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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Müde Helden und bröckelnde Nymphen

    Müde Helden und bröckelnde Nymphen

    Mit den gigantischen Monumenten und spektakulären Bilderstürmen der Wendezeit hielt sich Fotograf Igor Mukhin nur kurz auf. Stattdessen erkundete er in seinem Langzeitprojekt seit den späten 1980er Jahren bis ins Jahr 2017 die Reste der sowjetischen Utopie in der Provinz. Hier fand er auf Plätzen, in Parks und vor Krankenhäusern das untere Ende der sozrealistischen Kunstproduktion: billige, kleine Gipskopien bekannter Werke, die ihren ursprünglichen Kontext der Erholungsparks oder Pionierpaläste verloren hatten und sich selbst überlassen dahindämmerten. 

    Was Denkmalstürzer in den Zentren des Landes publikumswirksam inszenierten, vollbrachte an den Rändern, im Schatten der Geschichte, der Zahn der Zeit und manchmal auch die unsichtbare Hand von Vandalen. Mukhin holt die Überreste der sowjetischen Zukunftsmärchen ins Bild, zukunftsfrohe Fußballer in Aktion, fürsorgliche Mütter mit ihren Kindern, zum Sprung ansetzende Schwimmerinnen … Dabei lassen Mukhins Bilder die üppigen Reize, die Sinnlichkeit und Lebensfreude der antik anmutenden Figuren, mit denen die sowjetische Zukunft ausstaffiert war,1 durchaus ihre Wirkung entfalten: Die Tristesse der nicht eingetroffenen, längst überfälligen Utopie ist beklemmend oder poetisch. In der späten Sowjetunion war allen klar, dass die Antike im Laufe von Jahrhunderten zerfiel, aber die sowjetische Ewigkeit schon nach 20 oder 30 Jahren den Charakter von Ruinen angenommen hatte.

    In den krisengeschüttelten 1990er Jahren sprachen die Menschen in Metaphern des Zerfalls über den Niedergang des Sozialismus: in Erzählungen von rinnenden Dächern und bröckelnden Fassaden. Die bröckelnden Körper der Götter und Helden, der Milchmädchen, Speerwerferinnen und Mütter, der Kosmonauten und Parteiführer hatten ihre Aura schon vor der Wende verloren. 1991 schien sich in ihnen der Bogen vom Aufbau des Sozialismus bis zu seinem Fall zu verkörpern. Doch der Fall war nicht endgültig, schon Ende der 1990er kehrten einige auf ihre Sockel zurück.

    Igor Mukhins Fotografien sind eine Hommage an die sichtbar werdende Zeitlichkeit des Sozialistischen Realismus, auch an seinen Hang zu Vervielfältigung und Serialität. Das Auge seiner Kamera richtet sich nicht auf die Bilderstürze in den Hauptstädten, sondern auf den langsamen Verfall der für alle Ewigkeit mit ausgestrecktem Arm in die Zukunft weisenden Leninstatuen in Provinzstädten, im wuchernden Gebüsch von Plattenbausiedlungen oder aus der Zeit gefallen vor aktuellen Werbeballonen. Er spürt abblätternde Grüppchen von Müttern mit Kindern vor Kleinstadt-Krankenhäusern auf und Pioniere, die sich in peripheren Grünanlagen auf ihre Speere stützen. Die Helden von gestern fristen ein vergessenes Dasein auf dezentralen Straßenkreuzungen. Nicht nur das Material, auch die Gesten wirken müde.

    Josef Stalin, Moskau, 1991 / Foto © Igor Mukhin
    Josef Stalin, Moskau, 1991 / Foto © Igor Mukhin
    Linkes Foto – Karl Marx, Moskau, 2001 | Rechtes Foto – Josef Stalin, Gari, Georgien, 2017 / Fotos © Igor Mukhin
    Linkes Foto – Karl Marx, Moskau, 2001 | Rechtes Foto – Josef Stalin, Gari, Georgien, 2017 / Fotos © Igor Mukhin
    Stalins Grab an der Kremlmauer, Moskau, 2010 / Foto © Igor Mukhin
    Stalins Grab an der Kremlmauer, Moskau, 2010 / Foto © Igor Mukhin
    Wladimir Lenin, Pawlowski Possad, Moskau, 1994 / Foto © Igor Mukhin
    Wladimir Lenin, Pawlowski Possad, Moskau, 1994 / Foto © Igor Mukhin
    Linkes Foto – Wladimir Lenin, Kiewer Bahnhof, Moskau, 1991 | Rechtes Foto – Wladimir Lenin, Aluschta, Krim, 1991 /  Fotos © Igor Mukhin
    Linkes Foto – Wladimir Lenin, Kiewer Bahnhof, Moskau, 1991 | Rechtes Foto – Wladimir Lenin, Aluschta, Krim, 1991 / Fotos © Igor Mukhin
    Wladimir Lenin und Karl Marx, Belarussischer Bahnhof, Moskau, 1988 / Foto © Igor Mukhin
    Wladimir Lenin und Karl Marx, Belarussischer Bahnhof, Moskau, 1988 / Foto © Igor Mukhin
    Hammer und Sichel, Kantemirowskaja, Moskau, 1989 / Foto © Igor Mukhin
    Hammer und Sichel, Kantemirowskaja, Moskau, 1989 / Foto © Igor Mukhin
    Pioniere, Podkumok, 1992 / Foto © Igor Mukhin
    Pioniere, Podkumok, 1992 / Foto © Igor Mukhin
    Fußballspieler „Spartak“ – „Dinamo“, Shelesnowodsk, 1992 / Foto © Igor Mukhin
    Fußballspieler „Spartak“ – „Dinamo“, Shelesnowodsk, 1992 / Foto © Igor Mukhin
    Frjasino Stadion, Moskau, 1991 / Foto © Igor Mukhin
    Frjasino Stadion, Moskau, 1991 / Foto © Igor Mukhin
    Alupka, Krim, 1991 / Foto © Igor Mukhin
    Alupka, Krim, 1991 / Foto © Igor Mukhin
    Park Pokrowskoje-Streschnewo, Moskau, 1993 / Foto © Igor Mukhin
    Park Pokrowskoje-Streschnewo, Moskau, 1993 / Foto © Igor Mukhin
    Linkes Foto – Fußballspieler, Sotschi, 1993 | Rechtes Foto – Sotschi, 1993 / Fotos © Igor Mukhin
    Linkes Foto – Fußballspieler, Sotschi, 1993 | Rechtes Foto – Sotschi, 1993 / Fotos © Igor Mukhin
    Städtischer Strand, Gelendshik, 2005 / Foto © Igor Mukhin
    Städtischer Strand, Gelendshik, 2005 / Foto © Igor Mukhin
    Linkes Foto – Sanatorium M O. Swenigorod, 1991 | Rechtes Foto – Batumi, 2008 / Fotos © Igor Mukhin
    Linkes Foto – Sanatorium M O. Swenigorod, 1991 | Rechtes Foto – Batumi, 2008 / Fotos © Igor Mukhin
    Platz Krestjanskaja Sastawa, Moskau, 1990 / Foto © Igor Mukhin
    Platz Krestjanskaja Sastawa, Moskau, 1990 / Foto © Igor Mukhin
    Maxim Gorki, Belarussischer Bahnhof, Moskau, 1991 / Foto © Igor Mukhin
    Maxim Gorki, Belarussischer Bahnhof, Moskau, 1991 / Foto © Igor Mukhin
    Ernst Thälmann, Moskau, 1991 / Foto © Igor Mukhin
    Ernst Thälmann, Moskau, 1991 / Foto © Igor Mukhin
    Denkmal zu Ehren Felix Dshershinskis, Moskau, 1990 / Foto © Igor Mukhin
    Denkmal zu Ehren Felix Dshershinskis, Moskau, 1990 / Foto © Igor Mukhin
    Linkes Foto – Busbahnhof, Ordshonikidse, Ukraine, 1993 | Rechtes Foto – Juri Gargarin, Moskau, 1990 /  Fotos © Igor Mukhin
    Linkes Foto – Busbahnhof, Ordshonikidse, Ukraine, 1993 | Rechtes Foto – Juri Gargarin, Moskau, 1990 / Fotos © Igor Mukhin

    Zum Weiterlesen:
    Mukhin, Igor (2018): In Search of Monumental Propaganda, Berlin

    Fotos: Igor Mukhin
    Bildredaktion: Andy Heller
    einführender Text: Monica Rüthers

    Veröffentlicht am 22.02.2019

    1.Kruk, Sergei (2008): Semiotics of visual iconicity in Leninist ‘monumental’ propaganda, in: Visual Communication 7 (2008) 1, S. 27-56 

    Dieses Visual wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

    Weitere Themen

    Perestroika: Wirtschaft im Umbruch

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    Wörterbuch der wilden 1990er

    Die Brüder Henkin

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    Stalins Henker

  • Sowjetnostalgie und Stalinkult

    Sowjetnostalgie und Stalinkult

    „Ihr habt vieles, worauf ihr stolz sein könnt“ – so schließt der US-amerikanische, russischstämmige Schauspieler David Duchovny 2014 auf YouTube seine Werbung für eine russische Biermarke. Im Spot durchlebt der Zuschauer mit Duchovny seinen alternativen Lebenslauf à la „was wäre, wenn seine Großeltern nicht ausgewandert wären“. Er öffnet ein Familienalbum und ein angeblich typisch russisch-sowjetisches Leben zieht an ihm vorbei: sein Portrait auf der Jahrgangsseite eines sowjetischen Schulalbums, als Langläufer im verschneiten Birkenwald, bei der Schulabschlussfeier mit Klassenkameraden auf dem Roten Platz. Seine Karrieremöglichkeiten zeigen ihn als Kosmonauten, als Choreografen im Bolschoi Theater, als erfolgreichen Schauspieler vor sowjetischen Kinoplakaten und als Eishockeyspieler mit Zahnlücke. Er feiert ausgelassen mit Freunden in einer Banja, singt mit ihnen Sowjet-Hits und rezitiert das bekannte Kindergedicht Rodnoje (dt. Verwandte): „Ich lernte, dass ich eine große Familie habe: den Pfad, das Wäldchen, jede Ähre auf dem Feld.“

    Worauf man also in Russland laut Werbespot nebst beworbenem Produkt noch stolz sein darf? Auf Heldentaten in Schnee und Eis, Gagarin, Ballett, Kameradschaft und Spaß – auf die zentralen Themen der Sowjetnostalgie.

    David Duchovny, dessen Name von russ. duchowni (dt. geistreich, beseelt) stammt, schwelgt in vergangenen Utopien, in nicht gelebten und nicht überprüfbaren Möglichkeiten. Die Gegenwart bleibt interessanterweise ausgespart, es geht auch nicht um die Geschichte, sondern um Atmosphäre und Kultur.

    Vom „Geist einer Epoche“ und der Sehnsucht nach vergangenen Utopien

    Kunst und Kultur des Sozrealismus zelebrierten überschwänglich das Gefühl, Teil einer „besonderen Epoche“ zu sein. Betrachtet man die liebevoll rekonstruierten Erinnerungsräume, den Phantomschmerz einer UdSSR 2.0 offline und im Netz, auf patriotischen Seiten, die Back in UdSSR oder Unsere Heimat UdSSR heißen1, so taucht dort zwischen den in den sanften Glanz des Vergangenen getauchten Bildern sowjetischer Werbeplakate, Kochbücher und Warenkataloge der 1950er bis 1970er Jahre immer wieder der Begriff des „Geistes jener Epoche“ auf – gemeint ist die große sowjetische Epoche, das „Land, das wir verloren“. Die schiere Größe seiner Geschichte als respektierte, ja gefürchtete Weltmacht reißt wie eine Naturgewalt alles mit sich. 

    Das Erhabene und das Heroische kommen dem menschlichen Bedürfnis nach Sinnsuche entgegen. Angesichts des seit Jahren stagnierenden russischen Alltags birgt die Sowjetära mit ihren utopischen Zielsetzungen für einige junge Menschen neues Sehnsuchtspotenzial.



    Quelle: Lewada

    Vor allem ältere Menschen denken nostalgisch an die Sowjetunion zurück. Sie erinnern die „goldenen 1970er“ Jahre unter Breshnew als eine Zeit, in der es alles gab: bescheidenen Wohlstand, soziale Sicherheit, Arbeit, Großmachtstatus und gemeinschaftlichen Stolz auf das Erreichte. Zahlreiche Retro-Produkte, versehen mit den Prüfnummern der längst versunkenen staatlichen sowjetischen Prüfstelle GOST, knüpfen an solche Werte und an einen spezifisch sowjetischen Konsumstil an. Dieser war durch informelle Beschaffungsnetzwerke, Gefälligkeiten und Tauschsysteme (russ. blat) geprägt. Die zentrale Währung war das Vertrauen, nicht die anonymen und abstrakten Kräfte des westlichen Kapitalismus. Der vertrauens- und beziehungsbasierte Konsumstil gilt als dem entfremdeten „kapitalistischen“ Konsumstil moralisch überlegen.

    Wie der Konsumstil so waren auch sowjetische Konsumgüter bald den westlich-kapitalistischen vorzuziehen: Die Sowjetbürger, durch die schlechte Qualität der lang ersehnten Importwaren enttäuscht, hörten bald von Gerüchten über abgelaufene Lebensmittel, die nach Russland geliefert würden. Zum Symbol kapitalistischer Machenschaften, der Erniedrigung der einstmals großen Nation, wurden die im Rahmen von Not-Krediten gelieferten US-amerikanischen Hühnerkeulen, die unter der Bezeichnung „Bush’s Keulchen“ bis heute durch die Medien geistern. Sie seien mit Hormonen und Chemie verseucht gewesen und hätten Allergien verursacht.

    So wuchs die Überzeugung, dass die reichen westlichen Länder Russland grundsätzlich mit minderwertiger Ware belieferten. Parallel zu diesen Ängsten, zur Erosion des Rubels und steigenden Preisen für Importe wuchs die Aura der eigenen Lebensmittel und Güter. Sowjetische Eiscreme ist eine exemplarische nostalgische Speise, die mit Reinheitsvorstellungen, Kindheitserinnerungen und starken Emotionen verbunden ist. Sie wird von vielen explizit als Geschenk des sowjetischen Staates an seine Kinder erinnert.

    Warum bedauern Sie den Zerfall der UdSSR in erster Linie?


    Anteil der Respondenten, die angegeben hatten, den Zerfall der UdSSR zu bedauern. Quelle: Lewada

    Güter und Atmosphären für den Heilungsprozess 

    Durch die Erfahrungen aus der frühen postsowjetischen Zeit unterscheiden WissenschaftlerInnen hinsichtlich des Umgangs mit der zurückliegenden Sowjetära verschiedene Phasen: Eine erste Phase der postsozialistischen Distanznahme von der Symbolwelt, in der die einst so mächtigen Ikonen des Sozialismus zu Kitsch wurden. 
    Eine zweite Phase brachte Mitte der 1990er Jahre die Rückbesinnung auf die materielle Kultur des sozialistischen Alltags. Sowjetische Güter standen nun für bestimmte Werte und erschienen in einer Gegenposition zum entzauberten Westen. 
    Der dritte Typ nostalgischer Praktiken betraf die Rekonstruktion von Atmosphären, Werten und Stimmungen des Spätsozialismus. Dazu gehörten geteilte Erfahrungen wie Ferienlager oder die Populärkultur. 
    Ein vierter Typus war die zunächst objektfixierte Stil-Nostalgie der jungen Generation. Die Nostalgie galt der entzauberten Utopie vom Westen ebenso, wie dem Verlust der respektierten Großmacht Sowjetunion. Die Südosteuropahistorikerin Maria Todorova sprach von der heilenden (restaurativen) Funktion der Nostalgie.

    Die 1990er Jahre dagegen galten vor allem als Jahre des chaotischen Zerfalls des Sowjetreiches, der Entsolidarisierung der Gesellschaft und grassierender Kriminalität, während der Staat und die parlamentarische Demokratie versagten. Die ehemaligen Sowjetbürger erfuhren die 1990er Jahre als Dauerkrise und sprachen in Metaphern des Bröckelns und des Einsturzes darüber. Die Silowiki erfuhren den schmerzlichen Verlust des Großmachtstatus, ein Gefühl, das Putin in die Formel der „geopolitischen Katastrophe“ goss.

    Sowjetnostalgie und symbolische Re-Stalinisierung

    Spätestens seit Mitte der 2000er Jahre ist die Sowjetnostalgie Teil des patriotischen Projekts Russlands, den verlorenen imperialen Status wiederzugewinnen. Die politische Rhetorik sprach zwar von Erneuerung und Modernisierung – vor allem während der Präsidentschaft Medwedews –, benutzte aber die sowjetische Vergangenheit zur Legitimierung ihrer Politik. Das „Sowjetische“ war dabei historisch diffus und wurde zu einem gemeinsamen „kulturellen Erbe“. Diese Politik wertete Nostalgie als positive gesellschaftliche Kraft. Im offiziellen russischen Diskurs kursieren die Schlüsselbegriffe „traditionelle Werte“, „russische Kultur“, „Spiritualität“ und „historische Vergangenheit“. Die sowjetische Matrize erlaubt das Ausblenden ethnischer, religiöser und sonstiger regionaler Unterschiede und schafft eine alle umfassende „russische Kultur“. Leider stimmen die Grenzen der so erneuerten russischen Zivilisation zuweilen nicht mit den aktuellen Staatsgrenzen überein. Die nationale Kultur wird als historisch gewachsener „Organismus“ imaginiert, dem die rational fassbare Gegenwart und die nicht absehbare Zukunft weniger entsprechen als die Vergangenheit.

    Betrachtet man die mediale Umsetzung, spielt Sowjetnostalgie eine zentrale Rolle, um diese gemeinsame Kultur mit vertrauten Bildern, Worten und Klängen zu illustrieren. Dazu gehörte zu Beginn der 2000er Jahre die Wiedereinführung der Melodie der sowjetischen Nationalhymne, die unter Stalin entstanden war.

    Auch sowjetische Sehnsuchtsorte werden restauriert. Ferienheime, Pionierlager, die Metro und das 1939 eröffnete Gelände der Allunions-Landwirtschaftsausstellung WDNCh waren märchenhafte Geschenke des Staates – und Stalins – an seine Bürger. Das Messegelände der WDNCh wird seit einigen Jahren aufwendig restauriert, die erhaltenen Pavillons aus der Stalinzeit erstrahlen bereits in neuem Glanz. Auf der paradiesischen Krim befand sich das berühmteste aller Pionierlager, Artek, das mit der Annexion der Krim vor dem Verfall gerettet und sogleich unter die persönliche Schutzherrschaft Putins gestellt wurde.

    Putin belebte das sowjetische Staatsmodell, zentralistisch und autoritär, mit starker Kontrolle durch die Sicherheitskräfte. Ein Rückgriff auf stalinistische Formeln ist die Belagerungsmentalität: Wir sind von Feinden umzingelt, der Faschismus lebt wieder auf.

    Stalin – ein diffuser Erinnerungsdiskurs 

    Mit dem paternalistischen Staatsmodell kam auch Stalin zurück. Mindestens zwei TV-Serien zeigen Stalin als „geschniegelten Opa, der sich auf sein luxuriöses Landgut zurückgezogen und im trauten Kreis der Seinen den Frieden mit sich selbst gefunden hat“2. Oder als strengen, aber freundlichen Vater, der absolute Autorität in allen Wissenschaften besaß, den Krieg gegen Nazideutschland gewann und für sein Volk sorgte.

    Stalin verkörpert den Archetyp der Führerfigur, den strengen, aber gerechten Vater der Völker, er ist ein Symbol der Autorität und nationalen Stärke, eine Art Alleinstellungsmerkmal einer gedemütigten Nation. Seine Bewertung ist widersprüchlich: Umfragen des Lewada-Zentrums belegen die verbreitete Meinung, Stalin sei ein weiser Führer gewesen, der die Sowjetunion zu Macht und Wohlstand führte. Dieselben Befragten befanden aber auch, der Große Terror sei ein politisches Verbrechen gewesen, das sich nicht rechtfertigen lasse. Die Mehrheit meinte, das Wichtigste sei, dass unter Stalins Führung die Sowjetunion den Krieg gewonnen habe.

    Obwohl die Gesellschaft Russlands die gewalthafte Natur der stalinistischen Politik kennt, fällt es ihr schwer, den Repräsentanten absoluter Macht zu verurteilen. Am meisten lieben ihn ältere, bildungsferne, ärmere BürgerInnen in strukturschwachen und ländlichen Gegenden. Entlang dieser Linien gruppiert sich auch die Wählerschaft Putins. Widersprüchlich ist auch die Bewertung des Stalinismus im politischen und wissenschaftlichen Diskurs, der zwischen der Verurteilung stalinistischer Verbrechen und deren Minimierung zugunsten der Größe und Stärke Russlands schwankt. Es gibt zwar keine offizielle Glorifizierung Stalins, und die stalinistischen Verbrechen werden von den Kremloberen nicht geleugnet. Aber sie werden klein gehalten, und Stalins Leistungen etwa als Generalissimus sind in populären Buchpublikationen weit präsenter als seine Verbrechen.

    Es gibt kein konsistentes Narrativ Stalin und den Stalinismus betreffend, weder ein offizielles noch ein inoffizielles. Nationale Größe und kollektive Werte wie Einigkeit, Prestige und Ehre sind in der Wahrnehmung untrennbar mit brutaler Gewalt verbunden. Die Opfer sind bekannt, aber sie werden durch die Verdienste des Tyrannen aufgewogen: Die Anziehungskraft, die nationale Größe und ruhmreiche Geschichte auf einfache Bürger ausüben, verbindet sich mit der Legitimation despotischer Macht.

    Die diffuse, rückwärtsgewandte offizielle Rhetorik kommt der Deutung der eigenen Geschichte in mythischen und sakralen Kategorien entgegen – nicht in Kategorien von Schuld und Verantwortung, sondern in solchen von Schicksal und Tragödie. So haben sich sowjetische Interpretationsmuster im russischen Erinnerungsdiskurs gehalten. Im Schulunterricht erscheint etwa der Gulag als Tragödie ohne identifizierbare Täter.3 Stalin war kein gewöhnlicher Mensch, er wurde zum Teil der Verklärung und Nostalgie.


    Weiterführende Literatur:
    Dubin, Boris (2005): Goldene Zeiten des Krieges: Erinnerung als Sehnsucht nach der Brežnev-Ära, in: Osteuropa 4-6/55, S. 219-233
    Humphrey, Caroline (1995): Creating a culture of disillusionment: Consumption in Moscow, a chronicle of changing times, in: Miller, Daniel (Hrsg.): Worlds Apart: Modernity through the prism of the local, London/New York, S. 43-68
    Kalinin, Ilya (2011): Nostalgic Modernization: The Soviet Past as „Historical Horizon“, in: Slavonica 17/2, S. 156-166
    Kalinin, Il’ja (2015):  Prazdnik identičnosti: Russkaja Kul’tura kak nacional’naja ideja, in: Politekonomija povsednevnosti 101/3, S. 250-261
    Kravets, Olga/Örge, Örsan (2010): Iconic Brands: A Socio-Material Story, in: Journal of Material Culture 15/2, S. 205-232
    Nadkarni, Maya/Shevchenko, Olga (2004): The Politics of Nostalgia: A Case for Comparative Analysis of Post-Socialist Practices, in: Ab Imperion 2/4, S. 487-519 
    Sabonis-Chafee, Theresa (1999): Communism as Kitsch. Soviet Symbols in Post-Soviet Society, in: Barker, Adele Marie (Hrsg.): Consuming Russia: Popular Culture, Sex, and Society since Gorbachev, Durham, S. 362-382
    Todorova, Maria (2010): Introduction: From Utopia to Propaganda and Back, in: Todorova, Maria/Gille, Zsuzsa (Hrsg.): Post-communist Nostalgia, Oxford/new York, S. 1-13
    Zubarevič, Natal’ja (2012): Russlands Parallelwelten: Dynamische Zentren, stagnierende Peripherie, in: Osteuropa 62/6-8, S. 263-278

    Diese Gnose wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

    Weitere Themen

    Zurück in die UdSSR

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    Stalin: Zwischen Kult und Aufarbeitung

    Stalin: eine aufgezwungene Liebe

    Hungersnot in der Sowjetunion 1932/33

  • Der Teppich an der Wand

    Der Teppich an der Wand

    „Überall auf der Welt legt man Teppiche auf den Boden. Warum hängen wir sie an die Wand?“ Selbst für Russen ist die Antwort auf diese Frage alles andere als einfach. Das, was für viele heutzutage als ein Symbol der Geschmacklosigkeit gilt, gehörte in sowjetischen Wohnungen der 1970er und 1980er Jahre zum Interieur, genauso wie das gute Porzellan oder das Kristallgeschirr hinter den Scheiben der lackierten Schrankwand (russ. „Stenka“).

    Auch heute sind die Teppiche, vor allem in den Wohnungen älterer Menschen, keine Seltenheit. In Beiträgen und Diskussionen in Internetforen wird vor allem eines deutlich: Der Wandteppich wird als spezifisch russische Eigenart und somit als ebenso erklärungsbedürftig wie identitätsstiftend gewertet.

    Heute ist der Wandteppich häufig ein Objekt ironischer Fotoposen in Sozialen Netzwerken  / Foto © pogovorim_mirtesen.ru
    Heute ist der Wandteppich häufig ein Objekt ironischer Fotoposen in Sozialen Netzwerken / Foto © pogovorim_mirtesen.ru

    Teppiche hingen bereits in den Stalinbauten an den Wänden und bedeckten auch Tische, Sofas, Sessel und den Boden, aber in den 1970er Jahren wurden sie zum Massenphänomen. Teppiche waren cool, teuer und Mangelware (defizit). Da die Mode zuerst bei der Intelligenzija und den Funktionären aufkam, galt sie bald als Zeichen von Status und Prestige. Echte Teppiche sind eigentlich die mit den orientalischen Mustern, aber beliebt waren auch die „mit den Hirschen“, die man gar nicht auf den Boden legen konnte.

    Nach dem Teppich-Boom in den 1970er und 1980er Jahren wurde im Laufe der 1990er der Wandteppich zum Inbegriff des schlechten Geschmacks der Großeltern, ein Überbleibsel der sowjetischen Vergangenheit, das man vergaß, abzuhängen. Sich vor dem Wandteppich fotografieren zu lassen, was in der Sowjetunion zum guten Ton gehörte, gilt mittlerweile als gestrig. Bildstrecken in Sozialen Netzwerken ironisieren das Portrait vor dem Wandteppich oder laden es erotisch auf in Kompositionen, die an die Odalisken von Henri Matisse erinnern.

    Zugleich bleibt der Wandteppich Symbol für Ehe und Hausstand und dient gelegentlich als Hochzeitsgeschenk oder Aussteuer. Im Internet sind Fotos von Brautpaaren vor dem Teppich zu finden, oft in einem Park. Der Teppich hinter den Brautleuten wird von den Frauen der Trauzeugen hochgehalten, die auf den Schultern ihrer Partner sitzen.1

    Das orientalische Zimmer als Ort der Zuflucht

    Die Herkunft des Wandteppichs scheint einerseits im Orient-Boom des 19. Jahrhunderts zu liegen, andererseits in einer russischen Tradition, in Innenräumen alle Oberflächen reich mit Textilien auszuschmücken.2Dabei begann der Trend zunächst im westlichen Europa und in den USA: Schriftsteller, Künstler und Architekten begannen sich nach der Eroberung Algiers 1830 für den islamischen Orient zu interessieren. Britische Adelige und amerikanische Großbürger ließen sich Schlösser und Villen im orientalischen oder maurischen Stil bauen, mit Ornamenten reich verziert. Inseln der Flucht aus dem hektischen Alltag, Orte orientalischer Genüsse wie Kaffeehäuser, Restaurants und Ausstellungs-Pavillons waren im orientalischen Stil gehalten. Persische Teppiche erlebten seit den 1860er Jahren einen regelrechten Boom, und jedes reiche Haus musste zumindest ein „orientalisches Zimmer“ oder eine orientalische „Ecke“ haben.3

    Die großen Warenhäuser richteten Orient-Abteilungen ein. Dabei wurde die Qualität der Handarbeit besonders betont. Auch Einrichtungszeitschriften förderten den Trend weg vom strengen Französischen Stil hin zu den dunkleren, warmen Tönen türkischer Polster, Vorhänge und Teppiche. Zwischen 1880 und 1915 waren in Westeuropa und den USA mit Teppichen gepolsterte Möbel in Mode. Die günstigeren Teppiche dafür kamen aus dem Mittleren Osten, vor allem aus Teilen Russlands, namentlich dem Kaukasus und den turkmenischen Gebieten Zentralasiens.4

    Diese Mode erfasste auch die Eliten des Zarenreiches. Fotos aus den reichen russischen Häusern entsprechen ähnlichen Aufnahmen aus Frankreich, England oder den USA: Reich und bis unter die Decke mit orientalischen Teppichen und Kissen dekorierte Räume oder Ecken mit Poufs, mit Teppichen gepolsterte Sessel und Diwane laden zum Verweilen und Träumen ein. Oft wurden über den Teppichen nach kaukasischer Manier Waffen angebracht.5

    Sowjetische Kontinuitäten

    In Russland waren die „orientalischen Zimmer“ vor dem Ersten Weltkrieg ein bei der adligen Jugend, aber auch in Künstlerkreisen beliebter Treffpunkt. Nach der Revolution gingen sie mit in die Emigration. Aber die Mode wurde von den sowjetischen Eliten übernommen. In der jungen Sowjetunion erhielt die Teppichproduktion durch staatliche Aufträge eine neue Dimension: Turkmenische, aserbaidschanische, armenische, ukrainische, moldawische, kasachische und dagestanische Manufakturen produzierten nun hochwertige handgeknüpfte Teppiche für die ganze Sowjetunion und für den Export. Hinzu kam die maschinelle Produktion von Teppichen für die breite Nachfrage. Sowjetische Teppiche waren auch in Europa und in den USA in den 1920er Jahren eine ernstzunehmende Konkurrenz.6

    Nach 1945 verbreiteten sich in einer günstigen Variante gefranste Bildwandbehänge (russ. „Schpalery“) mit Rehen, Bären, Schwänen oder röhrenden Hirschen, aber wer es sich leisten konnte, besaß echte, wollene Teppiche mit orientalischen Mustern.7 So ein Teppich konnte zu Sowjetzeiten ein Jahresgehalt kosten.

    Prestigeträchtiges Symbol des Luxus

    Fotos sowjetischer urbaner Interieurs der 1950er Jahre zeigen die Teppiche als Ausdruck gehobener Wohnlichkeit, gerade auch in Künstlerkreisen, der Bohème, aber auch bei Lehrern und Ingenieuren. Manche Aufnahmen aus der Zeit zeigen Familien in Interieurs, in denen Boden, Wände und Sofa, zuweilen sogar der Tisch mit Teppichen bedeckt sind, sodass zumindest im Bild überhaupt keine freien Flächen sichtbar sind.

    Nach einer kurzen Zeit in den 1960er Jahren, als ein minimalistischer Einrichtungsstil modern war und die Ratgeberliteratur eine radikale Entrümpelung der kleinbürgerlichen Interieurs von überflüssigem Kitsch verlangte, war in den 1970er Jahren die Gemütlichkeit Trumpf, und die Teppiche vermehrten sich inflationär. Mit der massenhaften Verbreitung nahm der Anteil industriell hergestellter Teppiche zu. Auch Importe aus Bulgarien, Rumänien und der Tschechoslowakei waren auf dem Markt.

    Die Sowjetunion versprach ein Leben im Wohlstand, und die Teppiche waren ein prestigeträchtiges Symbol des Luxus. Geschätzt waren vor allem Teppiche aus Turkmenistan, Aserbaidschan, Georgien, Armenien und Dagestan als wertvolle Kunstgegenstände.8

    Staubfänger, nostalgisches Kultobjekt oder therapeutischer Rückzugsort

    Heute scheiden sich die Geister. „Für mich ist es kulturlos, wenn das Bett neben einer kahlen Wand steht, als wäre es eine Mönchskammer oder Gefängniszelle“, „mit ihm ist es irgendwie gemütlicher und für die Seele wärmer“, „wenn ich ins Zimmer komme, habe ich das Gefühl, ich würde diesen Teppich umarmen, wenn ich nur könnte“. Andere fragen sich dagegen: „Wie schwachsinnig muss man sein, um einen Teppich in seiner stinkigen Chruschtschowka aufzuhängen?“ Der Teppich sammle Staub, diene als Unterkunft für Zecken, Mücken und andere Parasiten, der Raum sehe kleiner aus, primitiv, geschmacklos, eben echte „asiattschina“.9 Generell wird darüber sinniert, ob der Wandteppich eine Eigenart oder eine Geschmacklosigkeit ist.

    Während ein Teppich an der Wand im heutigen Russland den einen als Zeichen von Kulturlosigkeit und Sowok gilt, verkünden andere in Einrichtungsratgebern neuerdings die Rückkehr des Wandteppichs und zeigen modische Varianten. Das Online-Medium Lenta.ru etwa berichtet über die Rückkehr der Wandteppiche in die russischen Wohnzimmer im Zuge der Sowjetnostalgie und findet kulturelle und psychologische Erklärungen: Die Wandteppiche seien nicht nur eine sowjetische Besonderheit gewesen, sondern bis heute Teil des sowjetischen visuellen Gedächtnisses. Sie würden Vertrautheit vermitteln und angenehme Erinnerungen an die sowjetische Stabilität und Geborgenheit auslösen, an Feste und Geselligkeit, aber mit ihrer Ornamentik auch an nicht-russische Exotik, die Teil des sowjetischen (imperialen) Alltags war und die außerhalb der Bilder der sowjetischen Vergangenheit in Vergessenheit geriet. Der Teppich spiele gar eine wichtige therapeutische Rolle, indem sein Anblick bestimmte Reaktionen auslöse, angenehme Erinnerungen an die eigene Jugend, das Gefühl der Einzigartigkeit und Ruhe durch Selbstvergewisserung.10


    1. siehe z.B. Kaifolog.ru: Kovrovyje prikoly ↩︎
    2. zum Orient-Boom vgl.: Ittig, Annette (1992): Ziegler’s Sultanabad Carpet Enterprise, in: Iranian Studies, Vol. 25, No. 1/2: The Carpets and Textiles of Iran: New Perspectives in Research (1992), S. 103-135; Roxburgh, David J. (2000): Au Bonheur des Amateurs: Collecting and Exhibiting Islamic Art, ca. 1880-1910, in: Ars Orientalis, Vol. 30: Exhibiting the Middle East: Collections and Perceptions of Islamic Art (2000), S. 9-38; Roth, Rodris (2004): Oriental Carpet Furniture: A Furnishing Fashion in the West in the Late Nineteenth Century, in: Studies in the Decorative Arts, Vol. 11, No. 2, S. 25-58; zu Russland vgl.: berlogos.ru: Kover na stene: tradicii i sovremennost ↩︎
    3. Ittig, Anette (1992), S. 108. Orientalische Zimmer tauchten auch in der Literatur auf, etwa in Emile Zolas Erzählung Au bonheur des dames (1884). Gemälde wie die Odalisken des Orientalisten Henri Matisse zeigen die dekorativen, an Ornamenten reichen Interieurs noch im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. ↩︎
    4. Roth, Rodris (2004), S. 25 ↩︎
    5. Der russische Schriftsteller Michail Lermontov beschrieb das orientalische Zimmer mit Waffen in den 1830er Jahren in seinem Romanversuch Fürstin Ligovskaja (1836/37, publ. 1882). ↩︎
    6. Ittig, Anette (1992), S. 121 ↩︎
    7. 22-91.ru: Sovetskie kovry ukrašali steny i poly ↩︎
    8. ebd. Ein spätsowjetischer Katalog für echte Teppiche von Berezka findet sich hier: Back-in-ussr.com: Katalog kovkov iz SSSR ↩︎
    9. vgl.: lovehate.ru: Pro kovry na stenach ↩︎
    10. Lenta.ru: Ego vorsejšestvo: Bessmertnyje kovry vozvraščajutsja na steny rossijskich kvartir ↩︎

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  • Arbeiter und Kolchosbäuerin

    Arbeiter und Kolchosbäuerin

    Sie sind eine Ikone der Sowjetunion, eine Art sowjetische Freiheitsstatue: Die mit Hammer und Sichel in Richtung einer leuchtenden, wunderbaren Zukunft tanzenden Titanen Arbeiter und Kolchosbäuerin. Die Figurengruppe krönte den sowjetischen Pavillon auf der Weltausstellung in Paris 1937, mit dem die junge Sowjetunion ihren Platz unter den Industrienationen beanspruchte. Die rund 24 Meter hohe Statue von Wera Muchina und Boris Iofan symbolisierte den Zusammenschluss von Arbeiter- und Bauernschaft und sollte selbstbewusst Fortschritt und Errungenschaften des ersten sozialistischen Staates ausdrücken. 1937, 20 Jahre nach der Oktoberrevolution, verkörperten die jugendlichen Gestalten des Arbeiters und der Kolchosbäuerin die idealtypischen „Kinder des Oktobers“: Sie waren Angehörige der sehnsüchtig erwarteten „ersten sowjetischen Generation“.1 Das Paar, das seit 1939 in Moskau steht, erschien auf Briefmarken, Plakaten und Postkarten und dient seit 1947 als Erkennungszeichen des staatlichen Kinoproduzenten Mosfilm. Als Schlüsselwerk des Sozialistischen Realismus wurde die Monumentalstatue Vorlage für Parodien und visuelles Klischee für die Werbung.
     

    Die außerordentliche Dynamik verdankt die Statue der Bewegung von den Fußspitzen bis in die erhobenen Hände, während die nach hinten gereckten Arme mit dem wehenden Schal Flügeln gleichen, auf denen sich die Gestalten kühn durch die Lüfte schwingen. Die 75 Tonnen schwere Monumentalskulptur aus rostfreiem Chromnickelstahl wurde zum Symbol für die Symbiose von Technik und Kunst im industriellen Zeitalter.2 Die Statue wurde in einem Moskauer Maschinenwerk von einem Kollektiv aus Künstlern, Facharbeitern und Ingenieuren innerhalb von drei Monaten hergestellt. Ihre Montage auf dem über 35 Meter hohen Pavillon war ein risikoreiches Unterfangen. Die monumentale Statue machte entsprechend Eindruck und gewann – gemeinsam mit dem direkt gegenüber platzierten deutschen Pavillon – den Grand Prix. 

    Prestigeprojekt auf dem Höhepunkt des Terrors

    Das Prestigeprojekt entstand auf dem Höhepunkt von Stalins Terrorkampagnen und musste höchsten Ansprüchen genügen. Den Wettbewerb für den Pavillon gewann der Architekt Boris Iofan. Ähnlich wie für den (nie erbauten) Palast der Sowjets in Moskau geplant, sollte auch der Pavillon von einer Kolossalstatue gekrönt werden. Iofan schwebte zunächst als Vorbild die Nike von Samothrake aus dem Louvre vor. Der Pavillon stand jedoch im Zeichen des „Neuen Menschen“3, der in der sowjetischen Ikonographie stets als Paar auftrat. 

    Für die zukunftsträchtige Vereinigung von Arbeitern und Bauern im Kampf für Freiheit und Fortschritt diente die antike Figurengruppe der Tyrannenmörder als Vorbild.4 Die Dynamik der Bewegung erinnert auch an die Liberté von Eugène Delacroix aus dem Jahr 1830 (dt. Die Freiheit führt das Volk) und an das Relief Der Auszug der Freiwilligen (La Marseillaise) von François Rude (1784–1855) an der Ostseite des 1836 eingeweihten Pariser Arc de Triomphe, die ihrerseits der griechischen Siegesgöttin im Louvre glichen.5

    Den Wettbewerb zur Gestaltung der Figurengruppe gewann Wera Muchina. Ihr Entwurf unterschied sich wesentlich von Iofans Vorlage, aber die hohe Kommission aus Mitgliedern des Politbüros unter dem Vorsitz Wjatscheslaw Molotows folgte ihm nicht in allen Punkten. Muchina musste zum Beispiel die in ihrem Entwurf nackten Figuren bekleiden. Auch die wehende Stoffbahn weckte Bedenken bei Molotow: Die Bäuerin sei doch keine Tänzerin oder Eisläuferin. Muchina antwortete, der Schal sei als Gegengewicht statisch notwendig.6

    Pathosformel und Stahlsymbolik

    Die Komposition eröffnet aus jedem möglichen Blickwinkel neue, unerwartete Konstellationen und besticht durch ihre scheinbare Bewegung.7 Der überzeitliche Zauber der Statue erklärt sich durch ihre Anlehnung an Ausdrucksformen des antiken Pathos, wie sie Aby Warburg in seinem Begriff der Pathosformel fasste. Er bezeichnete damit von Renaissancekünstlern verwendete Symbole zur Darstellung des gesteigerten menschlichen Gefühlsausdrucks, die sich auch in dieser Statue finden.8 So werden die Gewänder vom Wind an die Körper der Idealfiguren gepresst und lassen dessen Konturen deutlich durchscheinen. Das „bewegte Beiwerk“9 der wehenden Haare, des Faltenwurfes und des Schals dienen der Steigerung des Ausdrucks ebenso wie die Choreographie des Schrittes, der zum Tanz wird. Der Schritt des Paares ist einerseits dem Leben nachempfunden und zugleich losgelöst. Er ist flüchtig und dabei in der Zeit blockiert, mit dem Boden verbunden und schwebend.10Das macht der nach außen abgedrehte und auf der Spitze stehende hintere Fuß ebenso deutlich wie das Schuhwerk: Die Kolchosbäuerin trägt Ballerinas.

    Die monumentale Statue gewann – gemeinsam mit dem gegenüber platzierten deutschen Pavillon – den Grand Prix.
    Die monumentale Statue gewann – gemeinsam mit dem gegenüber platzierten deutschen Pavillon – den Grand Prix.

    Ihr Partner in diesem kommunistischen Tango, der Arbeiter, ist jung und kräftig, sein muskulöser Oberkörper wird nur teilweise durch die Latzhose bedeckt. Von vorne sieht diese aus wie die lederne Schürze des Schmiedes, dem die Figur nachempfunden ist und der schon 1919 zum Stellvertreter der Arbeiterklasse in der politischen Kunst der Bolschewiki wurde.11In der bolschewistischen Adaptation der Figur verbanden sich populäre Mythen mit politischer Ideologie.12 Die Bedeutungen erweiterten sich. So war das „Umschmieden“ durch harte Arbeit ein von der Propaganda empfohlener Weg, ein neuer Mensch oder zumindest ein Held der sowjetischen Arbeit zu werden. 

    Die Kolchosbäuerin zwischen Traktor und Sichel

    Die Figur der Kolchosbäuerin hat eine weniger eindeutige Tradition als der Schmied. Als Verkörperung der Bauernschaft diente in den 1920er Jahren der bärtige Mushik mit Bastschuhen.13 Erst mit der Kollektivierung übernahm 1929 die Kolchosbäuerin diese Rolle.14 Die Apotheose der Kolchosbäuerin war die Traktoristin. Sie war die Galionsfigur der Erneuerung der Landwirtschaft durch Vergemeinschaftung und Mechanisierung. Die Figur von Wera Muchina verkörpert die athletische Kolchosniza, die in der Propaganda der frühen 1930er Jahre die städtische Bevölkerung von der Kollektivierung überzeugen sollte.

    Muchinas Kolchosbäuerin trägt allerdings kein Kopftuch, und ihre Haare sind der städtischen Mode entsprechend kurz geschnitten. Man erkennt sie eigentlich nur an der Sichel, die das Attribut der Bäuerinnen auf Darstellungen der 1920er Jahre war. Hammer und Sichel dienen hier nicht der Arbeit, sondern in einer triumphalen Geste der Darstellung des sowjetischen Staatsemblems.15 

    Die Frau mit der Sichel ist allerdings etwas kleiner und einen halben Schritt hinter dem Mann mit dem Hammer zurück.16 Damit wurden implizit herrschende Geschlechterhierarchien nicht nur auf den Neuen Menschen, sondern auch auf das Verhältnis von Arbeiter- und Bauernschaft, und die in der stalinschen Ikonografie fixierte Überlegenheit der Stadt über das Land übertragen. 

    Ikone der Populärkultur 

    Zurück aus Paris begrüßte die Statue in Moskau die Besucher der 1939 eröffneten Allunions-Landwirtschaftsausstellung, später WDNCh, zu Muchinas Missfallen von einem relativ niedrigen Sockel aus. Zwischen 2003 und 2009 wurde sie aufwändig restauriert und anschließend auf einer am Nordeingang des Ausstellungsgeländes eigens errichteten Rekonstruktion des Pariser Pavillons wieder aufgestellt.

    Die kolossale Statue ist fester Bestandteil der sowjetischen und russischen Populärkultur sowie Gegenstand zahlreicher Karikaturen und taucht regelmäßig in der Werbung auf. Die Konzeptkünstler der SozArt hatten die Entlarvung der offiziellen visuellen Klischees zu ihrem Programm erhoben. So gestaltete der seit 1975 in den USA lebende Künstler Alexander Kosolapov (geb. 1943 in Moskau) Arbeiter und Bäuerin in einer Disney-Version als Mickey and Minnie in Bronze (2004).17 Damit drückte er aus, dass die monumentale Form trotz des vorgeblich zeitlosen antiken Pathos ihre ursprünglichen Inhalte längst verloren hatte und zu einer Ikone der Populärkultur geworden war, deren Sinngehalt sich nicht von demjenigen der US-amerikanischen Ikonen Mickey und Minnie Mouse unterschied.


    1. Krylova, Anna (2007): Identity, Agency, and the First Soviet Generation, in: Lovell, Stephen (Hrsg.): Generations in Twentieth-Century Europe, Basingstoke, S. 79-100 ↩︎
    2. Konstantynów, Dariusz (2001): El obrero y la mujer de la granja colectiva de Vera Mukhina, 1937, in : Historia, Antropología y Fuentes Orales, No. 26, Denuncia Social (2001), S. 23-36. Jungen, Bettina (2005): Kunstpolitik versus Kunst: Leben und Werk der Bildhauerin Vera Muchina (1889-1953). Bielefeld, S. 149-154 ↩︎
    3. Hagemeister, Michael/Richers, Julia (2007): Utopien der Revolution: Von der Erschaffung des Neuen Menschen zur Eroberung des Weltraums. in: Haumann, Heiko (Hrsg.): Die Russische Revolution, Köln, S. 131-142 ↩︎
    4. Ejgel‘, Isaak (1987): Kremen‘ i kresalo [Feuerstein und Schlageisen], in: VIVOS VOCO Juli 2006, Vosproizvedeno po izdaniju: Skul’ptura i vremja: Rabočij I kolchoznica. Skul’ptura V. I. Muchinoj dlja pavil’ona SSSR na Meždunarodnoj vystavke 1937 goda v Pariže, Moskau ↩︎
    5. Jungen, Kunstpolitik versus Kunst, S. 34 und 71 ↩︎
    6. Konstantynów, El obrero y la mujer, S. 24 ↩︎
    7. Jungen, Kunstpolitik versus Kunst, S. 163 ↩︎
    8. Warburg, Aby (1980): Sandro Botticellis „Geburt der Venus“ und „Frühling“: Eine Untersuchung über die Vorstellungen von der Antike in der italienischen Frührenaissance (1893), in: Wuttke, Dieter (Hrsg.): Ausgewählte Schriften und Würdigungen, Baden-Baden, S. 11-64 ↩︎
    9. Warburg, Botticellis „Geburt der Venus“, S. 13 ↩︎
    10. Didi-Huberman, Georges (2010): Das Nachleben der Bilder: Kunstgeschichte und Phantomzeit nach Aby Warburg, Frankfurt a.M., S. 380. Auf die (durch das „bewegte Beiwerk“ kaschierte) Blockade wegen der fehlenden Gewichtsverlagerung nach vorne weist auch Jungen, Kunstpolitik versus Kunst, S. 161 hin. ↩︎
    11. Die Figur des Schmiedes hat eine lange Tradition in Europa, in der westeuropäischen und der slawischen Kunst ebenso wie in der sozialistischen politischen Ikonografie. Eine zentrale Rolle für die Entwicklung und Heroisierung der Figur des Arbeiters und vor allem des Schmiedes spielte Ende des 19. Jahrhunderts der belgische Maler und Bildhauer Constantin Meunier (1831-1905). In dieser Zeit wurde die Figur des Arbeiters unter dem Einfluss sozialistischer Strömungen in der europäischen Kunst monumentaler, dekorativer und politischer. Der „universelle“ Schmied wurde als Symbol des industriellen Zeitalters mit reichen Assoziationen und einer Vielzahl von Bedeutungen aufgeladen, vgl.: Bonnell, Viktoria (2009): Ikonografija rabočego v sovetskom političeskom iskusstve. In: Jarskaja-Smirnova, Elena und Romanov, Pavel (Hrsg.): Vizualʹnaja antropologija – režimy vidimosti pri socializme, Moskau, S. 183-214, hier S. 195 ↩︎
    12. Bonnell, Ikonografija rabočego, S. 194 ↩︎
    13. Waters, Elizabeth (1991): The female form in Soviet political iconography, 1917-32, in Evans Clements, Barbara/Alpern Engel, Barbara/Worobec, Christine D. (Hrsg.): Russia’s Women: Accomodation, Resistance, Transformation, Berkeley, S. 225-242, hier S. 232 ↩︎

    14. Bonnell, Victoria E. (1993): The Peasant Woman in Stalinist Political Art of the 1930s, in: The American Historical Review, Vol. 98, No. 1 (Feb.), S. 55-82, hier S. 56-57 ↩︎
    15. Die Zuschreibung von Industrie und Landwirtschaft über Hammer und Sichel an die Geschlechter fand sich bereits 1920 auf einem Plakat zur Woche des Kindes von Ivan Simakov. ↩︎
    16. Reid, Susan E. (1998): All Stalin’s Women: Gender and Power in Soviet Art of the 1930s, in: Slavic Review 57 Nr. 1, S. 133-173, hier S. 147 ↩︎
    17. Sotsart: Mini and Mickey, Worker and Farmgirl ↩︎

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  • Revolutionäre Grüße aus dem Jahr 1917

    Revolutionäre Grüße aus dem Jahr 1917

    Ansichtskarten gelten als banale Reiseandenken, die allenfalls zur Übermittlung von Grüßen dienen. Doch am Ende des 19. Jahrhunderts verbreitete sich die Postkarte zeitgleich zum Bau der Eisenbahnen, die Menschen und Dinge mobil machten. In einer Zeit vor Telefon und Email eroberte sie sich ganz unterschiedliche Funktionen. Die Ansichtskarte wurde zum Nachrichtenmedium, das erinnerungswürdige Ereignisse dokumentierte und verbreitete.

    Viele wichtige Ereignisse der russischen Geschichte Anfang des 20. Jahrhunderts wurden von fotografischen wie auch grafischen Postkarten begleitet. Die Revolution von 1905, der Erste Weltkrieg und natürlich die revolutionären Ereignisse von 1917 wurden zu Postkartenmotiven. Der Informationshunger war so groß, dass sich damit viel Geld verdienen ließ. Das nutzten verschiedene revolutionäre Gruppen für ihre Finanzierung.

    Ab 1907 wieder von der zaristischen Zensur unterdrückt, blühte das Genre nach der Februarrevolution 1917 erneut auf, als Propagandawerkzeug, um die Monarchie zu verspotten – und um bestimmte Deutungen der politischen Ereignisse zu etablieren.1

    Die Postkarten zeigen 1917 als Jahr vielfältiger revolutionärer Ereignisse und Demonstrationen.
    Die Postkarten zeigen 1917 als Jahr vielfältiger revolutionärer Ereignisse und Demonstrationen.

    Die Idee der Postkarte war eigentlich die eines amtlichen Formulars für einen Kurzbrief. Erst in den 1870er Jahren eroberten Bilder die Rückseite dieses Formulars, auf dem vorne ursprünglich nur die Adresse stand.

    In Russland hatte die Regierung das Postmonopol und ließ erst 1898 die St. Jewgenia-Gesellschaft (der Verlag des Roten Kreuzes) für die Herstellung von Postkarten zu. Bis dahin war der russische Postkarten-Markt von Importen aus Westeuropa bestimmt. 1905 erhielt Alexej Suworin, Besitzer einer der größten Verlage, eine russlandweite Lizenz für die Bahnhofskioske, die auch Postkarten verkauften.

    Revolutionäre Ereignisse im Postkartenformat

    Die zeitgenössischen Postkarten zeigen 1917 als Jahr vielfältiger revolutionärer Ereignisse und Demonstrationen. Nach der Februarrevolution entfiel die Zensur, und Postkarten wurden von einer neuen Vielzahl größerer und kleinerer Hersteller und in- und ausländischer Verlage angeboten. Fotografen dokumentierten die Ereignisse und gaben häufig selbst Postkarten heraus. Teilweise erschienen dieselben Fotografien in der Presse und als Postkarten, auch bei unterschiedlichen Herstellern. Erst Anfang 1918 brachten die Bolschewiki den Markt unter ihre Kontrolle.

    Die Februarrevolution erscheint auf den Karten als Volksaufstand mit Menschenmassen in den Straßen Petrograds und abgebrannten Gebäuden in Moskau. Nach der Februarrevolution waren die Opfer und ihre Begräbnisse eines der ersten Motive der politischen Fotografie der neuen Machthaber. Allein anhand der Begräbnispostkarten ließe sich eine Chronologie der Ereignisse erstellen.

    Der Tod und die Toten sind kein Tabu

    Im März dokumentierten Postkarten die Toten und vor allem Prozessionen, welche die Form politischer Kundgebungen annahmen und die Särge zu feierlichen Begräbnissen in Gemeinschaftsgräbern auf dem Marsfeld begleiteten. Im Juli zirkulierten Postkarten mit Begräbnisprozessionen der im Zuge der bolschewistischen Juliaufstandes getöteten Kosaken mit ihren Pferden, und im November solche der (weniger zahlreichen) Opfer der Oktoberrevolution
    Aufnahmen von Begräbnissen waren ein gängiges Motiv auch in der russischen Bildkultur des frühen 20. Jahrhunderts. Es war üblich, den Toten im Sarg mit der um ihn versammelten Familie für das Album zu fotografieren. In der professionellen Begräbnisfotografie wurden vor allem bei Soldatenbegräbnissen alle Stationen und Handlungen der Beisetzung dokumentiert.2 Hier wird die Postkarte zum Nachrichtenmedium. Der Tod und die Toten sind kein Tabu.

    Ikonographie der Massen

    Andere Karten zeigen politische Demonstrationen, etwa für die Rechte der Frauen oder die Unabhängigkeit Estlands. Auf den Bannern stehen als häufigste Losungen: „Es lebe die demokratische Republik!“, „Es lebe die Internationale!“ oder „Es lebe der Sozialismus“.

    Für die dargestellten „Massen“, Arbeiter, Soldaten, Frauen, war es das erste Mal, dass ihnen sichtbar Macht zugeschrieben wurde. Der Umfang der Massen suggerierte eine Art Naturgewalt, die traditionelle Orte der Macht (öffentliche Straßen und Plätze im Zentrum, Regierungsgebäude) einnahm.3

    Der 1. Mai war der erste revolutionäre Feiertag, der durch die Provisorische Regierung legalisiert wurde. Er wurde mit zahlreichen politischen Kundgebungen als Volksfest begangen. Die Regierung versuchte offenbar nicht, die zentralen Prospekte und Plätze der Stadt mit ihren eigenen Anhängern zu besetzen und sich dadurch zu legitimieren. Es ist nicht einmal klar, wer die Umzüge in Petrograd am 1. Mai 1917 organisierte. Menschenmengen mit Bannern, die Aufschriften wie Semlja i Wolja (Land und Freiheit) oder Sozialismus trugen, bewegten sich durch die Stadt und über die zentralen Plätze. Die Massen blieben auf den Postkarten führerlos, keine bekannten Revolutionäre oder Politiker tauchten auf, und die individuellen Züge der Menschen waren schwer auszumachen.

    Diese Postkarten erschienen häufig in nummerierten Serien, sie wurden zu Bildstrecken, bei denen die Bilder durch ihre Anordnung eine Geschichte erzählten. Die genauen Datierungen in den Bildunterschriften etablierten eine Chronologie bedeutender Ereignisse.4 Die Massen lassen sich nur selten bestimmten politischen Strömungen zuordnen.

    Kampf um Deutungshoheit und Ikonographie der Mächtigen

    Die Postkarten als niedrigschwelliges Nachrichtenmedium waren nicht monopolisiert und bieten somit unterschiedliche Perspektiven auf die Ereignisse. Von verschiedenen Seiten herausgegeben eröffnen sie den Kampf um Deutungshoheit.

    Die Postkarten mit bewegten Massen suggerieren die tiefe Verwurzelung des Sowjets in der Bevölkerung, Schwung und Tatkraft. Zugleich wird hier die Aneignung eines alten Ortes der Macht (Parlament) durch die neue Bewegung symbolisch ins Bild gesetzt – der Sowjet tagte in einem Flügel des Taurischen Palais, die Provisorische Regierung im anderen.

    Die Provisorische Regierung stellte den revolutionären Narrativen ihre eigene Deutung der Ereignisse gegenüber. Sie war aber in sich zerstritten und hatte keine konsistente Kultur- und Pressepolitik. 1917 erschienen dennoch mehrere Postkarten mit Porträts der Regierungsmitglieder. Bald konzentrierten sich die Postkartenhersteller auf die charismatische Persönlichkeit Kerenskis. Glaubt man den zeitgenössischen Postkarten, wandelte sich sein öffentliches Image vom verehrten Staatsmann über den volksnahen Kriegsminister in einfacher Soldatenuniform hin zum arroganten, von seiner Macht korrumpierten Politiker, der die Privilegien des Palastlebens genoss.5

    Oktoberrevolution als Leerstelle

    Bemerkenswert ist die Tatsache, dass es zum Staatsstreich im Oktober keine dokumentierende Postkarte gibt. Die Oktoberrevolution bleibt zunächst in der visuellen Kultur eine Leerstelle. Die Bolschewiki inszenierten ihren Staatsstreich als Gründungsmythos, der aber erst anhand der Prozessionen zum ersten Jahrestag der Revolution 1918 sichtbar wird.6

    Von der Eroberung der Macht wurden später pseudo-dokumentarische Bilder hergestellt, die besser waren als die Wirklichkeit, da sie stürmende Massen zeigten wo es keine gegeben hatte. In einem Bildband zum fünften Jahrestag der Oktoberrevolution wurde ein Foto des „Sturms auf das Winterpalais“ veröffentlicht, das offensichtlich retuschiert war. Es handelte sich um die Aufnahme einer Probe für ein Massenspektakel, das 1920 zum Jahrestag der Oktoberrevolution am Originalschauplatz aufgeführt wurde. Aus der Aufnahme wurden die Zuschauer und der Regieturm wegretuschiert, aber der Sowjetstern über dem Portal verrät die nachträgliche Inszenierung.7 Die Unterscheidung zwischen Leben und Theater verwischte im Sowjetregime. Das gilt auch für Sergej Eisensteins Film Oktober. Gedreht zum zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution, wurden die nachgestellten Aufnahmen später als authentisch wahrgenommen und zu Ikonen der Revolution. 

    Postkarte aus der Serie „Tage der Februarrevolution“. Abgebrannte Gebäude des politischen Gefängnisses „Litauer Schloss“ in Petrograd. Viele Postkarten dieser Serie haben auf der Rückseite keinen Aufdruck und sind von Hand beschriftet.
    „Prächtige Bergäbnisse der Revolutionsopfer“. Trauerprozession auf dem Newski-Prospekt in Petrograd. Nach der Februarrevolution waren die Opfer und ihre Begräbnisse eines der ersten Motive der politischen Fotografie der neuen Machthaber. Allein anhand der Begräbnispostkarten ließe sich eine Chronologie der Ereignisse erstellen.
    „Prächtige Begräbnisse der Revolutionsopfer. Gemeinschaftsgrab auf dem Marsfeld“ in Petrograd. Für die Revolutionäre sind die Begräbnisse die Möglichkeit, öffentliche Räume zu besetzen. So bestatten sie ihre Toten nahe den Orten der Macht: in Gemeinschaftsgräbern auf dem Marsfeld in Petrograd oder an der Kremlmauer in Moskau.
    Die Provisorische Regierung am Gemeinschaftsgrab auf dem Marsfeld in Petrograd. Begräbnisse bieten die Gelegenheit, die Opfer für sich und die Ziele der eigenen Bewegung zu reklamieren und zu Märtyrern zu machen.
    Begräbnisprozession der „Kämpfer für die Freiheit“ in Petrograd. Die Überschrift auf dem Gebäude des Gostini Dwor„Ihr seid als Opfer gefallen” weist auf ein Revolutionslied hin.
    Tote sind für die Postkarten kein Tabu.
    (Postkarte aus der Sammlung Familie Gribi, Büren a. A.).
    „Imposante Frauendemonstration vor der Staatsduma“. In Petrograd markiert eine Demonstration zum Internationalen Frauentag den Auftakt zur Februarrevolution. Die Frauen fordern Brot und Frieden, daneben klagen sie aber auch grundlegende Rechte ein, wie das Wahlrecht.
    Revolutionäre Ereignisse erschüttern nicht nur Petrograd, sondern auch Moskau. Zum gewöhnlichen Postkartenmotiv der Serie „Moskau in den Tagen der Revolution“ werden abgebrannte und zerstörte Gebäude sowie die Parade auf dem Roten Platz. Diese Postkarte zeigt die „Ankunft [General] Grusinows mit seinem Stab bei der Parade“.
    Eine Massendemonstration vor dem Hotel Metropol in Moskau am 12.3.1917, während der Februarrevolution. Weitere Karten mit demselben Motiv auf anderen zentralen Plätzen der Stadt zeigen die große Beteiligung an den Aufständen.
    Revolution bedeutet auch Umwälzungen an der Peripherie des Russischen Reiches. Viele nationale Minderheiten gehen ebenso auf die Straße und fordern Unabhängigkeit. Auf der Postkarte ist eine estnische Kundgebung am 26. März 1917 in Petrograd zu sehen. „Es lebe die demokratische Republik und das autonome Estland“ steht auf dem Plakat.
    Demonstrationen mit den Bannern „Es lebe die Republik Russland, es lebe die Internationale!“ finden auch in Kleinstädten und Dörfern statt. Bilder von politischen Demonstrationen in Kleinstädten der Provinz sollen die Verwurzelung der Sowjets belegen und die neuen Machthaber legitimieren. Die Verankerung ihres Herrschaftsanspruchs jenseits der Zentren ist für die Bolschewiki in den ersten Jahren ein zentrales Problem.
    Der 1. Mai ist der erste revolutionäre Feiertag, der durch die Provisorische Regierung legalisiert wurde. Er wird mit zahlreichen politischen Kundgebungen als Volksfest auf den wichtigsten Schauplätzen der revolutionären Ereignisse begangen.
    1. Mai 1917 auf dem Schlossplatz: Auf den Bannern steht „Es lebe die demokratische Republik“ und „Es lebe der Sozialismus“. Die leuchtende Zukunft wird – im Einklang mit der sozialistischen Ikonografie – von einer Frau vor aufgehender Sonne verkörpert.
    Politische Demonstration am 18. Juni 1917 in Petrograd.
    Viele Postkarten haben eine satirische Funktion. Auf dieser Postkarte wird die Monarchie verspottet. Im Luftraum über einer Schar Soldaten schwebt das hineinmontierte Konterfei des letzten Zaren Nikolaus II.. Ein Soldat hält ein ebenfalls nachträglich hineinmontiertes Banner mit der Aufschrift: „Weg mit der Monarchie, es lebe die Revolution!“, während der Zar „zum Wohle der Menschheit auf den Thron verzichtet“. Die Karte wurde von einem vermutlich belgischen Verlag Somville herausgegeben.
    Sitzung der Provisorischen Regierung in Petrograd. Die wohlgeordneten Reihen, die Kleidung und die Porträts an den Wänden bezeugen: Hier tagt eine politische Elite.
    Im selben Gebäude tagt auch der zweite „Flügel“ der Doppelherrschaft – der Petrograder Sowjet der Arbeiter und Bauern-Deputierten. Hier gibt es scheinbar deutlich mehr Volksnähe als in den Reihen der „kapitalistischen Minister”. 
    (Postkarte aus der Sammlung Familie Gribi, Büren a. A.).
    Die Köpfe der Provisorischen Regierung vom Februar 1917 in Petrograd.
    1917 erscheinen dennoch mehrere Postkarten mit Porträts der Regierungsmitglieder. Bald konzentrieren sich die Postkartenhersteller auf die charismatische Persönlichkeit Kerenskis.
    Nach dem Oktoberumsturz nutzen die Bolschewiki die Postkarten als wichtiges Propagandamedium. Hier haben wir es mit einer der ersten solcher Postkarten zu tun. Das Ausscheiden Russlands aus dem Krieg war eines der ersten Dekrete Lenins. Die Postkarte mit den Soldaten, die jubelnd ihre Mützen schwenken dürfte gestellt sein. Die Retusche blendet den Hintergrund aus und malt einem der Soldaten eine leuchtend rote Fahne in die Hand. Die Karte wurde von Hand mit den Losungen „Fort mit dem Krieg“ und „Alle Macht den Sowjets!“ beschriftet. Auf der Adress-Seite sind, als Zeichen der staatlichen Aneignung des Postkarten-Diskurses, das Staatsemblem der RSFSR  sowie ein Emblem der Post abgedruckt. Damit wird der offizielle Status der Karte betont. Das alles weist auf eine höhere Auflagenzahl hin.
    Diese Postkarte zeigt Umzüge am ersten Jahrestag der Oktoberrevolution. Hier ist der Schlossplatz im Bild, der nach dem ermordeten Vorsitzenden der Tscheka in Urizki-Platz umbenannt worden ist. So werden systematisch die zentralen Orte der Macht angeeignet und besetzt, durch Umbenennungen, Dekorationen, sowie auch durch Menschenmassen.
    Aufnahme von Revolutionsführer Wladimir Lenin am Schreibtisch, die Prawda lesend. Die eigentliche Lenin-Ikonografie gewinnt erst während seiner Krankheit und nach seinem Tod an Bedeutung, also ab 1922 bzw. 1924.
    Die Aufnahme von Lenin auf der Rednertribüne aus dem Jahr 1920 hat es aus mehreren Gründen zu einiger Berühmtheit gebracht. Erstens zeigt sie Lenin in einer ikonischen Pose, die Mütze in der Hand, als Redner und aktiven Anführer der revolutionären Massen: Diese erscheinen auf zahlreichen Postkarten des Revolutionsjahres führerlos, hier gelingt nun die visuelle Verbindung der Menschenmenge mit einer visionären Führerpersönlichkeit in idealer Weise. Wegen seiner Ausdrucksstärke wurde das Bild zum Teil der kanonisierten Lenin-Ikonografie. Weil auch die Fotografie häufig reproduziert wurde, fanden mit der Zeit einige Retuschen statt, mit deren Hilfe etwa der in Ungnade gefallene Trotzki von der Treppe entfernt wurde.
    (Postkarte aus der Sammlung Familie Gribi, Büren a. A.).
    Feiern des fünften Jahrestages der Oktoberrevolution 1922 auf dem Roten Platz in Moskau. Für die Parade werden „Dreadnought“-Schiffe der Marine nachgebaut, um die sowjetische Flotte zu repräsentieren. Der Aufdruck auf der Adress-Seite offenbart den wohltätigen Zweck der Postkarte: Sie dient dem Allrussischen Hilfs-Komitee für Kranke und Verletze der Roten Armee und der Kriegsinvaliden. Damit läuft der Zweck der Karte dem heroischen Narrativ auf der Vorderseite entgegen: Es tut sich ein Riss auf zwischen den heroischen Soldaten auf ihren Artillerieschiff-Attrappen während der Parade und der ernüchternden Realität des Kriegselends.

    Text: Monica Rüthers
    Veröffentlicht am 01.11.2017

    Die Postkarten wurden von den Sammlern Michail Woronin (St. Petersburg) und Familie Gribi (Büren a. A.) dankenswerter Weise zur Verfügung gestellt.​


    Zum Weiterlesen:
    Rowley, Alison  (2013): Open Letters: Russian Popular Culture and the Picture Postcard 1880-1922, Toronto
    Hoerner, Ludwig  (1987): Zur Geschichte der fotografischen Ansichtspostkarte, in: Fotogeschichte, Heft 26, S. 29-44
    Tropper, Eva (2015):  Kontakte und Transfers: der Ort der gedruckten Fotografie in einer Geschichte der Postkarte, in: Ziehe, Irene/Hägele,Ulrich (Hrsg.): Gedruckte Fotografie: Abbildung, Objekt und mediales Format, Münster, S. 216-234

    1.bridgeman blog: The Russian Revolutions of 1917
    2.Bojcova, Ol’ga (2012): Ne smotri ich, oni plochie: fotografii pochoron v russkoj kul’ture, in: Antropologičeskij Forum № 12/2012, S. 327-330 und S. 442-463, hier S. 451
    3.Rowley, Alison (2013): Open Letters: Russian Popular Culture and the Picture Postcard 1880–1922, Toronto, S. 214
    4.Rowley, Open letters, S. 214
    5.Rowley, Open letters. S. 218-219
    6.Es existieren allerdings Bildpostkarten von Begräbnissen der Opfer in einem Gemeinschaftsgrab im Park des Forstinstitutes
    7.Neue Zürcher Zeitung: Das Verschwinden des Theaters: Wie sich eine Retusche am Bild der Oktoberrevolution als politische Allegorie lesen lässt

    Dieses Postkarten-Special wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Sowjetische Eiscreme

    Sowjetische Eiscreme

    Glaubt man der russischen Werbung, vermögen Russen große Kälte und außerordentliche Hitze zu ertragen. Beweise dafür sind Polarexpeditionen, das winterliche Baden in Eislöchern und die Banja.1 Neuerdings häufen sich ernsthafte Klagen, dass der sowjetische Winter besser gewesen sei als die Winter heutzutage: mehr Schnee, mehr Platz, kälter, feierlicher, insgesamt „winterlicher“ und für Kinder viel interessanter.2 Dieses privilegierte Verhältnis zur Kälte dürfte ein Grund dafür sein, dass Eiscreme als russische Nationalspeise gilt. Sie gilt sogar als der „Heilige Gral der Sowjetnostalgie“,3 als das russische Pendant zur Madeleine, deren Duft Marcel Proust schlagartig in seine Kindheit zurückversetzte.

     
    Foto © Kommersant Archiv
    Foto © Kommersant Archiv

    Wohl kaum irgendwo sonst nimmt Eiscreme einen vergleichbar prominenten Ort im kollektiven Gedächtnis ein wie sowjetisches Eis in Russland. Im Eis materialisiert sich die Erinnerung an geteilte Erlebnisse und an eine gemeinsame Lieblingsspeise. Nicht Großmacht-Nostalgie kommt hier zum Vorschein, sondern auf der sinnlichen Ebene des Alltags ein heimeliges Gefühl der Zusammengehörigkeit – trotz der Größe des Landes.

    Sowjetisches Eis war legendär

    „In die UdSSR musste man aus drei Gründen reisen: Um das Ballett zu sehen, in den Zirkus zu gehen und um das dortige Eis zu probieren“,  schrieb Diana Kaminskaja im Jahr 2009 in der ukrainischen Online-Zeitung Nowaja unter dem Titel Die leuchtende Vergangenheit: Der Leckerbissen in der Hand oder warum das sowjetische Speiseeis als das beste der Welt galt.4 Ihr Artikel wurde anschließend von zahlreichen Nostalgie-Seiten übernommen, reich bebildert, auf Russland bezogen und erweitert.5  Die Nostalgieseiten Wir aus der Sowjetunion und Leben in der UdSSR führen etwa aus, vor der Perestroika seien 2000 Tonnen des sowjetischen Speiseeises jährlich exportiert worden und im Ausland „ausschließlich in teuren Restaurants zu ganz unsowjetischen Preisen“ erhältlich gewesen.6 Die Beiträge zeigen Bilder vermummter Männer mit Pelzmützen, die im Schneegestöber Eis im Waffelbecher genießen und betonen eine nationale Besonderheit, nämlich dass Sowjetbürger zum Erstaunen ausländischer Beobachter Eis auch im Winter bei Minusgraden auf der Straße aßen.7 „Der Niedergang des sowjetischen Eises kam mit der Perestroika. Von 1990 an wurde das Land von Importeis voller chemischer Streckmittel geflutet“ heißt es bei Kaminskaja und ihren Epigonen im Netz.

    Vom Kapitalismus enttäuscht

    Die anfängliche Begeisterung für die lang ersehnten Produkte aus dem Westen wich angesichts der schlechten Qualität von Billigstwaren sehr bald der Ernüchterung. Die Rubelkrisen von 1992 und 1998 förderten ebenfalls die Rückbesinnung auf russische Güter. Angesichts des Raubtierkapitalismus erschien die Gesellschaft vor der Perestroika als verlorenes Paradies, das trotz einiger Mängel doch grundsätzlich von Solidarität und der Gleichheit aller geprägt war. Beliebte sowjetische Lebensmittel wie der Schmelzkäse Drushba (dt. Freundschaft), die Schokolade Alenka und Doktorskaja-Wurst erlebten eine Renaissance, weil sie eng mit den Biographien ganzer Generationen verwoben und fester Bestandteil sowjetischer Kochrezepte waren. Sie verkörperten in unsicheren Zeiten die Vision überschaubarer, gerechter „sowjetischer“ Verhältnisse.

    Paradoxerweise waren viele dieser beliebten sowjetischen Nostalgiespeisen zu Sowjetzeiten schwer erhältliche Güter und somit Teil einer Kultur der Ungleichheit. Auch das Eis blieb für viele eine Verheißung: Da Eis auf Kühlanlagen angewiesen ist und diese in der Sowjetunion rar waren, war es außerhalb größerer Städte schwer zu bekommen. Die Delikatesse Lakomka (dt. Leckermaul), eine Rolle gefrorener Schokoladencreme mit Vanilleeisfüllung, wurde sogar ausschließlich in Moskau verkauft. Kein Wunder, dass sich um solche raren Belohnungen Legenden rankten!

    Eine Errungenschaft des Stalinismus

    Anastas Mikojan, Minister für Lebensmittelindustrie und Herausgeber des 1939 erschienenen Buches der schmackhaften und gesunden Speisen, sorgte dafür, dass Eiscreme ab 1938 in die Massenproduktion kam. Es war die Zeit des Großen Terrors. Sowjetisches Eis wurde, so heißt es, ganz ohne Konservierungsmittel aus reiner Milch hergestellt und hatte daher einen einzigartigen, unvergesslichen Geschmack. Die von der Prüfstelle GOST8 garantierten Qualitätsstandards sorgten dafür, dass die kalte Delikatesse überall im riesigen Land gleich schmeckte.

    Angesichts entbehrungsreicher Industrialisierungskampagnen und durch die Zwangskollektivierung verursachter Hungersnöte jagte die sowjetische Führung „Saboteure“ und warb für die lichte Zukunft. Einige kleine, sofort erhältliche Luxusgüter wie sowjetischer Champagner, Schokoladenkonfekt und das Speiseeis schafften den Sprung vom Plakat in die Hand. Endgültig gelang dies durch die Konsumoffensive Chruschtschows in den späten 1950er Jahren.

    Einen wichtigen Beitrag dazu leistete eine sowjetische Besonderheit, nämlich die Verwendung des Trockeneises, das während des Großen Vaterländischen Kriegs zur Unterstützung der störanfälligen Kühlanlagen genutzt wurde. Ende der 1950er Jahre entstand eine Flotte isolierter, Trockeneis-gekühlter Eiswägelchen, die von älteren Frauen in hygienischen weißen Kitteln und Kopftüchern durch die Straßen geschoben wurden und in den 1960er Jahren zum Straßenbild größerer Städte gehörten.9

    In einem Land, in dem die regelmäßige Versorgung mit frischen Milchprodukten unsicher blieb und sogar Zucker nur sporadisch in die Läden kam, bedeutete das frische Milchspeiseeis aus dem Kühlwägelchen eine günstige und regelmäßig verfügbare Delikatesse. Eiscreme wurde Teil der glücklichen sowjetischen Kindheit.

    Retro-Linien als Stützen identitärer Politik

    In den Erinnerungen daran vereint das Eis Alte und Junge, Große und Kleine. Mittlerweile hat jeder größere Eiscremehersteller mindestens eine Retro-Linie im Programm, um am Trend mitzuverdienen. Nicht nur die Rezeptur, auch die Verpackungen sind an Stil und Motive aus der Sowjetzeit angelehnt. Die raue Haptik des Papiers, vertraute Formen und Symbole wie Eisbären wecken nostalgische Erinnerungen. Rote und blaue Rauten auf weißem Grund zitieren sowjetische Milchpackungen. Einfache Kartonschachteln knüpfen an Familienpackungen der 1960er Jahre an. Die Retro-Linien heißen wie früher, Pure Linie, SSSR oder wie zu Sowjetzeiten Plombir, Eskimo, Moroshenoje. Der Trend dauert an.

    Die Qualität der „volkseigenen“, reinen Lebensmittel hat durchaus politisches Potential: Beliebte sowjetische Marken und Produktgruppen wie das Eis gehören zum nationalen kulturellen Erbe und haben einen deutlich identitären Charakter. Die Werbung setzt gerne auf nationales Pathos. Eine große Rolle dabei spielen das alte Misstrauen gegen die westlichen Waren, die von Anfang an als von Emulgatoren und Stabilisatoren verseucht galten, und die Überzeugung, dass die einheimischen Lebensmittel gesünder seien.


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  • Chruschtschowki – die Geburt der „Platte“

    Chruschtschowki – die Geburt der „Platte“

    Die eigene Neubauwohnung ist Ziel aller Sehnsüchte eines jungen Paares, das der Baufälligkeit des alten Moskau entfliehen will. Den Anspruch auf eine Wohnung muss das Paar gegen die Intrigen eines korrupten Funktionärs durchsetzen. 

    Zusammen mit anderen Neumietern formen sie spontan ein Kollektiv und bauen einen „magischen Garten“. Darin gibt es Blumen, die nur für die Augen der „Guten“ blühen, einen Springbrunnen, der pompöse Reden sofort übertönt und eine magische Bank, die alle, die auf ihr sitzen, zwingt, die Wahrheit zu sagen. Dank der Zauberkraft dieses Gartens überwinden die Bewohner schließlich sämtliche Schwierigkeiten.

    Die Musik für die Operette Moskwa, Tscherjomuschki stammt von Dimitri Schostakowitsch. Im Januar 1959 macht er damit Propaganda im Dreivierteltakt für das Experimentalviertel Nr. 9. Es war das erste Viertel in „industrialisierter Massenbauweise“, entstanden zwischen 1956 und 1958 im Südwesten Moskaus.

    Mit seiner Wohnungsbaukampagne wollte Chruschtschow die Bevölkerung für die „Erneuerung des Sozialismus nach Stalin“ mobilisieren – und setzte eine Massenbewegung in Gang: Zwischen 1955 und 1970 zogen 132 Millionen Sowjetbürger in eine neue Wohnung. Anders als in Schostakowitschs Operette zeigten viele Wohnviertel planerische Hast. Die Austauschbarkeit der Wohnviertel wurde zur Metapher.

    Das Viertel Nowyje Tscherjomuschki Nr. 9 wurde als zukunftsweisend bejubelt / Fotos © Arsengeodakov/Wikipedia unter CC BY-SA 4.0
    Das Viertel Nowyje Tscherjomuschki Nr. 9 wurde als zukunftsweisend bejubelt / Fotos © Arsengeodakov/Wikipedia unter CC BY-SA 4.0

    Die Chruschtschowki und Pjatietashki ließen einst Träume wahr werden

    Die Wohnungsnot war ein sowjetischer Dauerbrenner, befeuert durch Industrialisierung, Landflucht und Kriege. Die meisten Sowjetbürger lebten zusammengedrängt in Baracken oder in vielfach unterteilten Gemeinschaftswohnungen aus dem letzten Jahrhundert, wo sie sich Küche und Bad mit dem ganzen Stockwerk teilen mussten, den sogenannten Kommunalkas.

    Während westliche Länder nach 1945 auf Suburbanisierung und die private Mobilität im Auto setzten, vertrat die Sowjetunion eine urbane Lebensweise in Wohnkomplexen. Bereits in der späten Stalinzeit wurde im Rahmen einer massiven Wohnungsbaukampagne mit vorfabrizierten Elementen experimentiert.

    Doch der Bau der repräsentativen Wohnblöcke entlang von Magistralen hinkte dem Bedarf immer hinterher. Die Wohnungen darin hatten konservative Grundrisse, und in jedem Zimmer lebte eine ganze Familie – auch Neubauwohnungen waren Gemeinschaftswohnungen.

    Als Stalin 1953 starb, hebelte Chruschtschow mit dem Versprechen einer kleinen Wohnung für jede Familie seine politischen Rivalen aus. Man kann sich leicht ausmalen, wie morgens in der Schlange vor dem Etagenklo der Gedanke an eine eigene kleine Wohnung im Grünen die Phantasie der Moskauer beflügelte.

    Klein, aber mein: Das Glück der eigenen Wohnung

    Auf dem Kongress der Baufachleute 1954 verordnete Chruschtschow eine radikale Umkehr, weg von neoklassizistischen Prachtbauten mit ihrer Ornamentik und den hohen Räumen hin zu sparsamen Dimensionen, neuen Materialien und Großtafeln, die auf der Baustelle nur noch montiert werden mussten. Das war die Geburtsstunde der Platte. Zwischen 1955 und 1970 zogen 132 Millionen Sowjetbürger in eine neue Wohnung. In den Bildern der Zeit hing der sowjetische Himmel voller Betonplatten, die an Baukränen baumelten. 

    Doch da die Entwicklung der neuen industriell produzierten Bauteile einige Jahre dauerte, wurden die allerersten Wohnviertel häufig in gelben Klinkern ausgeführt. Diese Häuser waren nur vier oder fünf Stockwerke hoch, weil auch die Produktion von Aufzügen noch in den Anfängen steckte.

    Tauwetter im Mikrorayon

    Stadträumlich löste die offene Bauweise die geschlossenen Superblocks der Stalinzeit mit ihren repräsentativen Schaufassaden zur Straße hin, bogenförmigen Hofeingängen und sparsamen Rückseiten zum Hof hin ab. Die Demokratisierung des Bodens spiegelte die gesellschaftlichen Verhältnisse und löste diese deutliche Hierarchie von hinten und vorne, innen und außen auf. 

    Ideologisch gesehen brachte die Initiative ein Dilemma: Die eigene Wohnung für jede Familie kam zwar einem breiten Bedürfnis entgegen, aber diese Privatisierung des Alltagslebens war eigentlich unsozialistisch.

    Die Lösung war der Mikrorayon: Das Wohnviertel mit seinen kollektiven Angeboten sollte zum Lebensmittelpunkt werden, nicht die Familienwohnung. Die als Errungenschaften gepriesenen Kantinen, Wäschereien und Tagesschulen mit ihren sozialen Dienstleistungen waren zugleich Instrumente horizontaler Kontrolle, beispielsweise durch Lehrerinnen oder Sozialarbeiterinnen.

    Analysiert man die Inneneinrichtungen der Neubauwohnungen auf späteren Fotografien, wird deutlich, dass in den gleichen Grundrissen und mit den begrenzten Möbelsortimenten trotz aller Versuche der Sozialdisziplinierung völlig unterschiedliche Lebensstile gelebt werden konnten. Die Küchentische in den Neubauvierteln wurden zu legendären Orten der Meinungsbildung, denn sie waren oft Treffpunkte der inoffiziellen Freundeskreise, die sich in der Tauwetterzeit herausbildeten. Hier konnten alle ihre privaten, wissenschaftlichen oder künstlerischen Projekte relativ ungestört verfolgen.

    Das Experimentalviertel Nowyje Tscherjomuschki No. 9

    Das erste Viertel in „industrialisierter Massenbauweise“ entstand zwischen 1956 und 1958 im Südwesten Moskaus für rund 3000 Menschen.1 Geplant wurde es von einem Team um Natan Osterman. Ein dutzend vierstöckige Wohnblöcke und drei neungeschossige Punkthäuser umschließen drei großzügig begrünte Freiflächen mit Wasserbecken und Spielplätzen, ergänzt wird das Viertel von Schule, Krippe, Kindergarten, Ladengeschäften, einer Speisehalle und einem Kino. Die Häuser wurden auf der Suche nach neuen Technologien in unterschiedlichen Materialien ausgeführt. Das Viertel wurde in den sowjetischen Medien als zukunftsweisend bejubelt.

     Schostakowitsch komponiert für den Mikrorayon

    Die schmissige Operette Moskwa, Tscherjomuschki, komponiert von keinem Geringeren als Dimitri Schostakowitsch, entstand im Januar 1959 . Das Stück deklariert einerseits Tscherjomuschki selbst zum „magischen Garten“, in dem der Sozialismus bereits Wirklichkeit geworden ist – und andererseits das Ganze wiederum als Märchen, als Traum. 

    Die Filmfassung von 1962 (Regie: Herbert Rappaport) lief über Jahre hinweg jeweils am Neujahrsabend im sowjetischen Fernsehen und propagierte mit den Mitteln der Populärkultur die Institution des Mikrorayons als sozialistische Lebensform. 

    Ankunft in der Einöde

    Die in der Folge realisierten Wohngebiete im neuen Stil waren dagegen „Alltag“, ihnen fehlten die planerische Sorgfalt und der Zauber von Nowyje Tscherjomuschki. Meistens waren die Wohnungen beim Einzug unfertig und mussten als erstes renoviert werden. Es haperte mit den Anschlüssen an die öffentlichen Verkehrsmittel und dem Bau der versprochenen Läden, Kindergärten und Kantinen. 

    Die weiteren Wohnsiedlungen verraten zunehmende planerische Hast. In Chimki-Chowrino, Nowyje Kusminki, Fili-Masilowo, Choroschewo-Mnewniki oder Woltschonka-ZIL nahm die Monotonie ihren Anfang, die zum Kennzeichen sowjetischer Städte in den 1970er und 1980er Jahren wurde.

    Wie zuvor die Kommunalka in der Literatur als Abbild der sowjetischen Gesellschaft im Kleinen verhandelt worden war, geriet die Auswechselbarkeit der Wohnviertel und Städte zur Metapher. Eindrücklich belegt dies der Film Ironija Sudby (dt. Ironie des Schicksals) von Eldar Rjasanow aus dem Jahr 1975. Im Vorspann parodiert eine Zeichentricksequenz [s. Video unten – dek] die Abkehr vom Ornament und die Gleichschaltung aller Bauten zu „Schachteln“. 

    Foto © Lesless/Wikipedia unter CC BY-SA 3.0
    Foto © Lesless/Wikipedia unter CC BY-SA 3.0

    Die Bedeutung des Begriffes Nowyje Tscherjomuschki wandelte sich denn auch im Verlauf nur eines Jahrzehnts: Tscherjomuschki wurde bald als Bezeichnung für alle Plattenbauten verwendet, die Häuser erhielten Übernamen wie Korobki (dt. Schachteln), Chruschtschoby (eine Hybridform zwischen Chruschtschow und slum – truschtschoba), oder als Bezeichnung für die erste Generation der Fünfgeschosser – Pjatietashki – ein Begriff, der in den 1990er Jahren bereits sozialtopografische Implikationen barg: So wohnten in diesen Häusern, für die ursprünglich eine Lebensdauer von 20 Jahren vorgesehen war, angeblich die Schwarzen, das heißt ethnische Minderheiten aus südlichen Republiken.

    Zwischen Denkmalschutz und Abrissbirne

    Die modulare Ästhetik des Rasters vermag in jüngster Zeit vermehrt KünstlerInnen, ArchitektInnen und ArchitekturstudentInnen zu begeistern: Die Platte ist hip, und wer sie zu schätzen weiß, verrät wahre Kennerschaft.2 Aber der Funke scheint nicht auf breitere Öffentlichkeiten überzuspringen: Die Bauten sind häufig in schlechtem Zustand, wirken schmuddelig und sind dabei nicht „alt“ genug, um vom Denkmalschutz wahrgenommen zu werden. Sie genügen auch nicht dem Kriterium der Einzigartigkeit und Originalität.

    Das Experimentalviertel Nowyje Tscherjomuschki No. 9 ist einzigartig durch seine Pionier-Funktion, aber dennoch seit Jahren bedroht, da es zentrumsnah gelegen ist und der wertvolle Boden Begehrlichkeiten weckt.

    Plattenbauviertel späterer Bauart sind in vieler Hinsicht „typischer“ für den spätsozialistischen Wohnungsbau, gerade weil sie weder originell noch einzigartig sind. 

    Aufsehen erregte der Antrag des polnischen Architekten Kuba Snopek, den Mikrorayon Belajewo im Südwesten Moskaus aus den 1960er bis 1980er Jahren zum UNESCO-Welterbe zu erklären.3 Snopek griff auf immaterielle Qualitäten zurück und argumentierte, Belajewo sei ein Denkmal des Moskauer Konzeptualismus, weil hier zahlreiche Künstler lebten und 1974 auf einer Grünfläche die berühmte Bulldozer-Ausstellung stattgefunden hatte: Die Bilder der Nonkonformisten wurden von Bulldozern zermalmt.

    Dieser Kunstgriff weist auf die treibenden Energien des Denkmalschutzes hin: Immaterielle Qualitäten sind eigentlich immer ausschlaggebend. Bauten, Orte und Räume sind mit Bedeutungen aufgeladen, und die bestimmen letztlich den Umgang mit der materiellen Erscheinungsform.



    Literatur:

     

    Ruble, Blair A. (1993): From khrushcheby to korobki, in: William Craft Brumfield / Blair A. Ruble (Hrsg.): Russian Housing in the Modern Age: Design and Social History, Cambridge / Mass. S. 232-270
    Harris, Steven E. (2013): Communism on Tomorrow Street: Mass Housing and Everyday Life after Stalin, Washington DC
    Meuser, Philipp (2015): Die Ästhetik der Platte: Wohnungsbau in der Sowjetunion zwischen Stalin und Glasnost, Berlin
    Rüthers, Monica (2007): Moskau bauen von Lenin bis Chruščev: Öffentliche Räume zwischen Utopie, Terror und Alltag, Wien / Köln / Weimar
    Snopek, Kuba (2015): Belyayevo Forever: a strategy for preserving a generic Soviet mass-housing estate, based on its intangible value, Berlin
    arte-Dokumentation bei dekoder-Medienpartner Featvre

    1. In Architektura i stroitel’stvo Moskvy 1957, Nr. 12, S. 3-10, erschien ein ausführlicher Beitrag über das soeben fertiggestellte Viertel Nr. 9 mit einer Fotoserie des prominenten Stadtfotografen Naum Granovskij. ↩︎
    2. vk.com: Sovmod ↩︎
    3. Archdaily.com: Belyayevo Forever: How Mid-Century Soviet Microrayons Question Our Notions of Preservation und garagemca.org: Belyaevo Quest ↩︎

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  • Lenin-Mausoleum

    Lenin-Mausoleum

    Es war für jeden Sowjetbürger geradezu eine Pflicht, einmal im Leben eine Pilgerfahrt nach Moskau zu unternehmen. Dort erwartete ihn ein fest etablierter Kanon an Sehenswürdigkeiten: Der Rote Platz, die gut gefüllten Schaufenster der Geschäfte, die schönste Metro der Welt, das märchenhafte Ausstellungsgelände der WDNCh und das zentrale Heiligtum: Lenin in seinem gläsernen Sarg. Im Herzen Russlands, dort, wo sich das alte Zentrum der orthodoxen Kirche und das neue Zentrum der weltlichen Macht befinden, steht das Lenin-Mausoleum als „Objekt zwischen Tresor und ägyptischer Pyramide, zwischen Kaaba und Tribüne oder Tempel und Sarg“.1 Davor bildete sich Tag für Tag die berühmteste Schlange des Sowjetreichs. Auch wenn sich heute viele in Russland für ein Begräbnis des Revolutionsführers aussprechen, stellen sich die Menschen immer noch an, um ihn zu sehen.

    Zu Beginn gab es ein Holzmausoleum, hier im Jahr 1925. / Foto © Bundesarchiv unter CC-BY-SA 3.0
    Zu Beginn gab es ein Holzmausoleum, hier im Jahr 1925. / Foto © Bundesarchiv unter CC-BY-SA 3.0

    Seit 1921 war Wladimir Iljitsch Lenin (eigentlich Uljanow, 1870–1924) schwer krank und seit 1923 nicht mehr arbeitsfähig. Er lebte abgeschirmt von der Öffentlichkeit und kontrolliert durch die Parteispitze in Gorki unweit von Moskau. Bereits zu Lebzeiten setzte der Kult um Lenin ein, und es wurde ihm jenes Charisma zugeschrieben, das über den Tod hinaus wirken sollte.2

    So wurde er zu einem Monument stilisiert, durch Plakatkampagnen mit seinem Bild als Führungsfigur, die Herausgabe seiner gesammelten Werke sowie durch ein 1923 gegründetes Lenin-Institut mit angegliedertem Museum, für das bereits vor seinem Ableben Reliquien gesammelt wurden. Das fiel auf die Zeit der politischen Wende, in deren Zuge Stalin zur Macht gekommen war. Die Entstehung des Lenin-Kults wurde von ihm als Strategie benutzt: So wurde die Zeit angehalten, Wandel ausgeblendet und Identität geschaffen. Daher, so die These des Historikers Benno Ennker, blieb das Bild des charismatischen Führers unberührt vom tatsächlichen Niedergang seiner Macht, der bedingt war durch die lange Krankheit und die Machtkämpfe innerhalb der Parteiführung.3

    Abschied von Iljitsch

    Nach Lenins Tod am 22. Januar 1924 wurde eine Beisetzungs-Kommission unter der Leitung von Felix Dsershinski eingerichtet, die die Staatstrauer organisieren sollte. Ihre wichtigste Aufgabe war die massenhafte Mobilisierung der Bevölkerung zum „Abschied von Iljitsch“.4 Tatsächlich kamen eine Million Menschen, und das Defilee an Lenins Sarg beeindruckte und begeisterte die Parteiführung. Dieses Erlebnis sollte, gegen den Widerstand der Witwe und einiger Parteifunktionäre, durch die Errichtung eines Mausoleums verstetigt werden.

    Das provisorische hölzerne Mausoleum wurde vom Architekten Alexander Schtschusew auf dem Roten Platz in Eile aufgebaut, in dem der ebenso provisorisch einbalsamierte Leichnam am 27. Januar 1924 feierlich beigesetzt wurde. Mitte März entschied sich das Politbüro, den Körper langfristig zu konservieren und auszustellen. In der Zeitungsdebatte wurde der Anspruch formuliert, das Mausoleum solle in seiner Bedeutung für die Menschheit Mekka und Jerusalem überflügeln und für die Ewigkeit ausgerichtet sein.5

    Im selben Jahr projektierte Schtschusew einen neuen Bau aus Eichenholz, der bereits die Grundformen des späteren steinernen Mausoleums und eine integrierte Tribüne auf dem Dach aufwies.6 Das definitive Mausoleum, das am 12. Oktober 1930 eingeweiht wurde, behielt die Grundform bei, vergrößerte jedoch das Volumen auf das Vierfache. Der Bau besteht aus einem mit Ziegelsteinen ausgefachten Betonskelett, das mit Steinen aus allen Landesteilen verkleidet ist: Granit, Prophyr, Quarzit, Gabronorit, Marmor, Labrador und Labradorit. Über dem Eingang liegt ein 60 Tonnen schwerer Block aus Labrador, in den mit rotem Porphyr der Name Lenin eingefügt ist. Der Sarkophag im Innern ruht auf einem zweiten Monolith aus Labrador.7 1946 wurde auf dem Mausoleum die Tribüne eingerichtet, von der aus die Partei- und Staatsspitzen fortan die Paraden abnahmen, außerdem die seitlichen Tribünen. Unsichtbare Veränderungen waren eine in den 1960er Jahren eingebaute Toilettenanlage für die Politbüro-Mitglieder und eine Rolltreppe in den 1970ern für den alternden Breshnew.8

    Der Lenin-Kult

    Das auf Ewigkeit angelegte Mausoleum wurde sofort zum Mittelpunkt des Lenin-Kultes, sekundiert von neuen Formen der Verewigung und Verehrung. Ein ganzer Kosmos von Ritualen entstand: Lenin-Abende, -Gedenktage, -Abzeichen, -Legenden und Lenin-Ecken, die in den Wohnungen die Stelle der Ikonen-Ecken einnahmen. Lenin diente als Ursprung einer politischen Tradition. Die Reliquie im Schrein scheint auf den ersten Blick eine gute Illustration der Theorie von der „politischen Religion“9 zu sein.

    Die Bemühungen der Sowjetmacht um Modernisierung und wissenschaftlichen Fortschritt hatten immer auch magische Züge. Die von Lenin auf den Weg gebrachte Kampagne zur Elektrifizierung des ganzen Landes wurde zugleich als Aufbruch in die Moderne und als metaphysische Erleuchtung inszeniert. Biologen und Physiologen arbeiteten daran, den Menschen zu verbessern, das Leben zu verlängern und Tote wiedererwecken zu können. So wurde auch von manchen Zeitgenossen die Konservierung Lenins und seine Ruhe im gläsernen Sarg als Vorbote seiner Auferstehung verstanden.10

    Konservierung vs. Kultivierung

    Lenins unsterblicher Körper repräsentierte den Leninismus als ewige Wahrheit und damit die Legitimation der Herrschaft der Kommunistischen Partei. Was der „Leninismus“ war, wurde allerdings in jeder sowjetischen Periode neu definiert. Der Antropologe Alexei Yurchak geht im Zusammenhang mit dieser Elastizität auf die Beschaffenheit von Lenins einbalsamiertem Körper ein. Dieser sei ein Work in Progress, da die Leiche nicht konserviert, sondern kultiviert wird. Es handelt sich zwar um die Leiche, aber im Bemühen um ihre „Kultivierung“  wurden immer wieder Teile ausgetauscht und rekonstruiert, so dass es sich um ein hybrides Zwischending zwischen biologischer Leiche und Skulptur handelt, bestehend aus Biomasse und Kunststoffen. Ein zentrales Ergebnis des Prozesses ist die erstaunliche Beweglichkeit der Leiche. Yurchak argumentiert, dass zwei Körper im Sarg liegen: der bewegliche, durch den Kultivierungsprozess laufend veränderte Körper, dessen Flexibilität für die Partei sichtbar war, während für die Massen die unbewegliche Leiche, der ewige Lenin, im Sarg lag.11

    Die Hierarchie der Ruhestätten

    Betrachtet man die „Metropole als Nekropole“12, so war der Rote Platz ein Friedhof, auf dem man weder rauchen noch sich hinsetzen durfte. Im Mausoleum selbst musste man den Hut abnehmen, durfte die Hände nicht in die Taschen stecken, nicht sprechen, fotografieren oder stehen bleiben. Der Eingang des Mausoleums wurde von zwei Wachen flankiert, die alle drei Stunden abgelöst wurden. In der Hierarchie der Moskauer Totenstätten folgen auf das Mausoleum die Grabstätten an der Kreml-Mauer. Im Schatten des Lenin-Mausoleums stehen hier die Büsten der wichtigsten Führer der kommunistischen Partei, später kamen die Angehörigen der Parteispitze hinzu: von Stalin (1878–1953)13über Leonid Breshnew (1906–1982) bis Konstantin Tschernenko (1911–1985). Weiter an der Kremlmauer folgt eine Wand mit Urnengräbern, wo verdiente Heldinnen und Helden der Sowjetunion bestattet sind, darunter Lenins Frau Nadeshda Krupskaja (1869–1939), der Schriftsteller Maxim Gorki (1868-1936) und der Kosmonaut Juri Gagarin (1934–1968).

    Der Auflösung der Sowjetunion folgte auch die Schrumpfung des Lenin-Kultes. Viele Personen des öffentlichen Lebens und Politiker sprachen sich dafür aus, Lenin nun zu begraben, darunter Michail Gorbatschow, der Patriarch Alexi II, aber auch der amtierende Kulturminister Wladimir Medinski. Dagegen treten immer wieder die Vertreter der Kommunistischen Partei (KPRF) auf, vor allem Parteichef Gennadi Sjuganow, der ein mögliches Begräbnis als Angriff auf die „Heiligtümer“14 betrachtet. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts WZIOM spricht sich eine Mehrheit der Bevölkerung zwar dafür aus, man solle damit aber abwarten, solange die ältere Generation noch am Leben ist.15


    1. Huber W. (2007): Moskau – Metropole im Wandel. Ein architektonischer Stadtführer, Köln etc., S. 51 ↩︎
    2. Ennker B. (2011): Das lange Sterben des V. I. Lenin. Politik und Kult im Angesicht des Todes, in: Großbölting T., Schmidt R. (Hrsg.): Der Tod des Diktators. Ereignis und Erinnerung im 20. Jahrhundert, Göttingen, S. 44 ↩︎
    3. ebd. S. 46 ↩︎
    4. ebd. S. 48 ↩︎
    5. ebd. S. 50 ↩︎
    6. Huber, S. 50 ↩︎
    7. ebd. S. 51 ↩︎
    8. ebd. ↩︎
    9. Voegelin E. (1939): Politische Religionen, Stockholm. Kritiker des Konzeptes bevorzugen das Analysevokabular, das aus Max Webers Konzept der charismatischen Herrschaft hervorgegangen ist. ↩︎
    10. Hagemeister M., Richers J. (2007): Utopien der Revolution. Von der Erschaffung des Neuen Menschen zur Eroberung des Weltraums, in: Haumann H. (Hrsg.): Die Russische Revolution, Köln, S. 133 ↩︎
    11. Yurchak A. (2015): Bodies of Lenin. The hidden science of communist sovereignty, in: Representations, Vol. 129 No. 1, Winter 2015, S. 128, 136 ↩︎
    12. Richers J. (2003): Die Metropole als Nekropole. Totenkult zwischen Brauchtum und Politbür, in: Rüthers M. Scheide C. (Hrsg.): Moskau. Menschen – Mythen – Orte, Köln etc., S. 102-111 ↩︎
    13. Nach dem Tod Stalins 1953 wurde dieser neben Lenin im Mausoleum beigesetzt. Im Jahr 1961, auf dem zweiten Höhepunkt der [gnose-983]Entstalinisierung[/gnose], ließ ihn Chruschtschow in einer Nacht- und Nebel-Aktion in der Reihe der Ehrengräber an der Kremlmauer beisetzen. ↩︎
    14. Aif.ru: Nevynosimij Lenin ↩︎
    15. Wciom.ru: Lenin žyl, Lenin živ, Lenin..? ↩︎

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  • Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft der UdSSR (WDNCh)

    Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft der UdSSR (WDNCh)

    Die WDNCh (Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft der UdSSR, Moskau) war ein Abbild der idealisierten Sowjetunion: In diesem Miniatur-Wunderland gruppierten sich kunstvoll angelegte Pavillons der einzelnen Teilrepubliken mit deren exotischen Erzeugnissen und regionaltypischem Kunsthandwerk einträchtig hinter einem zentralen Palast. Den Besuchern wurde so ein utopisches Modell des idealen Staates präsentiert, wie ihn sich viele erträumten. Die zahlreichen Umbauten der Ausstellung spiegeln die verschiedenen Veränderungen in der Sowjetunion wider. Lange nach dem Zerfall des Staates wurde das Ausstellungsgelände 2014 unter Denkmalschutz gestellt und die Erinnerung an goldene – wenn auch größtenteils imaginierte – Zeiten damit offiziell konserviert.

    Die 1939 eröffnete Allunions-Landwirtschaftsausstellung (1959 umbenannt in WDNCh, Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft der UdSSR) stand in der Tradition nationaler und internationaler Ausstellungen, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa ein wichtiges Medium der Selbstdarstellung von Nationalstaaten und ein Instrument des nation building waren.1

    Das Muster einer ausgedehnten Pavillon-Stadt kam erstmals bei der Pariser Weltausstellung von 1889 zur Anwendung.2 Die Ausstellungen sollten das Publikum durch Teilhabe an nationalen Symbolen und Institutionen erziehen, bilden und kulturell assimilieren.3 Ihre Funktionen reichten von der nationalen Identitätskonstruktion über die Austragung von Rivalitäten bis hin zur Volksbildung und zum Laboratorium für Zukunftstechnologien für die „Welt von morgen“. Die sowjetischen Konzepte lehnten die kolonialen und imperialen Displays der internationalen Ausstellungen zwar ab. Die WSChW/WDNCh hatte jedoch im Grunde ganz ähnliche Ziele und Funktionen und übernahm grundlegende Muster.

    Ewig leuchtendes Beispiel der sowjetischen Architektur

    Die sowjetische Allunions-Landwirtschaftsausstellung (WSChW) sollte ursprünglich 1937 zum Jahrestag der Oktoberrevolution eröffnet werden. Eine erste international ausgerichtete Landwirtschafts- und Gewerbeausstellung mit futuristischen Holzpavillons von Konstantin Melnikow, Boris Gladkow und Wladimir Schtschuko hatte 1923 einen Monat gedauert.4 Architekt Wjatscheslaw K. Oltarschewski, der 1935 den Wettbewerb für eine Neuauflage gewann, wollte die WSChW als Parade-Beispiel für standardisierte Bauweise in der Landwirtschaft gestalten. Während der Planung wurde jedoch beschlossen, dass die Ausstellung nicht 100 Tage, sondern fünf Jahre dauern sollte.  Angesichts der neuen Aufgabe, ein ewig leuchtendes Beispiel sowjetischer Architektur zu errichten, erschienen die geplanten hölzernen Pavillons als Akte der Sabotage. Die Eröffnung wurde verschoben, Oltarschewski verhaftet: die politischen Säuberungen der Jahre 1937 und 1938 erfassten die Ausstellungsplaner.

    Sowjetunion en miniature

    Ein neues Team um Sergej Tschernyschew gestaltete die Ausstellung zwischen 1937 und 1939. Die neue Version zeigte neoklassizistische, reich mit Ornamenten verzierte Bauten und die Kolossalskulptur Arbeiter und Kolchosbäuerin von Vera Muchina und Boris Iofan, die bereits den Pavillon an der Weltausstellung in Paris 1937 geschmückt hatte.5 Die Ausstellung wurde 1939 zum zehnten Jahrestag des Beginns der Kollektivierung eröffnet.

    Das Gelände war als idealer Staat angelegt, mit einem palastartigen Zentralpavillon und dem Platz der Kolchosen, um den sich die Pavillons der Republiken mit ihren Musterpflanzungen scharten.

    Usbekistan-Pavillon. Die Pavillons zeigten Dekorationen und Kunsthandwerk, die für die jeweilige Region typisch waren. Foto © Artyom Polevoy unter CC BY 2.0
    Usbekistan-Pavillon. Die Pavillons zeigten Dekorationen und Kunsthandwerk, die für die jeweilige Region typisch waren. Foto © Artyom Polevoy unter CC BY 2.0

    Der als Narrativ angelegte Rundgang ermöglichte den Besuchern eine virtuelle Reise durch die Sowjetunion en miniature: Am ersten Tag würden die Besucher den zentralen Teil mit den Pavillons der Republiken besichtigen; am zweiten Tag die Pavillons für Ackerbau und Viehzucht mit ihren exotischen Früchten, seltenen Gänsen und Schweinesorten. Der dritte Tag schließlich gehörte der Unterhaltung und Erholung im Vergnügungspark mit seinen Cafés und Restaurants.

    Dadurch wurden die Besucher mit einem Bild des Landes und mit einer Standard-Auswahl von Schlussfolgerungen über die ausgestellten Republiken und ihre Bewohner versorgt.

    Ein Triumphtor zur Erinnerung an den Sieg

    Nach dem Krieg, zwischen 1950 und 1954, wurde die Ausstellung im Stil des so genannten patriotischen Monumentalismus umgebaut und erhielt ein Triumphtor – zur Erinnerung an den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg. Der Platz der Kolchosen wurde erweitert um die drei annektierten baltischen Republiken und geschmückt mit dem Brunnen der Völkerfreundschaft. Die von weiteren Pavillons der Republiken gesäumte zentrale Allee führte zum erweiterten Pavillon der Mechanisierung und zu den Themenpavillons für Ackerbau und Viehzucht.

    Alle Pavillons im zentralen Teil der Ausstellung zeigten Dekorationen und Kunsthandwerk, die für ihre jeweiligen Regionen typisch waren. Vor jedem Pavillon befanden sich ein Hof und ein Garten mit Pflanzen aus der Region. Der daran anschließende Erholungspark mit Cafés und Restaurants war ein Wunder der Landschaftsarchitektur mit märchenhaft anmutenden Pavillons wie der Nachbildung einer Eisgrotte für den Verkauf von Speiseeis.6

    Nationale Leistungsschau mit Kosmos-Pavillon

    Die Ausstellung wurde 1958 geschlossen, umgebaut und 1959 unter der Bezeichnung Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft der UdSSR als nationale Leistungsschau wiedereröffnet. Der Pavillon der Mechanisierung war zum Kosmos-Pavillon geworden. Ganz im Trend der internationalen Entwicklung diente die WDNCh der Popularisierung von Wissenschaft und Technik.7 Im Jahr 1967, zum 50. Jahrestag der Revolution von 1917, erfolgten weitere Vergrößerungen und Verbesserungen, ebenso zu den Olympischen Spielen in Moskau 1980. 

    1959 ist der Pavillon der Mechanisierung zum Kosmos-Pavillon geworden. Hier ein Blick in die Kuppel. Foto © Sergey Norin unter CC BY 2.0
    1959 ist der Pavillon der Mechanisierung zum Kosmos-Pavillon geworden. Hier ein Blick in die Kuppel. Foto © Sergey Norin unter CC BY 2.0

    In der Ausstellung lebte der Monumentalismus fort. Der Versuch, von der thematischen Ausstellung zur Wechselausstellung überzugehen, führte allerdings zum Verlust des Gesamteindrucks. Auch die finanziellen Mittel flossen seit der Breshnew-Zeit nicht mehr so üppig, so dass sich der Gesamtzustand schleichend verschlechterte.

    Wichtiger Erinnerungsort

    In den 1990er Jahren wurden die Pavillons vermietet, teilweise in Geschäftslager umgebaut oder für Messen und Konsumgüterausstellungen genutzt. Auf dem Gelände wurde ein Vergnüngungspark untergebracht. Viele wertvolle Ausstellungsstücke, unter allem aus dem Pavillion „Kosmos”, wurden in dieser Zeit zerstört oder landeten auf dem Schrott.

    In den 1990er Jahern werden unter den Augen Juri Gagarins Saatgut und Handtaschen verkauft. Foto: Ilya Varlamov / Varlamov.ru

    Heute bedient das Gelände als wichtiger russischer Erinnerungsort aktuelle Identitätsbedürfnisse: Es war wie die Moskauer Metro oder das Ferienlager Artek auf der Krim Teil eines Systems perfekter Orte, an denen bereits in der sowjetischen Gegenwart die lichte Zukunft besichtigt und genossen werden konnte.8 Sie waren zu Sowjetzeiten sehr populär und erinnern heute an den vergangenen Großmachtstatus in Verbindung mit Freizeit und Vergnügen.

    Die WDNCh steht seit 2014 unter Denkmalschutz und wird derzeit fein säuberlich auf den neuesten Stand gebracht: entrümpelt, restauriert, aber auch um angrenzende Areale erweitert und verändert.


    1. Rydell, Robert W. und Nancy Gwinn (Hg.) (1994): Fair Representations. World’s Fairs and the Modern World. Amsterdam; Greenhalgh, Paul (1988): Ephemeral vistas. The Expositions Universelles, Great Exhibitions and World’s Fairs, 1851-1939, Manchester; Swift, Anthony (1998): The Soviet World of Tomorrow at the New York World’s Fair, 1939, in: The Russian Review 57, S. 364-79; Morton, Patricia (2000): Hybrid modernities. Architecture and Representation at the 1931 Colonial Exposition, Paris, Cambridge, Mass. ↩︎
    2. Greenhalgh, Ephemeral vistas, S. 66 ↩︎
    3. Yengoyan, Aram A. (1994): Culture, Ideology and World’s Fairs: Colonizer and Colonized in Comparative Perspectives, in: Rydell, Gwinn, Fair Representations, S. 62-83, hier S. 81 ↩︎
    4. Starr, S. Frederick (1978): Melnikov. Solo architect in a mass society, Princeton, N.J. S. 57; Posochin, V. und Baranov, N. et al. (1968): Sovetskaja Architektura za 50 let., Moskau ↩︎
    5. Zinov’ev, A. (2014): Ansambl’ VSChV. Architektura i stroitel’stvo. Moskau.; Papernyj, V. (1996): Kul’tura dva. Moskau, S. 196-197; Castillo, G. (1995): Peoples at an Exhibition: Soviet Architecture and the National Question, in: South Atlantic Quarterly 94 (3), S. 715-746 (Special issue: Socialist Realism without Shores. Hg. von Thomas Lahusen und Evgeny Dobrenko), hier S. 728 ↩︎
    6. Olenčenko, N. (2002): Vystavka-prodaža/The Soviet Trade Show, in: Proekt Rossija 23, S. 78 ↩︎
    7. Schroeder-Gudehus, Brigitte und Cloutier, David (1994): Popularizing Science and Technology During the Cold War. Brussels 1958, in: Rydell, Gwinn, Fair Representations, S. 157-180 ↩︎
    8. Foucault, M. (1991): Andere Räume, in: Stadt-Räume. Hg. von Martin Wentz. Frankfurt a. M. usw. , S. 65–72; Ryklin, M. (2003): Räume des Jubels. Totalitarismus und Differenz, Frankfurt a. M. ↩︎

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