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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Alternde Herrscher und Helden

    Alternde Herrscher und Helden

    In der Sowjetunion spielten Helden eine große Rolle. Stoßarbeiter dienten als Vorbilder beim Aufbau einer neuen Gesellschaftsordnung, die Überhöhung der Frontkämpfer sollte helfen, das Leid vergessen zu machen, das der Große Vaterländische Krieg gebracht hatte. Und die Flieger und Kosmonauten verkörperten Fortschritt und Erfolge im Systemwettbewerb mit dem Westen. Bis heute bedient sich die Führung im Kreml dieser Heldenmythen, wenngleich sich die Figur des Helden wandelt.

    Eine neue Welt braucht neue Vorbilder. Nach dem Sturz des alten Regimes 1917 wartete die Avantgarde der Revolution sehnlichst auf die „erste sowjetische Generation“, wenn die „Kinder der Revolution“ als vollendete „Neue Menschen“ das Erwachsenenalter erreichten. Die Bildhauerin Wera Muchina setzte ihnen 1937 mit ihrer Skulptur „Arbeiter und Kolchosbäuerin“ ein 24 Meter hohes Denkmal aus Stahl. Auf der Weltausstellung in Paris hielten sie ihre Werkzeuge Hammer und Sichel in den Himmel über dem sowjetischen Pavillon. In den 1930er Jahren belebten die „Neuen Menschen“ die Propaganda als Arbeiter, Sportler und Helden. Da gab es die Stoßarbeiter, die Helden des Aufbaus, und die Fliegerhelden (Stalins Falken),1 später dann die frontowiki, die Frontkämpfer im Großen Vaterländischen Krieg.

    Die Skulptur „Arbeiter und Kolchosbäuerin“ krönte den sowjetischen Pavillon auf der Weltausstellung in Paris 1937. Heute steht sie in Moskau in der Nähe der Ausstellung der Errungenschaften der VolkswirtschaftFoto © Antonio Marín Segovia/flickr unter CC BY-NC-ND 2.0 DEED

    Im sowjetischen Alltag etablierte sich währenddessen eine „neue Mittelschicht“.2 Als die ersten Jahrgänge von Ingenieuren die neuen polytechnischen Hochschulen abschlossen, mussten sie als Helfer der Repressionsstäbe während des Terrors ihre Loyalität beweisen und wurden dafür mit Ämtern und Karrieren belohnt. Das war die Generation, die fast 50 Jahre an der Macht bleiben sollte: Die Generation Chruschtschows (1894–1971), Breshnews  (1906–1982), Tschernenkos (1911–1985) und Andropows (1914–1984).

    Es den Helden des Aufbaus und des Großen Vaterländischen Krieges gleich zu tun, wurde für die nachfolgenden Generationen schwierig, trotz der Mobilisierungskampagnen für die Erneuerung des Sozialismus nach Stalin, als Großprojekte wie die Neulandgewinnung oder das Kraftwerk von Bratsk Anfang der 1960er Jahre mit dem Versprechen von Abenteuer und Lagerfeuerromantik lockten (neben überdurchschnittlicher Bezahlung). Die einzigen „modernen“ Helden waren die ersten Kosmonauten, aber die Mondlandung der Amerikaner 1969 beendete den sowjetischen Höhenflug im Systemwettbewerb.

    Die einzigen „modernen” Helden waren die ersten Kosmonauten. Juri Gagarin, Pawel Popowitsch, Walentina Tereschkowa und Nikita Chruschtschow auf dem Lenin-Mausoleum 1963 / Foto: © RIA Novosti archive, image #159271 / V. Malyshev unter CC-BY-SA 3.0

    Erschöpfte Helden

    In den 1970er Jahren hatten die sowjetischen Helden (wie ihre Staatschefs auch) ihren Zenit längst überschritten. Die letzten beiden sowjetischen Jahrzehnte blieben heldenarme Zeiten. Statt der leuchtenden Vorbilder wimmelte es von blassen Ordensträgern in Bürokratenanzügen.3 In Dokumentarfilmen wurde die Erschöpfung dieser Helden zunehmend kritisch vor allem an Frauenfiguren verhandelt. Paradigmatisch dafür waren zwei Dokumentarfilme von Nikolai Obuchowitsch: Die Vorsitzende Malinina (1976) und Unsere Mutter ist eine Heldin (1979). Beide thematisierten die beiden Ebenen, auf denen diese „Heldinnen“ arbeiteten. Die eine Ebene war ihre tägliche Arbeit, die zweite die der öffentlichen Performanz, auf der sie die Figur der Heldin der Arbeit und ihr gesellschaftliches Engagement bei ritualisierten Auftritten in festgelegten Formeln darzustellen hatten. Der Film über die Kolchosvorsitzende und Delegierte an mehreren Parteikonkressen Praskowja Malinina arbeitet die klischeehaftigkeit der Phrasen, die über sie geäußert wurden, die sie aber auch selbst an Anlässen von sich gab, deutlich heraus, kritisierte sie jedoch nicht offen. Der Film über die Stoßarbeiterin Valentina Golubewa Unsere Mutter ist eine Held (sie ist zweifacher Held der sozialistischen Arbeit, Delegierte am 27. Kongress der KPdSU, Mitglied des Obersten Sowjets der RSFSR, Mitglied des ZK der KPdSU, Mitglied des Gebietsparteikomitees und Direktorin des Kammgarnkombinates Iwanowo)4 hingegen kontrastierte den familiären Alltag mit der Heldenerzählung und zeigte die Heldin als erschöpftes Wrack. Die Schlüsselszene des Films, die dazu führte, dass der Film bis 1989 nicht in den Verleih kam, zeigt Valentina, wie sie von der Nachtschicht nach Hause kommt, zu müde, um sich die Stiefel auszuziehen. Sie sitzt im Eingang der Wohnung und weint nur noch.

    Tod im Amt

    Mit Ausnahme Chruschtschows starben alle sowjetischen Staatschefs im Amt. Angefochten wurden die greisen Herrscher kaum, denn Generationenkonflikte gab es im Selbstverständnis der UdSSR nicht. Stattdessen zeigten Plakate, wie „die Jungen von den Alten lernen“. Doch zu Beginn der 1960er Jahre tat sich eine Kluft auf zwischen dem alternden Politbüro und den Jungen, akademisch gebildeten „60ern“,5 die keine Gewalterfahrung hatten, weder durch Revolution noch durch Terror und Krieg, und die voller Enthusiasmus waren. Die Aufbruchstimmung des Tauwetters erstickte in den bleiernen Breshnew-Jahren im bescheidenen Wohlstand, den Wohnungen und Datschen. Aber in diesen Rückzugsräumen blühte der Untergrund: Die 1984 gegründete subversive Leningrader Künstlergruppe Mitki um Dmitri Schagin inszenierte sich als infantile, triebgesteuerte Anti-Helden, die demonstrativ und ironisch mit Helden-Stereotypen spielten und sich sowjetischen Konventionen verweigerten. Ihre Markenzeichen waren gestreifte Matrosenshirts und der Slogan „Die Mitki wollen niemanden besiegen” – damals eine Provokation, und heute wieder. Nach dem Überfall auf die Ukraine wurde ein Gemälde Schagins mit dem heldenfeindlichen Slogan aus einer Ausstellung im Moskauer Museum für dekorative Kunst entfernt.6

    1985 kam mit Gorbatschow endlich ein Vertreter der Generation der „60er“ an die Macht und versuchte, das marode und verschuldete Land mit den Visionen eines besseren Sozialismus aus seiner Lethargie zu reißen. Doch es war zu spät für Reformen, die Sowjetunion zerfiel.

    Revolutionen und Systemwechsel werden oft als Neubeginn inszeniert und allzu gerne so verstanden. Das täuscht darüber hinweg, dass sich zwar die Rahmenbedingungen einschneidend ändern mögen, doch Entscheidungsträger nicht aus dem Nichts kommen, und auch die Bürokraten in der Regel in ihren Ämtern bleiben.

    Russland erbte die sowjetischen Eliten

    Etwa 60 Prozent der heutigen politischen Elite in Russland sind unmittelbar aus der spätsowjetischen Nomenklatura hervorgegangen und bestehen vorwiegend aus ehemaligen Mitgliedern der Kommunistischen Partei und des Komsomol, aus Bürokraten und Silowiki.7 Diese Eliten haben kein Interesse an Demokratie, sondern betreiben Klientelpolitik. Mit ihnen herrscht eine Schicht gut vernetzter Individuen, eng verflochten mit dem Staat, dessen  Vermögenswerte sie sich aneignen und an den sie Verbindlichkeiten weitergeben.8 Ein anonym publizierender Moskauer Soziologe argumentiert auf Meduza, diese postsowjetischen „Eliten der Bereicherung“ seien identisch mit den Emporkömmlingen der 1970er Jahre, als sich durch Erdölboom und Entspannungspolitik in der sowjetischen Nomenklatura Konsumismus und Korruption ausbreiteten. Damals wurde die Selbstbereicherung zur sozial akzeptierten Praxis.9

    Die Kontinuität der Eliten ist einer der Gründe dafür, dass der post-sozialistische Turbokapitalismus nicht von außen kam, sondern von innen, aus den gewachsenen Strukturen. Zur bürokratischen Kultur sozialistischer Regime gehörte die Zentralisierung der Entscheidungsgewalt. Manager und Technokraten genossen Vorzug gegenüber Gestaltern. Die Öffentlichkeit blieb von Debatten ausgeschlossen und war an Planungsprozessen nicht beteiligt, dafür waren Experten zuständig. Nach 1989 nutzten wohlhabende und politisch einflussreiche Personen dieses bestehende System, um den Zugang zu Entscheidungsträgern zu kontrollieren, ihre eigenen finanziellen Interessen voranzutreiben und die Öffentlichkeit sowie deren Anliegen weiter zu marginalisieren.10 Die Korruption wurde in den 1990er Jahren zur faktisch legitimierten Basis des polit-ökonomischen Systems. Diese Eliten bezeichnet der anonyme Moskauer Soziologe als ebenso unsichtbar wie prinzipienlos. Sie verteufelten den Westen, schickten zugleich aber ihre Kinder auf teure Privatschulen ebendort und brächten ihr Vermögen dort in Sicherheit. Die persönliche Bereicherung verdrängte die Werte des sozialen und politischen Idealismus, den die Generation der 1960er predigte und dessen Sternstunde die Perestroika war. In Klientelverhältnissen zählt allein Loyalität, sie ersetzt die Ideale.11

    Mit den Idealen verschwanden auch die Heldentypen des Aufbauers und Eroberers, die diese verkörperten. Übrig bleiben die Helden, die sich für das Vaterland aufzuopfern haben.

    Der Präsident als sowjetischer Held

    In Russland wirken sowjetische Heldentraditionen nach, in denen Arbeiter und Sportler eine große Rolle spielten. Daran knüpft auch die Erzählung von der einfachen Herkunft Putins an. Er spielt die Rolle des Helden, der sich aus einfachen Verhältnissen hochgearbeitet hat, doch volksnah geblieben ist. Er ist ein Held, der sein Ziel immer erreicht. Dabei ist er unerbittlich. Er macht seine Gegner „notfalls auf dem Scheißhaus kalt“, oder er wiegt sie in falscher Sicherheit, bis sie wie von Geisterhand getroffen vom Himmel fallen.

    Putins Versprechen von law and order erinnern ebenso wie seine Sprache und die unzimperlichen Methoden der Terrorismusbekämpfung an den Helden der ersten postsowjetischen Blockbuster Brat 1 und 2, Danila Bagrow, die unvergessene Kultfigur der 90er. Das unscheinbare Auftreten dieses Kriegsheimkehrers aus der tiefen Provinz stand seiner Schlagkraft diametral gegenüber. Seine Weltsicht packte er in Sprüche wie „in der Wahrheit liegt die Kraft”, die Werte, die er vertrat, waren so russisch wie archaisch.

    Auf der Bühne der Macht spielte Putin eine ganze Reihe von Heldenrollen. Er gab den Judoka, den Piloten, den Naturburschen, oben ohne und in Khaki als Angler, Jäger, oder Reiter. Er vertrat ein Bild idealer Männlichkeit: asketisch, sportlich, ohne Frauen, aber umschwärmt. In seine erste Amtszeit fiel die Zeit des „Glamour“, er suchte die Nähe zu Popstars, eine russische Girl Group trällerte, sie wollten „einen wie Putin“ heiraten.

    2008 bis 2012 überließ Putin den Schreibtisch in Moskau seinem Statthalter Medwedew und ritt mit nacktem Oberkörper durch die Tundra (2009) oder zeigte sich als oberster Tierschützer mit Bären und Sibirischen Tigern. 2011 tauchte Putin im Schwarzen Meer nach antiken Amphoren, aber sogar sein Sprecher Peskow musste zugeben, dass es sich um einen arrangierten Fund handelte. Zuletzt flog Putin 2012 mit einem Deltasegler mit den Kranichen, dann stellte er die Produktion von Heldenvideos ein.

    Putins Wiederwahl zum Präsidenten 2012 war von Protesten und dem Übergang zu einem zunehmend autoritären Regime begleitet. Die öffentlichen Inszenierungen männlicher Fitness passten nicht mehr zum fortschreitenden Alter des Dauerpräsidenten, zudem kursierten Gerüchte über Rückenprobleme. Putin zeigte sich fortan nur noch im dunkelblauen Anzug mit Krawatte. Der Fokus seiner Aktivitäten lag nun auf der Größe Russlands, der Geschichtsklitterung und der Außenpolitik, nämlich dem Angriff auf die Grenzen und die Unabhängigkeit der Ukraine.

    Putin umgibt sich mit Helden

    Die Macht ist letztlich ironiefrei, sie kann sich nicht selbst infrage stellen. Umso mehr war Ironie zu Sowjetzeiten die Waffe der Subalternen, zumal in einem System, in dem eigene Teilhabe als Farce wahrgenommen wurde. Auch im postsowjetischen Russland erhielten die öffentlichen Inszenierungen und Darbietungen staatlicher Autorität sogleich eine doppelte Signatur, eine ironische Brechung in Parallelerzählungen, für die seit den 2000er Jahren das Internet, insbesondere die Sozialen Medien, ein ideales Biotop bildeten.

    Putin-Meme aus dem Internet
    Putin-Meme aus dem Internet

    Seit sich 2011 die Rückkehr Putins in den Kreml abzeichnete, häuften sich die russischen Memes, die sich über dessen zunehmendes Alter und seine mehrfachen Amtszeiten lustig machten. Eine Darstellung ist einem grünlichen Breshnew-Porträt in Uniform mit von Orden bedeckter Brust nachempfunden, aktuelle Memes zeigen ihn als ewigen Präsidenten 2036 oder 2050.

    Doch wie verschiedene Graswurzelbewegungen und populärkulturelle Phänomene wurde auch die Ironie vom System Putin gekapert und in das Arsenal der Herrschaftstechniken überführt. Der Anschein der Selbstironie ist trügerisch. Jede Aussage kann in ihr Gegenteil verkehrt werden, nie ist  sicher, ob das Gesagte auch das Gemeinte ist. Mit dem Überfall auf die Ukraine ist aus Spaß Ernst geworden. Niemand spricht mehr von russischen Soldaten als “höflichen Leuten” wie bei der Besetzung der Krim. Nun sind sie Helden.

    Putin und die Kosmonautin Walentina Tereschkowa 2018 im Kreml / Foto © kremlin.ru unter CC BY 4.0 DEED

    In wichtigen Momenten greift Putin immer wieder tief in die sowjetische Helden-Mottenkiste. Als es darum ging, der Duma 2020 die Verfassungsänderungen vorzulegen, die Putin zum ewigen Präsidenten machen sollten, schickte er keine andere als Walentina Tereschkowa vor, Jahrgang 1937, die letzte der sowjetischen Heldinnen, einmal-Kosmonautin 1963 und Duma-Abgeordnete der Partei Einiges Russland. Neben Tereschkowa erscheint Putin als Jüngling. Und als er am 8.12.2023 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2024 ankündigte, da wählte er eine Zeremonie zu Ehren der Helden des Vaterlandes als Rahmen, eine Gelegenheit, in der er Medaillen verlieh und als erster unter den Helden auftreten konnte. Doch diese Helden sind entweder schon tot oder vom Tod umgeben. Es sind Helden ohne Zukunft.


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  • Schwanensee – Ballett, Requiem und Protestsong

    Schwanensee – Ballett, Requiem und Protestsong

    Für Menschen, die in Russland aufgewachsen sind, ist der Schwanensee mehr als ein Ballett von Pjotr Tschaikowski, in dem zierliche Ballerinas in weißen Tutus tanzen. Schwanensee ist eine mächtige historische Referenz – Requiem für sowjetische Staatsmänner und Begleitmusik zum Untergang der Sowjetunion selbst. Mahnung an das Regime und Erinnerung daran, dass am Ende das Gute über das Böse siegt.

    „Schwanensee ist eine mächtige historische Referenz – Requiem für sowjetische Staatsmänner und Erinnerung daran, dass am Ende das Gute über das Böse siegt“ / Illustration aus einer der letzten Ausgabe der Novaya Gazeta vom 9. März 2022 © Petr Saruchanow / Novaya Gazeta

    Schwanensee ist eine archetypische Geschichte vom Sieg des Guten über das Böse, vom Triumph der Liebe über den Tod, verkörpert durch weiße und schwarze Schwäne. Es geht um eine verzauberte Schwanenprinzessin, die nur durch Liebe erlöst werden kann. Das von Pjotr Iljitsch Tschaikowski nach Märchenmotiven komponierte und 1877 uraufgeführte Ballett war Symbol der sowjetischen Hochkultur und prestigeträchtiger Kulturexport des Kalten Krieges.

    Das Politbüro mit seiner alternden, aber starken Hand beanspruchte dieses Ballett als authentisches nationales Erbe und Schaufenster für seine Leistungen. Die weltberühmte Ballerina Maja Plissezkaja tanzte die Rolle der Odette über 800 Mal. In ihrer Autobiografie erinnert sie sich an das Ritual, als ausländische Delegationen mit Schwanensee verwöhnt wurden. Sie kolportiert auch die Anekdote, dass Nikita Chruschtschow sich das Stück so oft ansehen musste, bis ihm übel wurde:

    „Wenn ich daran denke, dass ich heute Abend wieder Schwanensee sehen werde, wird mir schon übel. Das Ballett ist wunderbar, aber wie oft kann man es sich anschauen? Nachts träume ich dann von weißen Tutus abwechselnd mit Panzern.“

    Die sowjetische Führungsriege musste das Stück nicht nur unzählige Male über sich ergehen lassen, es verfolgte sie bis in den Tod: Beim Ableben Leonid Breschnews 1982 erblickten die Fernsehzuschauer statt des erwarteten Konzerts den Schwanensee. Berichten zufolge soll bei dieser Wahl durch die Fernsehleute die Entstehungsgeschichte des Stücks eine Rolle gespielt haben: Tschaikowski schrieb es in der sogenannten Fomin-Woche fertig, der Woche der Erneuerung nach der Auferstehung Christi, in die auch der Gedenktag an die Verstorbenen (Allerseelen, Radoniza), fällt. Schwanensee ist durchdrungen vom Thema des Todes und schien sich als Symbol öffentlicher, die Nation einender Trauer besonders zu eignen. Auch nach dem Tod von Juri Andropow 1984 und Konstantin Tschernenko 1985 (sie starben alle im Amt) wurde das reguläre Programm jeweils unterbrochen und so lange Schwanensee gezeigt, bis ein Nachfolger gekürt war. So verwandelte sich das Ballett „von der offiziellen Visitenkarte des Bolschoi-Theaters und des sowjetischen Imperiums in eine Trauerveranstaltung mit 32 Fouettés“.1

    Auch während des Staatsstreichs gegen Michail Gorbatschow im August 1991 lief Schwanensee im Fernsehen in Endlosschleife. Dieser bedeutungsvolle Code kündete von Unheil und veranlasste die Menschen dazu, auf die Straße zu gehen, um zu erfahren, was los war. Während also die Schwänchen zu Tschaikowskis Melodien tanzten, versammelte sich eine große Menge von Demonstranten vor dem Moskauer Parlamentsgebäude und verhinderte den Putsch der Altkommunisten, nicht aber das Ende der Sowjetunion.

    Das Stück ist zugleich eine Ikone des sowjetischen und russischen Traditionalismus. Einerseits vermittelt das Ballett altmodische Virtuosität und Ordnung, andererseits erzeugt es ein Gefühl des Verlusts der sowjetischen Monumentalität und bietet sich als nostalgischer Erinnerungsort an. In Russland wurde der Untergang der Sowjetunion als befreiend, aber auch als beängstigend erlebt.

    Vor allem der Tanz der Schwänchen im zweiten Akt wurde zum Kitsch, zu einer abgenutzten Tanzshow, die sowohl im Zeichentrick-Klassiker Nu, Pogodi! (dt. Hase und Wolf) als auch in Comedy Club aufgeführt wird, in Kindergärten und von verkleideten Herren auf Firmenveranstaltungen, von denen später Videos im Internet landen. Und genau das wurde mittlerweile zum Vehikel ironisch unterfütterten Protests. Seit es das Putin-Regime mit der versprochenen Stabilität und Sicherheit zu übertreiben begann und zunehmend repressiv wurde, seit Russland die Ukraine überfiel und öffentliche Kritik harte Strafen nach sich zieht, hat Schwanensee erneut Konjunktur. Aus Kitsch wurde Kult (Susan Sonntag prägte dafür den Begriff camp), und aus Kult ein neues politisches Symbol. Der ukrainische Regisseur Sergei Loznitsa machte in seinem Dokumentarfilm The Event (Sobytije, Belgien 2015) Tschaikowskis Melodie zum Soundtrack der sowjetischen Agonie. Und nun heißt es wieder: Lasst die Schwäne tanzen!

    Anlässlich von Putins Wiederwahl 2018 tauchte in Sankt Petersburg ein Graffiti der vier Ballerinas auf, die den Tanz der Schwänchen tanzen. Es wurde von der Künstlergruppe Yav auch auf Instagram verbreitet.2 Als der liberale Fernsehsender Doshd im März 2022 seinen Programm vorübergehend einstellen musste, spielte der Kanal zum Abgang dieselbe sowjetische Aufnahme von Schwanensee, die den Untergang der Sowjetunion einläutete. Im September 2023 veröffentlichte Yav auf Youtube ein Video, in dem ein arrivierter Geschäftsmann (der aussieht wie Jelzin in besseren Zeiten) vor dem Fernseher sitzt und plötzlich mit Schwanensee auf allen Kanälen konfrontiert wird. Die Ballerinen verfolgen ihn bis ins Badezimmer, wohin er sich flüchtet, unausweichlich gerät er selbst in den Tanz der Schwänchen.

     
    Schwanensee ist eine archetypische Geschichte vom Sieg des Guten über das Böse, vom Triumph der Liebe über den Tod, verkörpert durch weiße und schwarze Schwäne / Video: Art Gruppa Yav „Tanec“

    Das Ende ist nah, lautet die Botschaft, während Kommentare unter dem Video sagen: „Wir warten schon unendliche 20 Jahre auf das Ballett!“ Dazu passt der Refrain eines weiteren Videos mit dem Titel „Schwanensee“, das der Rapper Noize MC Anfang 2023 veröffentlichte:

    Wo seid ihr gewesen acht Jahre lang, ihr verdammten Unmenschen
    Ich will das Ballett sehen, lass die Schwäne tanzen
    Ich will sehen, wie der Alte um seinen „See“ zittert
    Verpiss dich vom Bildschirm, Solowjow, lass die Schwäne tanzen“.

     
    Schwanensee wurde zum mehrfachen Code: Einmal als Requiem für greise sowjetische Staatschefs, dann als Zeichen für Aufruhr und Umsturz / Video: Noize MC Kooperatiw „Lebedinoje osero

    Schwanensee wurde zum mehrfachen Code: Einmal als Requiem für greise sowjetische Staatschefs, dann als Zeichen für Aufruhr und Umsturz. Schwanensee ist der Erinnerungsort aller, die den Augustputsch 1991 miterlebt haben, der das Ende der Sowjetunion einläutete. Die dritte, aktualisierte Bedeutung macht das Stück und seine Teile (Bilder, Melodien) zum popkulturellen Code gegen das Putin-Regime. Es verweist ironisch auf die Kontinuitäten von Machtstrukturen, auf Parallelen zwischen dem sowjetischen Regime und dem Putinismus. Und es droht diesem mit dem baldigen Ende, mit dem Sieg des Guten über das Böse: Es ist Zeit, die Schwänchen tanzen zu lassen!


    Literatur: 

    Ezrahi, Christina (2012): Swans of the Kremlin. Ballet and Power in Soviet Russia, Pittsburg.
    Pliseckaja, Мaja (2008): Ja, Majja Pliseckaja…, Moskau.
    Sontag, Susan (1964), On Camp, in:  Against Interpretation. New York 1964, S. 275–292.


     
    1. novayagazeta.ru: Pora uže tancevat’ Čajkovskogo ↩︎
    2. themoscowtimes.com: ‚Swan Lake‘ Ballet Graffiti Greets Putin’s Inauguration in St. Petersburg ↩︎

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    Januar: Backstage im Bolschoi

    August 1991 – Fotos vom Putsch in Moskau

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    Propaganda entschlüsseln

    Augustputsch 1991

    dekoder-Visuals: Fotografie aus Belarus, Ukraine, Russland

  • Pionierlager Artek

    Pionierlager Artek

    Das Pionierlager Artek auf der Krim war der Inbegriff einer glücklichen sowjetischen Kindheit. Das Lager wurde 1925 mit einigen Zelten am Strand eröffnet und diente zunächst als Sanatorium der Tuberkulosevorsorge. Von 1938 an wurde es zu einem ausgedehnten Komplex mit mehreren Teil-Lagern in einer malerischen, südlichen Landschaft am Ufer des Schwarzen Meeres in der Nähe von Hursuf ausgebaut. Nach dem Zerfall der UdSSR wurde das Lager von der Ukraine weiterbetrieben und kam mit der Annexion der Krim wieder unter russische Verwaltung.

    Das Lager war jedermann in der Sowjetunion ein Begriff. Die „Mutter aller Pionierlager“ lieferte ikonische Bilder von Kindern in weißen Pionierhütchen mit Zypressen und blauem Meer im Hintergrund. Das Vorzeigelager wurde in zahlreichen großzügig bebilderten Publikationen vorgestellt, es erschien auf den ersten Seiten der Russischlehrbücher und in Pionierkalendern als Traumland und Wunschziel.1

     

    In der Propaganda des revolutionären Russland wurden Kinder als Träger der Utopie von der gerechten sozialistischen Gesellschaft verehrt. Bereits 1922 wurde die Organisation der Jungen Pioniere als Zweig des Komsomol für die 10 bis 15-Jährigen gegründet. Sie übernahm zahlreiche Elemente der Pfadfinderorganisationen: die Losung „Wsegda gotow!“ (dt: „Allzeit bereit!“), die Uniform und die roten Halstücher, die militärisch inspirierte hierarchische Einteilung in Gruppen und Abteilungen (sogenannte drushiny und otrjady). Ab Mitte der 1930er Jahre wurde dann die „glückliche Kindheit“ ein wesentlicher Teil der stalinistischen Kultur und Propaganda, die Organisation von Sommerlagern für Kinder – ähnlich denen der westlichen Lebensreformbewegungen2 –  sollten zur Vermittlung dieses Glücksgefühls maßgeblich beitragen.

    Artek als Modell sowjetischer Sommerlager

    Artek war anfangs elitär, hierhin reisten nur die verdientesten Pioniere und die Kinder der Eliten für einen drei- oder sechswöchigen Sommeraufenthalt. Bereits in der Stalinzeit wurden auch Kinder ausländischer Parteieliten nach Artek eingeladen.3 Zwischen 1960 und 1964 wurde das Lager völlig umgestaltet und auf 4000–5000 Plätze erweitert. Dafür wurden eigens Fertigbauteile in einem Baukastensystem entwickelt.4 Die filigranen Bettenhäuser aus Aluminium und Glas, die in ihrer Form an Schiffe erinnerten, sollten Schutz vor Wind und Wetter bieten, zugleich aber durch Veranden und offene Seiten dem Gedanken der Freiluftkultur Rechnung tragen.

    Nach dem Ausbau konnten jeden Sommer während vier Monatslagern insgesamt 20.000 Kinder ihre Ferien in Artek verbringen.5 Es gab eine eigene Schule, ein Krankenhaus und olympiagerechte Sportanlagen. Sogar eine Kosmonautik-Ausstellung entstand – auf Anregung Juri Gagarins, der das Lager regelmäßig besuchte.

    Die Gebäude des Sommerlagers Artek aus der Luft – Foto © Viktor Budan/ ITAR TASS Archive
    Die Gebäude des Sommerlagers Artek aus der Luft – Foto © Viktor Budan/ ITAR TASS Archive

    Pionierbewegung: damals und heute

    Generell wurden Pionierlager meistens in den Grüngürteln rund um die sozialistischen Industriestädte angelegt. Die „einfachen“ Pionierlager, die von Betrieben und Organisationen für die Kinder ihrer Angestellten organisiert wurden, eiferten im sozialistischen Wettbewerb dem Vorbild Artek nach. Mit dem Ausbau der Pionierbewegung zur erzieherisch orientierten Massenorganisation in den 60er Jahren wuchs die Zahl der Pionierlager für Kinder der „nicht-elitären“ Sowjetbürger. Es hieß, 1976 würden eine halbe Million Moskauer Kinder den Sommer im Lager verbringen.6 Aus dem Privileg für Wenige wurde damit ein Erlebnis, an dem breitere Kreise teilhatten.

    Aus dem Album des Pionierlagers Zoi Kosmodemjanskoi in der Region Cheljabinsk in den 60er Jahren – Foto © Monica Rüthers
    Aus dem Album des Pionierlagers Zoi Kosmodemjanskoi in der Region Cheljabinsk in den 60er Jahren – Foto © Monica Rüthers

    Die Tagesabläufe waren weitgehend festgelegt und mussten sowohl von den Pionieren selbst als auch vom Personal, das hauptsächlich aus Freiwilligen bestand, strikt eingehalten werden. Jeder Tag begann mit dem Hissen der Flagge und endete mit ihrem Einholen. Deswegen war das Zentrum jedes Pionierlagers der Appell- oder Aufmarschplatz, der eine Fahnenstange haben musste.

    In einer Broschüre aus den 70er Jahren, die Empfehlung und Vorschriften für die Durchführung von Sommerlagern gibt7, wird neben der politischen Erziehung gefordert, die Pioniere sollten in nahegelegenen Kolchosen helfen, Beeren pflücken, Heilkräuter sammeln und die Natur schützen. Das Stichwort lautete „vernünftige Erholung“ (rasumny otdych). Dazu gehörte neben der körperlichen Ertüchtigung die Förderung technischer Fähigkeiten in verschiedenen Zirkeln. Als Anreiz und Belohnung winkten Ehren: Die Besten wurden mit der Lagerflagge oder am Lagerdenkmal fotografiert, durften die Fahne hissen, bekamen Diplome und Abzeichen verliehen. Neben diesem straffen Programm gab es jedoch auch Freiräume, mehrtägige Ausflüge mit dem Zelt und abendliche Lagerfeuer.

     

    Kinder im Pionierlager Artek, aufgenommen im Jahr 1987. / Foto © Nikolai Malyshev, Alexander Chumichev/ITAR-TASS/imago images

    Bis heute ist es in Russland üblich, dass Kinder im Schulalter ihre Sommermonate ohne die Eltern in organisierten Lagern verbringen, in denen nun verschiedenste Aktivitäten von Sport über Theater bis hin zu Programmierkursen angeboten werden.

    Sowjetische Retro-Utopie als Kriegsdividende

    Nach 1991 bestand das Lager erfolgreich weiter, pflegte den internationalen Schüleraustausch und nahm an pädagogischen Wettbewerben teil. Ab Mitte der 2000er Jahre wurde die staatliche Unterstützung gekürzt, und Artek geriet in finanzielle Schwierigkeiten. Und nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim im Jahr 2014 wurde Artek sogleich unter die Schirmherrschaft des russischen Bildungs- und Forschungsministeriums und des russischen Präsidenten gestellt. In die Rekonstruktion flossen seither insgesamt 21 Milliarden Rubel.8

    Während der Sowjetzeit waren die Pionierlager als „Orte der glücklichen Kindheit“ Teil einer mythisch überhöhten Landschaft, in der die Kinder schon in der Zukunft lebten. Heute gehört das Modell-Lager Artek zum Kanon der staatlich geförderten Sowjetnostalgie.

    In der russischen Propaganda wurde der Ukraine vorgeworfen, sie habe das Wahrzeichen Artek dem Zerfall preisgegeben. Putin trat als Retter der glücklichen Kindheit auf. Zugleich schuf er retro-Utopien der Stalinzeit. Denn Artek war wie auch die Moskauer Ausstellung sowjetischer Errungenschaften WDNCh mit ihren Republik-Pavillons (1939) oder der Park für Kultur und Erholung names Gorki (1928) eine der gebauten stalinistischen Utopien. All diese von Michail Ryklin so treffend als „Räume des Jubels“9 beschriebenen Themenpärke wurden unter Putin aufwändig restauriert. Dabei war es besonders praktisch, dass das berühmte Ferienlager auf der paradiesischen wiedergewonnenen Krim lag. Die „Rettung“ und Wiedererstehung Arteks konnte als Rechtfertigung und Hauptgewinn der Angliederung beworben werden.

    Nach Artek kamen nun vor allem russische Kinder. Alljährlich finden in Russland leistungsorientierte Wettbewerbe um die begehrten Feriengutscheine für die 15 jeweils 21 Tage dauernden Aufenthalte statt. Mit der Annexion kam auch die Politik nach Artek. Der Tag beginnt mit dem Hissen von drei Flaggen – Russland, Krim und Artek – und dem Abspielen von drei Hymnen. Bereits 2020 beklagte die ukrainische Vertretung in der Autonomen Republik Krim die Militarisierung des Lagers und die Allgegenwart russischer Propaganda in Form von Zeichnungen zu Ehren des Russland-Tages, Tänzen zu Ehren des Flaggentages oder Liedern zu Ehren des Tages des Sieges.10 In Zusammenarbeit mit der 2016 gegründeten russischen paramilitärischen Kinder- und Jugendbewegung Junarmija finden in Artek regelmäßig „Jungkämpferkurse“ statt. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 schreiben die Kinder während der Ferienaufenthalte in Artek Briefe an die Teilnehmer der so genannten „Spezialoperation“ und schicken Pakete in den Donbass. Seit Juli 2022 werden ukrainische Kinder aus russisch besetzten Gebieten hierher gebracht. Aus diesem Grund verhängten das Vereinigte Königreich und später die USA Sanktionen gegen Artek und seine Leiter.11

     

    „Am warmen Meer – sowjetischer Dokumentarfilm von 1940 über das Sommerlager Artek auf der Krim.

     
    1. Winkelmann, Arne (2004): Das Pionierlager Artek: Realität und Utopie in der sowjetischen Architektur der sechziger Jahre, Dissertation, Universität Weimar, S. 39 und Winkelmann, Arne (2000): Typologie der Ferienstadt: Das Pionierlager Artek auf der Krim, in: Bauwelt 91/16, S. 12-19 ↩︎
    2. Das „Lager“ oder die „Fahrt“ waren feste Begriffe in allen europäischen Jugendbewegungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Deutlich sind die Anklänge an Jean Jacques Rousseaus (1712–1778) Vorstellung vom Heranwachsen eines freien und guten Menschen jenseits der verdorbenen Gesellschaft. Diese Ideen fanden über die Lebensreformbewegungen und über die Sozialdemokratie Eingang in die Institutionen der meisten europäischen Länder. ↩︎
    3. Paul Thorez (1940–1994), der Sohn des französischen Parteivorsitzenden Maurice Thorez, verbrachte zwischen 1950 und 1955 vier Sommer in Artek. Eindrücklich beschreibt er die medizinischen Untersuchungen, das regelmäßige Wiegen, die üppigen Mahlzeiten, die festen Tagesabläufe, die Rituale beim Fahnenappell und die internen Hierarchien der „Republik der roten Halstücher“, siehe: Thorez, Paul (1982): Les enfants Modèles, Paris ↩︎
    4. Winkelmann (2000): Typologie der Ferienstadt: Das Pionierlager Artek auf der Krim, in: Bauwelt 91/16, S. 12-19 ↩︎
    5. Fotoočerk (1964): Respublika krasnych gal’stukov, Kiew ↩︎
    6. Kelly, Catriona (2006): Children’s World: Growing up in Russia: 1890–1991, New Haven, S. 557-558 ↩︎
    7. Pionierskoe leto. Metodičeskie rekomendacii organizatoram letnego otdycha pionerov i škol’nikov (Moskva: Moskovskogo ordena trudovogo krasnogo znameni gorodskoj Dvorec Pionerov i škol’nikov, 1976) ↩︎
    8. Vedomosti: Na kapremont detskogi centra „Artek“ potračeno bolee 11 mlrd rublej; novayagazeta.eu: Detstvo v lagerjach ↩︎
    9. Ryklin, Michail (2003): Räume des Jubels. Totalitarismus und Differenz, Frankfurt a.M. ↩︎
    10. novayagazeta.eu: Detstvo v lagerjach ↩︎
    11. novayagazeta.eu: Detstvo v lagerjach ↩︎

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    Gulag

    IM HEIM DES KRIEGES

    Leonid Breshnew

    Die Wilden 1990er

    Auflösung der Sowjetunion

    Gorki-Park

    Perestroika

    Tauwetter

  • Bantiki – Haarschleifen

    Bantiki – Haarschleifen

    Der erste Schultag am 1. September war ein wichtiger Tag im Leben sowjetischer Kinder und wurde im ganzen Land als festlicher Tag begangen. In der Stalinzeit zeigten Gemälde und Postkarten die Kinder auf dem Weg ins neue Schuljahr, mit Schultaschen und Blumensträußen für die Lehrerin. Die von Fotografen zu den rituellen Anlässen am Anfang und Ende des Schuljahres aufgenommenen Fotos sowjetischer Schülerinnen und Schulklassen vermitteln den Eindruck von feierlicher Ordnung. Die Kinder sind in ordentlichen Schuluniformen zu sehen, die Mädchen in weißen Schürzen und mit weißen Haarschleifen – die gegen Ende der Sowjetunion immer größer wurden. 

    Unverzichtbar, wenn der Fotograf kam: Die prächtigen weißen Schleifen im Haar der Mädchen / Foto © Konstantin Boronin/Wikimedia unter CC BY-SA 4.0

    Die riesigen weißen Haarschleifen sowjetischer Schülerinnen waren Ikonen einer idealisierten sowjetischen Kindheit, die Wohlstand, Fortschritt und Glück ausstrahlte. Alle vorbildlichen kleinen Mädchen in den sowjetischen Bildwelten trugen sie. Die Schleifen fixierten ein Ideal des „süßen kleinen Mädchens“ in Verbindung mit einer behüteten, glücklichen Kindheit.1 

    Ikonen einer idealisierten sowjetischen Kindheit

    Haarschleifen wurden Ende der 1940er Jahre Teil der sowjetischen Schulkleidung. In der durch die Kriegserfahrungen und Verluste erschütterten Nachkriegs-Sowjetunion war die Schuluniform Teil der Rückkehr zu vertrauten Ordnungen, auch der Geschlechterrollen.2 Schleifen sind dekorativ und fallen auf, egal ob in den Haaren, auf Hüten, an Schuhen oder Kleidern. Sie gelten als weiblich und verspielt.3 Zunächst handelte es sich im Schulkontext um schmale Bänder, die in die Haare geflochten wurden. Aber mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der Tauwetterzeit wuchsen auch die Haarschleifen zu riesigen Chiffongebilden auf den Köpfen der Mädchen.4 Hier konnten sich gerade bei den Kleinen die Mütter austoben, und es herrschte Konkurrenz. Unverzichtbar waren die Prachtschleifen, wenn der Fotograf kam.

    Persönliche Note und eigensinniges Handeln

    Die Haarschleife markierte „die moralische Verortung des Subjekts als ‚gutes‘, ‚ordentliches‘, ‚sozialistisches Mädchen‘.“5 Sie anzulegen bedeutete, von einer Sphäre in eine andere zu wechseln, in der bestimmte Regeln galten, die man zumindest äußerlich befolgen musste. Die an sich banalen Haarschleifen bargen damit auch Potenziale, wenn die Mädchen sie richtig einzusetzen verstanden. Sie eröffneten Möglichkeiten für eigensinniges Handeln in der Art, wie und welche Schleife man trug, ob man ohne ging oder sich einfach die Haare kurz schnitt. Mädchen oder auch ihre Eltern konnten damit ausdrücken, wie weit sie dazugehören oder sich abgrenzen wollten. Manche fanden die Ungetüme aus weißem Tüll kleinbürgerlich und kitschig.6 Schon kleine Mädchen lernten also, normative Erwartungen zu erfüllen, ohne die damit einhergehende Disziplinierung zu verinnerlichen.7

    Die Haarschleife war, neben Schürze, Manschetten und Kragen, das variabelste Element der sowjetischen Schuluniform für Mädchen. Sie sollte zu besonderen Anlässen weiß, im schulischen Alltag schwarz oder dunkelbraun sein.8 Material, Breite des Bandes und Platzierung waren nicht definiert. Die Bänder konnten breit oder schmal sein, das Material Seide, Kapron, Chiffon oder Atlas. Haarschleifen konnten groß oder klein sein, in die Haare geflochten, am Ende eines Zopfes auf dem Rücken tanzen oder oben auf dem Kopf sitzen. Der Phantasie und modischen Trends waren hier am wenigsten Grenzen gesetzt.9 

    Das etwas „Andere“ als Statussymbol

    Haarschleifen gehören wie die Blumen für die Lehrerinnen noch heute zu den Bildern des 1. September / Foto © Pjotr Kassin/Kommersant
    Haarschleifen gehören wie die Blumen für die Lehrerinnen noch heute zu den Bildern des 1. September / Foto © Pjotr Kassin/Kommersant

    Schuluniformen dienten der äußeren Disziplinierung und Zähmung der Körper und waren zugleich Teil der politischen Sozialisation. Sie sollten zwar sichtbare soziale Unterschiede auslöschen. Aber von Anfang an war den Schuluniformen das ganze Spektrum der Möglichkeiten von Konformität bis Überschreitung der durch sie definierten Zwänge und Grenzen eingeschrieben.10 Das etwas „Andere“ galt immer als Statussymbol. Das konnten selbst genähte Schürzen sein oder Spitzenkrägen, Manschetten und ganze Uniformen aus anderen Städten und Republiken.11 In Leningrad galt es beispielsweise als besonders schick, eine Uniform aus Riga zu tragen. Das war eine eigensinnige Praxis, die die Grenzen des Erlaubten auslotete und zugleich Teil der Gruppe blieb: Ein anders geschnittenes Kleid wurde als Ausbruch aus der staatlichen Normierung, als Selbstermächtigung empfunden. Im Alltag genügte es, wenn der Gesamteindruck und die Rocklänge stimmten. Sie markierten die Grenzen des Spektrums.12 

    In der Alltagsvariante mit dunkler Schürze, Strümpfen und Schleife konnte man spielen und toben, weil Flecken weniger auffielen. Die Festtagsvariante verlangte Disziplin, vorbildliches Auftreten und Mitwirkung bei den offiziellen Ritualen: Für die Klassenfotos waren weiße Strümpfe, Schürze und Schleife Pflicht, wer sie nicht hatte, musste hinten stehen, wo es nicht auffiel, oder sich fehlende Requisiten von einer Parallelklasse ausleihen.13

    Essiggeruch und angesengte Haarschleifen

    Die Erinnerungen an die Schuluniformen sind untrennbar mit Sinneseindrücken wie dem Geruch nach Essig und versengten Haarschleifen verbunden. Essig brauchte man, um die braunwollenen Schulkleider aufzubügeln, und die Enden der Kapronschleifen wurden angesengt, damit sie nicht ausfransten.14 

    Die Erinnerungen an die Haarschleifen sind ambivalent, die Prozedur des mütterlichen Frisierens in der morgendlichen Hektik war für einige von „Sehnsucht, Schmerz, Frustration und Scham begleitet“.15 Auf der anderen Seite standen die Schleifen für erste romantische Gefühle, denn in den ersten Schuljahren weckten sie das Interesse der Jungen, die den Mädchen hinterherrannten und sie herunterrissen – oder die Trägerinnen dieser Zeichen weiblicher Anmut aus der Ferne stumm verehrten. Vielleicht weckt deshalb der Anblick der Haarschleifen auf den Fotos bei vielen nostalgische Erinnerungen an die behütete sowjetische Kindheit. In den „wilden 1990er“ Jahren boten die großen Haarschleifen als Symbol dieser Kindheit den Erwachsenen einen imaginären Zufluchtsort.16 Schließlich überstanden die Haarschleifen auch die offizielle Abschaffung der Schuluniformen 1992 und gehören wie die Blumen für die Lehrerinnen auch heute noch zu den Bildern des 1. September.


    1. Millei, Zsuzsa/Piattoeva, Nelli /Silova, Iveta and Aydarova, Elena (2018): Hair Bows and Uniforms: Entangled Politics in Children’s Everyday Lives, in: Silova, Iveta/Piattoeva, Nelli/Millei, Zsuzsa (eds.): Childhood and Schooling in (Post)Socialist Societies, Cham, S. 145-162, S. 151-152 ↩︎
    2. Leont’eva, Svetlana (2008): Sovetskaja školnaja forma: Kanon i povsednevnost, in: Teorija Mody: Odežda Telo Kul´tura 9 (2008), S. 47–79, S. 50 und 52 ↩︎
    3. Rudova, Larissa /Balina, Marina (2008): Razmyšlenija o škol’nom forme (po materialam proizvedenij detskoj i avtobiografičeskoj literatury), in: Teorija Mody: Odežda Telo Kul´tura 9 (2008), S. 25–47, S. 41-42 zu den Schleifen ↩︎
    4. Millei et al., S. 151 ↩︎
    5. Millei et al., S. 154 ↩︎
    6. Kelly, Catriona (2007): Children’s World: Growing up in Russia 1890-1991, New Haven, London, S. 379-380 ↩︎
    7. Millei et al., S. 145-162 ↩︎
    8. Rudova/Balina, Razmyšlenija o škol’nom forme (Anm. 30), S. 40 ↩︎
    9. Rudova/Balina, Razmyšlenija o škol’nom forme (Anm. 30), S. 40-41 ↩︎
    10. Craik, Jennifer (2005): Uniforms Exposed: From Conformity to Transgression, Oxford; vgl. auch die bei de La Fe, Loraine (2013): Empire’s Children: Soviet Childhood in the Age of Revolution, Miami ↩︎
    11. ebd., S. 58 ↩︎
    12. grundlegend dazu Rudova/ Balina, Razmyšlenija o škol’nom forme und Leont’eva, Sovetskaja školnaja forma ↩︎
    13. Millei et al., S.155 ↩︎
    14. Leont’eva, Sovetskaja školnaja forma (Anm. 30), S. 67 ↩︎
    15. Millei et al., S. 153 ↩︎
    16. Rudova/Balina, Razmyšlenija o škol’nom forme (Anm. 30), S. 41 ↩︎

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    Pionierlager Artek

    Der Sowjetmensch

    Lehrerinnen fürs Ende der Welt

    Sowjetische Eiscreme

  • Sowjetische Schuluniformen – Normierung und Eigensinn

    Sowjetische Schuluniformen – Normierung und Eigensinn

    Ehemalige Sowjetbürgerinnen und -Bürger erinnern sich an die sowjetischen Schuluniformen, an die kratzenden Wollkleider, die roten Halstücher, die Gerüche, das Nähen der Schürzen, die Haarschleifen. Doch wovon sprechen sie eigentlich, wenn sie von „der Uniform“ reden? Ein Blick auf die Geschichte dieser Einheitskleidung zeigt, dass sie keine war.

    Rückblickend wird die Uniform als Überstülpen staatlicher Werte und der Umgang damit häufig als Kampf um das Recht auf individuelle Freiheiten dargestellt.1 Das verstellt den Blick auf die breite Akzeptanz und das Spiel mit Varianten entlang der Grenzen, das Ansehen innerhalb der Gruppe der Gleichaltrigen brachte: Man konnte Uniformen aus anderen Republiken anziehen, mit den Accessoires spielen und die Uniform auf lässige Weise tragen, um Coolness zu demonstrieren und die Lehrer zu provozieren. 

    Im sowjetischen Alltag war die Uniform, trotz der lebhaften sinnlichen Erinnerungen an sie, nie ganz einheitlich: Es gab regionale Unterschiede, die Einführung neuer Uniformen verlief zeitlich versetzt, es gab Festtags- und Alltagsvarianten, und in Zeiten des Defizits war die Uniform für den Alltag einfach zu schade oder schlicht nicht aufzutreiben. Die Schuluniform überlagerte sich mit der Pionieruniform, weil das rote Halstuch oft auch zur Schulkleidung getragen wurde. Außerdem musste sowieso häufig improvisiert werden, und die Aneignung der sperrigen Uniform führte auch ein Stück weit zu deren Individualisierung – sei es durch andere Knöpfe, unterschiedlichen Schnitt oder die Lage der Taschen. Hinzu kamen freie Elemente wie Krägen, Manschetten und Haarbänder bei den Mädchen. Gerade diese kleinen Accessoires waren jedoch neben der Schürze zentrale Kennzeichen der Uniform. Im Ergebnis war keine Uniform genau wie die andere. Im Alltag war wichtig, dass der Gesamteindruck und die Rocklänge stimmten.2

    Die chronologische Erzählung von der Abschaffung der „bourgeoisen“ Schuluniformen im Jahr 1918 über die Wiedereinführung nach dem Zweiten Weltkrieg bis hin zu mehrfachen Wechseln vor allem der männlichen Uniformen löst sich bei Betrachtung der Dokumentenlage auf: Es gab keine zentralen Dekrete und GOST-Prüfstellen-Dokumente zu den sowjetischen Schuluniformen. Die Alltagspraktiken zeigen ein Spektrum paralleler Vorstellungen und Entwicklungen. 

    Kleine Chronologie der Schuluniformen

    In den 1920er und 1930er Jahren gab es zwar keine Uniformen, wohl aber Vorstellungen von einer für die Schule angemessenen Kleidung. Diese Vorstellungen waren von vorrevolutionären Traditionen geprägt. Zugleich waren eine gezielte Hygienepolitik und bestimmte Ordnungsvorstellungen Teil des sowjetischen Modernisierungsprojektes.3 Die materielle Situation ließ an eine flächendeckende Einführung einheitlicher Kleidung nicht denken. Dennoch gab es Normvorstellungen, und die politischen Trends forderten eine sichtbare Zuweisung von traditionellen Geschlechterrollen. Beides verfestigte sich dann bereits Mitte der 1930er Jahre, als die Schürze für Mädchen zunächst an Moskauer Schulen „üblich“ wurde.4 

    Nach 1945, also nach den Kriegserfahrungen und Millionen Toten bedeuteten die Schuluniformen mit ihrer klaren geschlechtsspezifischen Ausprägung einen Schritt zurück zu vertrauten Ordnungen.5 Änderungen konnten wegen der Mangelsituation nur nach und nach umgesetzt werden: Die in Moskau 1945 für Erstklässlerinnen eingeführte Uniform setzte sich in den Regionen erst rund zehn Jahre später durch. 
    Die Mädchen trugen dunkelbraune Kleider mit weißen Schürzen an Feiertagen und dunklen an Arbeitstagen, dazu Kragen, Manschetten und Haarschleifen. Kragen und Schürze wurden in der Schule über dem einfachen dunklen Kleid getragen und verbanden die Mädchen symbolisch mit der häuslichen Sphäre: Der chalat (Kittelschürze) war und ist ein Kleidungsstück, das sowjetische Frauen bei der Hausarbeit tragen.6 Die Schürze stellte auch den Bezug zu pflegerischen Tätigkeiten her. Die sowjetische Schuluniform ähnelte derjenigen vorrevolutionärer Mädchengymnasien.

    Schürzen und Schleifen für die Mädchen, Militärjacken für die Jungs

    In den unteren Klassen der Moskauer Jungenschulen wurde 1950–51 eine gegürtete Militärjacke (gimnastjorka) mit Stehkragen als Uniform eingeführt.7 Unionsweit gab es einheitliche Schuluniformen erst ab 1954. Während des Tauwetters wurden sie 1962 durch einen grauen Anzug ersetzt. Auf Klassenfotos der folgenden Jahre trugen einige noch die alte gimnastjorka, andere bereits den grauen Anzug.8 Knapp zehn Jahre später wurde dieser „Bürokratenanzug“ von einer sportlichen kurzen Jacke und Hosen in Blau abgelöst.9 Regionale Unterschiede verstärkten sich bis Ende der 1970er Jahre: In Taschkent gab es zeitweise eine blaue Sommeruniform mit kurzen Ärmeln,  in Usbekistan trugen die Mädchen lange Röcke. In Estland gab es für die Jungen einen schwarzen Anzug mit blauem Hemd, Ende der 1970er Jahre sogar Jeanshosen und Jeanshemd als Schuluniform. Verschiedene Hersteller legten auch bei den Uniformen in der RSFSR die Details unterschiedlich aus, so dass es zu sichtbaren Differenzen kam. 

    Schul- und Pionieruniformen sollten einen sowjetischen Habitus schaffen. Die Kinder machten die Uniformen aber auch zum Spielfeld eigensinnigen Handelns / Foto © Konstantin Boronin/Wikimedia unter CC BY-SA 4.0

    Zur Uniform wurde schon ab den 1920er Jahren das Pionierhalstuch getragen, auch von den Mädchen. Ab den 1950er Jahren, als die Mitgliedschaft bei den Pionieren quasi obligatorisch war, war es offizieller Teil der Schuluniform. Das Tragen oder Nichttragen des Halstuches galt als Zeichen von Konformismus oder Auflehnung.10

    Normierung und Eigensinn

    Uniformen stiften Gemeinschaft, grenzen die Gruppe nach außen ab und bezeichnen innere Hierarchien. Sie dienen der äußeren Disziplinierung und Zähmung der Körper und haben Einfluss auf das Verhalten. Schul- und Pionieruniformen sollten einen sowjetischen Habitus schaffen.11 Die Kinder machten die Uniformen aber auch zum Spielfeld eigensinnigen Handelns. Mit der Einheitskleidung setzten Prozesse der inneren Abgrenzung und Individualisierung ein, etwa durch Details. Dabei half der Umstand, dass es jeweils um den Gesamteindruck einheitlicher Kleidung ging und einzelne Elemente der Uniformen variabel waren.

    Die Mädchenuniform umfasste zahlreiche Varianten von Kleid mit Schürze, Manschetten und Kragen. Die Haarschleife sollte weiß, schwarz oder dunkelbraun sein,12 aber in Bezug auf Material, Breite des Bandes und Platzierung war sie nicht definiert. Das Kleid konnte tailliert geschnitten sein, die Form des Rockes variierte ebenso wie Sitz und Form der Taschen. Erinnert werden neben der Pflege der Uniform und den damit verbundenen Gerüchen auch die Umstände ihres Erwerbs oder ihrer Herstellung. Wichtig waren kleine Besonderheiten. Das etwas „Andere“ galt immer als Statussymbol, etwa Accessoires oder Uniformen aus anderen Städten und Republiken.13 Diese eigensinnige Praxis lotete die Grenzen des Erlaubten aus: Ein anders geschnittenes Kleid wurde als Ausbruch aus der staatlichen Normierung und als Selbstermächtigung empfunden. Man konnte das System mit seinen eigenen Regeln überlisten, indem man sich der Direktorin gegenüber mit dem Hinweis verteidigte, das sei eine sowjetische Schuluniform, nur eben aus Riga.

    Auch die Schürzen waren in Stoffqualität und Zuschnitt Statusobjekte. Lage und Art der Taschen, auch die Breite der Träger unterlagen modischen Trends. Grundlage solcher Distinktionspraktiken war das sowjetische System von Produktion und Handel mit seinen Defiziten und lokalen Versorgungsunterschieden. Es gab exklusive Geschäfte wie das Detski Mir oder Berjoska sowie die Möglichkeit, eine Schneiderin zu engagieren. Viele Mütter und ältere Schülerinnen nähten die Schürzen selbst.14 Die Schürze wurde in den 1970er Jahren zunehmend als unzeitgemäß empfunden. Versuche älterer Schülerinnen, ohne zu gehen, konnten noch in der späten Breshnew-Zeit Sanktionen nach sich ziehen.15 Erst 1984 gab es eine Änderung der Mädchenuniform von Braun zu Dunkelblau und vom Kleid zu Rock, Jacke und Weste. Und mit der Perestroika war bis Ende der 1980er Jahre auf breiter Front der Widerstand gegen die Uniformen gewachsen. 

    Von Anfang an war den sowjetischen Schuluniformen das ganze Spektrum der Möglichkeiten von Konformität bis Überschreitung der durch sie definierten Zwänge und Grenzen eingeschrieben.16 Die Uniform ist Teil des Prozesses, den Körper zu zähmen, die äußeren mit inneren Mechanismen der Kontrolle zu verbinden. Gerade der kindliche Körper ist durch die Entwicklung, durch Wachstum und Veränderung der Proportionen starken Wandlungsprozessen ausgesetzt. Selbst die Uniform konnte dem Auge die Heterogenität des kindlichen Kollektivs nicht verbergen. Die ungezähmt wachsenden Körper sprengten sie. Kinder in zu kleinen oder abgenutzten Uniformen glichen – gewollt oder ungewollt – den negativen Helden der Kinderliteratur, den besprisornyje und den „Wiederholern“ in ihren abgewetzten, verblichenen, unordentlichen Uniformen.17

    Als die Uniform uncool wurde

    Innerhalb der Grenzen des Spektrums des „Gesamteindrucks“ und zwischen Schul- und Pionieruniform war einiges möglich. Als die Uniform uncool wurde, ließen Mädchen die Schürze weg, Jungen trugen zivile Hosen zur Jacke. Erst gegen Ende der 1980er Jahre wurden die Grenzen wirklich anarchisch durch Praktiken des Punk und der Zerstörung überschritten. Schließlich wurde die Uniform ganz ins Lächerliche gezogen und gegen Schulschluss im Sinn der Punk-Mode abgeändert, Ärmel herausgetrennt, Sprüche aufgemalt, Schürzen zerrissen und Röcke extrem gekürzt. Die Abschaffung der sowjetischen Schuluniformen 1992 bedeutete nicht für alle die lang ersehnte Freiheit:  Viele Kinder sahen plötzlich, „wie arm wir waren“. Viele Eltern und Lehrkräfte bedauerten daher den Schritt. 

    Die sowjetischen Schuluniformen haben ein Nachleben in der Gegenwart. Die Mädchenuniform dient als sexy Party-Garderobe für Lolitas.18 Aber auch als Teil der Schulfolklore tauchen die weißen Schürzen und Haarschleifen weiterhin auf. Denn der 1. September wird in Russland und auch in der Ukraine als „Tag des Wissens“ feierlich begangen. Viele Kinder erscheinen an ihrem ersten Schultag in sowjetisch inspirierten Uniformen und mit Blumen für die Lehrerin.


    1. Leont’eva, Svetlana (2008): Sovetskaja školnaja forma: Kanon i povsednevnost, in: Teorija Mody: Odežda Telo Kul´tura 9 (2008), S. 47–79, S. 48 ↩︎
    2. Grundlegend dazu Rudova, Larissa / Balina, Marina (2008): Razmyšlenija o škol’nom forme (po materialam proizvedenij detskoj i avtobiografičeskoj literatury), in: Teorija Mody. Odežda Telo Kul´tura 9 (2008), S. 25–46, und Leont’eva, Sovetskaja školnaja forma ↩︎
    3. Leont’eva, Sovetskaja školnaja forma, S. 50 ↩︎
    4. Rudova/Balina, Razmyšlenija o škol’nom forme, S. 40 ↩︎
    5. Leont’eva, Sovetskaja školnaja forma, S. 50 und 52 ↩︎
    6. Vainshtein, Ol’ga (1996): Female Fashion, Soviet Style, in: Goscilo, Helena /Holmgren, Beth (Hrsg.): Russia – Women – Culture, Bloomington, S. 64–93 ↩︎
    7. Leont’eva, Sovetskaja školnaja forma, S. 50f. ↩︎
    8. Leont’eva, Sovetskaja školnaja forma, S. 52 ↩︎
    9. Rudova/Balina, Razmyšlenija o škol’nom forme, S. 29 ff. ↩︎
    10. Leont’eva, Sovetskaja školnaja forma, S. 55 ↩︎
    11. Zu Uniformen und Habitus vgl. Craik, Jennifer (2005): Uniforms Exposed: From Conformity to Transgression, Oxford; vgl. auch de La Fe, Loraine (2013): Empire’s Children: Soviet Childhood in the Age of Revolution, Miami ↩︎
    12. Rudova/Balina, Razmyšlenija o škol’nom forme, S. 40 ↩︎
    13. Leont’eva, Sovetskaja školnaja forma, S. 58 ↩︎
    14. Leont’eva, Sovetskaja školnaja forma, S. 60-62 ↩︎
    15. Rudova/Balina, Razmyšlenija o škol’nom forme, S. 30 ↩︎
    16. Craik, Uniforms Exposed ↩︎
    17. Rudova/Balina, Razmyšlenija o škol’nom forme, S. 38f. ↩︎
    18. Rudova/Balina, Razmyšlenija o škol’nom forme, S. 30 ↩︎

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    Der Sowjetmensch

    Lehrerinnen fürs Ende der Welt

    Sowjetnostalgie und Stalinkult

    Vom Versuch der „einheitlichen“ Geschichte

    Müde Helden und bröckelnde Nymphen

  • „Es war nicht alles umsonst“: DDR- und Sowjet-Nostalgie im Vergleich

    „Es war nicht alles umsonst“:  DDR- und Sowjet-Nostalgie im Vergleich

    Die DDR und die Sowjetunion hatten beide auf ihre Weise Extrempositionen: Die kleine DDR war durch ihre Grenzlage und den deutschen Zwillingsstaat immer dem unmittelbaren Vergleich mit dem „Westen“ ausgesetzt. Die Sowjetunion war groß und die kommunistische Supermacht. Beide verschwanden von der Landkarte. Doch danach nahm die Nostalgie unterschiedliche Formen an.

    DDR-Bürger und Sowjetbürger fielen aus ihren Ländern. Aber die ehemaligen DDR-Bürger fielen weicher, denn sie wurden von den bundesdeutschen Sozialwerken aufgefangen. Für die einstigen Sowjetbürger war die Fallhöhe ungleich größer, und niemand fing sie auf. Russland sah sich zwar als Nachfolgestaat der Sowjetunion, hatte aber über Nacht seinen globalen Großmachtstatus, seine Vormachtstellung in Osteuropa, seine Absatzmärkte und sein Prestige als ungeliebter aber respektierter Chef verloren. Im Unterschied zu den anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks konnten die russischen Bürger keine fremde Macht für die Missstände verantwortlich machen. 

    Nach 1989 waren die Grenzen offen und die Mauern gefallen. Aber es zeigte sich, dass der Osten ganz andere Vorstellungen von der Geschichte hatte als der Westen. In diesen Vorstellungen spielte der Stalinismus eine wichtigere Rolle als der Nationalsozialismus (der Faschismus hieß), und der Holocaust kam kaum vor. Außerdem machte sich schon bald eine irritierende Nostalgie bemerkbar: Denselben Bürgerinnen und Bürgern, die sich kurz zuvor der Parteidiktaturen entledigt hatten, erschien angesichts der sozialen Sprengkraft der Privatisierungen und des Turbokapitalismus das Leben im Sozialismus in einem positiven Licht.1 Dabei variierten die nostalgischen Praktiken und ihre Inhalte von Land zu Land.2

    Im postsowjetischen Russland brach der Staat komplett zusammen, Löhne und Renten wurden immer wieder monatelang nicht ausbezahlt. Diese Krisenerfahrung der 1990er Jahre blieb den Ostdeutschen erspart. Dafür gab es in Russland keine Bevormundung von außen, was die Vergangenheitsbewältigung und die Lebensleistung anbetraf, und auch keinen Schwarm von „Besserwessis“, der die Posten der ostdeutschen Funktionseliten besetzte. In Russland blieben letztlich die alten Eliten oder deren Kinder an der nun privatisierten Macht. Die Kontinuität des Staatsverständnisses, der Regierungs- und Kommunikationsstil und die Rolle von Autorität erschließt sich jedem, der heute eine russische Schule betritt. Geschichtspolitik ist weiterhin Staatsmonopol. Die russische Führung weiß die Nostalgie als politische Ressource zu nutzen und konzentriert sich zunehmend darauf, den verlorenen Großmachtstatus wiederzugewinnen. 

    Offizielle Werte-Rhetorik versus Dinge des Alltags

    Die nostalgische Sehnsucht „nach einer sicheren Welt, einer gerechten Gesellschaft, wahren Freundschaften, gegenseitiger Solidarität und des allgemeinen Wohlergehens, kurz, nach einer perfekten Welt“3 macht sich in Russland vor allem an Kindheitserinnerungen, an Lieblingsspeisen und an einer auch offiziellen Werte-Rhetorik (Sicherheit und Solidarität) fest – in Ostdeutschland hingegen vor allem an materiellen Dingen des Alltags. 

    Diese Rolle der materiellen Kultur kam nicht von Ungefähr: Die deutsch-deutsche Rivalität durch die direkte Nachbarschaft während des Kalten Krieges war jahrzehntelang an den Warenwelten festgemacht, repräsentiert und gedeutet worden. Die Dinge des Alltags waren politisch aufgeladen. Während die Westdeutschen angesichts von DDR-Waren und ihres Schönen Einheits Designs (so der Titel einer Ausstellung von 1989) mitleidig die Nase rümpften, umgab die Westwaren in allen sozialistischen Gesellschaften eine Aura höchsten symbolischen Kapitals. Dieser Fetischismus machte auch vor den Führungseliten nicht Halt: Breshnew fuhr Mercedes, und in Wandlitz umgaben sich die Honeckers und Mielkes mit westdeutschen Waschmaschinen und japanischer Elektronik. Währenddessen blätterten ihre Bürger verzweifelt im unter der Hand weitergereichten Neckermann-Katalog, und nur diejenigen mit Westverwandten konnten hoffen, etwas davon einmal in den Händen halten zu dürfen.

    In zahlreichen privaten DDR-Museen stapelten sich in den 1990er Jahren regaleweise alte Fernseher, Tonbandgeräte und Gummi-Kosmonauten. Hier konnten die Dinge abgegeben werden und dennoch ihre Würde behalten, nützlich bleiben und der Überlieferung von DDR-Wissen an die Nachwelt dienen / Foto © Jürgen Ritter/imago images

    Es ist bemerkenswert, wie die ungeliebten Konsumgüter in den Auslagen der HO-Kaufhallen wenige Jahre später zu sehnsuchtsumwogten Erinnerungsorten werden konnten.4 Weniger verwunderlich ist hingegen, dass die Westgüter die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllten. Die heiß ersehnten Markenartikel verloren ihren Nimbus als symbolisches Kapital relativ schnell: Erstens waren sie nun im Übermaß vorhanden, zweitens waren sie teuer, und drittens befriedigten die Dinge, die man sich doch leistete, nicht. Bald nahm die Sehnsucht nach den Waren der verlorenen sozialistischen Welt den Platz ein, den zuvor die Westwaren besetzt hatten. 

    Allerdings war der Grad der Fixierung auf die Dinge eine ostdeutsche Besonderheit, die in Russland keine Entsprechung hatte. Das hatte verschiedene Gründe:

    Im Unterschied zu Russland wurden viele Dinge aus dem DDR-Alltag wie Geräte, Kleidung, Autos und Dokumente über Nacht unbrauchbar. Im Zuge der Wiedervereinigung verschwanden die vertrauten Produkte aus den Regalen der Geschäfte, weil sie niemand mehr kaufen wollte. Viele Menschen größtenteils mittleren Alters begannen angesichts der grundstürzenden Veränderungen, die schwindenden Gegenstände des täglichen Lebens zu sammeln. 

    Schmerzliche Erfahrung mit Stasi-Akten

    Die zuvor politisch aufgeladenen Dinge erhielten neue, emotionale Bedeutungen. Dazu trug die schmerzliche Erfahrung mit den Stasi-Akten bei: In der späten DDR hatten sich die Bürger nicht mehr mit dem Staat, sondern mit ihren geliebten „Nischen“ identifiziert, in denen soziale Gleichheit, Freundschaft und Solidarität herrschten. Genau diese Nischen erwiesen sich dann aber als von IMs unterwanderte Horte der gegenseitigen Bespitzelung. Diese fortschreitende Entzauberung vernichtete die letzten Illusionen über die vielgelobte Solidarität in der DDR. Nicht zuletzt deshalb verlagerten sich die emotionalen Praktiken des Erinnerns auf die Dinge.5

    Sie wurden zu Stellvertretern, zu Symbolen sozialistischer Erfahrung und Identität.6 Durch das Sammeln versuchten die ehemaligen DDR-Bürgerinnen, die Kontrolle und die Deutungshoheit über die Veränderungen ein Stück weit zurückzuerlangen und sich auch für das eigene Selbstverständnis, die Lebensbilanz, eine Zeitkapsel zu schaffen.

    In zahlreichen privaten DDR-Museen stapelten sich in den 1990er Jahren regaleweise alte Fernseher, Tonbandgeräte und Gummi-Kosmonauten. Die Menschen wollten die Dinge nicht mehr behalten, aber fortwerfen mochten sie sie auch nicht. Die Museen boten eine Lösung: Wie auf einem Friedhof konnten hier die Dinge abgegeben werden und dennoch ihre Würde behalten, nützlich bleiben und der Überlieferung von DDR-Wissen an die Nachwelt dienen. Es war nicht alles umsonst: hier ruht die Lebensleistung der DDR-Bürger.7 

    Die Sammelwut, die private und offizielle Musealisierung der DDR, unterscheidet die DDR-Nostalgie fundamental von der Sowjetnostalgie. Die Entwertung biografischer Erfahrung, die die DDR-Bürger nach 1989 mit voller Wucht traf, gab es in Russland nicht.8 Im postsowjetischen Russland wandelte sich die materielle Umgebung nicht so schnell. Paradigmatische Wende-Figuren wie die bananengeile „Zonen-Gabi“ fehlten hier. Die Kaufkraft war geringer und die Zölle auf Westprodukte hoch. Auch die Betriebe wurden weniger schnell privatisiert oder abgewickelt und produzierten weiter. Die Wolgas und Moskwitschs blieben im Verkehr, und die Wohnungen der älteren Menschen sind bis heute mit sowjetischen Möbeln ausgestattet. Sowjetische Dinge wurden nicht gesammelt, sondern benutzt.

    Sowjetische Dinge wurden nicht gesammelt, sondern benutzt

    In postsowjetischen nostalgischen Praktiken geht es deshalb eher um Symbole, um Auslöser von Erinnerungen und Emotionen wie Speisen, Bilder und sowjetische Schlager. Sowjetbürger suchen bis heute nach „demselben Geschmack“ bei den Neuauflagen beliebter Marken von damals. Produkte wie die Milchschokolade Alenka, Indischer Tee, sowjetische Eiscreme (plombir), Vogelmilch-Torte, Doktorskaja-Wurst oder der Streichkäse Drushba waren oft im Defizit und erinnern ans Schlangestehen, an Beschaffungs-Solidarität und an staatliche Fürsorge zugleich. 
    Durch nostalgisches Essen können Erfahrungen einverleibt, nacherlebt und mit anderen geteilt werden. Der Fernsehsender Nostalgija, 2004 gegründet, zeigt nicht nur beliebte sowjetische Filme, sondern imitiert sowjetische Sendeformate und sogar die Programmstruktur des sowjetischen Fernsehens.9 Die populärste sowjetische Schlagersängerin Alla Pugatschowa blieb im Geschäft. Die sowjetischen Dinge spielen zwar auch eine Rolle, aber nur in virtuellen Rekonstruktionen der UdSSR 2.0 im Internet10 und in Social-Media Gruppen auf LiveJournal, Vkontakte oder Odnoklassniki.11 

    Sowjetnostalgie als Mainstream 

    In postsowjetischen nostalgischen Praktiken geht es um moralische Werte wie Solidarität und Vertrauen, die in den überlebenswichtigen persönlichen sozialen Netzwerken zentral waren und die mit der Erinnerung an den sowjetischen Alltag fest verbunden sind. In Russland hat die Stasi-Unterlagen-Behörde keine Entsprechung, die dieses Bild erschüttern könnte. Falls es Denunziantentum im Umfang des IM-Systems gab, wurde das nicht publik. Die zentralen Errungenschaften der Sowjetunion werden weiterhin gefeiert: der Sieg im Zweiten Weltkrieg, die Erfolge im Kosmos und die glückliche sowjetische Kindheit. Sie hatten eine längere Halbwertszeit als die Weltspitzenleistungen des Sozialismus, die die DDR erbrachte. Gagarin ist bis heute ein Begriff, aber die Helden der DDR wie Sigmund Jähn sind inzwischen vergessen. Das hängt vielleicht auch damit zusammen, dass es um das wandelbare Phänomen der Ostalgie inzwischen stiller geworden ist, während sich die Sowjetnostalgie durch verschiedene Entwicklungsstufen bewegte und heute Mainstream und Teil der offiziellen russischen Geschichtspolitik ist.


     

    1. vgl. Nadkarni,Maya/Shevchenko, Olga (2004): The Politics of Nostalgia: A Case for Comparative Analysis of Post-Socialist Practices, in: Ab Imperio 2 (2004) 4, S. 487-519 ↩︎
    2. Todorova, Marija/Gille, Zsuzsa (Hrsg., 2012): Post-communist Nostalgia, Oxford; Todorova, Marija (Hrsg., 2014): Remembering communism. private and public recollections of lived experience Southeast Europe, Budapest ↩︎
    3. Velikonja, Mitja (2009): Lost in Transition: Nostalgia for Socialism in Post-Socialist Countries, in: East European Politics and Societies 23 (2009) H. 4, S. 535-551, hier S. 535 ↩︎
    4. Betts, Paul (2000): The Twilight of the Idols: East German Memory and Material Culture, in: The Journal of Modern History, Vol. 72, No. 3 (September 2000), S. 731-765, hier S. 762 ↩︎
    5. Betts, S. 744 ↩︎
    6. Betts, S. 734 ↩︎
    7. Bach, Jonathan (2015): Consuming Communism: Material Cultures of Nostalgia in Former East Germany, in: Angé, Olivia/Berliner, David (Hrsg.): Anthropology and Nostalgia, New York, S. 123-138., hier S. 734 ↩︎
    8. Corney, Frederick C. (2010): Remembering Communism in Modern Russia: Archives, Memoirs, and Lived Experience, in: Todorova, Marija (Hrsg.): Remembering Communism: Genres of Representation, New York, S. 237-252, hier S. 246-7 ↩︎
    9. Kalinina, Ekaterina (2014): Multiple faces of the nostalgia channel in Russia, in: View: Journal of European Television History and Cult 5 (2014) H. 3, S. 108-118 ↩︎
    10. Morenkova, Elena (2012): (Re)Creating the Soviet Past in Russian Digital Communities: Between Memory and Mythmaking, in: Digital Icons – Studies in Russian, Eurasian and Central European New Media 7 (2012), S. 39-66 ↩︎
    11. Beispiele für die UdSSR 2.0 im Netz: Vaš 1922–91 god roždenija, Muzej Torgovli, Žizn‘ v SSSR, Istorija SSSR, Rodina – Sovetskij Sojuz, Naša Rodina – SSSR!, Rodina SSSR, SSSR naša Rodina, Proekt SSSR 2.0. Ein weiteres Beispiel ist die mit staatl. Unterstützung gedrehte Dokuserie „Hergestellt in der UdSSR“ (Sdelano v SSSR) ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Editorial: dekoder an der Uni – oder von der Prawda zum kollaborativen Schreiben

    Editorial: dekoder an der Uni – oder von der Prawda zum kollaborativen Schreiben

    Linearer Text hält sich wacker in Online-Zeiten. Wo das Internet ausufert, zieht er irgendwie auch Grenzen, hegt ein, reduziert (wenn es gut läuft). Doch schöpft er die Möglichkeiten nicht aus. 
    Wie können Wissen und Inhalte unter digital getriebenen Arbeits- und Rezeptionsmustern generiert und aufbereitet werden? Das war eine der Kernfragen, die sich Studierende zusammen mit dekoder in einem Projektseminar an der Universität Hamburg gestellt haben. Die Studierenden haben sich dafür mit dem Truppenabzug der vormals Roten Armee aus Ostdeutschland beschäftigt. Ein Prozess, der sich bei rund einer halben Million Menschen, Militärs mit ihren Angehörigen, über knapp vier Jahre zog. Die Soldaten waren plötzlich ein Relikt des Kalten Krieges, mitgerissen vom Strom der Geschichte und von den rasanten Umbrüchen von 1990

    Wie lässt sich das Thema aufgreifen und für ein Online-Magazin aufbereiten? Dafür ist dekoder ein Semester lang an die Uni gekommen, und die Studierenden der Fachbereiche Geschichte und Osteuropastudien haben sich darauf eingelassen und ausprobiert. Wo sonst wissenschaftliche Hausarbeiten ihren Alltag dominieren, begannen sie, in Formaten zu denken, die völlig anders funktionieren, sei es eine Online-Presseschau oder ein Visual. 
    Dabei gehen Wissenschaft und Journalismus ineinander über. Nicht umsonst kooperiert das vom Lehrlabor der Universität Hamburg geförderte innovative Lehrformat eng mit dem Projekt Wissenstransfer hoch zwei: Russlandstudien, an dem dekoder mit der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen arbeitet. Die Materialien erscheinen zum Jahrestag des Truppenabzugs am 31. August auf dekoder.org. 

    Einige der Studierenden sagten, allein schon die Art des gemeinsamen on-offline-Arbeitens sei neu für sie gewesen: mit Redaktionskonferenzen in Gruppen oder im Plenum, per Email oder im Chat, außerdem mit kollaborativem Schreiben. Das erzeugt auch eine ständige Pseudo-Nähe, die gerade im digitalen Zeitalter zu vielen Berufsfeldern gehört, doch macht man sie sich selten bewusst. Andere überraschte, dass der Weg, Russland für ein online-Publikum zu entschlüsseln, ganz klassisch offline beginnt: mit der Wühlarbeit im Archiv über dicken, angegilbten Zeitungsstapeln – auch wenn das Internet suggeriert, alles sei nur ein paar Klicks entfernt (bei einigen Blättern, wie der Prawda und der Izvestia stimmt das sogar).

    dekoder stößt damit Fragen an: Was bedeutet die digitale Gesellschaft? Welche Kompetenzen braucht es? Wie verändert sich die Wissenschaft, das Leben und Arbeiten von Wissenschaftlern? Wie funktioniert wissenschaftsbasierter Journalismus im Internet? 

    Die Diskussion im Seminar zeigte, wie divers privater Medienkonsum aussieht: mit Podcasts, Videos und einer Faszination für Virtual Reality. WhatsApp nutzen alle durch die Bank. Doch als Produzenten hängen viele am klassisch linearen Text, der immer noch geläufigsten Form für Publikationen. Wie gesagt, er hält sich wacker. Warum auch nicht, Schreiben ist ein Teil des Digitalen, wird im Netz jedoch auf immer neue Weise ergänzt und transformiert. 
    So ist es für die Studierenden neues Terrain, mit der verzweigten dekoder-Struktur zu arbeiten, mit den Erklärungen in Pop-ups und den Hyperlinks zu den Gnosen, im besten Fall sogar interaktiven Karten (daran basteln wir noch) Was sie von ihren Erfahrungen sonst zu berichten haben, erzählen sie übrigens in einem begleitenden Seminarblog
    Mit den Materialien zum Truppenabzug aus Ostdeutschland geht es unterdessen auf die Zielgerade. Und wir sind selbst am meisten gespannt.

    Aus der Uni grüßen

    Monica Rüthers 
    Mandy Ganske-Zapf

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  • Haus der Regierung

    Haus der Regierung

    Das riesige Gebäude erhebt sich direkt am Ufer der Moskwa. Zu Sowjetzeiten wirkte es durch den dunkelgrauen Putz düster. Gebaut wurde es in der Stalinzeit von 1928 bis 1931 als Gated Community der Mächtigen mit Tennisplatz auf dem Dach und Schießstand im Keller. Seit sich die kulturhistorische Forschung in den 1990er Jahren der sowjetischen Zivilisation zugewendet hat, wurden viele Metaphern für das faszinierende Haus der Regierung geprägt. Die eingängigsten stammen vom Osteuropahistoriker Karl Schlögel, der es als „Titanic des Sowjetkommunismus“ und „Museum einer untergegangenen Lebensform“ bezeichnete.1 Um die Symbolik auf die Spitze zu treiben, drehte sich ab 2001 zehn Jahre lang ein Mercedes-Stern auf dem Gebäude gegenüber dem Kreml mit seinem Roten Stern und verkündete die Ankunft im Kapitalismus. 
    Neben der Gemeinschaftswohnung, der Kommunalka, bietet sich dieser Wohnblock als Mikrokosmos für die Untersuchung der „Sowjetunion im Kleinen“ an. So erzählt Yuri Slezkine anhand der Geschichte dieses Hauses und seiner Menschen die Geschichte des Sowjetkommunismus.2

    Die zwölfstöckige Trutzburg ist ein beliebtes Wohnhaus direkt am Ufer der Moskwa / Foto © Wikipedia/ Ludvig 14 unter CC BY-SA 4.0
    Die zwölfstöckige Trutzburg ist ein beliebtes Wohnhaus direkt am Ufer der Moskwa / Foto © Wikipedia/ Ludvig 14 unter CC BY-SA 4.0

    Der Gebäudekomplex war eines der größten Bauvorhaben seiner Zeit. Eigentlich war es kein „Haus“, sondern eine riesige Wohnmaschine von 500.000 Kubikmetern umbautem Raum auf acht Hektar, mit 505 Wohnungen und gemeinsamen Versorgungs- und Dienstleistungseinrichtungen für rund 2500 Menschen. Der luxuriös ausgebaute Wohnkomplex am Ufer der Moskwa beherbergte seit 1931 zahlreiche Regierungsmitglieder und führende Bolschewiki der Revolutionszeit mit ihren Familien, die zuvor im Kreml und in den umliegenden Hotels wie dem National oder dem Metropol gewohnt hatten. Sie sollten hier an einem Ort in unmittelbarer Nähe zum Kreml konzentriert werden. Die  Blickverbindung zum Kreml symbolisierte die Nähe zur Macht – aber auch die Kontrolle.

    Es war die Zeit des heroischen Aufbaus des Kommunismus und des ersten Fünfjahrplans. Die Menschen waren aufgerufen, Verzicht in der Gegenwart zu üben, um eine bessere Zukunft zu errichten. Die Wohnungsnot in Moskau war legendär. Alle lebten zusammengedrängt in Gemeinschaftswohnungen, Baracken oder Wohnheimen. Die verfügbare Wohnfläche pro Einwohner sollte zwar dereinst neun Quadratmeter betragen, lag aber wegen des Zustroms von Menschen bis in die 1950er Jahre hinein zwischen vier und fünf Quadratmetern. Vor diesem Hintergrund waren die Wohnverhältnisse der privilegierten Führungsschicht im Haus der Regierung einfach märchenhaft. Eine Vierzimmerwohnung hatte hier gut 62 Quadratmeter. Auch wenn sie zeitweilig von mehreren Parteien geteilt wurde, war sie noch luxuriös.

    Da war zunächst die zentrale Lage am Wasser. Das Wasser spielte eine wichtige Rolle bei der Gestaltung des „Neuen Moskau“ zur Welthauptstadt des Kommunismus, die zeitgleich mit dem ersten Fünfjahrplan angegangen wurde. Die Befestigung der sumpfigen Flussufer erschloss Landreserven für den Bau repräsentativer Wohnbauten in zentralen Lagen der Stadt. Das erste Gebäude war das zwischen 1928 und 1931 errichtete, sogenannte Haus der Regierung gegenüber dem Kreml. Es nahm den Generalplan zur Rekonstruktion Moskaus von 1935 gewissermaßen vorweg. 

    „Neue Lebensweise“

    Die Architekten Boris und Dimitri Iofan gruppierten mehrere wuchtige, bis zu zwölf Stockwerke hohe Wohnblöcke auf dem acht Hektar großen Gelände um drei Innenhöfe. Die Abschlüsse bildeten zum Fluss hin das Theater der Estrade und rückwärtig das Kino Udarnik (dt. Stoßarbeiter). Der Stil markierte den Übergang vom Konstruktivismus der 1920er zum Neoklassizismus der 1930er Jahre. Der dunkelgraue Putz sollte den damals hochmodernen Baustoff Beton imitieren und das Gebäude vor dem Ruß der Heizanlagen in der Umgebung schützen. 
    Die Architekten entwarfen im Sinne des Neuen Bauens ein schlichtes, rationales Gebäude für die viel gepriesene kommunistische „Neue Lebensweise“, das den Akzent auf Askese und Gemeinschaftseinrichtungen legte. Die großzügigen Appartements hatten eigene Bäder und Küchen, in denen sogar ein Klappbett für das Dienstmädchen Platz hatte. Garderoben, Betten, Tische, alles war identisch und nummeriert.3 
    Die möblierten Dienstwohnungen folgten zwar der Idee der Gleichheit, aber auf hohem Niveau. So gestalteten die Architekten einheitliche, bequeme Möbel im behäbigen Stil der 1930er Jahre und statteten die Wohnungen mit Müllschluckern und Zentralheizung aus. 
    Hier lebten die Mächtigen und die Mächtigsten, Minister und Mitglieder des Politbüros, Marschälle und Admiräle, angesehene Wissenschaftler und Künstler, Angehörige der alten revolutionären Garde um Lenin, Helden des Bürgerkriegs und Ausländer, Mitglieder des Komintern. Wer es hierher geschafft hatte, war im Kommunismus angekommen.4 

    Innerhalb des Hauses etablierten sich sogleich eigene Hierarchien. Am wichtigsten waren die Positionen der Männer in den Rängen von Partei und Regierung oder der berufliche Status. Diese bestimmten Lage und Größe des Appartements. Die Wohnungen mit Blick über den Fluss waren die prestigeträchtigsten.5 Wer es sich leisten konnte oder wollte, brachte seine eigenen Möbel mit oder bestellte sie, manchmal sogar in London.6 Diese Hierarchien spiegelten sich in den Banden der Kinder, die alle dieselbe Schule besuchten und ein feines Gespür für Rangordnungen hatten.

    Der Wohnblock sollte seinen Bewohnern alles bieten, was sie im Alltag brauchten, es gab Sportanlagen, Klubräume, Bibliotheken und Geschäfte, medizinische Versorgung, eine Bankfiliale, eine Poststelle und einen Friseur. Die Kombination von Privatwohnungen und Gemeinschaftsräumen mit Dienstleistungen wie der Kantine, dem Kindergarten und der Wäscherei sollte ein Musterbeispiel für die neue, kollektive Lebensweise sein. Aber trotz der öffentlichen Einrichtungen wie dem Kino oder dem Theatersaal mit dem Klub handelte es sich nicht um ein Kommunehaus, denn es gab keine direkten Verbindungen zwischen den Wohnungen und den gemeinschaftlichen Bereichen.7 Das war kennzeichnend für die Zeit: Das 1930 erlassene „Dekret über Maßnahmen zur Transformation der Lebensweise“ beendete die jahrelangen urbanistischen Debatten um Kommunehäuser und die Abschaffung von Küchen in den Wohnungen mit dem Argument, man könne nicht in einem Sprung alle Hürden auf dem Weg zum Kommunismus überwinden. Erst die Industrialisierung des Landes würde die Grundlagen für die neue Lebensweise schaffen. Daher brauche man nun Häuser für den Übergang.8 Da war der Rohbau des Hauses der Regierung längst fertig. 

    Schwarze Fensterlöcher

    Die Wohnungen waren Inseln geordneten Wohlstandes im Meer des Chaos und des Mangels. Aber froh wurden die Menschen darin nicht, denn sie konnten sich ihres Erfolges keinen Moment lang sicher sein. Die Geschichten ihres Aufstiegs und Falls spiegeln sich in der hohen Fluktuation der Mieter.9 In den Wohnungen lebten im Verlauf der 1930er Jahre oft bis zu zehn Parteien in Folge. In der Wohnung, die seit 1989 als Museum zu besichtigen ist, herrscht eine seltsame Stimmung zwischen dem Luxus von Plüsch und Mahagoni, Fotoapparaten, Schreibmaschinen, Fahrrädern und dem bedrückenden Wissen um die todbringenden Abholkommandos des NKWD. Der Einzug in die Wohnung entpuppte sich oft genug als Höhepunkt einer für die Stalinzeit typischen Lebenskurve, die vom sozialen Aufstieg über eine Phase des Erfolgs jederzeit ins Lager oder in den Tod führen konnte.

    Abends verwandelte sich der Block in ein Lichtermeer hell erleuchteter Fenster. Doch 1937 erschienen dunkle Flecken in diesem Meer. Die Welle der Verhaftungen setzte 1936 ein, steigerte sich 1937 und ging 1938 zurück, um schließlich 1939 zu verebben. Rund 800 Bewohner des Hauses fielen dem Terror zum Opfer, einige davon brachten sich aus Angst vor ihrer Verhaftung vorher selbst um. 345 der 505 Wohnungen waren betroffen. Die Angehörigen der Verhafteten mussten in ein Zimmer der für ihresgleichen geräumten Wohnungen umziehen.10 Am Ende der Verhaftungswellen waren nur einige erleuchtete Inseln übrig. Die Wohnungen einzelner Aufgänge waren fast gänzlich entvölkert. Die schwarzen Fensterlöcher machten im Stadtbild Terror, Gewalt und Tod sichtbar. Die Zeitgenossen lasen das Haus an der Moskwa als „Barometer der Säuberungen“, wie sich der Zeitzeuge Lew Rasgon erinnert.11 
    Der Schriftsteller Juri Trifonow, der seine Kindheit in dem Haus verbrachte und dessen Vater 1938 verhaftet und erschossen wurde, setzte 1976 mit seiner berühmt gewordenen Erzählung Dom na Nabereshnoi (Das Haus an der Moskwa) nicht nur dem Haus und seinen Bewohnern ein Denkmal, sondern gab ihm auch einen neuen Namen: Haus an der Uferstraße, so die wörtliche Übersetzung des russischen Buchtitels, wurde es erst nach Erscheinen von Trifonows Erzählung genannt.12

    Einige der Bewohner verbrachten ihr ganzes Leben in dem Haus. Zahlreiche Wohnungen wurden in der poststalinistischen Ära als Gemeinschaftswohnungen genutzt. In den 1960er und 1970er Jahren zogen einige der alten Bewohner in die neuen Wohnviertel am Stadtrand. In den 1990er Jahren avancierte das Haus an der Moskwa dann zu einer der besten Adressen Moskaus – und damit zur begehrten Immobilie. Immer mehr Wohnungen wurden von vermögenden Russen gekauft und luxuriös renoviert. Wieder kam es zu Vertreibungen, nur unter anderem Vorzeichen. Und wieder leben hier die Privilegierten.


    1. Schlögel, Karl (2003): Der Mercedes-Stern auf dem „Haus an der Moskva“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.1.2003, S. 41; wieder abgedruckt auch in: Schlögel, Karl (2017): Das sowjetische Jahrhundert: Archäologie einer untergegangenen Welt, München, S. 703-715, hier S. 713 ↩︎
    2. Slezkine, Yuri (2017): The House of Government: A Saga of the Russian Revolution, Princeton/Oxford ↩︎
    3. Kozyrev, Sergei (2000): The House on the Embankment, in: Russian Studies in History 38 (2000) Nr. 4, S. 21–27, hier S. 22 ↩︎
    4. Schlögel, Karl (2017): Das sowjetische Jahrhundert: Archäologie einer untergegangenen Welt, München, S. 706-708 ↩︎
    5. Slezkine, S. 377 ↩︎
    6. Slezkine, S. 488 ↩︎
    7. Huber, Werner (2007): Moskau: Metropole im Wandel: Ein architektonischer Stadtführer, Köln/Wien/Weimar, S. 49 ↩︎
    8. Slezkine, S. 345-346 ↩︎
    9. Die Listen der Wohnungen mit Bewohnern sind eingestreut in den Band von Koršunov, Michail/Terechova,Viktoria (2002): Tajny i legendy Doma na Naberežnoj, Moskva, S. 44, 49, 54, 62, 72, 98, 104, 112-113, 127, 172, 189, 210-211, 218-219, mit Ergänzungen auf S. 234 ↩︎
    10. Schlögel, Sowjetisches Jahrhundert, S. 712 ↩︎
    11. Razgon, Lev (1993): 1937: l’année terrible, in: Gousseff, Catherine (Hrsg.): Moscou 1918–1941: De „l’homme nouveau“ au bonheur totalitaire, Paris, S. 301–311, hier S. 308–309 ↩︎
    12. Dokumentiert haben die Geschichten seiner Bewohner auch die Gründer des Museums: Koršunov/Terechova: Tajny i legendy Doma na Naberežnoj ↩︎

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    Tauwetter

  • Monumentale Propaganda

    Monumentale Propaganda

    Ein Denkmal wird, so sagt man, nur zweimal wirklich wahrgenommen: Am Tag seiner Enthüllung und am Tag seines Sturzes. Dazwischen ist es unsichtbar. 

    Als 1991 nach der Auflösung der Sowjetunion eine Menschenmenge vor der Lubjanka medienwirksam eine Statue vom Sockel stürzte, musste sie mit Felix Dsershinski Vorlieb nehmen. Stalin-Statuen gab es schon seit 1962 nicht mehr. Wie es dazu kam …

    Der Umgang mit Denkmälern nach ihrem Sturz gibt Auskunft über den Umgang mit der Vergangenheit, an die sie erinnern / Foto © Igor Mukhin
    Der Umgang mit Denkmälern nach ihrem Sturz gibt Auskunft über den Umgang mit der Vergangenheit, an die sie erinnern / Foto © Igor Mukhin

    Die renommierte Literaturwissenschaftlerin Svetlana Boym bescheinigte den steinernen Gestalten verehrter Dichter und Denker die durchschnittliche Lebensdauer sowjetischer Männer von etwa 50 Jahren und spürte ihren nächtlichen und bedeutungsvollen Wegen durch Straßen und Hinterhöfe nach. Bedeutungsvoll, weil sie das Schicksal der Statuen in enger Beziehung zum Schicksal der Menschen sah. In den 1930er Jahren seien die Unliebsamen in Hinterhöfen verschwunden, während für die Führer gegolten habe: je gigantischer die Statuen, desto geringer der Wert eines Lebens.1

    „Im Stadtkern und in einigen Arbeitervierteln standen ganz frisch errichtete, meist aus Gips hergestellte Denkmäler berühmter Männer der Weltkultur und der russischen Vergangenheit, die sich um den Fortschritt verdient gemacht hatten. Viele Häuser trugen ebenfalls vor kurzem entstandene, in Kopfhöhe in die Straßenwand eingelassene Reliefs, die entweder in großen Buchstaben Grundideen des Sozialismus propagierten oder Szenen aus dem Befreiungskampf darstellten. Alle diese Denkmäler und Reliefs hoben sich stark vom Straßenbild ab und wurden dadurch besonders wirksam. Ich erfuhr, dass auch diese ‚Monumental-Propaganda‘, wie man damals sagte, auf eine Anregung Lenins zurückging. Hier war der erste Versuch gemacht, die Künstler für eine unmittelbare Mitarbeit an der Verbreitung der sozialistischen Weltanschauung zu gewinnen.“2

    Besetzung des öffentlichen Raums nach der Oktoberrevolution 1917

    Lenin hatte die Bedeutung der symbolischen Besetzung von Raum und Zeit für die Machtsicherung erkannt. Am 12. April 1918 unterzeichneten Lenin, Stalin und der Kulturminister Lunatscharski das Dekret über Monumentalpropaganda.3 Die Bolschewiki führten einen neuen Festkalender ein, änderten die Namen von Straßen und Plätzen, stürzten Denkmäler und errichteten neue Monumente.4 In größter Eile sollten zum ersten Jahrestag der Oktoberrevolution neue Helden und Symbole geschaffen werden – die Sockel selbst wurden nicht gekippt, was sich eigentlich angeboten hätte. Aber die Bildhauerei hatte in Russland keine Tradition, da der Adel eher Tafelbilder in Auftrag gegeben hatte. Auch die Liste geeigneter Helden war umstritten. Lunatscharski entwarf schließlich ein demokratisches Verfahren: Entwürfe wurden in Gips und Lehm errichtet und dem Volk zur Begutachtung und Abstimmung überantwortet.5Der Wettbewerb begann im Frühjahr 1918; bis die Skulpturen standen, war es September. Weil die Gebilde nicht wetterfest waren, litten sie unter dem nassen Herbstwetter. Auch ihre künstlerische Qualität war oft mangelhaft. Viele stießen auf wenig Gefallen und wurden durch Vandalismus verunstaltet oder zerstört.

    Zum ersten Jahrestag der Oktoberrevolution wurden in aller Eile neue Helden und Symbole geschaffen / Foto © Igor Mukhin
    Zum ersten Jahrestag der Oktoberrevolution wurden in aller Eile neue Helden und Symbole geschaffen / Foto © Igor Mukhin

    Eine konsequente Gestaltung öffentlicher Räume und eine einheitliche Formensprache entwickelten sich allerdings erst zu Beginn der 1930er Jahre: Mit dem Sozialistischen Realismus war eine einheitliche Kunstdoktrin installiert und staatliche Mittel wurden gebündelt. Die Richtlinien der Parteilichkeit, der Volkstümlichkeit und des Optimismus paarten sich mit dem Rückgriff auf eine klassische figürliche Formensprache.

    Stalins Monumentale Propaganda

    Anders als noch unter Lenin wurden die Stalin-Statuen bereits zu Lebzeiten aufgestellt. Stalin inszenierte sich zunächst als Erbe Lenins. Seine Herkunft war auf Plakaten und Reliefs als Erbfolge in Form einer Portrait-Reihe gestaltet: Marx, Engels, Lenin, Stalin. Auf Plakaten und Gemälden war er zunächst hinter und neben dem lebendigen Lenin zu sehen und lernte von ihm. Dann geriet Lenin als Bild oder Skulptur in den Hintergrund und wurde immer kleiner. Schließlich verschwand er ganz und Stalin agierte bescheiden und väterlich inmitten seiner Getreuen. Nach dem gewonnenen Krieg erschien Stalin losgelöst aus Kontexten, allein und monumental. 

    Es gab kleine Stalins für den Alltag: Skulpturenfabriken produzierten hunderte von Stalin-Büsten und Statuen.6 Und es gab die Giganten. Sie monopolisierten den sozialen Raum. Ihre schiere Größe und Menge sollte dem Regime Glaubwürdigkeit verleihen und dessen „ewige“ Stabilität bezeugen. 

    Die monumentalen Stalin-Statuen, Denkmäler und aufwendigen Reliefs, die in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre entstanden, waren in sorgfältig gestaltete Landschaften und bauliche Ensembles eingebettet, in Großprojekte, die die stalinistische Modernisierung vor Augen führten. Diese Ensembles waren klar abgegrenzte, von der Propaganda heftig beworbene Oasen im oft katastrophalen sowjetischen Alltag. Hierhin konnten sich die Sowjetbürger, die Erbauer des Kommunismus, nach Feierabend aus dem Schlamm der Baustellen, ihren überfüllten Kommunalka-Zimmern oder Arbeiterbaracken flüchten. Die prunkvolle Moskauer Metro mit ihren üppigen Säulenhallen brachte sie zum Gorki-Park für Kultur und Erholung, in die Allunions-Landwirtschaftsausstellung oder zum Flussbahnhof in Chimki, der Moskau über die Kanalbauten zum „Hafen von fünf Meeren“ machen sollte. Diese Orte waren wie Fenster, durch die sie in die wunderbare Zukunft blicken konnten. 

    Parks, Sanatorien und Pionierlager waren ausgeschmückt mit lebensgroßen Statuen von SportlerInnen, Kindern oder Revolutionären / Foto © Igor Mukhin
    Parks, Sanatorien und Pionierlager waren ausgeschmückt mit lebensgroßen Statuen von SportlerInnen, Kindern oder Revolutionären / Foto © Igor Mukhin

    Die Zukunftsinseln in den Großstädten und die Sanatorien und Pionierlager auf der Krim waren üppig ausgeschmückt mit Reliefs und lebensgroßen antik anmutenden Statuen, SportlerInnen, Kindern oder kräftigen Revolutionären. Es waren Replica bekannter Formen, die in quasi-industrieller Produktion am Laufmeter produziert wurden. An zentraler Stelle, neben dem Moskau-Wolga-Kanal oder auf dem Gelände der Landwirtschaftsausstellung, überragte jeweils eine monumentale Stalin-Statue die Szenerie. Die Statuen zeigten Stalin als in sich ruhenden Kraftpol. Er hatte den Überblick und sah in die Zukunft.

    Stalin selbst kontrollierte seine Abbilder. Die Statuen ähnelten sich alle, ganz gleich ob sie von Nikolaj Tomski, Sergej Merkurow, Alexander Kibalnikow oder anderen Künstlern stammten. Sie alle zeigten Stalin aufrecht stehend, den Mantel geöffnet, die rechte Hand im Revers der Uniformjacke, ein zusammengerolltes Papier in der Linken. 1951 wurde Tomski kritisiert, weil er einen lächelnden Stalin gewagt hatte.7  

    Trotz der Einförmigkeit waren Stalin-Statuen ein gutes Geschäft. Eine kleine Gruppe von „Hofkünstlern“ unter der Leitung von Alexander Gerassimow monopolisierte zwischen 1939 und 1957 die Vergabe der Aufträge und die Festsetzung der Preise.8 Die Künstler kopierten ihre eigenen Statuen mehrfach, die multiplizierten Statuen bevölkerten verschiedene Städte. Künstler und Funktionäre teilten sich die so erzielten Gewinne.9 1953 kritisierte die Kulturabteilung des Zentralkomitees die mangelhafte Qualität der sowjetischen Bildhauerei und die Praxis der Replica, die dazu führte, dass in sowjetischen Städten immer die gleichen Statuen anzutreffen waren. 1954 wurden die finanziellen Unregelmäßigkeiten vom Kultusministerium aufgedeckt. Stalins Bildhauer-Kohorte Jewgeni Wutschetitsch, Nikolaj Tomski, Georgi Motowilow und Matwej Manizer hatte sich den Löwenanteil der Aufträge und Honorare gesichert.10

    Stalin als Koloss

    Um die Kolossalstatuen rankten sich Geschichten und Legenden, ganz gleich, ob sie umgesetzt wurden oder im Planstadium blieben wie der enorme Lenin, der den nie gebauten Palast der Sowjets krönen sollte. Diese Geschichten drehten sich um Fragen politischer Korrektheit – durfte man Lenin proportional verzerrt darstellen, damit er perspektivisch richtig wirkte? – oder um technische und terminliche Schwierigkeiten. 

    30 Meter hoch: Stalin in Prag / CC-BY SA 3.0
    30 Meter hoch: Stalin in Prag / CC-BY SA 3.0

    Die Stalin-Statue aus rosa Granit von Sergej Merkurow, die 1991 auf dem Moskauer Friedhof der gefallenen Helden auftauchte, soll eine Vorlage des Bildhauers aus dem Jahr 1937 für die 15 Meter hohe Kolossalstatue am Eingang des Moskau-Wolga-Kanals und für eine weitere auf dem Moskauer Theaterplatz gewesen sein.11 Der Legende nach hatte der Künstler die Statue nach der Entstalinisierung in seinem Garten verscharrt.

    Ebenfalls von Sergej Merkurow war der Stalin aus Eisenbeton vor dem Pavillon der Mechanisierung auf der 1939 eröffneten Landwirtschaftsausstellung. Auch hier gibt es eine Geschichte: „In die riesenhafte Stalin-Statue wurde das Modell eingelassen, nach dem sie errichtet worden war, da niemand es wagen konnte, dieses Modell zu vernichten.“12 Wie die Heiligen in den Ikonen so war auch Stalin in seinen Abbildern als Modell gegenwärtig. Ein Angriff auf das Modell hätte ihm im magischen Denken Schaden zufügen können.

    Nach 1945 wetteiferten zahlreiche Städte darum, Stalin durch möglichst große und prominent platzierte Monumente zu ehren. Anlässlich von Stalins 70. Geburtstag 1949 wurden allein in Leningrad fünf Stalin-Statuen eingeweiht – eine symbolische Eroberung der Stadt Lenins.13 

    In der armenischen Hauptstadt Jerewan wurde 1950 ein Siegespark eingeweiht, dessen gigantischer Stalin die Stadtsilhouette dominierte.14 Eine Initiative für eine Kolossalstatue gab es 1948 auch in der georgischen Hauptstadt Tbilissi. Das Monument sollte 80 Meter hoch sein und auf einem Berg 350 Meter oberhalb der Stadt stehen. Der Gigant gelangte dann aber nicht zur Ausführung.15 In Prag wurde 1955 eine immerhin 50 Meter hohe, weiße Marmorstatue enthüllt. Sie wog 17.000 Tonnen und soll die größte je errichtete Stalin-Statue gewesen sein.16

    Der Bildersturm des Tauwetters

    Unmittelbar nach der Geheimrede auf dem XX. Parteikongress 1956 gab es heftige Reaktionen an der Peripherie: In Tbilissi demonstrierten aufgebrachte Georgier gegen die Angriffe auf ihren Nationalhelden, in Budapest stürzte eine Menschenmenge die Stalin-Statue von ihrem Sockel. In der Sowjetunion waren die Menschen verunsichert: Sollte man Stalins Portraits abhängen? Zerstören?17 Viele Menschen warfen die Stalin-Bilder aus ihren Wohnungen, auch aus Büros und Klassenzimmern. In den 1950er Jahren wurden über einhundert Stalin-Statuen und -Reliefs aus der Moskauer Metro entfernt.18Angeblich klopften ehemalige Gulag-Häftlinge die Stalins aus den Wänden.19
    Aber spontane öffentliche Akte des Bildersturzes lösten bei den Parteioberen Unsicherheit und Ängste aus. Im April 1956 wurde in einem Bericht festgehalten, dass nach der Geheimrede zahlreiche Angriffe auf Bilder, Büsten und Statuen Stalins stattgefunden hatten. In Tallinn waren Bücher und Portraits verbrannt worden, vor der Bibliothek in Brest hatte ein Mann eine Stalin-Statue mit dem Hammer traktiert, und in Petrosawodsk war eine Statue mit Farbe beschmiert worden.20 Schon bald wurden Bilderstürmer, die man zunächst nur zur Ordnung gerufen hatte, strafrechtlich verfolgt, um jede Anarchie im Keim zu ersticken. Wer nun eine Stalin-Statue köpfte, wurde als Hooligan bestraft.21 

    Gefallene Helden – die sowjetischen Ikonen wurden nach 1991 von ihren privilegierten Standorten entfernt / Foto © Igor Mukhin
    Gefallene Helden – die sowjetischen Ikonen wurden nach 1991 von ihren privilegierten Standorten entfernt / Foto © Igor Mukhin

    Der XXII. Parteikongress 1961 sollte Chruschtschows Vision des Kommunismus voranbringen, entwickelte sich dann aber zu einer „Orgie der Stalin-Kritik“.22 Diese gipfelte in dem symbolisch bedeutsamen Entscheid, Stalins einbalsamierten Leichnam aus dem Mausoleum zu holen, wo er an der Seite Lenins ruhte. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion wurde er in einem Ehrengrab an der Kreml-Mauer beigesetzt. Dort liegt er noch heute.

    In der Folge wurden die Stalinstatuen systematisch abgeräumt. Zahlreiche Betriebe und Institutionen, die Stalins Namen trugen, wurden umbenannt. Als aus Stalingrad Wolgograd wurde, gab es Widerstände wegen der historischen Bedeutung der Stadt im Großen Vaterländischen Krieg. Der Bildersturm war aber kein öffentliches Happening, sondern blieb auf eine kleine Elite beschränkt, die effizient und überaus diskret arbeitete. Die Bürger durften die Entfernung Stalins von den öffentlichen Plätzen fordern, aber nicht selbst Hand anlegen: Die Stalin-Statuen verschwanden ohne Ankündigung, auf geheimnisvolle Weise, meistens über Nacht.23 

    Die Reaktionen waren auch jetzt ambivalent. Ein großes Stalindenkmal in Tbilissi wurde 1962 aus Angst vor Protesten während eines Fußballspiels per Helikopter abtransportiert, dann aber im Magazin des städtischen Museums verstaut.24 In Prag ordnete die Regierung die Sprengung des marmornen Giganten an. 800 Kilogramm Dynamit waren nötig, um den Koloss zu Kies zu machen, der dann in Lastwagen durch ein Spalier jubelnder Zuschauer abtransportiert wurde.25 

    Noch heute liegt Stalin in einem Grab an der Kremlmauer, in das er 1961 umgebettet wurde / Foto © Igor Mukhin
    Noch heute liegt Stalin in einem Grab an der Kremlmauer, in das er 1961 umgebettet wurde / Foto © Igor Mukhin

    Alle Stalins fielen. Aber es gab Ausnahmen. In Georgien war Stalin ein Volksheld, der berühmte Sohn des Landes, der die Sowjetunion in die Moderne geführt und die Faschisten besiegt hatte. In Stalins Geburtsstadt Gori wurde die Statue auf dem zentralen Platz erst 2010 entfernt,26 ungeachtet der Proteste der Kommunistischen Partei und der Stalin-Gesellschaft.27 Inzwischen steht sie wieder, im Park des Stalin-Museums, wo sie Igor Mukhin fotografierte. Diese Aufnahme aus dem Jahr 2017 zeigt sie in hellem Glanz. Stalin und die sowjetische Vergangenheit sind in der georgischen Gesellschaft ein strittiges Thema, das Verhältnis zu Russland ist schwierig. Aber auch in Russland ist Stalin für die einen Henker des eigenen Volkes, während die anderen ihn als Helden verehren. Er ist Teil des patriotischen Narrativs. In den letzten Jahren wurden über Hundert Gedenktafeln und Denkmäler zu seinen Ehren errichtet.28 

    Der Umgang mit Denkmälern nach ihrem Sturz gibt Auskunft über den Umgang mit der Vergangenheit, an die sie erinnern: Die sowjetischen Ikonen wanderten nach 1991 von ihren privilegierten Standorten auf den zentralen Plätzen der Hauptstadt über die Müllhalde auf den „Friedhof der gefallenen Helden“. Hier lagen sie zunächst herum und wurden zur Touristenattraktion. Auf ihrer Wanderung durch die Stadt verloren sie Schuhe, Finger und Nasen, wurden beschmiert und angepinkelt. Nun lag Stalin neben Swerdlow, Kalinin, Breshnew, einigen Lenins und dem „eisernen Felix“.29 Doch die Figuren erhoben sich überraschend schnell wieder, putzten sich heraus und gruppierten sich zur Darstellung von neuen Vergangenheitsversionen.30 Als die Moskauer Stadtverwaltung den Park 1996 aufräumte und die Statuen reinigte und restaurierte, stellte sie auch den liegenden Stalin wieder auf die Füße. Er wurde als Einziger in einem Arrangement mit Opfern des Terrors aufgestellt.31 Svetlana Boym deutete schon damals diese Wiederaufrichtung der Denkmäler im Park der Künste als symbolhaften Verweis auf den Umgang mit der sowjetischen Vergangenheit, deren Leitfiguren hier wieder auf ihre Sockel gestellt wurden.32 


    1. Boym, Svetlana (2001): The Future of Nostalgia, New York, S. 89 ↩︎
    2. Kurella, Alfred (1967): Unterwegs zu Lenin: Erinnerungen, Berlin (Ost), S. 276-277, zit. nach: Kuntze, Klaus (Hrsg., 1980): Reise nach Moskau: Aufzeichnungen und Berichte, S. 1526-1972, Frankfurt/Main ↩︎
    3. Tolstoy, Vladimir/Bibikova, Irina/Cooke, Catherine (Hrsg., 1990): Street art of the Revolution: Festivals and Celebrations in Russia 1918-33, London, S. 37 und Dmitrieva, Marina (2005): Dekorationen des Augenblicks im Massentheater der Revolution: Petrograd, Kiew und Witebsk 1918-1920, in: Bartetzky, Arnold/Dmitrieva, Marina/Troebst, Stefan (Hrsg.): Neue Staaten – neue Bilder? Visuelle Kultur im Dienst staatlicher Selbstdarstellung in Zentral- und Osteuropa seit 1918, Köln, S. 117-131 ↩︎
    4. Gaßner, Hubertus (1992): Sowjetische Denkmäler im Aufbau, in: Diers, Michael (Hrsg.): Mo(nu)mente. Formen und Funktion ephemerer Denkmäler, Berlin 1992, S. 153-178 ↩︎
    5. Bowlt, John E. (1978): Russian Sculpture and Lenin’s Plan of Monumental Propaganda, in: Milton, Henry A./Nochlin, Linda (Hrsg.): Art and Architecture in the Service of Politics, Cambridge, Massachussetts, S. 182-192 ↩︎
    6. Plamper,Jan (2012): The Stalin Cult: A Study in the Alchemy of Power, New Haven, S. 184 ↩︎
    7. Kruk,Sergei (2008): Semiotics of visual iconicity in Leninist ‘monumental’ propaganda, S. 49-50, in: Visual Communication 7 (2008) 1, S. 27-56 ↩︎
    8. Kruk, S. 49-50 ↩︎
    9. Kruk, S. 50 ↩︎
    10. Kruk, S. 51 ↩︎
    11. Taylor, S. 46, Abb. bei Kruk, S. 42 ↩︎
    12. Ryklin, Michail (2003): Räume des Jubels: Totalitarismus du Differenz, Frankfurt/Main, S. 135 ↩︎
    13. Kruk, S. 35 ↩︎
    14. Lehmann,Maike (2011): Eine sowjetische Nation: Nationale Sozialismusinterpretationen in Armenien seit 1945, Frankfurt/Main, S. 118-120 ↩︎
    15. Kabachnik, Peter/Gugushvili, Alexi/Jishkariani, David (2015): A Personality Cult’s Rise and Fall: Three Cities after Khrushchev’s “Secret Speech” and the Stalin Monument that Never Was, S. 319-324, in: Region: Regional Studies of Russia, Eastern Europe, and Central Asia 4 (2015) 2, S. 309-26 ↩︎
    16. Kabachnik/Gugushvili/Jishkariani, S. 312 ↩︎
    17. Jones, Polly (2005): From the Secret Speech to the Burial of Stalin, S. 48, in: Jones, Polly (Hrsg.): Dilemmas of De-Stalinization, Abingdon-on-Themes, S. 41-63 ↩︎
    18. Kruk, S. 48 ↩︎
    19. Boym, S. 88 ↩︎
    20. Jones, S. 50 ↩︎
    21. Jones, S. 51 ↩︎
    22. Jones, S. 51 ↩︎
    23. Jones, S. 55-56 ↩︎
    24. Tomaszewski, Andrzej (1993): Zwischen Ideologie, Politik und Kunst: Denkmäler er kommunistischen Ära, in: Gamboni, Dario (Hrsg.): Bildersturm in Osteuropa: Die Denkmäler der kommunistischen Ära im Umbruch, Icomos Hefte des deutschen Nationalkomitees XIII, S. 29-34 ↩︎
    25. Kabachnik/Gugushvili/Jishkariani, S. 312 ↩︎
    26. Crawford, Dean (1990): History by Association, S. 55, in: Southwest Review, Vol. 75, No. 1, S. 55-71 ↩︎
    27. Bendtsen Gotfredsen,Katrine (2014): Void Pasts and Marginal Presents: On Nostalgia and Obsolete Futures in the Republic of Georgia, S. 246, in Slavic Review, Vol. 73, No. 2, S. 246-264 ↩︎
    28. Neue Zürcher Zeitung: Noch ist Stalin heiße Geschichte – Russlands Kampf mit einer Vergangenheit, die nicht vergehen will ↩︎
    29. Brandon Taylor (2000): Later Soviet sculpture, S. 42, in: Third Text, 14:51, S. 39-50 ↩︎
    30. Forest,Benjamin/Johnson,Juliet (2002): Unraveling the Threads of History: Soviet-Era Monuments and Post-Soviet National Identity in Moscow, S. 536f., in: Annals of the Association of American Geographers,Vol. 92, No. 3, S. 524-547 und Boym, S. 79 ↩︎
    31. Forest/Johnson, S. 536 und Boym, S. 86 f. ↩︎
    32. Boym, S. 89 ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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