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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Bystro #11: Moskauer Protest – neue Bolotnaja-Bewegung?

    Bystro #11: Moskauer Protest – neue Bolotnaja-Bewegung?

    Drei Tage nachdem der Dauerprotest in Moskau eskaliert ist, hat das Ermittlungskomitee ein Strafverfahren eingeleitet: Den Organisatoren der Proteste vom 27. Juli drohen bis zu 15 Jahre Haft, Teilnehmern bis zu acht Jahre. 

    Viele in Russland fühlen sich an den Bolotnaja-Prozess erinnert: Nach dem Marsch der Millionen am 6. Mai 2012 wurden damals mehr als 30 mutmaßliche Teilnehmer wegen „Teilnahme an Massenunruhen“ und „Gewaltanwendung gegen Staatsvertreter“ angeklagt. Die meisten von ihnen wurden zu Haftstrafen verurteilt; viele Beobachter schätzen diesen Prozess als politisch-motiviert ein.

    Worin unterscheiden sich die aktuellen Proteste von der Bolotnaja-Bewegung? Warum setzen die Behörden nun wieder auf Gewalt? Und wie geht es jetzt weiter? Ein Bystro von Mischa Gabowitsch in sechs Fragen und Antworten – einfach durchklicken.

    1. 1. Warum gingen so viele Menschen auf die Straße? Sind die Regionalwahlen denn so wichtig?

      Mehrere Kandidaten wurden von den Wahlen ausgeschlossen. Nach Angaben der Wahlkommission waren viele der Unterschriften, die sie für die Registrierung brauchen, gefälscht oder wiesen Formfehler auf. Das ist aber nachweislich falsch: Viele Menschen hatten tatsächlich unterschrieben und sehen ihre Namen nun in den Listen angeblich fiktiver Unterstützer

      Das Vorgehen der Wahlleiter wird also nicht nur als Verachtung demokratischer Spielregeln empfunden, sondern auch als persönlicher Affront gegenüber den Unterzeichnern. 

      Mit den besonders stringenten Auflagen, die bei der Zulassung zu diesen Wahlen galten, haben die Behörden die Kandidaten zudem faktisch zu einem frühen Wahlkampfstart gezwungen – und damit ungewollt die Unterstützer enger an sie gebunden.


    2. 2. Warum gingen Polizei und Nationalgarde so hart gegen die Demonstranten vor?

      In Russland müssen Versammlungen angemeldet, de facto aber von den Behörden genehmigt werden. In diesem Fall war der Protest vor dem Rathaus nicht genehmigt. Offensichtlich wollten Präsidial- und Stadtverwaltung ein Zeichen setzen, dass sie eine Verletzung der von ihnen erlassenen Spielregeln nicht dulden werden, selbst wenn Journalisten, Touristen und Passanten darunter leiden sollten. 

      Sicherlich dient der massive Gewalteinsatz auch der Einschüchterung von Protestierenden. Zudem diskreditiert man so die Kandidaten: Sie werden als Anführer des Protests dargestellt, die naive Bürger als Kanonenfutter missbrauchen.


    3. 3. Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen einzelnen lokalen sozialen Protesten und dem politischen Protest, wie er sich jetzt in Moskau ausdrückt? Haben die Menschen die Nase voll, und haben die sozialen Fragen den politischen Protest gewissermaßen „vorbereitet“?

      Die Schnittmengen sind weiterhin überschaubar: Nur eine Minderheit unter denen, die in Moskau für faire Wahlen auf die Straße gehen, protestiert auch gegen Umweltverschmutzung, verdichtende Bebauung, steigende Wohnnebenkosten oder häusliche Gewalt

      Dennoch hat sich der politische Protest konkretisiert: Vielen geht es nicht um eine Reform des Gesamtsystems, sondern beispielsweise um eine ihnen persönlich bekannte Kandidatin, die sich seit Jahren für die Lösung banaler Alltagsprobleme in konkreten Stadtvierteln einsetzt. Eigentlich ist es ein sehr bescheidenes Anliegen – ähnlich vielen der Proteste gegen rechtswidrige Müllablagerung oder dubiose Lizenzvergaben für gesundheitsgefährdenden Kupfer- oder Nickelbergbau.


    4. 4. Der Einheitliche Wahltag ist im September. Meinen Sie, dass der Protest bis dahin anhält? Und wird die Staatsmacht nachgeben?

      Proteste aus allgemeinem Frust verpuffen oft recht schnell. In diesem Fall wissen aber die meisten Protestierenden sehr genau, worum es ihnen geht – das könnte ihnen den Atem geben, um trotz Repressalien noch bis zu den Wahlen durchzuhalten. Aus demselben Grund ist aber spätestens schon bald nach den Wahlen Schluss, zumindest mit diesem Thema. 

      Dass die Behörden komplett nachgeben und alle abgewiesenen Kandidaten registrieren, ist schwer vorstellbar. Im Fall des Journalisten Iwan Golunow gab es neben einer Protestbewegung einen Konflikt innerhalb des Machtapparats, der dem Inhaftierten letztlich zugutekam. Im aktuellen Fall ist davon nichts zu erkennen. Wahrscheinlicher ist eine Variante des vielfach erprobten „Teile und herrsche“-Szenarios: Einige Anwärter werden zugelassen, ein paar Demonstrationen erlaubt – um die Bewegung als ganze zu spalten.


    5. 5. Die Wahlen finden im September ja nicht nur in Moskau statt. Warum wird vor allem in Moskau protestiert und nicht auch anderswo?

      Es handelt sich ja nicht nur um Kommunal-, sondern auch um Parlaments- und zum Teil um Gouverneurswahlen. Parlamentsabgeordnete sind weiter weg von emotional besetzten Alltagsproblemen. Anders ist das vor allem in den Stadtstaaten Moskau und Sankt Petersburg, deren städtische Abgeordnete auch vom Kreml an einer kürzeren Leine gehalten werden. 

      Zudem sind vor allem in Moskau nach der Protestwelle 2011–13 Oppositionelle ganz bewusst in die Kommunalpolitik gegangen, um das System von unten zu verändern. Dabei haben sie ihre Tätigkeit besonders aktiv dokumentiert. Auch in Petersburg protestieren Menschen wegen abgewiesener Kandidaten, wenngleich viel weniger als in Moskau. 

      In Russland verhält sich die Zahl der Protestierenden nicht immer proportional zur Einwohnerzahl: Sankt Petersburg ist traditionell verhältnismäßig passiv, Städte wie Kaliningrad, Tomsk oder Wladiwostok sind dafür trotziger. 
      Protest gibt es weiterhin in vielen Regionen, aber nicht unbedingt zu Wahlen, sondern eher zu den klassischen Themen Umwelt, Lebenskosten und Städtebau. 
      In Tscheljabinsk zum Beispiel setzt sich seit Jahren eine große Umweltbewegung gegen den Bau einer Kupferaufbereitungsanlage unweit der Stadt ein. Fast wöchentlich gibt es Verhaftungen oder Angriffe auf Protestierende, aber die Medien in Moskau und im Ausland berichten nur sehr spärlich darüber.


    6. 6. Kann man die heutigen Proteste mit 2011–13 vergleichen? Kommt die zweite Bolotnaja-Bewegung? Und der zweite Bolotnaja-Prozess?

      Im Dezember 2011 wurde im ganzen Land gegen Wahlfälschungen protestiert. Im Vergleich dazu sind die derzeitigen Moskauer Proteste viel kleiner, lokaler, aber auch konkreter. Viele Menschen wurden damals politisiert und machen sich keine Illusionen mehr über das gesamte politische System, sehen aber durchaus Chancen für punktuelle Erfolge. 
      Das heißt aber auch, dass die Proteste kaum noch als Bühne für die verschiedensten Anliegen dienen, wie dies 2012 und noch 2017 beim Protest gegen die Rentenreform der Fall war. Man merkt dies im Gespräch, aber auch an der relativ geringen Zahl der Plakate bei den Kundgebungen. 
      Zugleich ist angesichts der zahlreichen Verhaftungen durchaus mit einer Neuauflage des Bolotnoje Delo zu rechnen: also jahrelange Verfolgungen und Prozesse, die zu mehrjährigen Haftstrafen führen.

     

    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Text: Mischa Gabowitsch
    Stand: 01.08.2019

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  • Piket

    Piket

    Ein Piket ist ein kleinerer, stationärer Protest. Oft wird er von Einzelnen veranstaltet und bedarf dann keiner vorherigen Anmeldung. Dennoch werden Proteste dieser Art oft von der Polizei unterbunden. Seit 2012 sind die Bedingungen für diese Protestform mehrmals verschärft worden: Neben hohen Geldbußen drohen Protestierenden inzwischen auch lange Haftstrafen.

    Das Wort Piket kommt aus dem Französischen (picquet) und ist dann über das Englische (picket) in die russische Sprache gelangt. Ursprünglich bezeichnete es einen spitzen Pfosten oder Pfahl, im übertragenen Sinn dann einen kleinen militärischen Vorposten und schließlich einen Streikposten. Heute steht es für kleine Proteste, die anders als das Miting (meeting) ohne Redner und Bühne auskommen und im Gegensatz zum Protestmarsch stationär sind.

    Ein Piket kann vor Eingängen zu Behörden oder Unternehmen stattfinden, die Gegenstand eines Streiks oder Protests sind, aber auch einfach an belebten Orten, wo möglichst viele Passanten die Botschaft mitbekommen. Auch eine Mahnwache oder ein stummer Protest kann als Piket bezeichnet werden. Ein zentrales Attribut sind Poster, Plakate, Transparente oder Fotos beziehungsweise Kerzen oder sonstige symbolische Gegenstände, die die Botschaft des Piket verdeutlichen.

    Eine besondere Bedeutung hat in Russland der Einzelprotest (odinotschny Piket) erlangt. Erstens ist dafür keine besondere Organisation oder Absprache erforderlich, was angesichts der schwachen nichtstaatlichen Institutionen in Russland von Vorteil ist. Zweitens können Einzelne hier wie anderswo inzwischen ein Publikum erreichen, das früher großen Gruppen mit weithin sichtbaren Transparenten und Zugang zu Medien vorbehalten war – dank neuer Technologien, vom privaten PC mit Drucker bis hin zur Smartphone-Kamera mit Internet-Verbindung.1 Vor allem aber müssen nach dem Versammlungsgesetz vom Juni 2004 Einzelproteste nicht vorher mit den Behörden abgesprochen werden – im Gegensatz zu anderen Formen öffentlicher Zusammenkünfte, bei denen die Anmeldepflicht in der Praxis als staatliches Vetorecht gehandhabt wird. Damit ist das Piket oftmals die einzige realistische Möglichkeit, Protest kundzugeben.

    Allerdings wird auch diese Protestform in den letzten Jahren mit immer stärkeren Restriktionen belegt. Immer wieder wird von Provokateuren berichtet, die sich unaufgefordert zu einzelnen Protestierenden gesellen und deren Piket somit formal in eine anmeldepflichtige Versammlung verwandeln, die mit sofortiger Verhaftung geahndet wird. Regelmäßig werden Einzelproteste auch ganz ohne gesetzliche Grundlage von der Polizei unterbunden.2

    Auch die Gesetzgebung ist in den letzten Jahren deutlich verschärft worden. Im Juni 2012, einen Monat nach dem Marsch der Millionen zum Bolotnaja-Platz in Moskau, der mit Massenverhaftungen endete und zu weiteren Protesten führte, wurde das Versammlungsgesetz geändert. Unter anderem können regionale Gesetzgeber jetzt eine minimale Distanz von bis zu 50 Metern zwischen einzelnen Protestierenden vorschreiben. Vor allem aber dürfen Gerichte eine Reihe individueller Proteste nachträglich als Versammlung qualifizieren, wenn eine „gemeinsame Absicht und Organisation“ vorliegt.3 Dadurch wiederum können Protestierende mit ebenfalls verschärften Strafen (jeweils bis zu 20.000 Rubeln) belegt werden. Es folgten Gesetze in mehreren Regionen, die zusätzlich – auch für Einzelproteste – Sperrzonen etwa um Sporthallen, Kliniken und Schulen festlegten.4

    Im Juli 2014 folgte eine weitere Verschärfung, die die Autoren der Gesetzesnovelle mit den Ereignissen in der Ukraine begründeten. Jetzt drohen bei dreimaligem Verstoß gegen das Versammlungsgesetz innerhalb von sechs Monaten eine Geldstrafe von bis zu einer Million Rubel beziehungsweise in Höhe des gesamten Einkommens über einen Zeitraum von zwei bis drei Jahren – aber auch bis zu fünf Jahren Haft oder Zwangsarbeit.5 Drei Verfahren nach dem neuen Gesetz laufen bereits. Angeklagt sind drei politische Aktivisten aus Moskau und dem Umland, die mehrmals, darunter in Form eines individuellen Piket, gegen Wladimir Putin und seine Politik protestiert haben. Ildar Dadin (geb. 1982) verurteilte das Bassmanny-Gericht in Moskau am 7. Dezember 2015 zu einer dreijährigen Haftstrafe, statt der von der Staatsanwaltschaft geforderten zwei Jahre. Am 22. Februar 2016 ordnete das Oberste Gericht seine Freilassung an.
    Die Prozesse gegen Wladimir Ionov (geb. 1939), der seit den 1980er Jahren Einzelproteste veranstaltet und sich nach Verfahrensbeginn gegen ihn in die Ukraine absetzte, und Mark Galperin (geb. 1968) sind noch nicht abgeschlossen. Alle drei werden vom Menschenrechtszentrum der Organisation Memorial als politische Häftlinge eingestuft und haben Klagen beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg eingereicht.6


    1. Gabowitsch, Mischa (2012): Social Media, Mobilization and Protest Slogans in Moscow and Beyond, in: Digital Icons 7 ↩︎
    2. etwa in Sevastopol auf der annektierten Krim, ovdinfo.org: Ljudi v štatskom sorvali odinočnyj piket v Sevastopole ↩︎
    3. Federalʼnyj zakon o sobranijach, mitingach, demonstracijach, šestvijach i piketirovanijach: Artikel 7, Absatz 1.1 in der Fassung vom 8.6.2012 ↩︎
    4. Gabowitsch, Mischa (2013): Putin kaputt!? Russlands neue Protestkultur, Berlin, S. 260 ↩︎
    5. Artikel 212.1 des Russischen Strafgesetzbuches: Wiederholter Verstoß gegen die Vorschriften zur Organisation oder Durchführung von Versammlungen, Kundgebungen, Demonstrationen, Märschen oder Mahnwachen; Fassung vom 22.07.2014 ↩︎
    6. zum neuen Gesetz und seiner Anwendung siehe: Mediazona: 212.1. Skolʼko raz povtorjatʼ ↩︎

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  • Sozialprotest

    Sozialprotest

    Liest man in den Medien über Proteste in Russland, so geht es meist um Aktionskünstler, oppositionelle Aktivisten und Menschenrechtler. Spektakulären Aktionen wie denen von Pjotr Pawlenski oder Pussy Riot wird zumeist viel Platz eingeräumt. Die relativ große Medienwirkung dieser Akteure ist nicht verwunderlich, sind doch Aktionskünstler und politische Aktivisten im Umgang mit den Medien in aller Regel gut bewandert. Zudem finden ihre Proteste meist in den großen Städten statt.

    Aufs Ganze gesehen ist Protest zu anderen, eher praktischen Anliegen in Russland aber weitaus stärker verbreitet, und zwar schon seit der spätsowjetischen Zeit.1 An Aktionen zu Themen wie Lohnrückständen und Wohnungsnot beteiligen sich Menschen in den verschiedensten Regionen. Sie veranstalten Einzelproteste und Kundgebungen, organisieren Arbeitsniederlegungen und Bummelstreiks, Betriebsblockaden und Autokorsos. Doch auch Hungerstreiks und sogar Selbstverbrennungen kommen vor.

    Der Sozialprotest betrifft meist die unmittelbaren Lebensumstände, nicht das politische System als ganzes. Er wendet sich meist gegen staatliche Institutionen, doch zunehmend auch gegen private Firmen, die oft mit diesen verzahnt sind.

    Proteste gegen Lohnrückstände

    Ein Dauerthema sind Lohnrückstände, die zumeist im Vergleich zu Lohnkürzungen als schlimmer empfunden werden. Von den frühen 1990er Jahren bis zum Beginn des Öl- und Gasbooms um 1999 hatten Verzögerungen bei der Auszahlung von Arbeitslöhnen systematischen Charakter. Aber auch seit 2014 häufen sie sich wieder, sowohl bei staatseigenen wie bei einigen privaten Betrieben. Auch gegen schlechte Arbeitsbedingungen oder Betriebsschließungen2 wird immer wieder protestiert. Allerdings sind die Vorbehalte gegen gewerkschaftliche Selbstorganisation weiterhin stark – schon wegen des oft harten Durchgreifens gegenüber den Streikenden.

    Widerstand gegen Reformen der Sozialpolitik

    Außerdem wird gegen die Reformen von Gesundheits-, Bildungs- und Forschungsinstitutionen protestiert. Diese Bereiche werden seit einigen Jahren gemäß einer neoliberalen Logik umstrukturiert, die zunehmend auf marktwirtschaftliche Prinzipien, Eigenfinanzierung und quantitative Indikatoren setzt. Wie auch in anderen Ländern geht dies zu Lasten von Ärzten, Lehrern und Forschern. Die Proteste wenden sich gegen die Reformen als solche, aber auch gegen die Schließung einzelner Einrichtungen – etwa durch den Wegfall liberaler oder ausländischer Stiftungen oder durch die Umwidmung zu Luxuskliniken für hohe Staatsdiener.

    Ein weiteres wichtiges Thema sind Kürzungen, Rückstände oder Änderungen bei staatlichen Sozialleistungen. Im Jahr 2005 fand die bis zu jenem Zeitpunkt größte Protestwelle seit der Perestroika statt. Die landesweiten Aktionen richteten sich gegen die Ersetzung diverser Vergünstigungen etwa für Rentner oder behinderte Menschen durch Geldzahlungen. Bis heute wird auch oft gegen die schleppende Zuteilung von Sozialwohnungen protestiert.

    Das Thema Wohnen ist generell eines der wichtigsten Protestanliegen. Geprellte Mitglieder von Baugenossenschaften demonstrieren ebenso wie krisengeplagte Baudarlehensnehmer. Noch zahlreicher sind die überall im Land stattfindenden Anwohnerproteste gegen verdichtende Bebauung, die Innenhöfe, Spielplätze und Parks verschwinden lässt.

    Proteste der Kraftfahrer und der Umweltschützer

    Eine besondere Sichtbarkeit haben in den letzten Jahren auch Autofahrerproteste unterschiedlicher Art erhalten. Im fernöstlichen Wladiwostok und in der baltischen Exklave Kaliningrad weiteten sich in den Jahren 2008–09 Demonstrationen gegen Einfuhrzölle und Steuererhöhungen auf PKWs zu Massenprotesten gegen die regionalen Machthaber aus. Seit 2015 demonstrieren die in Russland landesweit gut organisierten LKW-Fahrer gegen die Einführung des neuen Mautsystems Platon, deren Einnahmen zu einem bedeutenden Anteil einer Firma zugute kommen sollten, die dem Sohn eines Vertrauten des Präsidenten gehört.

    LKW-Fahrer behindern mit langsam fahrenden Kolonnen den Verkehr – Foto ©paehali.ru
    LKW-Fahrer behindern mit langsam fahrenden Kolonnen den Verkehr – Foto ©paehali.ru

    Schließlich wird auch Umweltprotest manchmal zum Sozialprotest gerechnet. Die Umweltschutzbewegung hat in Russland eine lange Tradition, ist verhältnismäßig gut organisiert und hat vereinzelt Erfolge vorzuweisen, etwa beim Kampf gegen die Einfuhr von Atommüll oder den Bau von Umgehungsstraßen durch Wälder. Besonders energisch geht seit 2012 die Bewegung gegen den Nickelabbau am Chopjor-Fluss vor, die von Einwohnern der ländlich geprägten Region zwischen Woronesh und Wolgograd getragen wird.

    Wie politisch ist der Sozialprotest?

    Bereits diese Aufzählung macht deutlich, dass der Übergang zwischen Sozialprotest und offen politischem Protest oft fließend ist. Dennoch beklagen Moskauer Publizisten, Politiker und Politikwissenschaftler häufig, die Sozialproteste zeigten eine traditionelle Anspruchshaltung gegenüber dem Versorgerstaat, sie seien ein Ausdruck von Passivität und daher grundsätzlich unpolitisch. Dem widersprechen allerdings neben den Teilnehmern selbst auch einige Sozialforscher, die argumentieren, Sozialproteste seien oftmals politischer als die Aktionen der Opposition. Es gehe bei ihnen um konkrete Interessen und nicht bloß um formale Regeln und einen Austausch des politischen Personals.3Während der großen Protestwelle von 2011–13 führten diese unterschiedlichen Sichtweisen auf den Sinn von Protest zu Konflikten zwischen Oppositionellen und Graswurzel-Aktivisten und schließlich auf beiden Seiten zu großer Enttäuschung.4


    Die aktuellen Sozialproteste in Russland untersucht Michail Komin in seinem Artikel Russlands neue Revoluzzer?.

     
    Verkehrspolizei überprüft Teilnehmer der LKW-Protestkolonne bei Wladiwostok. Links im Hintergrund die Flagge der Organisation TIGR (Towarischtschestwo Iniziatiwnych Grashdan Rossii, dt. Gesellschaft der selbständigen Bürger Russlands)


     

    1. Dies gilt selbst für Moskau, wie etwa für 2013 die statistischen Daten von OVD-info belegen: Protest na tormozach: političeskie zaderžanija v 2013 godu ↩︎
    2. Das Institut für Arbeitsrecht legt regelmäßige Berichte zur Streikhäufigkeit vor. Für die Jahre 2008–2015 verzeichnet es 2097 Aktionen, wobei 2015 nicht nur die Häufigkeit stark zunahm, sondern auch die Vielfalt der betroffenen Sektoren. Diese Daten sind zuverlässiger als diejenigen des Justizministeriums, das dank einer restriktiven Definition meist Streikzahlen im einstelligen Bereich pro Jahr erfasst. ↩︎
    3. siehe zum Beispiel: Kleman, Karin [Clément, Carine] (Hrsg.) (2013): Gorodskie dviženija Rossii v 2009–2012 godach: na puti k političeskomu, Moskau ↩︎
    4. Gabowitsch, Mischa (2016): Protest in Putin’s Russia, Cambridge (im Erscheinen), S. 138–159
      ↩︎

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  • Protestbewegung 2011–2013

    Protestbewegung 2011–2013

    Nachdem Putin im September 2011 angekündigt hatte, wieder Präsident werden zu wollen, und im Dezember zahllose Wahlbeobachter über massive Wahlfälschungen berichteten, bildete sich in Russland die größte Protestbewegung seit dem Ende der Sowjetunion. Sie bewies erstaunliches Durchhaltevermögen, versiegte jedoch im Jahr 2013 aufgrund von inneren Streitigkeiten und der repressiven Reaktion des Staates.

    Die bislang größte Protestwelle in Russlands postsowjetischer Geschichte wurde durch die Dumawahlen am 4.12.2011 ausgelöst. Die freiwilligen Wahlbeobachter, die zum ersten Mal so zahlreich angetreten waren, erlebten die massiven Fälschungen an diesem Tag als unmittelbaren emotionalen Schock. Eine Erfahrung, die sich über zahlreiche Posts in Freundesnetzwerken und sozialen Medien rasch verbreitete, nachdem Wladimir Putins Ankündigung im September 2011, nach vier Jahren als Premierminister wieder die Präsidentschaft übernehmen zu wollen, bereits viel Unmut ausgelöst hatte. Die Proteste richteten sich vor allem gegen Putin und die Partei Einiges Russland, doch das Themenspektrum weitete sich schnell aus. Viele zuvor apolitische Menschen machten auf den – fast ausschließlich friedlichen – Demonstrationen, Einzelaktionen und Camps ihre ersten Protesterfahrungen. Es gelang der Bewegung jedoch nicht, Putins Rückkehr an die Macht zu verhindern. Differenzen zwischen den Teilnehmern ebenso wie die repressive Reaktion des Staates brachten die Bewegung – nicht jedoch andere Protestformen – schließlich zum Versiegen.

    Mediale Repräsentation und Wirklichkeit klaffen in Bezug auf die Protestbewegung weit auseinander. In journalistischen Darstellungen war oft die Rede von einer Oppositionsbewegung oder dem Protest einer Moskauer „kreativen“ oder Mittelklasse. Oft wird auch nur vom Protestwinter 2011–12 gesprochen, womit vor allem die ersten, teilweise karnevalesk anmutenden Massendemonstrationen in der Hauptstadt mit jeweils über 100.000 Teilnehmern gemeint sind – oder aber Aktionen wie die Menschenkette um den Moskauer Gartenring am 26.2.2012. Tatsächlich fanden Proteste gegen Wahlfälschungen in fast allen Regionen des Landes sowie im Ausland statt, allerdings vor allem in größeren Städten. Die Demonstrationswelle versiegte in der Provinz erst gegen Ende 2012, in Moskau klang sie sogar noch 2013 mit Protesten gegen die Duma und bei den Bürgermeisterwahlen im September nach.

    Begriffe wie „Opposition“ und „Mittelklasse“ geben wenig Aufschluss: Die meisten Protestaktionen wurden nicht von der Opposition organisiert, die Teilnehmer waren politischen Oppositionellen gegenüber oft skeptisch bis ablehnend eingestellt, und die Motivationen der in Alter, Einkommen und Herkunft sehr unterschiedlichen Protestierenden hatten mit deren sozio-ökonomischem Status meist nichts zu tun.

    Die wissenschaftliche Diskussion1 beschäftigt sich eher mit der Dynamik zwischen verschiedenen Teilnehmern und Anliegen. Mit dem Aufstand gegen die Umwandlung von Sozialleistungen in Geldtransfers (2005) sowie den massiven regionalen Bewegungen in Wladiwostok und Kaliningrad (2008–09) hatte es bereits größere Protestwellen gegeben. Hinzu kamen zahlreiche lokale Aktionen gegen Privilegien für Beamte, Umweltzerstörung oder verdichtende Bebauung. Solche Themen waren auch auf den großen Demonstrationen der Jahre 2011–13 präsent. Die vielen Einzelanliegen fanden jedoch bei Oppositions-Aktivisten und zunächst auch bei den zahlreichen Protestneulingen kein Gehör. Sie wurden von der Kritik an Putin, der Staatspartei und dem Wahlleiter Wladimir Tschurow übertönt. Oppositionsfiguren wie der nationalliberale Blogger Alexej Nawalny oder der linke Aktivist Sergej Udalzow waren zwar in den Medien sehr präsent, doch es gelang ihnen mit ihren sehr allgemein gehaltenen Parolen nicht, die Mehrheit der Protestierenden als Unterstützer zu gewinnen. Die temporäre Zusammenarbeit zwischen Aktivisten verschiedener Couleur, symbolisiert durch das weiße Bändchen als Protestsymbol, konnte nicht institutionalisiert werden. Versuche wie der im Oktober 2012 gegründete Koordinationsrat der Opposition scheiterten schon bald an innerem Zwist und mangelnder Verwurzelung in Basisinitiativen. Viele neu politisierte Bürgerinnen und Bürger wandten sich enttäuscht ab oder aber lokalen Anliegen zu – von der Kommunalpolitik bis zur Wahlbeobachtung. Gegenkulturelle Aktionen von Performancekünstlern wie Pussy Riot oder Pjotr Pawlenski erregten – besonders bei westlichen Beobachtern – viel Aufmerksamkeit, waren innerhalb Russlands jedoch eher Nebenschauplätze des Protests.

    Noch bedeutsamer als die innere Spaltung war die Reaktion des Staates. Viele Aktionen – vor allem in der Provinz – wurden mit brutaler Polizeigewalt aufgelöst, die beim „Marsch der Millionen“ in Moskau am 6. Mai 2012 ihren Höhepunkt fand. Es folgte eine Verhaftungswelle sowie eine Reihe repressiver Gesetze, die neben zahlreichen alten und neuen Aktivisten auch NGO-Mitarbeiter sowie gänzlich Unbeteiligte (etwa Musikfans) traf. Auf Gegendemonstrationen und – im Zuge des Pussy Riot-Prozesses und schließlich der Ereignisse in der Ukraine – in staatsnahen Medien und der Öffentlichkeit wurden sowohl Oppositionelle als auch einfache Protestierende zunehmend als dekadente, prowestliche „Nationalverräter“ dargestellt, teilweise auf öffentlichen Plakaten. Zudem spalteten der Euromaidan, die Angliederung der Krim sowie der Krieg im Donbass Liberale, Linke und Nationalisten jeweils in zwei Lager. Die oppositionelle Szene vermochte es nicht, ihre Präsenz auf den Demonstrationen in Wahlerfolge zu verwandeln.

    Dennoch ist der Protest in Russland nicht gänzlich zum Erliegen gekommen. Bewegungen wie diejenige gegen Nickelbergbau entlang des Chopjor-Flusses oder gegen eine neue Lastwagenmaut legen eine große Ausdauer und einen hohen Organisationsgrad an den Tag. Auch Aktivisten für LGBT-Rechte oder für die Freilassung politischer Gefangener nehmen regelmäßig große persönliche Risiken auf sich, um ihre Anliegen trotz der neuen Restriktionen öffentlich vorzutragen.


    1. z. B.: Bikbov, Aleksandr (2012): Metodologija issledovanija „vnezapnogo“ uličnogo aktivizma (rossijskie mitingi i uličnye lagerja, dekabr‘ 2011 – ijun‘ 2012), in: Laboratorium Nr. 2, S. 130-163; Gabowitsch, Mischa (2013): Putin kaputt!? Russlands neue Protestkultur, Berlin; ders. (2016, im Erscheinen): Protest in Putin’s Russia, London ↩︎

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  • Extremismuszentren

    Extremismuszentren

    Die Abteilungen zur Bekämpfung des Extremismus sind eigenständige Polizeieinheiten in allen Regionen Russlands. Sie arbeiten mit einem sehr großzügig interpretierten Extremismusbegriff. Neben Rechtsradikalen überwachen sie auch außerparlamentarische Oppositionelle und Demonstrierende jeglicher Couleur. Dafür besitzen sie weitreichende Befugnisse. Die Mitarbeiter sind an Verhaftungen beteiligt und wenden Medienberichten zufolge brutale Verhörmethoden an.

    Die so genannten Extremismuszentren in den russischen Regionen werden von einem Hauptsitz am Innenministerium in Moskau aus koordiniert. Sie wurden im Jahr 2008 auf Grundlage der regionalen Verwaltungen zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens und des Terrorismus (RUBOP, seit 2001 UBOP) geschaffen. Letztere wurden in der spätsowjetischen Zeit und den frühen 1990ern etabliert, um der wachsenden Kriminalität Herr zu werden, galten aber selbst als besonders korruptionsanfällig und waren auch bei anderen Mitarbeitern des Gewaltapparats oft unbeliebt.

    Diese Umstrukturierung markierte zugleich auch einen Prioritätenwechsel staatlicherseits: Unter Putin waren kriminelle Banden zu großen Teilen zerschlagen oder aber in den Staatsapparat integriert worden, sie wurden jetzt nicht mehr als Bedrohung der öffentlichen Ordnung angesehen. Der Kampf gegen Oppositionelle jeglicher Couleur hingegen hatte seit 2003 eine immer größere Bedeutung bekommen, ebenso der Wunsch, politisierte Jugendszenen, von Neonazis bis hin zu Anarchisten, unter Kontrolle zu bekommen.

    Wie auch im Westeuropa der Nachkriegszeit wurde in Russland in den 2000ern der Extremismusbegriff sehr weit interpretiert. Er wurde mehr und mehr zu einem politischen Kontrollinstrument, das sowohl gegen gewaltbereite Radikale als auch gegen ein buntes Spektrum ideologischer Strömungen angewandt werden konnte. Im russischen Fall gehören dazu neben Neonazis und anderen Rechtsradikalen auch diverse religiöse Gruppen, die als „nichttraditionell“ eingestuft werden, aber auch Künstler, politische Aktivisten und Regimekritiker. Die Grundlage dafür bildet oft ein im Jahr 2002 verabschiedetes Gesetz, das „Anstiftung zu Hass oder Feindschaft sowie die Verletzung der Würde“ unter Strafe stellt und in der Praxis sehr großzügig interpretiert wird.1

    Die Extremismuszentren haben sich hierfür als ein durchaus schlagkräftiges Mittel erwiesen. Sie trugen unter anderem dazu bei, dass seit 2008 die vormals recht große und verzweigte Nazi-Skinhead-Szene durch Verhaftungs- und Verbotswellen dezimiert wurde. Heute agieren rechtsradikale Gruppierungen praktisch nur noch unter staatlicher Aufsicht. Auch andere Gruppen werden von E-Zentren überwacht: Deren Mitarbeiter sammeln Informationen zu Regimegegnern und Protestierenden jeder Art, darunter Liberale, Antifaschisten oder Friedensaktivisten. Sie haben Zugang zu Datenbanken anderer Behörden, auch auf die persönlichen Daten aller Steuerzahler. Neben Polizisten, Sondereinsatzkräften und Geheimdienstmitarbeitern sind die Vertreter der E-Zentren regelmäßig – meist in Zivil – auf Demonstrationen und anderen Protestaktionen präsent und oft an Verhaftungen beteiligt. Aus mehreren Städten gibt es Berichte über brutale Verhörmethoden einschließlich solcher, die in den Bereich der Folter fallen.2 Zudem gibt es Hinweise darauf, dass von den E-Zentren extremistische Aktionen gezielt erfunden werden, um – durch deren „Bekämpfung“ – die eigene Statistik aufzubessern.3


    1. Daten zu dieser Praxis sammelt das Moskauer SOVA-Zentrum ↩︎
    2. siehe z. B. lenta.ru: Ėkstremisty iz Nižnego ↩︎
    3. siehe z. B. lenta.ru: Sotrudnik Centra „Ė“ zastavil bomža raskleivatʼėkstremistskie listovki ↩︎

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  • Bolotnaja-Bewegung

    Bolotnaja-Bewegung

    Bolotnaja-Bewegung ist eine oft, aber nicht immer, abwertend gebrauchte Bezeichnung für die Proteste gegen Wahlfälschung und gegen Einiges Russland in den Jahren 2011–13, insbesondere deren Hochphase von Dezember 2011 bis Mai 2012. Der Begriff leitet sich vom Bolotnaja-Platz im Moskauer Stadtzentrum ab, auf dem drei der größten Demonstrationszüge (10.12.2011, 4.2.2012, 6.5.2012) endeten. Ein verwandter Begriff ist der Bolotnaja-Prozess. Dieser bezieht sich auf die Massenverhaftungen und anschließenden Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit dem Marsch der Millionen am 6.5.2012 auf dem Bolotnaja-Platz.

    Abwertend ist die Bezeichnung zum einen, weil bolotnoje dwishenije wörtlich „Sumpfbewegung“ bedeutet. „Sumpfplatz“ heißt dieser Abschnitt der Flussinsel in der Moskwa, weil der angrenzende Kanal in den 1780er Jahren zur Austrocknung der Sümpfe angelegt wurde, die alljährlich nach der Schneeschmelze entstanden.1Der Begriff „Sumpfbewegung“ suggeriert jedoch auch eine aussichts- und zahnlose Form von Protest, die sich von vorneherein auf die Bedingungen von Polizei und Machthabern einlässt. Bereits in den Jahren vor 2011 bestimmten die Moskauer Behörden den Platz oft als Ort für regimekritische Kundgebungen, weil er trotz seiner zentralen Lage relativ abgeschieden ist und sich ohne Schwierigkeiten überwachen und absperren lässt. Bei der Vorbereitung der ersten Großkundgebung für faire Wahlen am 10.12.2011 konnte sich die radikalere Fraktion, die auf dem Manegenplatz direkt vor dem Kreml demonstrieren wollte, nicht gegen moderatere Protestteilnehmer durchsetzen, die mit der Moskauer Stadtverwaltung auf den Bolotnaja-Platz als Demonstrationsort übereinkamen.2

    Vor allem aber impliziert die Bezeichnung, die Proteste hätten sich auf Moskau (und hier vor allem auf eine „kreative“ oder Mittelklasse) beschränkt – obwohl in den meisten Regionen des Landes demonstriert wurde, in einigen proportional gesehen sogar mehr als in der Hauptstadt3. SoziologInnen, die die Wahlproteste als eine eher oberflächliche Modeerscheinung ansehen, stellen mit der Bezeichnung bolotnoje dwishenije einen Kontrast zu Sozialprotesten her, die sie als stärker mit den tatsächlichen Interessen der Bevölkerung verbunden ansehen.4Allerdings war die Grenze zwischen beiden Protestanliegen gerade in einigen Provinzregionen durchaus fließend.

    Ein verwandter Begriff ist bolotnoje delo, also der „Bolotnaja-Prozess“. Er bezieht sich auf die Massenverhaftungen beim Marsch der Millionen am 6.5.2012 auf dem und um den Bolotnaja-Platz sowie die anschließenden Gerichtsverfahren gegen einige der Verhafteten und andere, die erst später wegen angeblicher Aufwiegelung zu Massenunruhen festgenommen wurden. Insgesamt wurden am 6. Mai nach Zusammenstößen zwischen Demonstrierenden und Polizei etwa 650 Menschen verhaftet.5In den folgenden Wochen und Monaten führten Ermittler eine Reihe von Durchsuchungen und Verhaftungen durch, wobei in einem Fall ein aus Moskau geflüchteter politischer Aktivist durch den russischen Geheimdienst aus Kiew entführt wurde, während er dort Asyl beantragte. Insgesamt wurden über 30 Personen angeklagt, die meisten von ihnen verbrachten mehrere Monate in Untersuchungs- oder Lagerhaft beziehungsweise in der Zwangspsychiatrie. Es wurden Haftstrafen von bis zu viereinhalb Jahren verhängt. Die Bandbreite der Angeklagten reicht von Demonstrationsneulingen bis hin zu linken, rechten, liberalen und anarchistischen AktivistInnen der Geburtsjahrgänge 1955 bis 1992. Vier der Inhaftierten sind im November 2016 noch hinter Gittern, die anderen sind – zum Teil per Amnestie oder auf Bewährung – freigekommen, beziehungsweise befinden sich im Ausland.6

    Während Untersuchungskomitee und Staatsanwaltschaft, gestützt auf Aussagen der Polizei, die Angeklagten als Teilnehmer gewalttätiger Massenunruhen ansahen, kam eine öffentliche, dem Protest und der politischen Opposition nahestehende, Kommission nach Befragung von über 600 Zeugen und Auswertung umfangreicher Foto- und Videodaten zu dem Schluss, die Zusammenstöße seien von den Behörden bewusst provoziert worden.7Die Verhaftungen und Gerichtsverhandlungen im Rahmen des Prozesses waren ihrerseits von regelmäßigen Solidaritätsprotesten begleitet – bis weit in das Jahr 2013 hinein blieb der „Bolotnaja-Prozess“ eines der wichtigsten politischen Protestthemen in der Hauptstadt, wobei wegen der im Juni 2012 beschlossenen weiteren Einschränkung der Versammlungsfreiheit vor allem Einzelpersonen oder kleinere Gruppen protestierten.8


    1. Gabowitsch, Mischa (2013): Putin kaputt!? Russlands neue Protestkultur, Berlin, S. 11 ↩︎
    2. ebd., S. 171 ↩︎
    3. ebd., S. 82 ↩︎
    4. z. B. Kleman, Karin (2014): К voprosu о lokalʼnom i globalʼnom v nizovych socialʼnych dviženijach Rossii v 2005–2010 godach, in: Politika apolitičnych: Graždanskie dviženija v Rossii 2011–2013 godov, Moskau, S. 71-105, insbesondere S. 100-103 ↩︎
    5. ovdinfo.org: Čelovek iz avtozaka: političeskie zaderžanija v Moskve: Godovoj doklad OVD-Info za 2012 god ↩︎
    6. Detaillierte Informationen zu den einzelnen Angeklagten und den jeweiligen Verfahren und Urteilen bieten die Webseiten politpressing.org, 6may.org, rosuznik.org und bolotnoedelo.info ↩︎
    7. .sh. die Webseite der Kommission „Runder Tisch des 12. Dezember“ unter www.rt12dec.ru und ihre Publikation Bolotnoe delo: Itogi obščestvennogo rassledovanija: Vyderžki iz Doklada Komissii «Kruglogo stola 12 dekabrja» po obščestvennomu rassledovaniju sobytij 6 maja 2012 goda na Bolotnoj ploščadi, Moskau 2013 ↩︎
    8. Siehe dazu die quantitativen Erhebungen von OVD-Info unter reports.ovdinfo.org – zum Jahr 2012 gibt es eine Zusammenfassung des Berichts auch auf Englisch ↩︎

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  • Großer Vaterländischer Krieg

    Großer Vaterländischer Krieg

    Als Großen Vaterländischen Krieg bezeichnet man in Russland den Kampf der Sowjetunion gegen Hitlerdeutschland 1941–1945. Der Begriff ist an den Vaterländischen Krieg gegen Napoleon im Jahr 1812 angelehnt. Galt der Sieg über den Faschismus offiziell zunächst als ein sozialistischer Triumph unter vielen, wurde er seit Mitte der 1960er Jahre zu einem zentralen Bezugspunkt der russischen Geschichte.

    „Der Große Vaterländische Krieg 1941–1945 war der gerechte Befreiungskrieg des sowjetischen Volkes für die Freiheit und Unabhängigkeit der sozialistischen Heimat gegen das faschistische Deutschland und seine Verbündeten, der wichtigste und entscheidende Teil des Zweiten Weltkriegs 1939–1945.“ So definierte im Jahr 1985 eine einschlägige Moskauer Enzyklopädie.1 Diese in der Sowjetunion und einigen Nachfolgestaaten übliche Bezeichnung entspricht chronologisch und geographisch in etwa den deutschen Begriffen Krieg an der Ostfront oder Russlandfeldzug. Selbst für sich allein genommen war dieser Abschnitt des Zweiten Weltkriegs einer der blutigsten Kriege der Weltgeschichte.

    Ein Sieg unter vielen

    Der Begriff ist an die Bezeichung für Napoleons gescheiterten Russlandfeldzug von 1812 angelehnt, der in Russland als Vaterländischer Krieg bekannt ist. Gemeint ist ein Verteidigungskrieg auf eigenem Boden, auch wenn dieser in eine Gegenoffensive außerhalb der Staatsgrenzen übergeht. Bereits der Erste Weltkrieg wurde manchmal als Großer Vaterländischer Krieg bezeichnet.

    Nachdem die Wehrmacht am 22. Juni 1941 die Sowjetunion überfiel, wurden die Parallelen zum Ersten Weltkrieg, vor allem aber zu 1812, schnell aufgegriffen. Bereits am nächsten Tag druckte die „Prawda“ einen Artikel des Parteiideologen Jemeljan Jaroslawskij mit dem Titel „Der Große Vaterländische Krieg“. Auch Stalin griff die Bezeichnung in seiner ersten öffentlichen Kriegsansprache am 3. Juli 1941 auf.

    Obwohl der internationale Charakter aller drei Kriege stets betont wurde, markierte der Begriff des Vaterländischen Krieges eine Wende von einer sozialistischen Interpretation hin zu einer Besinnung auf die Geschichte Russlands vor der Oktoberrevolution. Militärische Ruhmestaten aus dem Mittelalter und der Zarenzeit wurden in der Propaganda ebenso betont wie die führende Rolle des russischen Volkes. Dennoch dauerte es Monate, bis der Ausdruck Vaterländischer Krieg zum Standardbegriff wurde – und erst gegen Ende des Kriegs war das zusätzliche Attribut Großer nicht mehr wegzudenken.

    Die Chronologie des Kriegs und seine Bedeutung im Verhältnis zu anderen militärischen und politischen Ereignissen waren auch nach 1945 nicht sofort in Stein gemeißelt. Der 3. September 1945 als Tag des Sieges über Japan stand noch 1947 im staatlichen Festkalender und in Denkmalsentwürfen aus der Bevölkerung gleichberechtigt neben dem 9. Mai.2 Als vaterländische Kriege konnten der Bürgerkrieg von 1917–1921, die sowjetisch-japanische Schlacht am Chasansee von 1938 und sogar der sowjetisch-finnische Krieg von 1939/40 gelten.3

    Bis zur Mitte der 1960er Jahre galt der Sieg von 1945 als eine Errungenschaft des Sozialismus unter vielen. Seine Bedeutung für das historische und politische Selbstverständnis des Landes stieg jedoch kontinuierlich, nicht zuletzt auf Druck aus der Armee, den neuen Veteranenverbänden und von Verantwortlichen aus den Westgebieten der UdSSR, wo die zentrale Rolle des Kriegs bereits etabliert war.

    Siegeskult und Geschichtsklitterung

    Nach dem Sturz Chruschtschows im Jahr 1964 bemühte sich die neue Staatsspitze, den bereits bestehenden Kult des Großen Vaterländischen Kriegs (GVK, russ. WОW, Welikaja Otetschestwennaja Woina) zu vereinheitlichen und im ganzen Land zu etablieren. Die rückwärtsgewandte Sicht auf den Krieg als das – neben der Oktoberrevolution – wichtigste Ereignis in Russlands Geschichte überschattete zunehmend die zukunftsorientierten Versprechungen des Sozialismus. Die 1418 Tage vom 22. Juni 1941 bis zum 9. Mai 1945 wurden zum endgültigen chronologischen Rahmen; die geheimen Teile der deutsch-sowjetischen Abkommen von 1939 und die Besetzung von Teilen Osteuropas durch die Sowjetunion 1939/40 blieben aus der offiziellen Geschichtsschreibung ausgespart.

    Fundament des historischen Selbstverständnisses

    Nach einer Phase kontroverser Diskussionen um Interpretationen und Chronologie des Krieges während der Perestroika stieg die Bedeutung des Kults um den GVK seit Mitte der 1990er Jahre wieder kontinuierlich. Durch den Zusammenbruch des marxistisch-leninistischen Geschichtsbilds blieb der Stolz auf den Sieg von 1945 als einziger historischer Affekt übrig, der nationalen Zusammenhalt versprach. Mit Unterstützung aus der Staatsführung, oft jedoch auf Initiative der Enkelgeneration, wurde er in den 2000ern endgültig zum Fundament des historischen Selbstverständnisses in Russland und Belarus.

    In den ehemaligen Sowjetrepubliken und dem ferneren Ausland sind es vor allem russischsprachige Einwohner, für deren Geschichts- und Selbstverständnis der GVK ein wichtiger Bezugspunkt ist. Inzwischen werden mehr kulturelle Artefakte (Filme, Bücher, Denkmäler usw.) zu 1941–1945 produziert als zu spätsowjetischen Zeiten. In Russland ist der Tag des Sieges am 9. Mai der mit Abstand wichtigste Nationalfeiertag.

    Ereignisse der jüngsten Geschichte werden zunehmend als Neuauflage des GVK gesehen, so – durch beide Seiten – der seit 2014 andauernde Ukrainekrieg. Gerade in der Ukraine hat der Konflikt jedoch auch zu Neuinterpretationen geführt. Neben dem weiterhin bestehenden Kult um den Großen Vaterländischen Krieg werden die Ereignisse ab 1941 dort, wie schon zuvor im Baltikum, zunehmend als Teil des Zweiten Weltkriegs von 1939–1945 gesehen und das eigene Land als Opfer zweier Diktaturen dargestellt.


    1. Sovenciklopedija (1985): Velikaja Otečestvennaja vojna, 1941-1945, Moskau, S. 7 ↩︎
    2. zu einem solchen Projekt siehe: Pamjatnik Pobedy: Dokumenty po istorii sooruženija memorial’nogo kompleksa na Poklonnoj gore v Moskve (1943-1991gg.), Golden-Bi Verlag, Moskau, S. 41-49 ↩︎
    3. Pamjatnik Pobedy: Dokumenty po istorii sooruženija memorial’nogo kompleksa na Poklonnoj gore v Moskve (1943-1991gg.), Golden-Bi Verlag, Moskau, S. 27-32 ↩︎

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  • Tag des Sieges

    Tag des Sieges

    Der Tag des Sieges wird in den meisten Nachfolgestaaten der UdSSR sowie in Israel am 9. Mai gefeiert. Er erinnert an den Sieg der Sowjetunion über das nationalsozialistische Deutschland und ist in Russland inzwischen der wichtigste Nationalfeiertag. Der 9. Mai ist nicht nur staatlicher Gedenktag, sondern wird traditionell auch als Volks- und Familienfest begangen.

    Anders als in Westeuropa galt in der Sowjetunion der 9. und nicht der 8. Mai als Tag des Kriegsendes. Als die Kapitulation der deutschen Wehrmacht in Kraft trat, war in Moskau bereits der nächste Tag angebrochen. Der 9. Mai war in der UdSSR zunächst – genau wie der 3. September, Tag des Kriegsendes im Fernen Osten – ein arbeitsfreier Tag. Nachdem Stalin ihn im Dezember 1947 wieder zum Arbeitstag gemacht hatte, wurde der Tag des Sieges staatlicherseits mit weniger Aufwand gefeiert. Dennoch fanden weiterhin offizielle Veranstaltungen mit Reden, Salutschüssen und Denkmalseinweihungen sowie Volksfeste statt, vor allem aber Familienfeiern und Wiedersehenstreffen von Kriegsveteranen.

    „Kult des Großen Vaterländischen Kriegs“

    Auch in einigen anderen Ländern des Ostblocks, etwa in Polen, wurde der 9. Mai als Tag des Sieges gefeiert. Seit 1965 unter Breshnew wieder zum arbeitsfreien Tag erklärt, wurde der Tag des Sieges schnell zu einem der wichtigsten Festtage der Sowjetunion und zum Mittelpunkt eines „Kults des Großen Vaterländischen Kriegs“ (Nina Tumarkin1), der die Bevölkerung über die gemeinsame Kriegserfahrung stärker an die neue Staatsführung binden und zum sowjetischen Patriotismus erziehen sollte. Vor allem in Jubiläumsjahren diente er in Form von Militärparaden und Veranstaltungen mit ausländischen Staatsoberhäuptern auch der Selbstdarstellung der UdSSR auf der internationalen Bühne.


    Mit dem Wegfall der meisten anderen sowjetischen Feiertage ist der 9. Mai in Russland inzwischen neben dem Neujahrstag das wichtigste Fest des Jahres. Obwohl auch die Opfer der Alliierten und der anderen Sowjetvölker in das Gedenken eingeschlossen werden, liegt die Betonung inzwischen immer mehr auf dem Sieg über Hitlerdeutschland als Schlüsselereignis der russischen Geschichte. Dafür steht auch das 2005 eingeführte St.-Georgs-Band, das die Symbolik des ehemaligen St.-Georgs-Ordens aufgreift. Dieser Sieg wird dabei zunehmend als das herausragende Geschehen in einer langen Reihe militärischer Heldentaten dargestellt und spielt als solches eine tragende Rolle im offiziellen Narrativ des Feiertags. Verstärkt wird der 9. Mai inzwischen auch zum Anlass für Konflikte um den russischen Einfluss und die Rolle der russischsprachigen Minderheiten in den Nachbarstaaten. In der Ukraine stehen seit 2015 der 8. und der 9. Mai gleichberechtigt als Gedenktage nebeneinander.

    Das Unsterbliche Regiment


    Gleichzeitig haben sich in den letzten Jahren länderübergreifende Gedenkinitiativen entwickelt. Die bekannteste unter ihnen ist das im Jahr 2012 von liberalen Tomsker Journalisten initiierte Unsterbliche Regiment. Dabei marschieren Tausende mit Porträts von Kriegsteilnehmern aus der eigenen Familie durch Stadtzentren oder Ehrenmale. Die Aktion hat sich inzwischen bis nach Israel, Deutschland, Norwegen und in die USA ausgeweitet. Generell haben Auswanderer aus der ehemaligen UdSSR die Festtraditionen des 9. Mai in viele andere Länder weitergetragen. Auch in Deutschland wird dieser Tag inzwischen breit zelebriert – am 9. Mai 2015 kamen zum Beispiel über 40.000 Menschen zu einem Volksfest am sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park zusammen.

    Besucher zum 70. Jahrestag des Tages des Sieges am sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park in Berlin - Foto © KleinerEisbär2015 unter CC BY 4.0
    Besucher zum 70. Jahrestag des Tages des Sieges am sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park in Berlin – Foto © KleinerEisbär2015 unter CC BY 4.0

    1. Tumarkin, Nina (1994): The Living and the Dead: The Rise and Fall of the Cult of World War II in Russia, New York ↩︎

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