auf echte politische Macht, um etwas für die Menschen zu bewegen. All seine bisherigen Anläufe bei Wahlen waren zum Scheitern verurteilt.24

    Vor dem Hintergrund verschärfter Repressionen sah Jaschin (wie auch andere Demokraten) jedoch eine Möglichkeit, sich das bescheidenste mögliche Ziel zu setzen – die unterste politische Ebene. In Moskau bedeutete das, Stadtverordneter zu werden. „Er wollte Erfahrungen in einer echten Regierung sammeln“, erinnert sich der Oppositionspolitiker Maxim Reznik. „Er wollte zeigen, dass er sich um Hausmeister, Versorgungsdienste und Bürgersteige kümmern kann.“25 2017 kandidierte Jaschin im Moskauer Bezirk Krasnoselski, und sein Team fegte durch die Versammlung. In jenem Jahr starteten liberale Oppositionelle als Demokratische Koalition eine Kampagne, die genau auf diese Bezirksebene abzielte, und sie funktionierte. Jaschin konnte den Vorsitz der Bezirksversammlung übernehmen und die wenigen Befugnisse, die er hatte, nutzen. Natürlich waren das keine großen Sprünge: Hilfe bei der Wohnungssuche, die Einrichtung eines „Sozialtaxis“, das Gehbehinderten den Weg zum Arzt erleichtern sollte – wofür er den ihm zugeteilten Dienstwagen umnutzte. Jaschin hatte die nächsten Wahlen im Jahr 2019 im Visier, die höhere Ebene: die Moskauer Duma. Doch schließlich durften die meisten Oppositionskandidaten gar nicht erst antreten. Jaschin trat von seinem Vorsitz zurück und blieb einfacher Abgeordneter. Als Nawalnys Organisationen 2021 als „extremistisch“ eingestuft wurden, wurde bald auch Jaschin zum „Extremisten“ erklärt, weil er mit ihnen zusammenarbeitete.

    „Ich muss in Russland bleiben, lautstark die Wahrheit sagen“

    Den russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 verurteilte Jaschin vorbehaltlos – was ihm schließlich zum größten Verhängnis wurde. Als im März ein neues Gesetz „gegen Fake News“ verabschiedet wurde, wusste Jaschin, dass man ihn belangen würde. Er entschied sich dafür, in Russland zu bleiben, und war sich im Klaren über das Risiko, das er damit einging: „Die Botschaft des Staates war ziemlich unmissverständlich: Entweder du hältst den Mund oder du verlässt das Land oder du wanderst in den Knast.“26 Er machte eine Liste, um für alle Eventualitäten vorbereitet zu sein, ging beispielsweise zum Zahnarzt, und hakte sie Punkt für Punkt ab.27 Schließlich wurde er festgenommen und kam in Untersuchungshaft.

    In seinem Schlusswort vor Gericht am 5. Dezember 2022 lässt er keinen Zweifel daran, dass er diesen Weg ganz bewusst gegangen ist: „Tu, was du tun musst, egal, was kommt. Als der Krieg begann, wusste ich sofort, was ich tun muss. Ich muss in Russland bleiben, lautstark die Wahrheit sagen und mit all meiner Kraft das Blutvergießen beenden.“28
    Noch ist es zu früh, um abzusehen, was es für Ilja Jaschin bedeuten wird, Jahre seines Lebens im Gefängnis zu verbringen – das Schicksal so vieler Regimekritiker in Russland. 


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