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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Erste Russische Kunstausstellung in Berlin

    Erste Russische Kunstausstellung in Berlin

    „Wir, die wir bis dahin stets nach dem Westen und Paris orientiert waren, sahen plötzlich im Osten eine ganze Generation von neuen Künstlern und Ideen vor uns.“1 So formulierte der deutsche Künstler Hans Richter das Erstaunen, dass die Erste Russische Kunstausstellung unter den westlichen Künstlerkollegen, aber auch bei den zahlreichen interessierten Besuchern auslöste. 
    Die Ausstellung wurde am 15. Oktober 1922 in Berlin Unter den Linden in der privaten Galerie van Diemen feierlich eröffnet und gilt aus kunsthistorischer Perspektive zweifellos als eine „Station der Moderne“. Auch in politischer Hinsicht markierte sie eine Zäsur: Organisiert vom Narkompros, dem russischen Volkskommissariat für Bildungswesen, war sie ein frühes Zeugnis für die Aufnahme kultur-diplomatischer Beziehungen zwischen der Weimarer Republik und dem jungen bolschewistischen Russland.
    Zur Eröffnung kamen neben modernen Künstlern, deutschen Kommunisten und russischen Émigrés auch politische Würdenträger aus der Russischen Sowjetrepublik und der Weimarer Republik. Die Presse berichtete anerkennend, selten sei eine deutsche Ausstellung auf derart illustre Weise eröffnet worden.2

    РУССКАЯ ВЕРСИЯ

     

     

    Vom Impressionismus bis zum Suprematismus

    Die Ausstellung umspannte die Zeit vom späten Zarenreich bis zu den radikalen Umwälzungen nach der bolschewistischen Revolution von 1917. Diese wohl bewegteste Epoche der russischen Geschichte fiel zusammen mit dem Aufstieg einer künstlerischen Avantgarde, die nun dem westeuropäischen Publikum erstmals in einem breiten Panorama vorgestellt wurde. Besondere Beachtung fanden jene Werke, die unter den neuen Schlagwörtern Suprematismus und Konstruktivismus firmierten. Ihre konsequente Gegenstandlosigkeit, zusammen mit dem – implizierten – politischen Gehalt, setzten Publikum, Presse und die westlichen Künstlerkollegen gleichermaßen in Erstaunen.

    An der Ausstellung waren rund 170 Künstler und Künstlerinnen beteiligt, die vornehmlich aus Russland, aber auch aus der Ukraine, Polen, Georgien, Armenien, Lettland oder der Mongolei stammten. Der Katalog, für den El Lissitzky das Cover gestaltet hatte, verzeichnet 594 Nummern – die tatsächliche Anzahl der Exponate lag jedoch deutlich höher. Dazu gehörten Gemälde, Graphiken, Skulpturen, Theaterdekorationen und Plakate sowie eine beachtliche Auswahl an Agitprop-Porzellanen – Teller und Tassen, die mit Hammer und Sichel, dem Konterfei von Lenin und politischen Losungen für die Revolution warben. 

    Im Erdgeschoss waren die Werke der Peredwishniki und der russischen Impressionisten präsentiert, die inhaltlich und ästhetisch noch in der Tradition des 19. Jahrhunderts standen. Auch die pre-revolutionäre Avantgarde, die sich in enger Auseinandersetzung mit den künstlerischen Strömungen in Frankreich herausgebildet hatte, war im Parterre zu sehen . 

    Im Treppenhaus hingen dagegen großformatige Plakate aus der Zeit des Russischen Bürgerkriegs, darunter eine Gruppe von ROSTA-Fenstern von Wladimir Majakowski, die den Besucher auf das Obergeschoss einstimmten.3 Dort zeigten die Kuratoren der Ausstellung – die Avantgardekünstler David Schterenberg, Naum Gabo und Natan Altman – diejenigen künstlerischen Errungenschaften, die seit 1914 und damit weitestgehend unabhängig von den Entwicklungen in Westeuropa entstanden waren. Dazu gehörten der Suprematismus, mit dem Kasimir Malewitsch zu einer gegenstandslosen Malerei reiner Formen und Farben vorgedrungen war ebenso wie die aus kunstfremden Materialien montierten Konter-Reliefs von Wladimir Tatlin. Hinzu kam die vielfältige Kunstproduktion, die unter dem Eindruck der Russischen Oktoberrevolution entstanden war, darunter vor allem die Werke jener Künstler, die sich unter dem Banner des Konstruktivismus formierten. 

    Ein gelungener Coup

    Katalog der Kunstausstellung / © gemeinfrei
    Katalog der Kunstausstellung / © gemeinfrei

    Den Organisatoren war mit der Schau an einer der nobelsten Adressen Berlins ein echter Coup gelungen. Bereits kurz nach der Oktoberrevolution 1917 war unter den politisch engagierten Künstlern in Sowjetrussland die Idee entstanden, durch den Austausch von Ausstellungen in den Dialog zu treten. Getragen vom Geist der Weltrevolution, die sich in Deutschland fortsetzen sollte, verfassten sie einen entsprechenden Aufruf an die deutschen Kollegen, der mit Wassily Kandinsky einen bekannten Befürworter fand. In der Weimarer Republik reagierten zentrale Figuren aus der Kultur, wie der Leiter des Bauhauses in Weimar Walter Gropius, mit Zustimmung. Ludwig Justi, der Direktor der Nationalgalerie, bot sogar das Kronprinzenpalais in Berlin als Ausstellungsort an. 
    Die Realisierung einer Ausstellung russischer Kunst in Deutschland scheiterte jedoch zunächst. In der Folge wurde die Idee wieder und wieder aufgegriffen und transformiert. Neue Akteure brachten neue Intentionen ein. Auch auf politischer Ebene wurde der Vorschlag mehrfach adressiert. Der Kommunist Willi Münzenberg, Leiter der deutschen Sektion der Internationalen Arbeiterhilfe, entwickelte schließlich den Plan für eine Verkaufsschau und gewann dafür sogar Lenins Unterstützung. Doch auch dieses Vorhaben wurde mit dem Verweis auf wirtschaftliche Schwierigkeiten noch im Frühjahr 1922 abgesagt.

    Dass rund sechs Monate später doch noch eine Ausstellung russischer Kunst in Berlin eröffnet werden konnte, für die nun das Narkompros unter der Leitung von Anatoli Lunatscharski verantwortlich zeichnete, liegt nicht zuletzt an der Initiative der Kunsthandlung van Diemen. Vertreter der Galerie, die eigentlich auf niederländische Alte Meister spezialisiert war, hatten den Verantwortlichen des Narkompros angeboten, die Ausstellung zu „äußerst günstigen Konditionen“ auszurichten,4 – und dass, obwohl sie als karitative Verkaufsschau konzipiert war und der Reinertrag den Opfern der Hungersnot in Russland zukommen sollte.5 Eigens aus Anlass der Ausstellung eröffnete die Galerie van Diemen sogar eine Niederlassung für „Neue Meister“ in dem Stadtpalais aus dem 18. Jahrhundert. 

    „Bizarre Russian art show“

    In kürzester Zeit stellten Schterenberg und seine Assistenten die Exponate für die Schau zusammen. Dabei konnten sie auf die Bestände des Staatlichen Museumsfonds zurückgreifen, in dessen Besitz sich ein großer Teil der Werke bereits befand. Auf den ersten Blick erscheint es erstaunlich, dass sie sich dabei nicht nur für die Werke der progressiven linksorientierten Künstler entschieden, sondern für eine Zusammenschau von älterer, figurativer Malerei mit den neuesten künstlerischen Experimenten. Dahinter stand die Absicht, durch die dargebotene künstlerische Traditionslinie eine Kontinuität zu behaupten. Auch in der öffentlichen Wahrnehmung sollte die Schau an Sehgewohnheiten des westlichen Publikums anschließen und damit über das Vehikel der Kunst das Vertrauen in den unbekannten bolschewistischen Staat stärken. Gleichzeitig war es das Ziel der Ausstellungsmacher, den politischen und gesellschaftlichen Fortschritt über die Kunstproduktion der post-revolutionären Zeit zu demonstrieren, weswegen die aktuellen gegenstandlosen Strömungen eine bevorzugte Behandlung erfuhren. 

    Der Plan ging auf. So schrieb etwa Max Osborn in seiner Besprechung für die Vossische Zeitung über die Schau: „Sowjetherrschaft bedeutet nicht allenthalben Zerstampfung und Experiment, sondern unter ihr haben die schöpferischen geistigen Kräfte nicht geschlummert. […] Man fühlt den heißen, dunklen Wunsch, in einem Neuaufbau der Formvorstellungen den Neuaufbau der staatlichen und wirtschaftlichen Welt zu deuten.“6 

    Osborns Kritik war nur einer von zahllosen Presseberichten, die im Zusammenhang mit der Ersten Russischen Kunstausstellung erschienen. Kunstmagazine, Zeitschriften und Tageszeitungen in der Weimarer Republik, der RSFSR aber auch in den Niederlanden, Frankreich und sogar in den USA berichteten über die „bizarre Russian Art Show“.7 Die vielstimmige Berichterstattung erscheint dabei gleichsam als Seismograph für die Wahrnehmung der Ausstellung in den unterschiedlichen – politischen und intellektuellen – Milieus und bezeugt die gesellschaftliche Relevanz, die das ungewöhnliche Ereignis erfuhr. 

    Politischer und diplomatischer Erfolg

    Lunatscharski wertete die Schau als einen „politischen Erfolg“ und erklärte in seinem Leitartikel über die Ausstellung in der sowjetischen Tageszeitung Iswestija, selbst die Kritiker hätten einräumen müssen, „dass die Sowjetregierung durch die Organisation dieser Ausstellung ihre diplomatischen Fähigkeiten erneut unter Beweis gestellt habe.“8 So lässt sich das Ereignis auch vor den historischen Geschehnissen vom Frühjahr 1922 lesen, als Vertreter der Weimarer Republik und Sowjetrusslands den Vertrag von Rapallo unterzeichneten. Dieser sah auch die Aufnahme diplomatischer Beziehungen vor – ein wichtiger Schritt für die jungen Staaten, die sich davor weitestgehend in außenpolitischer Isolation befunden hatten. Die Berliner Schau war eines der ersten Signale dieser Annäherung.

    Kasimir Malewitsch, Supremus No. 55, 1916 / © gemeinfrei
    Kasimir Malewitsch, Supremus No. 55, 1916 / © gemeinfrei

    Die Erste Russische Kunstausstellung ist noch heute, rund 100 Jahre später, Gegenstand der Forschung. Neben ihrem Zustandekommen steht dabei ihr künstlerisches Nachwirken und die Frage nach dem Verbleib der Exponate im Fokus. Nachdem die Schau im Mai 1923 in einer zweiten Station im Amsterdamer Stedelijk Museum gezeigt wurde, gelangten die gezeigten Werke in unterschiedlichste Sammlungen, von New Haven, Paris und Baku bis nach Krasnodar und Tomsk. Aber nicht nur aus kunsthistorischer Perspektive war die russische Ausstellung ein folgenreiches Ereignis. So sendet die Schau von 1922 auch heute noch auf politischer und gesellschaftlicher Ebene das Signal, dass Kunst und Kultur transnationale Brückenbauer sind. Und sie verdeutlicht, dass entgegen der allzu häufig postulierten Unterschiede zwischen Russland und seinen westlichen Nachbarn eine „fühlbare Parallelität“9 besteht, wie sie der damalige Reichskunstwart Edwin Redslob in einem Schreiben an seinen russischen Amtskollegen Lunatscharski in Rückblick auf die Erste Russische Kunstausstellung feststellte.


    Zum Weiterlesen
    Nisbet, Peter (1983): Some Facts on the Organizational History of the van Diemen Exhibition, in: The 1st Russian Show: A commemoration of the van Diemen Exhibition Berlin 1922, London: Annely Juda Fine Art, 1983, S. 67–72
    Lapschin, Wladimir (1985): Die erste Ausstellung russischer Kunst 1922 in Berlin, in: Kunst und Literatur. Sowjetwissenschaften, Berlin, Bd. 33, 4 (1985), S. 552–573
    Olbricht, Harald (1987): Galerie van Diemen: Erste Russische Kunstausstellung, in: Kändler, Klaus/Karolewski, Helga/Sieber, Ilse (1987, Hrsg.): Berliner Begegnungen: Ausländische Künstler in Berlin 1918-1933: Aufsätze, Bilder, Dokumente, Berlin, S. 65–73
    Adkins, Helen (1988): Erste Russische Kunstausstellung, Berlin 1922, in: Stationen der Moderne: Die bedeutendsten Kunstausstellungen des 20. Jahrhunderts in Deutschland, Berlin, S. 184–214
    Richter, Horst (1988): 1. Russische Kunstausstellung, Berlin 1922, in: Roters, Eberhard (Hrsg.): Stationen der Moderne: Kataloge epochaler Kunstausstellungen in Deutschland: Kommentarband zu den Nachdrucken der zehn Ausstellungskataloge, Köln, S. 95–130
    Mansbach, Steven A. (1993): The „First Russian Art Exhibition“ or the politics and presentation of propaganda, in: Künstlerischer Austausch: Artistic exchange: Akten des XXVIII. Internationalen Kongresses für Kunstgeschichte, Berlin, S. 307–320
    Häßler, Miriam (2021): Moscow Merz and Russian Rhythm: Tracking Vestiges of the Erste Russische Kunstausstellung, Berlin, 1922, in: Experiment: A Journal for Russian Culture, hrsg. von Sebastian Borkhardt, Tanja Malycheva und Isabel Wünsche, Bd. 23, Los Angeles: Brill 2017, S. 117–126
    Avtonomova, Natalia (2021): Die Tür zum Westen, in: The Tretyakov Gallery Magazine, Nr. 70 (1 / 2021), S. 200–231

    1. Richter, Hans (1967): Begegnungen in Berlin, in: Roters,Eberhard (Hrsg.): Avantgarde Osteuropa 1910 – 1930, Berlin, S. 13–21, hier S. 14 ↩︎
    2. So verweist etwa der Kritiker A. Wi. in der Deutschen Zeitung darauf, dass „nicht jede deutsche Ausstellung […] in einer derart illustren Weise eröffnet worden“ sei. Wi, A. (1922): Sowjet-Kunst. Ausstellung in der Galerie van Diemen, in: Deutsche Zeitung: Unabhängiges Tageblatt, Bd. 27, Nr. 463 (Morgenausgabe) 17. Oktober 1922 ↩︎
    3. Bei den Rosta-Fenstern handelt es sich um mehrbogige Plakate, die im Auftrag der russischen Nachrichtenagentur ROSTA im Russischen Bürgerkrieg durch Künstlerkollektive mit Schablonen hergestellt wurden. Da sie zunächst in den leeren Schaufenstern von Geschäften ausgehängt wurden, setzte sich für diesen Typ des Künstlerplakats die Bezeichnung „Fenster“ (russ. Okna) durch. Vgl. dazu auch Häßler, Miriam (2014): Politische Künstlerplakate der Russischen Revolution am Beispiel der ROSTA-Fenster, in: Silver Age: Russische Kunst in Wien um 1900, Ausst.-Kat. Belvedere Wien, S. 245–252 ↩︎
    4. Lunatscharski, Anatoli (1922): Russkaja Vystavka v Berline, 1922, in: Izvestija, Nr. 237 (abgedruckt in: ders. (1924): Iskusstvo i Revoljucija, Moskau, S. 177 ↩︎
    5. Als Mitorganisator der Schau trat das „Auslandskomitee zur Organisierung der Arbeiterhilfe für die Hungernden in Rußland“ auf. ↩︎
    6. Osborn, Max (1922): Russische Ausstellung, in: Vossische Zeitung (Abendausgabe), Berlin, 16. Oktober 1922 ↩︎
    7. So der Titel des Artikels von Flora Turkel für die American Art News; vgl. F. T. [Flora Turkel] (1923): Berlin sees bizarre Russian art show, in: American Art News, Bd. XXI, Nr. 4, 4. 11.1921, New York S. 1 ↩︎
    8. Izvestija, 1922 (1924), S. 177 ↩︎
    9. Edwin Redslob an Anatoli Lunatscharski in einem Schreiben vom 6.9.1923; BArch R32/229/28-30 ↩︎

    Weitere Themen

    „Serow? Hauptsache, da drinnen ist es warm“

    Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft der UdSSR (WDNCh)

    Der Sowjetmensch

    Jurodiwy

    Wassily Kandinsky

    Russland im Ersten Weltkrieg

  • Kunst und Revolution

    Kunst und Revolution

    „Dies war meine Revolution.“1 Die Worte des futuristischen Dichters und Künstlers Wladimir Majakowski widerspiegeln programmatisch das Engagement vieler russischer Künstler für und ihren Glauben an die Oktoberrevolution von 1917. Gerade die avantgardistischen Künstler, die im späten Zarenreich Restriktionen und Ausgrenzung erfahren hatten, erkannten in der bolschewistischen Revolution die Möglichkeit, sich aktiv in die Gestaltung von Kultur und Politik einzubringen. Viele stellten ihr Schaffen unter das Banner der Revolution und trugen zum „Kampf an der dritten Front“2 bei, wie die Umgestaltung des gesellschaftlichen Lebens und die Konsolidierung der bolschewistischen Herrschaft oft genannt wurde.

    Die Liaison zwischen Künstlern und Politik war aber von Anfang an auch problematisch, denn nicht alle Kunstschaffenden waren bereit, ihr Werk ideologisch vereinnahmen zu lassen. Dass auch diese Revolution ihre Kinder fraß, mussten die Künstler am eigenen Leib erfahren: Die politischen Säuberungen der Stalinära machten auch vor den einstigen Vorkämpfern der Revolution nicht Halt. Spätestens die Doktrin des Sozialistischen Realismus von 1932 setzte dem künstlerischen Höhenflug ein Ende.

    Die bolschewistische Revolution markiert eine Zäsur in der Kunstproduktion Russlands und anderer Regionen des ehemaligen Russischen Reichs, auch wenn die ästhetische Revolution 1917 schon lange vollzogen war. Bereits seit der Jahrhundertwende beschritten die russischen Künstler der Avantgarde den Weg in die Moderne, zunächst noch geprägt durch die intensive Auseinandersetzung mit den Kunstströmungen des Westens, ab 1914 dann weitestgehend autonom. Der gegenstandslose Suprematismus von Kasimir Malewitsch und die raumgreifenden Konterreliefs aus kunstfremden Materialien von Wladimir Tatlin hatten 1915 schließlich den endgültigen Bruch mit der Kunst der vorherigen Jahrhunderte proklamiert. Aber die Aufgaben und Themen der Kunst sowie die gesellschaftliche Stellung des Künstlers sollten sich mit der Oktoberrevolution in Russland drastisch ändern. 


    Staat als Auftraggeber


    An die Stelle der bürgerlich-aristokratischen Käuferschicht trat nun der Staat als Auftraggeber. Gefordert war eine Kunstproduktion, die den Zielen der staatlichen Agitation und Propaganda, kurz Agitprop, entsprach. Gesteuert wurden die Aktivitäten durch das Narkompros, das bereits am Tag der Machtübernahme der Bolschewiki eingerichtet wurde. Dessen erster Leiter, Anatoli Lunatscharski, rief die Künstler und Kulturschaffenden auf, über die Zusammenarbeit mit der neuen Regierung zu diskutieren. Schon bald war ein Großteil der in Petrograd lebenden avantgardistischen Künstler an den Arbeitsprozessen der zahlreichen Unterabteilungen des Narkompros beteiligt: Die bis dahin unabhängige Avantgarde wurde institutionalisiert. Viele andere Künstler, darunter auch Literaten und Komponisten, gingen mit den Zielen der Bolschewiki hingegen nicht konform. Reihenweise emigrierten sie in den Westen. 

    ROSTA-Fenster von Majakowski / Foto © wikimedia
    ROSTA-Fenster von Majakowski / Foto © wikimedia

    Die Kunstproduktion der Zeit greift das Thema der Revolution vielfältig auf. Engagierte Künstler wie Majakowski gestalteten politische Plakate, die gegen die neuen Feinde der Revolution – den feisten Bourgeois und den reaktionären Monarchisten – hetzten und die Helden der Roten Armee feierten. Die ROSTA-Fenster etwa verbanden die Ästhetik der Avantgarde mit der Tradition des volkstümlichen Lubok zu wirkungsvollen Mitteln der Agitation und Volksaufklärung. Diese mehrteiligen Plakate wurden von Künstlerkollektiven für die russische Telegrafenagentur ROSTA gefertigt und setzten deren Nachrichten mit eingängigen Bildergeschichten visuell um.


    Das zweite Russland

    Die in dieser Zeit entwickelten Symbole sollten die Alltagskultur der Sowjetunion nachhaltig prägen. Bald schon prangten sogar auf Tellern und Tassen wehende rote Banner, Hammer und Sichel sowie die Konterfeis der Revolutionsführer. Rauchende Fabrikschlote, aber auch dynamisch drängende, gegenstandslose Bildkonstruktionen kündeten vom Aufbruch in eine neue Zeit.

    Natan Altman, Russland. Arbeit (1921)
    Natan Altman, Russland. Arbeit (1921)

    In Natan Altmans Russland. Arbeit (1921, Moskau, Staatliche Tretjakow-Galerie) sind die Bildelemente – Linien und Flächen, Zahlen und Lettern – zu einer aufwärtsstrebenden Konstruktion aufgetürmt. Das Wort ТРУД (TRUD, dt. Arbeit) im unteren Bilddrittel bildet das stabile Fundament aus dem heraus der kyrillische Buchstabe „Р“ für „Россия“ (Rossija, dt. Russland) erwächst. Die „2“ verweist auf das neue Zeitalter, das zweite Russland; die runde Form links erinnert in diesem Kontext an eine aufgehende Sonne, deren Strahlen die Hoffnung auf ein besseres Morgen symbolisieren. Komplexe Inhalte wie die Heroisierung des Arbeiters im revolutionären Russland oder die optimistische Zukunftsgewandtheit der Zeit verarbeitete Altman hier mit einer reduzierten Bildsprache.

    Neben der Zukunft galt es auch, das Gedenken an die Revolution künstlerisch zu inszenieren. Neue Formen des Gedenkens an die Ruhmestaten der Revolution wurden entwickelt. Derselbe Altman etwa entwarf Dekorationen aus geometrischen Formen für die Festlichkeiten zum 1. Jahrestag der Oktoberrevolution 1918 und der Regisseur Sergej Eisenstein inszenierte 1928 in seinem Film Oktober eine Erstürmung des Winterpalasts, die das historische Ereignis weit überbot. 

    Altman etwa entwarf auch Dekorationen aus geometrischen Formen für die Festlichkeiten zum 1. Jahrestag der Oktoberrevolution / Foto © Michail Woronin (St. Petersburg)
    Altman etwa entwarf auch Dekorationen aus geometrischen Formen für die Festlichkeiten zum 1. Jahrestag der Oktoberrevolution / Foto © Michail Woronin (St. Petersburg)


    Schon früh stieß der revolutionäre Eifer der avantgardistischen Künstler auf Grenzen. Vor allem die kühnen Bauprojekte wurden selten oder nie realisiert. Lissitzkys Lenin-Tribüne (1920) oder Tatlins Monument für die III. Internationale (1919/20) erstarrten zu Ikonen eines utopischen Revolutionsbegriffs. Die radikale Ästhetik der Avantgardisten traf zudem schon vor der Machtübernahme Stalins auf Vorbehalte aus der Politik; Lenin selbst bevorzugte eher traditionelle Formen des künstlerischen Ausdrucks. Sein Plan für eine „Monumentale Propaganda“, den er im Februar 1918 erstmalig vorstellte, sah die Errichtung repräsentativer Denkmäler bedeutender Figuren der Geschichte – etwa Robespierre – in abbildender Manier vor.

    Tatlins Monument für die III. Internationale / Bild © Russische Nationalbibliothek St. Petersburg
    Tatlins Monument für die III. Internationale / Bild © Russische Nationalbibliothek St. Petersburg


    Überhaupt war revolutionäre Kunst in Russland nicht unbedingt auch radikal moderne Kunst: Auch die traditionelle Tafelmalerei brachte Beispiele von revolutionärem Impetus hervor, wie Boris Kustodijews Gemälde Der Bolschewik (1920, Moskau, Staatliche Tretjakow-Galerie) bezeugt. Sie sollte schließlich das ästhetische Fundament für den staatlich verordneten Sozialistischen Realismus bilden, während die abstrakte und ungegenständliche Kunst zunehmend unter Formalismusverdacht geriet. Aber auch die Avantgardisten waren Wegbereiter des stalinistischen Kunstverständnisses, folgt man der These des Kunsttheoretikers Boris Groys: Die Avantgardekünstler hätten mit ihrer Forderung „von der Darstellung der Welt zu ihrer Umgestaltung fortzuschreiten“3 Stalins Diktum des Schriftstellers als „Ingenieur der Seele“, der mit seinem Werk den Menschen formen könne, unfreiwillig vorbereitet.4 


    1. Majakovskij, Vladimir (1922/1928): Ja sam, in: Majakovskij, Vladimir: Moja revolucija, Moskau/Leningrad, Übersetzung vom Autor ↩︎
    2. Grabowsky, Ingo (2004): Agitprop in der Sowjetunion: Die Abteilung für Agitation und Propaganda 1920–1928, Bochum, S. 11 ↩︎
    3. Groys, Boris (1988): Gesamtkunstwerk Stalin: Die gespaltene Kultur in der Sowjetunion, München, S. 19 ↩︎
    4. vgl. Westermann, Frank (2003): Ingenieure der Seele: Schriftsteller unter Stalin – Eine Erkundungsreise, Berlin ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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    Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft der UdSSR (WDNCh)

    Der Russische Impressionismus

    Erste Russische Kunstausstellung in Berlin

    Ab in die Wanne: Lenins Schönheitskur

    Historische Presseschau: Oktober 1917

    Peredwishniki

  • Der Russische Impressionismus

    Der Russische Impressionismus

    Kaum ein Stil der Kunstgeschichte erfreut sich einer so ungebrochenen Beliebtheit wie der Impressionismus. Mit ihm verbindet man die luftig-heiteren Szenen der Pariser Straßencafés und die subjektive Wiedergabe flüchtiger Naturphänomene von Malern wie Claude Monet, Pierre-August Renoir und Éduard Manet. Die russische Ausprägung des Impressionismus wird dagegen nur selten in den Blick genommen, wohl auch, weil die Bewegung in Russland keine institutionelle Form fand. Dabei war der Impressionismus um 1900 als Schwellenstadium im Werk vieler bedeutender russischer Künstler wirksam – von Ilja Repin bis Michail Larionow. Genreszenen, Portraits und vor allem die russische Landschaftsmalerei erhielten durch die Sprache des Impressionismus mit ihrem gestisch-spontanen Pinselstrich, den intimen Bildausschnitten und der tageslichtdurchfluteten Atmosphäre eine Erweiterung des Ausdrucks.

    Trotz einiger „heimischer Vorboten“ in Russland liegt die Wiege des Impressionismus im Frankreich der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die vielen russischen Künstler, die sich zu dieser Zeit in Paris aufhielten, kamen als erste mit dieser neuen malerischen Wiedergabe der Welt in Berührung. Ilja Repin etwa, der Großmeister des russischen Realismus, traf Anfang der 1870er Jahre in der französische Metropole auf Éduard Manet. Repins Gemälde Pariser Café (1875, Christie’s 2011) bezieht sich denn auch deutlich auf Manets La Musique aux Tuileries (1862, National Gallery, London/Dublin City Gallery The Hugh Lane).

    Ilja Repin, Pariser Café (1875, Christie’s 2011)
    Ilja Repin, Pariser Café (1875, Christie’s 2011)

    Zurück in Russland schuf der Repin-Schüler Walentin Serow mit dem Portrait Mädchen mit Pfirsichen (1887, Staatliche Tretjakow Galerie, Moskau) eine erste Ikone des russischen Impressionismus, die ganz die lockere, den Moment beschreibende Malweise des Impressionismus bezeugt. Das Gemälde gewann 1888 den Preis der Moskauer Gesellschaft der Kunstliebhaber. Damit erhielt der russische Impressionismus seine erste offizielle Auszeichnung.

    Inhaltliche Neuakzentuierung

    Zur gleichen Zeit wurden auch die Werke der französischen Impressionisten in Russland populär. Die Moskauer Kunstmäzene Iwan Morosow und Sergej Schtschukin trugen mit ihren Sammlungen moderner französischer Kunst maßgeblich zur Verbreitung des Stils bei. Viele russische Künstler zeigten sich tief beeindruckt von Werken wie Claude Monets Kathedrale von Rouen (1894, Staatliches Museum für Bildende Künste A. S. Puschkin, Moskau), die sie an den Samstagnachmittagen in Schtschukins geräumigem Moskauer Haus besichtigen konnten.

    Walentin Serow, Mädchen mit Pfirsichen (1887, Staatliche Tretjakow Galerie, Moskau)
    Walentin Serow, Mädchen mit Pfirsichen (1887, Staatliche Tretjakow Galerie, Moskau)

    Trotzdem wurde der Impressionismus nicht einfach nach Russland importiert, sondern erfuhr eine – inhaltliche – Neuakzentuierung. Während die französischen Maler zu Chronisten des modernen Großstadtlebens wurden, hielt man sich in Russland vermehrt an Stillleben, Interieurs, die russische Landschaft sowie ländliche Genreszenen, die den Müßiggang der Moskauer und St. Petersburger Upperclass auf ihren Landsitzen zeigen.

    Szenen des städtischen Lebens finden sich bei den russischen Impressionisten nur dann, wenn auch sie die Pariser Cafés und Boulevards zu ihrem Motiv machten. Bestes Beispiel dafür ist Konstantin Korowins Zyklus Pariser Lichter, den der bedeutende Vertreter des russischen Impressionismus in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts in Frankreich schuf.

    Konstantin Korowin, Paris. Café de la Paix (1906, Staatliche Tretjakow Galerie, Moskau)
    Konstantin Korowin, Paris. Café de la Paix (1906, Staatliche Tretjakow Galerie, Moskau)

    Malewitschs „missing link“

    Korowins Paris-Bilder entstanden in einer Zeit, in der sich in Russland immer deutlicher eine neue Garde in der Kunst formierte. Doch auch die kommenden Avantgardisten wie Michail Larionow durchliefen zunächst eine impressionistische Phase, die ihnen den befreiten Umgang mit den malerischen Mitteln eröffnete. Und sogar Kasimir Malewitsch, der Spiritus rector des gegenstandslosen Suprematismus kam nicht ohne den Impressionismus aus. So rekonstruierte er Ende der 1920er Jahre selbst das „missing link“1 in seiner künstlerischen Evolution, indem er die dann entstandenen, impressionistisch anmutenden Landschaftsdarstellungen kurzerhand auf 1903/04 vordatierte.

    In der Forschung stiefmütterlich behandelt

    In der kunsthistorischen Forschung der Sowjetunion wurde der russische Impressionismus stiefmütterlich behandelt, da dessen – vermeintlich – sorgenfrei-heitere und vom subjektiven Empfinden geprägte Grundhaltung als dekadent verfemt wurde.

    Doch auch in der Staatskunst, dem Sozialistischen Realismus, lässt sich das Nachwirken des Impressionismus spüren, etwa bei Juri Pimenows Gemälde Neues Moskau (1937, Staatliche Tretjakow Galerie, Moskau), das mit dem städtischen Sujet, dem schnappschusshaften Bildausschnitt, der hellen Palette und dem spontanen Pinselstrich dem Impressionismus verpflichtet bleibt.


    1. Kruglow W. (2010): Impressionism in Russia, in: Russian impressionism: Paintings from the collection of the Russian Museum 1870s – 1970s, Ausst.-Kat., Staatliches Russisches Museum St. Petersburg, S.39 ↩︎

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    Valentin Serow

    Nikolaj Leskow

    Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft der UdSSR (WDNCh)

    Kasimir Malewitsch

    Peredwishniki

    Tretjakow-Galerie

  • Valentin Serow

    Valentin Serow

    Der Maler Valentin Serow (1865–1911) war ein gefeierter Porträtist des späten Zarenreichs. Die bürgerlichen Mäzene der Moskauer und Sankt Petersburger High Society ließen sich von ihm genauso malen wie der Adel und die Zarenfamilie. Sein Stil ist vielseitig und reicht vom lichten Impressionismus zum düsteren Symbolismus. Serow war Mitglied der Peredwishniki und von Djagilews Mir Iskusstwa, aber ebenso der Kaiserlichen Kunstakademie in Sankt Petersburg. Er ist ein wichtiger Vertreter einer russischen Kunstszene, die sich um die Jahrhundertwende in regem Austausch mit dem Westen befand.

    Das künstlerische Schaffen Valentin Serows fällt ins Fin de Siécle der russischen Kunst, Kultur und Literatur. Seine Porträts zeigen das Who is who der kosmopolitischen Moskauer und Sankt Petersburger Upperclass: die kunstsinnigen Industriellen und ihre mondänen Gattinnen, die Komponisten und Künstler, Schauspielerinnen und Tänzerinnen, aber auch die Noblesse des späten Zarenreichs. Serow selbst war Grenzgänger, zwischen Russland und dem westlichen Europa, zwischen abendländischer Kunstgeschichte und der Wiederbelebung der russischen Volkskunsttradition, zwischen Akademismus und den Ismen der Moderne. Seine stilistisch von Impressionismus, Realismus, aber auch Symbolismus beeinflusste Malerei steht am Vorabend des avantgardistischen Aufbruchs in Russland. In ihrem Standardwerk Das große Experiment: Die russische Kunst 18631922 findet Camilla Gray daher eine treffende Beschreibung, wenn sie Serow zu den wenigen Künstlern zählt, „[…] welche die Kluft zwischen der Welt von gestern und der von morgen überbrückten.“1

    Der Sohn des Musikkritikers und Opernkomponisten Alexander Serow verbrachte seine Kindheit im Gouvernement Smolensk und in München. In Paris erhielt er Zeichenunterricht vom berühmten russischen Maler Ilja Repin, bildete sich später in der liberalen Künstler-Kolonie Abramzewo bei Moskau weiter und besuchte zudem zwischen 1880 und 1885 die Kaiserliche Akademie der Künste in Sankt Petersburg.

    Schnell entwickelte sich Serow zu einem der beliebtesten Porträtmaler seiner Zeit. Zwar trat er 1894 den Peredwishniki bei; die soziale Kritik aber, die viele Werke ihrer Mitglieder auszeichnet, war nicht Serows Anliegen. Vielmehr betonte er das malerische Moment und suchte in seinen Porträts nach dem individuellen, spontanen Ausdruck des Gegenübers. Dabei schreckte er auch nicht davor zurück, die unvorteilhaften Seiten des Porträtierten ins Bild zu setzen. Eine Porträtsitzung bei ihm galt daher vielleicht nicht zu Unrecht auch als „gefährlich“.

    Valentin Serow – Das Mädchen mit Pfirsichen, 1887
    Valentin Serow – Das Mädchen mit Pfirsichen, 1887

    Der Blick auf die Tochter seines Förderers Mamontow, Vera, dagegen ist wohlwollend; er fängt ihr ungekünsteltes, jugendliches Wesen ein. Das Mädchen mit Pfirsichen (1887, Staatliche Tretjakow Galerie, Moskau), in dem der Einfluss von Pleinair-Malerei und Impressionismus spürbar ist, gehört zu Serows frühen Hauptwerken. In leichter Aufsicht sehen wir das junge Mädchen an einem Tisch in einem enggefassten Interieur sitzen. Selbstbewusst blickt sie dem Betrachter entgegen und wirkt gleichzeitig selbstvergessen. Die eigentliche Hauptrolle aber spielt – ganz der impressionistischen Manier entsprechend – das Licht, das von hinten durch ein Fenster fällt. Serow gibt es in vielfarbigen Hell- und Dunkeltönen wieder, die das Weiß der Wände und der Tischdecke, auf der die titelgebenden Pfirsiche wie zu einem zufälligem Stillleben arrangiert sind, brechen. Die dunklen Stuhllehnen, aber auch die Frisur des Mädchens Vera bilden rhythmische Akzente, die den harmonischen Gesamteindruck des Bildes beleben.

    Dass die lichte Atmosphäre dieses Porträts noch heute begeistert, zeigte jüngst die große Serow-Retrospektive in der Tretjakow-Galerie, für die mit diesem Motiv geworben wurde. Dort waren auch weitere seiner Hauptwerke zu sehen, wie das Porträt von Henriette Girshman (1907, Staatliche Tretjakow Galerie, Moskau), das mit seinem raffiniert-kalkulierten Bildaufbau einer doppelten Spiegelung Diego Vélazquez’ Las Meninas (1656, Museo del Prado, Madrid) zitiert. 1907, im Entstehungsjahr dieses Bildes, reiste Serow zusammen mit dem Künstler Léon Bakst nach Griechenland. In der Folge klärte sich sein Stil unter dem Eindruck der griechisch-antiken Kunst. Beide – Bakst und Serow – gehörten zur Mir Iskusstwa (dt. Welt der Kunst), einer Künstlervereinigung um die von Sergej Djagilew betriebene gleichnamige Kunstzeitung, die den Jugendstil für Russland interpretierte. Aus dem Umfeld von Djagilews Ballett Russe, mit dem dieser in Paris gastierte, stammt auch Ida Rubinstein, die Serow 1910 porträtierte (Staatliches Russisches Museum, Sankt Petersburg). Die gefeierte Tänzerin galt als schillernde, exaltierte Persönlichkeit, die gegen die moralisch-sittlichen Vorstellungen ihrer Zeit antrat und auch den gesellschaftlichen Skandal nicht scheute. Auf der Bühne zeigte sie sich in den fantastischen, orientalisch anmutenden Kostümen, die Léon Bakst für sie schuf. Serow dagegen zeigt sie als Akt; doch die Femme fatal erscheint in ihrer artifiziellen Haltung und der kantigen Silhouette vor dem kargen Hintergrund „[…] eigenartig und seltsam unerotisch“2. Hier zeigt sich Serows Auseinandersetzung mit Jugendstil und Symbolismus. Jüngste Forschungen verweisen zudem auf einen möglichen Einfluss von fernöstlicher Kunst.     

    Valentin Serow – Porträt von Ida Rubinstein, 1910
    Valentin Serow – Porträt von Ida Rubinstein, 1910

    Ab 1897 unterrichtete Serow an der Moskauer Hochschule für Malerei, Bildhauerei und Architektur. Zu seinen Schülern zählte auch Michail Larionow, der mit Natalja Gontscharowa das Gründerpaar der Avantgarde formte. Und auch politisch kündigte sich schon das Wetterleuchten des kommenden Umbruchs an. Serow, ein Mitglied der Kaiserlichen Kunstakademie in Sankt Petersburg, verließ diese 1905 aus Protest gegen die Ereignisse des Blutsonntags. An seinen Mentor und Freund Ilja Repin schrieb Serow, der noch 1896 in einem eher seltenen vielfigurigen Historienbild die Krönung des Zaren Nikolaus II. gemalt hatte, hellsichtig: „Es war ein grauenhaftes Spektakel, als die beherrschte, majestätische, unbewaffnete Menge auf die Angriffe der Kavallerie und das Kanonenfeuer zuging … Was war der Sinn dieses Gemetzels? Wer hatte diese Entscheidung getroffen? Nein, nichts und niemand kann diesen Fleck entfernen.“3


    1. Gray, Camilla (1974): Das große Experiment: Die russische Kunst 1863–1922, Köln, S. S. 29 ↩︎
    2. Bowlt, John E. (2008): Moskau & St. Petersburg: Kunst, Leben und Kultur in Russland 1900–1920, Wien, S. S. 279 ↩︎
    3. Bowlt, John E. (2008), S. 55, Anm. 10 ↩︎

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  • Stalin-Hochhäuser

    Stalin-Hochhäuser

    Blickt man auf die Silhouette von Moskau, so werden die bunten Zwiebeltürme der Basilius-Kathedrale und die goldenen Kuppeln des Kreml überragt von den aufstrebenden Turmspitzen der Hochhäuser aus der Stalinära. Mit der Errichtung der Sieben Schwestern, wie diese im Stil eines eklektizistischen Neoklassizismus errichteten vielgeschossigen Gebäude im Ausland auch häufig genannt werden, wurde zwischen dem Ende des Großen Vaterländischen Kriegs und Stalins Tod 1953 begonnen. Sie sind sprechende Zeugnisse des Zeitgeschmacks, mehr aber noch eines politischen Systems, das auf Einschüchterung und Ausbeutung der Bevölkerung einerseits und staatlich verordneter Verherrlichung des woshd („Führers“) andererseits abzielte.

    „Wir sind nicht gegen Schönheit, wir sind nur gegen sinnlose Dinge!“ So fiel 1954 das diskreditierende Urteil Nikita Chruschtschows über das architektonische Erbe seines Amtsvorgängers Josef Stalin aus. Damit zielte Chruschtschow auch gegen die ins Megalomane strebenden und mit verschwenderischem Baudekor überzogenen Moskauer Wolkenkratzer dieses Stalinski Ampir („Stalinsches Empire“). Im Westen verächtlich Zuckerbäckerbauten genannt, erscheinen sie wie die sozialistische Antwort auf die amerikanischen Skyscraper der 1930er Jahre. Zu den Stalin-Hochhäusern zählen neben zwei Wohngebäuden das Hauptgebäude der Lomonossow-Universität auf den Sperlingsbergen, der Sitz des Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten unweit des Alten Arbats, die Hotels Ukraina und Leningradskaja sowie das Haus am Roten Tor. Ein geplantes achtes Gebäude wurde nicht realisiert. Die Hochhäuser stehen an repräsentativen Orten im Stadtensemble und sollten sich ursprünglich um den – letztlich nie errichteten – Palast der Sowjets am Moskwa-Ufer gruppieren.

    Zwar wurden die Stalin-Hochhäuser von unterschiedlichen Architekten ausgeführt, sie sprechen aber dennoch eine einheitliche architektonische Sprache: Sie alle sind als geschlossene axiale Baukörper über rechteckigem Grundriss errichtet und weisen eine Betonung der Mittelachse auf. Die aufstrebenden Turmspitzen erheben sich auf den getreppten Gebäudeteilen mit repräsentativen, häufig an antike Portiken erinnernden Eingangssituationen. Überhaupt stand die antike Tempelarchitektur mit ihren Säulenstellungen Pate für die bauliche Erscheinung. Allerdings wurde die für die Antike so wichtige Verbindung von Architektur und menschlicher Proportion durch die „unmenschlichen“ Bemessungen der Bauwerke bewusst vermieden. Auch beim Baudekor berief man  sich auf die Antike; so entstand eine krude Mischung von Friesen, Gesimsen, und Pflanzenfestons, in die Symbole der Sowjetherrschaft wie der Stern oder Hammer und Sichel eingefügt sind. Aber auch andere Bauepochen wie die Gotik wurden – entleert von ihrer inhaltlichen Aussage – zitiert.

    Die „Sieben Schwestern“ vermittelten den Eindruck eines glanzvollen, prosperierenden Sozialismus – Foto © Michail Egorov/Wikipedia CC BY 3.0
    Die „Sieben Schwestern“ vermittelten den Eindruck eines glanzvollen, prosperierenden Sozialismus – Foto © Michail Egorov/Wikipedia CC BY 3.0

    Der Rückgriff auf Baudekor und architektonische Repräsentationsformen der Vergangenheit ist im Kontext der Doktrin des Sozialistischen Realismus zu begreifen, die spätestens seit 1934 das Kunstschaffen in der Sowjetunion bestimmte. Diese Doktrin war der staatlich verordnete Frontalangriff auf die dynamischen Formexperimente der Avantgardekunst und -architektur. Während in der Malerei die Rückkehr zur figurativen Darstellungsweise gefordert wurde, sollte die Architektur – statisch und unverrückbar – die Machtverhältnisse ausdrücken, an deren Spitze Stalin stand. Durch den Rekurs auf die Vergangenheit wurde eine historische Kontinuität konstruiert, die gleichzeitig auch eine Legitimation der herrschenden Verhältnisse behauptete.

    Der Begriff „Realismus“ erscheint irreführend, denn es ging beim Sozialistischen Realismus weniger darum, den realen Status quo wiederzugeben: Vielmehr sollte der angestrebte Sollzustand, das Morgen im Heute abgebildet werden. So vermittelten die Stalin-Hochhäuser an die eigene Bevölkerung, aber auch an das Ausland, den Eindruck eines glanzvollen, prosperierenden Sozialismus mit geradezu imperialer Strahlkraft. Die Wirklichkeit hingegen sah anders aus: Die skrupellose Industrialisierung des ersten Fünfjahrplans, der stalinistische Terror der 1930er Jahre und die grausamen Folgen des Großen Vaterländischen Kriegs hatten das Land mit unbeschreiblichem Leid überzogen, angesichts dessen die Sieben Schwestern als geradezu höhnische Prestigeobjekte erscheinen, die noch dazu erst durch den Einsatz von Zwangsarbeitern errichtet werden konnten. Den meisten Moskowitern blieb denn auch nur, die Hochhäuser von außen zu bestaunen, denn selbst die Wohngebäude an der Kotelnitscheskaja-Uferstraße und am Kudrinskaja-Platz waren den Eliten vorbehalten.

    Wie politisch die Architektur der Stalinära verstanden werden muss, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass der Zuckerbäcker-Stil in den 1950er Jahren auch in die Bruderländer der Sowjetunion exportiert wurde. Prägnantes Beispiel ist der von Lew Rudnew geplante Kulturpalast in Warschau, der große Übereinstimmungen mit Rudnews Hauptgebäude für die Lomonossow-Universität aufweist. In Berlin erinnert die Karl-Marx-Allee an diese architektonische Machtbekundung und territoriale Markierung des Großen Bruders Moskau.


    1. Zum Weiterlesen: ↩︎
    2. Rüthers, Monica (2007): Moskau bauen von Lenin bis Chruschtschow: Öffentliche Räume zwischen Utopie, Terror und Alltag, Wien [u. a.] ↩︎
    3. Paperny, Vladimir (2002): Architecture in the Age of Stalin: Culture two, Cambridge ↩︎

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  • Akademie der Künste in St. Petersburg

    Akademie der Künste in St. Petersburg

    Am Ufer der Newa in St. Petersburg, gegenüber der Admiralität, erhebt sich die imposante Prunkfassade der Kaiserlichen Akademie der Künste. Seit ihrer Gründung im Jahr 1757 war sie nicht nur die maßgebliche Ausbildungsstätte für angehende Künstler, sondern nahm auch in kulturpolitischen Belangen wichtige Funktionen war und prägte über viele Jahre den Geschmack und das ästhetische Empfinden in Russland. Die lange unangefochtene Monopolstellung der Akademie stellten erstmals die Peredwishniki in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Frage, als sie sich gegen den starren Formen- und Themenkanon der akademischen Ausbildung auflehnten.

    Die Gründung der Kaiserlichen Akademie der Künste ist eine Folge der historischen Umbrüche, die Russland zu Beginn des 18. Jahrhunderts erfassten: Unter Peter dem Großen sollten Staatswesen, Wissenschaft und eben auch die Künste modernisiert werden. Die Kunstproduktion Russlands reagierte auf diese Entwicklungen. Statt der jahrhundertalten Ikonenmalerei war nun eine weltlichere Kunst gewünscht, die der Ausstattung der schnell wachsenden Kapitale sowie der Selbstdarstellung des Adels dienen sollte. Eine Kunstakademie, wie sie bereits in Italien, Frankreich oder Holland bestand, sollte die entsprechenden Künstler hervorbringen.
    In unmittelbarer Nähe der ebenfalls noch jungen Akademie der Wissenschaften entstand ab 1764 der klassizistische Bau für die Kaiserliche Akademie der Künste nach einem Entwurf von Alexander Kokorinov und Jean Baptiste Vallin de la Mothe. Wie alle europäischen Kunstakademien war auch die in St. Petersburg durch straffe Organisation, systematische Ausbildung und strikte Regularien geprägt. Der Akademie stand ein Mitglied der Zarenfamilie vor; ihre Aktivitäten wurden von der staatlichen Zensur überwacht. Die künstlerische Ausbildung folgte einem strengen Curriculum. Bereits im Kindesalter wurden die Schüler aufgenommen und durchliefen eine 10- bis 15-jährige Ausbildung, bei der auf das Zeichenstudium besonderer Wert gelegt wurde. Der Klassizismus mit seinem idealschönen Menschen- und Naturbild war die tonangebende Manier. Eine Spezialbibliothek zur Kunst und Architektur diente der theoretischen Unterweisung; die umfangreiche Sammlung von Gipsabgüssen antiker Skulpturen als Anschauungs- und Lehrmaterial. Es gab ein System von Medaillen und Ehrungen, denen Wettbewerbe und Juryentscheide vorausgingen. Auch Auslandsstipendien wurden vergeben. Wichtige Künstler, die aus den Reihen der Akademiki hervorgingen, waren Dmitri Lewizkij (1735 – 1822), Orest Kipresnkij (1782 – 1863) Fjodor Bruni (1799 – 1875) und Karl Brüllow (1799 – 1852).

    Die imposante Fassade der Kaiserlichen Akademie der Künste am Ufer der Newa - Foto © Alex 'Florstein' Fedorov unter CC BY 4.0
    Die imposante Fassade der Kaiserlichen Akademie der Künste am Ufer der Newa – Foto © Alex ‚Florstein‘ Fedorov unter CC BY 4.0


    Die Akademie bildete Graphiker, Architekten und Bildhauer, vor allem aber Maler aus. Für die einzelnen Gattungen der Malerei bestand eine strenge Hierarchie: Die bedeutendste Gattung war die Historienmalerei, der sich das Portrait, schließlich die Landschaftsdarstellung, das Stillleben und das Genrebild unterordneten. Die großformatigen Historiendarstellungen in Feinmalerei zeigten biblische Motive oder Darstellungen der hellenistisch-römischen Mythologie, aber nur selten Szenen der eigenen Geschichte. Darüberhinaus war das Portrait eine beliebte Gattung. Prachtvoll gewandet ließen sich die russischen Gräfinnen und Fürsten im Stil der absolutistischen Herrscher Europas mit ihren Machtinsignien darstellen.
    Die Produktion der Akademie in St. Petersburg gleicht damit der akademischen Kunst anderer europäischer Länder; es lassen sich keine markanten Kennzeichen eines nationalen Stils ausmachen. Dieses Epigonentum wurde den Akademiki ebenso vorgeworfen, wie der beinahe militärische Drill, der die Ausbildung prägte und eine freie geistige Entfaltung der angehenden Künstler unterdrückte. So erschienen die Absolventen der Kunstakademie den Spöttern mehr als Staatsdiener denn als autonome Künstlergenies. Die Künstler waren auf die Aufträge des Adels angewiesen, ihre Werke reflektieren daher unweigerlich deren Anschauungen und Geschmack. Erst zur Mitte des 19. Jahrhunderts machte ein bürgerliches Mäzenatentum ein unabhängiges künstlerisches Schaffen ökonomisch möglich.

    1863 rebellierte eine Gruppe von Studenten gegen die strengen Vorgaben der Akademie und gründete wenige Jahre darauf die Gesellschaft der Peredwishniki. Als Reaktion auf diese Secession sowie den generellen gesellschaftlichen Wandel wurde die Akademie 1893 reformiert. Mit Ilja Repin und Iwan Schischkin wurden sogar Mitglieder der Peredwishniki in den Rat und die Lehrwerkstätten der Akademie aufgenommen, um die konservative Institution an die Bedürfnisse der Gegenwart anzupassen.
    Als nach der Russischen Revolution 1917 viele der avantgardistischen Künstler in kulturpolitische Ämter berufen wurden, war eines ihrer dringlichsten Anliegen die Umgestaltung der künstlerischen Ausbildung. 1918 wurde die Kaiserliche Akademie der Künste aufgelöst und zu einer der Freien Staatlichen Kunstwerkstätten, den SWOMAS, umgewandelt. In den 1920er Jahren war aber nicht mehr St. Petersburg das Zentrum für die künstlerische Ausbildung, sondern Moskau. Die dort gegründeten Höheren Künstlerisch-Technischen Werkstätte, die WChUTEMAS, an denen auch Wassily Kandinsky und Kasimir Malewitsch unterrichteten, wurden zum Ausgangspunk eines progressiven Kunstverständnisses.
     

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    „Wer lebt glücklich in Russland?“

  • Peredwishniki

    Peredwishniki

    Die Peredwishniki (dt. Wanderer) waren die erste unabhängige Künstlervereinigung Russlands. Künstler wie Ilja Repin, Viktor Wasnezow und Iwan Schischkin organisierten ab 1870 in ganz Russland Wanderausstellungen mit Motiven aus dem Leben der einfachen Bevölkerung. Die Arbeiten der Gruppe standen für ein erwachendes Heimatgefühl, griffen aber auch sozialkritische Aspekte auf.

    Die Künstlervereinigung der Peredwishniki – Russisch für Wanderer – entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Gegenbewegung zum starren Formen- und Themenkanon der akademischen Kunst. Statt sich mit mythologischen Szenen und Historiendarstellungen zu beschäftigen, wandten sich die Peredwishniki dem Hier und Jetzt zu und erhoben die Welt der einfachen russischen Bevölkerung zum Bildmotiv. Häufig wird das heterogene Schaffen der Gruppe daher auch mit dem Epochenbegriff des russischen Realismus gleichgesetzt, der sich auch mit den großen Romanen dieser Zeit, allen voran den Werken Dostojewskis und Tolstois, verbindet. Der größte Beitrag der Peredwishniki besteht in ihrem Streben, die Kunst zu demokratisieren: Mit insgesamt 48 von ihnen organisierten Wanderausstellungen, denen die Bewegung auch ihren Namen verdankt, gelang es den Peredwishniki erstmals, die Kunst einer breiteren, weniger elitären Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Neben den Gründungsmitgliedern Iwan Kramskoi, Grigori Mjassojedow, Nikolaj Ge und Wasili Perow gehörten den Peredwishniki so bedeutende Künstler wie Viktor Wasnezow, Iwan Schischkin und Ilja Repin an.

    Die Themen der Peredwishniki reichen von Landschaftsdarstellungen über Portraits bis zu Genreszenen. Auch historische Ereignisse, Epen und Märchen sind beliebt. Die Hinwendung zur eigenen – bäuerlichen – Kultur zeugt von der Suche nach einer russischen Identität. In den Darstellungen der einfachen, oft beschwerlichen Lebenswirklichkeit fanden die Peredwishniki zu kritischen, sogar anklagenden Tönen. Ihre Malerei reflektiert damit generelle gesellschaftliche Tendenzen im späten Zarenreich: Die Situation der unter Alexander II. nominell aus der Leibeigenschaft entlassenen Bauern hatte sich nur wenig verbessert, was auch von der sozialrevolutionären Bewegung der Narodniki angeklagt wurde, die – ähnlich wie die Peredwishniki – die unverdorbene und reine Kraft der bäuerlichen russischen Bevölkerung idealisierten. Noch heute stehen die Peredwishniki für eine sozial engagierte Kunst und das erwachte Nationalbewusstsein in Russland. Viele ihrer Werke gehören zum visuellen Gedächtnis des Landes.

    Drei prominente Beispiele können das weite Spektrum verdeutlichen, in dem sich diese Kunst inhaltlich, aber auch emotional bewegt. Wasnezows Gemälde Die drei Recken (Bogatyr, 1898, Staatliches Russisches Museum, St. Petersburg) zeigt mit den drei Bogatyri die großen, ritterhaften Helden der mittelalterlichen Märchen- und Sagenwelt Russlands. Sie stellen Identifikationsfiguren dar, gelten als furchtlose Kriege und tapfere Beschützer.

    „Die drei Recken“ von Viktor Michailowitsch Wasnezow
    „Die drei Recken“ von Viktor Michailowitsch Wasnezow

    Das Gemälde Die Wolgatreidler von Ilja Repin (Burlaki na Wolge, 1870/73, Staatliches Russisches Museum, St. Petersburg) dagegen zeigt die harte physische Arbeit der Treidler, die einen Lastkahn den Fluss stromauf ziehen. Repins ins Monumentale gesteigerte Schilderung der gebeugten Gestalten, die in schwere Schleppriemen eingespannt ihre monotone Tätigkeit verrichten, gibt der Genreszene eine aufrüttelnde soziale Komponente. Trotz ihrer zerlumpten Kleidung und der widrigen körperlichen Tätigkeit verlieh Repin jedem einzelnen der elf Treidler eine individuelle Würde. Das Bild wurde als Allegorie für die Leidensfähigkeit des russischen Volkes gelesen, das – symbolisiert durch die jugendliche Gestalt, die mit erhobenem Haupt zu versuchen scheint, den Schleppriemen abzuwerfen – zur Freiheit drängt.

    „Die Wolgatreidler“ von Ilja Efimowitsch Repin
    „Die Wolgatreidler“ von Ilja Efimowitsch Repin

    Neben den Figurenbildern widmeten sich die Peredwishniki der russischen Landschaft und Natur, die sie zum Topos des Heimatgefühls erhoben. Schischkins Morgen im Kiefernwald (Utro w sosnowom lesu, 1886, Staatliche Tretjakow Galerie, Moskau) etwa ist in Russland jedem Kind bekannt. Es gehört zu den beliebtesten Bildern der Tretjakow-Galerie, deren Gründer einer der wichtigsten Mäzene der Peredwishniki war. Darüber hinaus ziert die Bärenfamilie, die im Morgengrauen im Wald herumtollt, die Verpackung des Schokoladen-Konfekts Tollpatschiges Bärchen (Mischka Kosolapi) der Moskauer Schokoladenfabrik Roter Oktober.

    „Morgen im Kiefernwald“ von Iwan Iwanowitsch Schischkin
    „Morgen im Kiefernwald“ von Iwan Iwanowitsch Schischkin

    Die Vereinigung der Peredwishniki existierte bis 1923. In einer Zeit der ungezählten, sich schnell ablösenden Strömungen und ständig wechselnder Allianzen in der Kunst bilden sie eine Konstante. Ihre innovativste Kraft entfalteten die Peredwishniki aber in der Zeit vor der Jahrhundertwende – danach fand die ursprüngliche Protestbewegung ihren Platz im Establishment, während eine jüngere Künstlergeneration um Kasimir Malewitsch und Wassily Kandinsky mit ihrer abstrakten Bildsprache frappierte. Das Erbe der Peredwishniki ist nach den avantgardistischen Höhenflügen wieder im Sozialistischen Realismus der Stalinära spürbar.

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  • Kasimir Malewitsch

    Kasimir Malewitsch

    Der Name Kasimir Malewitsch (1879–1935) ist untrennbar mit seinem größten Coup verbunden – dem Schwarzen Quadrat (1915, Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau). Sein im doppelten Sinn ikonisches Gemälde stellt eine Tabula rasa für das Medium Malerei dar und bildet gleichzeitig den Ausgangspunkt für die Entwicklung einer gegenstandslosen Abstraktion, die bis heute andauert.

    Malewitschs Schaffen umspannt Malerei, Grafik und Skulptur sowie Architektur- und Designentwürfe. Zunächst setzt sich Malewitsch mit den westlichen Kunstströmungen des frühen 20. Jahrhunderts wie Post-Impressionismus, Kubismus und Futurismus auseinander. Gleichzeitig beschäftigt er sich mit der visuellen Tradition – die religiöse Ikonenmalerei mit ihrem festen Formenkanon ist für Malewitschs Suche nach einer universellen Bildsprache prägend.

    Schon früh beginnt der in Kiew geborene und in Moskau ausgebildete Künstler damit, die klassischen Gattungsgrenzen aufzubrechen. 1913 gestaltet er das Bühnenbild für die Oper Sieg über die Sonne. Der Entwurf gilt als Vorläufer für Malewitschs Konzept des Suprematismus, das sich durch den Einsatz einfacher geometrischer Formen und ungebrochener Farben auszeichnet.

    Malewitschs Konzept des Suprematismus

    Mit dem Suprematismus (von lat. Supremus = das Höchste) entwickelt Malewitsch eine radikal neue Bildsprache, die jeden Bezug zur figurativen, illusionistischen Kunst der vergangenen Jahrhunderte verweigert und stattdessen, durch die Rückführung zu einfachsten Formen und Farbkontrasten, das Medium Malerei und das Verhältnis von Raum und Fläche thematisiert. Durch puristische Bildmittel – schwarze oder rote rechteckige Formen, die vor einem weißem Grund zu schweben scheinen – sucht Malewitsch, inhaltlichen Problemen wie dem universellen Streben nach unmittelbarer reiner Erkenntnis nachzuspüren. Auf der Letzten Futuristischen Ausstellung 0,10 in Sankt Petersburg (damals Petrograd) tritt Malewitsch 1915 mit dem Suprematismus erstmals an die Öffentlichkeit. Das Schwarze Quadrat präsentiert er selbstbewusst in der rechten, oberen Raumecke, dem Ort also, der der Ikone vorbehalten ist.

    „Letzte Futuristische Ausstellung 0,10“ in St. Petersburg
    „Letzte Futuristische Ausstellung 0,10“ in St. Petersburg

    Die Oktoberrevolution von 1917 stellt für Malewitsch eine Zäsur dar. Er wird – wie auch Wassily Kandinsky – in kulturpolitische Ämter berufen, steht für einige Jahre dem Museum für künstlerische Kultur in Sankt Petersburg vor und lehrt an der von Marc Chagall gegründeten Kunstschule in Witebsk, wo er mit der Gründung der Gruppe UNOWIS den Suprematismus weiterträgt.

    Oktoberrevolution als Zäsur im künstlerischen Schaffen

    Nach dem Tod Lenins 1924 ändert sich nicht nur das politische Klima; auch Experimente in der Kunst werden durch staatliche Vorgaben eingeschränkt, die 1932 in der Doktrin des Sozialistischen Realismus gipfeln. Malewitschs radikale und gleichzeitig vergeistigte Abstraktion erfährt Ablehnung – gefordert ist eine vom appellativen Pathos getragene Darstellung der neuen Helden des Arbeiter- und-Bauernstaats in figürlicher Manier.

    Womöglich trägt Malewitsch diesem ideologischen Umschwung Rechnung, als er um 1930 mit einer Reihe von Bauern-Darstellungen an sein künstlerisches Frühwerk anknüpft und seine geometrische Formsprache mit gegenständlichen Darstellungen verbindet. Mit dem Selbstportrait von 1933 (Staatliches Russisches Museum, Sankt Petersburg) schließt er schließlich an die Manier der Renaissance-Maler an.

    Malewitsch in der Popkultur

    Malewitschs Schaffen ist heute in der Pop- und Konsumkultur angekommen. Das Schwarze Quadrat ziert Seifen, Jutebeutel und Tassen, und an den Souvenirständen auf den Straßen von Moskau und Sankt Petersburg werden Matrjoschkas mit seinen Bauern-Darstellungen verkauft.

    Wie kein anderer seiner Weggefährten steht Malewitsch für den Aufbruch in die Moderne in Russland, für den sich der Begriff Russische Avantgarde etabliert hat. Zahllose russische Künstler haben sich am großen Erbe Malewitschs abgearbeitet. Doch auch für die westliche Kunstgeschichte ist sein Werk bahnbrechend. Künstler von Donald Judd bis Blinky Palermo beziehen sich ausdrücklich auf seine Abstraktion. Eine Ausstellung in der Sankt Petersburger Eremitage im Sommer 2015 zeigte zudem am Beispiel der Architekturentwürfe von Zaha Hadid, welchen Einfluss Malewitsch selbst auf die Architektur hatte.

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    Akademie der Künste in St. Petersburg

  • Wassily Kandinsky

    Wassily Kandinsky

    Der in Moskau geborene Wassily Kandinsky (1866–1944) nimmt nicht nur für die russische, sondern auch für die deutsche Entwicklung der künstlerischen Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Schlüsselrolle ein. Sein von kräftigen Farben und reduzierten Formen geprägter Expressionismus sowie seine von der Empfindung und dem Geistigen angeregte abstrakte Malerei machen ihn zu einem zentralen Akteur der Moderne und Vermittler zwischen Ost und West. Als Gründungsmitglied der Künstlervereinigung Der Blaue Reiter und Meister am Bauhaus in Weimar und Dessau prägte Kandinsky gleich zwei künstlerische Bewegungen, deren Echo noch heute nachhallt.

    Kandinsky, eigentlich ein ausgebildeter Jurist, geht 1896 nach München und wird schnell zur wichtigen Figur der dortigen progressiven Kunstszene. 1901 ist er Mitbegründer der Ausstellungsvereinigung Phalanx, die, dem Secessionismus der Zeit folgend, nicht nur nach einem neuen Ausdruck in der Kunst sucht, sondern auch die künstlerische Ausbildung neu definiert. Im bayerischen Murnau am Kochelsee findet Kandinsky zu einem Wendepunkt: Mehr und mehr befreit er sein künstlerisches Schaffen von der dienenden, die Dingwelt wiedergebenden Funktion und dringt zu einer reinen Malerei vor. Der Gründung der Künstlervereinigung Blauer Reiter 1911 folgt die Veröffentlichung seiner programmatischen Schrift Das Geistige in der Kunst. Sie begleitet seine gegenstandslose Abstraktion, die von den sinfonischen Dichtungen Arnold Schönbergs und dem modernen Tanz beeinflusst ist. Kandinsky unterscheidet zwischen Impressionen, den ‚direkten Eindrücken der äußeren Natur‘ und Improvisationen, den ‚Eindrücken der inneren Natur‘; die Kompositionen dagegen sind nicht dem unmittelbaren, spontanen Eindruck entsprungen, sondern stellen bewusst-absichtsvolle Harmonien von Farben und Formen dar.

    Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs sieht sich der Russe Kandinsky gezwungen, Deutschland zu verlassen und nach Russland zurückzukehren. Er erlebt die Oktoberrevolution 1917 in Moskau und übernimmt – wie auch Kasimir Malewitsch – organisatorische Aufgaben in den von den Bolschewiki neu eingerichteten kulturpolitischen Institutionen. Doch Kandinskys von subjektiver Empfindung geprägte Abstraktion steht in Opposition zum sich um 1920 herausbildenden Konstruktivismus.

    1921 geht Kandinsky zurück nach Deutschland und folgt dem Ruf an das Bauhaus in Weimar (ab 1925 in Dessau), das unter der Leitung von Walter Gropius im Begriff ist, zur fortschrittlichen Ausbildungsstätte für Kunst, Architektur und Design zu werden. Kandinsky unterrichtet Farben- und Formenlehre und vertieft mit der Schrift Punkt und Linie zur Fläche von 1926 seine Kunsttheorie. 1928 nimmt Kandinsky die deutsche Staatsbürgerschaft an. Als sich das politische Klima in der Weimarer Republik wandelt und das Bauhaus unter dem Eindruck der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 letztlich schließt, zieht Kandinsky nach Neuilly-sur-Seine bei Paris, wo er bis zu seinem Tod lebt.

    Komposition VIII, 1923, Solomon R. Guggenheim Museum, New York
    Komposition VIII, 1923, Solomon R. Guggenheim Museum, New York

    Unter den Nationalsozialisten wurde das Werk Kandinskys als degeneriert verfemt und zerstört. Doch heute gehört Kandinsky wie selbstverständlich zur russischen und deutschen Kunstgeschichte. Das Label Blauer Reiter ist ungebrochen populär und sorgt bei Ausstellungen für Besucheranstürme.

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  • Tretjakow-Galerie

    Tretjakow-Galerie

    Die Tretjakow-Galerie ist ein weltweit beachtetes Museum russischer Kunst in Moskau. Den Grundstein legte die private Sammlung des Moskauer Kaufmanns Pawel Tretjakow. Im Jahr 1892 vermachte Tretjakow seine etwa 2000 Kunstwerke der Stadt Moskau, die dafür eigens ein Gebäude errichtete. Im Jahr 1985 wurde das Museum mit der Sammlung für moderne Kunst zusammengelegt. Heute beherbergt es in mehreren Gebäuden im Stadtzentrum rund 170.000 Kunstwerke.

    Wer die Staatliche Tretjakow-Galerie in Moskau besucht, sollte genügend Zeit einplanen: Rund 170.000 Exponate bieten ein Panorama der russischen Kunstentwicklung, das von der mittelalterlichen Ikonenmalerei bis zur Moderne reicht. Zwischen ihren „Wänden voll erzählender Bilder“ wandert man, so der Philosoph Walter Benjamin, wie in einem „großen Bilderbuch“.1 Die Tretjakow-Galerie ist seit ihrer Gründung im ausgehenden 19. Jahrhundert Bewahrerin und Verfechterin der nationalen kulturellen Identität Russlands, die stets zwischen einer Annäherung an den „Westen“ und der Rückbesinnung auf die eigene Tradition oszillierte.

    Die Gründung des Museums geht auf die private Kunstsammlung der Brüder Tretjakow zurück. Der Moskauer Stoffhändler und Sammler Pawel Tretjakow hatte 1856 mit dem Ankauf zweier Gemälde den Grundstein für die Sammlung gelegt, die bis zum Ende des 19. Jahrhunderts auf rund 2.000 Werke angewachsen war. Der Schwerpunkt seiner Sammeltätigkeit lag auf der zeitgenössischen russischen Kunst, insbesondere den sozialkritischen Werken der Peredwishniki. Tretjakows Engagement für diese sezessionistische Bewegung, die sich gegen die etablierte, durch die Zarenfamilie protektierte Akademiekunst auflehnte, kann auch als Selbstbehauptung eines sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts herausbildenden städtischen Bürgertums verstanden werden. Mit den Reformen unter Zar Alexander II. entwickelte sich auch in Russland eine bürgerliche Schicht, die vom wirtschaftlichen Wachstum profitierte, nach politischer Mitbestimmung strebte und als Förderer der Künste auftrat. Die Tretjakow-Brüder zählen neben Iwan Morosow und Sergej Schtschukin zu den wichtigsten bürgerlichen Mäzenen und Sammlern des 19. Jahrhunderts. Doch während sich Morosow und Schtschukin auf die französische Moderne fokussierten, legten Pawel und Sergej Tretjakow das Augenmerk auf die heimische Kunst. 1892 ging ihre Sammlung an die Stadt Moskau und bereits ein Jahr darauf öffnete die Galerie der Öffentlichkeit ihre Pforten. Nach der Russischen Revolution von 1917 wurde ihre Sammlung – nicht zuletzt durch die Bestände der per Dekret verstaatlichten Privatsammlungen – erheblich erweitert. Die Tretjakow-Galerie behielt – eine Ausnahme – ihren Namen, ergänzt nur um den unvermeidbaren Zusatz „Staatlich“.

    Während viele der frühen westlichen Museumsbauten als „Tempel der Kunst“ die antike Architektur zitieren, begegnet uns beim historischen Gebäude der Tretjakow-Galerie am rechten Moskwa-Ufer, dessen Errichtung noch auf Pawel Tretjakow zurückgeht, eine Fassade im neo-altrussischen Stil. Der Entwurf von Viktor Wasnezow weckt Assoziationen mit der mittelalterlichen russischen Märchen- und Sagenwelt, wie sie sich auch in seiner Malerei findet. Hinter der Fassade eröffnet sich das „große Bilderbuch“ der russischen Kunst-Geschichte. Der religiösen Ikonenmalerei und der höfisch-akademischen Kunst der Zarenzeit folgen die Werke des russischen Realismus. Mit dem großen Wrubel-Saal wird dem düsteren, mystisch anmutenden Schaffen des Symbolisten Michail Wrubel gewürdigt, das an der Wende zum 20. Jahrhundert steht. Und auch die Kunst der 20. Jahrhunderts selbst findet sich heute in den Beständen der Tretjakow-Galerie. Die Sammlung zur Avantgarde, die Hauptwerke von Kasimir Malewitsch, Wladimir Tatlin und Alexander Rodtschenko verwahrt, geht auf das 1918 in Moskau gegründete Museum für Malerische Kultur (MShK  Musej shiwopisnoj kultury) zurück. Gründungsdirektor des MShK war Wassily Kandinsky; ihm folgte 1921 Rodtschenko. Die Avantgardisten, die vor der Revolution die Institution Museum noch abgelehnt hatten, verfolgten in den von ihnen geführten Museen neue Konzepte der Präsentation. 1928 wurde das MShK formell aufgelöst; die Avantgardisten gerieten unter Stalin in Formalismusverdacht, ihre Werke wurden in die Depots verbannt. Heute ist die Kunst der Avantgarde rehabilitiert und in den Kanon der russischen Kunstgeschichtsschreibung aufgenommen. In der Neuen Tretjakow-Galerie am Krimski Wal, unweit des Gorki-Parks, wird sie neben den pathetischen Werken des Sozialistischen Realismus, aber auch den nonkonformistischen Positionen der „zweiten Avantgarde-Welle“ gezeigt und führt einmal mehr vor Augen, dass ein Besuch der Tretjakow-Galerie auch zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der russischen Geschichte einlädt.


    1. Benjamin, Walter (1980): Moskauer Tagebuch (mit einem Vorwort von Gershom Scholem), Frankfurt am Main, S. 114 ↩︎

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