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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Die Honigdachs-Doktrin

    Die Honigdachs-Doktrin

    Die außenpolitische Strategie Russlands scheint aufzugehen: Der Syrien-Konflikt ist ohne Russland nicht lösbar, der Westen zerbricht sich den Kopf an der Ukraine-Frage, und alle Welt hat Angst vor russischen Hackern. Bereits vor über einem Jahr bemerkte der Politikwissenschaftler Sergej Medwedew, dass Russland neben Öl und Gas vor allem eines exportiere: Angst. Mit diesem Exportgut erscheine das eigentlich schwache Land im westlichen Ausland allmächtig.
    Dem kann der Journalist Michail Krostikow auf Carnegie.ru allerdings nur sehr wenig abgewinnen. 

    Das kleine Raubtier greift Rivalen an, mit denen es sich auf den ersten Blick nicht anlegen sollte – Löwen, Tiger und sogar Alligatoren / © Matěj Baťha/Wikipedia
    Das kleine Raubtier greift Rivalen an, mit denen es sich auf den ersten Blick nicht anlegen sollte – Löwen, Tiger und sogar Alligatoren / © Matěj Baťha/Wikipedia

    Gegen die russische Außenpolitik der letzten Jahre wettern häufig sogar diejenigen, die die Postulate grundsätzlich teilen. Bemängelt wird vor allem das Fehlen eines strategischen Kalküls, eines Plans wenigstens für die nächsten zehn Jahre. Russland, so die Kritiker, handele situativ und taktisch, es reagiere bloß auf hereinbrechende Schicksalsschläge und verliere allmählich an Kraft.


    Im Grunde jedoch hat Russland über die letzten drei Jahre eine vollwertige außenpolitische Strategie entwickelt, die man fürs Erste als Honigdachs-Doktrin bezeichnen könnte.


    Der Honigdachs merkt sich, wer ihn beleidigt, und macht ihm das Leben schwer

     


    Die kleinen Tiere zeichnen sich vor allem durch eine für ihre Größe unglaubliche Kraft, Zähigkeit und Rachsucht aus. Honigdachse werden dank noch nicht vollständig erforschter regenerativer Eigenschaften sogar mit dem Gift der Kobra fertig – der tödliche Biss setzt sie nur für eine Stunde außer Gefecht. Das kleine Raubtier greift Rivalen an, mit denen es sich auf den ersten Blick, in Anbetracht der Gewichtsklasse, nicht anlegen sollte: Löwen, Tiger und sogar Alligatoren. Es gelingt ihm natürlich nicht, sie zu töten, aber sie aus dem eigenen Revier zu vertreiben – das schafft es meistens, wovon man sich leicht in zahlreichen YouTube-Videos überzeugen kann. Nicht zuletzt hat der Honigdachs ein hervorragendes Gedächtnis: Er merkt sich genau, wer ihn beleidigt hat, und macht demjenigen noch lange auf jede erdenkliche Weise das Leben schwer.


    Die Außenpolitik soll zeigen, dass Russland international in der Schwergewichtsklasse spielt

     


    Das Verhalten dieser Tiere lässt sich leicht auf die russische Außenpolitik der letzten drei bis vier Jahre übertragen. Diese erfüllt fünf grundsätzliche Aufgaben: Erstens, zu zeigen, dass Russland auf dem internationalen Parkett in der Schwergewichtsklasse spielt, in einer Liga mit den USA und der EU, und sogar noch vor Ländern wie zum Beispiel China.


    Moskau kann eine eigene Wirtschaftsunion bilden (die Eurasische Union), einen Konflikt auslösen (die Ukraine), eine Schlüsselrolle in einem bereits bestehenden Konflikt einnehmen (Syrien), und es scheut nicht vor der Konfrontation mit den heftigsten Gegnern zurück. 


    Dabei ist Russlands Staatshaushalt (2016 rund 233 Milliarden US-Dollar) lächerlich klein im Vergleich zu dem der USA (3,3 Billionen Dollar, also 14 Mal so viel) und geradezu absurd im Vergleich zum Gesamtbudget der EU-Länder (6,4 Billionen Euro, also 32,3 Mal so viel). Beim Verteidigungsbudget sind die Unterschiede zwar geringer, aber immer noch bezeichnend: Das der USA lag 2016 nach Angaben des SIPRI (Stockholm International Peace Research Institute) bei rund 611 Milliarden Dollar, das der EU (2015, laut der European Defense Agency) bei 199 Milliarden Euro, und das russische bei rund 69 Milliarden Dollar.


    Alles unwichtig, sagt die russische Führung. Wenn’s drauf ankommt, schlagen wir euch nicht mit Dollars und Euros, sondern mit TOS-1 „Buratino“-Geschossen. Finanzielle Kennziffern hätten keinerlei Bedeutung, das militärisch-politische Potential Russlands liege bei weitem über dem ökonomischen.


    Wir werden euch das Leben schwermachen …


    Die zweite Aufgabe ist zu zeigen, dass Russland, wenn es will, jedem das Leben schwermachen kann. Die USA möchten Assad entmachten? Tut uns leid, aber nein. Die EU will den Ukraine-Konflikt zugunsten Kiews lösen? Und wieder nein, sorry.


    Stattdessen wird Geld in rechts- und linksradikale Parteien gesteckt, die angesichts der anhaltenden Krise ohnehin genügend Zulauf haben. Ist es möglich, dass sie an die Macht kommen? Wohl kaum. Lässt ihr Erfolg die traditionellen Politiker nervös werden? Ohne Frage.


    Falls ihr uns in die Quere kommt, will Moskau sagen, dann stellt euch schon mal auf jahrelange Kopfschmerzen ein. Wir werden euch das Leben schwermachen, eure Initiativen behindern und die innenpolitische Lage zerrütten, indem wir uns die Verwundbarkeit der Demokratie zunutze machen. Wenn ihr das wollt – nur zu, aber wollt ihr das wirklich?


    Nehmt euren Trump wieder mit nach Russland!

     


    Drittens soll innerhalb der internationalen Beziehungen eine eigene Linie aufgebaut werden, und das tut Moskau fürwahr. Lange hat man der russischen Außenpolitik vorgeworfen, passiv zu sein, nur auf das Handeln der anderen zu reagieren, aber jetzt hat sie offensichtlich zum Gegenangriff ausgeholt.


    Die reale oder mutmaßliche Einmischung Moskaus in politische Prozesse in einem Dutzend Länder ist zum wichtigsten medialen Ereignis in Europa und Nordamerika geworden. Die praktischen Auswirkungen dieser Einmischung, dort wo sie tatsächlich stattgefunden hat, mögen verschwindend gering sein. Doch die Hysterie der westlichen Politiker erweckt den Eindruck, als wäre der Kreml allmächtig und könnte leicht das politische Geschehen in Ländern beeinflussen, die ihm wirtschaftlich weit überlegen sind.


    Als Ergebnis protestieren in den USA Menschen auf Anti-Trump-Demos mit Plakaten, auf denen auf Russisch zu lesen ist: „Nehmt euren Trump wieder mit nach Russland.“ Wer hätte das noch in den 2000er Jahren zu träumen gewagt? Wenn das mal keine eigene Linie ist.


    Die allmächtigen russischen Hacker im Cyberspace


    Viertens will man zeigen, dass Russland ganz weit vorne ist, wenn es um die Mittel der modernen Kriegsführung geht: den Informationskrieg und den Krieg im Cyberspace. Das Jahresbudget des Fernsehkanals RT wirkt geradezu lachhaft, verglichen mit dem der westlichen Kollegen: 323 Millionen gegen zum Beispiel 6,6 Milliarden bei der BBC (Jahresumsatz 2015/2016). Analytiker werden nicht müde, die minimale Reichweite von RT zu unterstreichen (in keinem Land der EU erreicht der Sender mehr als zwei Prozent der Zuschauer), doch wozu gründet man dann auf EU- und Länder-Ebene laufend „Arbeitsgruppen zur Bekämpfung von Desinformation“?


    Im Cyberspace ist alles noch schlimmer: Die allmächtigen russischen Hacker haben angeblich die US-Wahlen geknackt, den Bundestag, das dänische Verteidigungsministerium, und, wenn man den jüngsten Berichten glauben darf, auch beim Brexit nachgeholfen. Die Namen der angeblich von GRU und SWR betriebenen Hackerkollektive Cozy Bear und Fancy Bear sind in aller Munde. Der Effekt, den Russland mit geringstmöglichem Aufwand erzielt, ist phänomenal.


    In Moskau geht man auf die Straße? Uns doch egal


    Und schließlich Aufgabe Nummer fünf: Moskau will demonstrieren, wie vollkommen unempfindlich es gegen Reaktionen aus der eigenen Bevölkerung ist. Der Konflikt mit der Ukraine macht Geschäftsleuten und Menschen, die dort Verwandtschaft haben, schwer zu schaffen? Interessiert uns nicht.
    In Moskau geht man gegen Wladimir Putin auf die Straße? Uns doch egal. 
    Staatsgesellschaften und zahlreichen Unternehmen, die sich anboten, wurde der Kredithahn abgedreht? Selbst schuld, wer Feindesgeld annimmt.


    Der Kreml will uns zeigen, dass ihn die Sanktionen als  Phänomen nicht tangieren: Die Kosten werden auf die Bevölkerung umgelegt, und die ist vom politischen Prozess ausgeschlossen. Die Staatsbeamten aus den Sanktionslisten leben auch weiterhin wie arabische Ölscheichs und kaufen ihren Wein bei Tschitschwarkin in London.


    Die Honigdachs-Strategie verfolgt zwei Ziele: Erstens will man alle Konkurrenten Moskaus davon überzeugen, dass der Nutzen eines Eingriffs in seine existenziellen Interessen viel geringer ist als der potentielle Schaden. Russland vergisst nicht, verzeiht nicht, setzt seine begrenzten Ressourcen äußerst geschickt ein und hat keinerlei Angst vor Gegenangriffen.


    Zweitens will man zeigen, dass es völlig sinnlos ist, auf die russische Innenpolitik Einfluss nehmen zu wollen, schon gar nicht über ein „Sponsern der Demokratie“. Das Volk ist in Russland vom Staat getrennt, und deshalb muss man sich mit den Eliten einigen. Die mögen einem gefallen oder auch nicht – „Geografie ist Schicksal“, und ergo ist der einzige Weg, Moskau eine Reihe von Interessen zuzugestehen und sich um konstruktive Beziehungen zu bemühen.


    Die Strategie verspricht bei minimalem Einsatz enormen Nutzen


    Außenpolitisch betrachtet ist die Honigdachs-Strategie äußerst effektiv: Mit – im internationalen Vergleich – minimalem Einsatz (Geld haben wir keins, und alle wissen’s) wird eine enorme und langfristige Wirkung erzielt. Zudem bekommt Russland Hilfe von den westlichen Medien, die nach Traffic gieren, den die „russische Bedrohung“ bringt: Belanglose Geschichten werden aufgebläht zu echten James-Bond-Comics.


    Und so bekommt die politische Klasse in Russland nach und nach, was sie schon lange will: die Anerkennung als äußerst gefährlicher Gegner. Es ist leicht, Hussein oder Gaddafi mit Krieg zu drohen. Viel schwieriger ist es im Falle des riesigen, mit den modernsten Mitteln der Kriegsführung ausgestatteten Russland – dessen Führung bereit ist, die „nationalen Interessen“ bis zum letzten Russen zu „verteidigen“.

    Die Honigdachs-Doktrin hat aber auch Schwächen. Es ist eine Überlebensstrategie, keine Strategie der Entwicklung. Sie hat nichts zu tun mit dem Anlocken von Investoren, mit einer Verbesserung des Geschäftsklimas, mit dem Schaffen eines positiven Russland-Bildes, mit der Modernisierung der Wirtschaft oder anderen langweiligen Dingen. Sie ist einzig dazu da, die „Souveränität zu gewährleisten“, was nichts anderes heißt als die völlige Autonomie der Elite von äußeren und inneren Einflüssen.


    Vom wirtschaftlichen Standpunkt aus muss Russland mit dem Westen kooperieren, doch dafür sind gewisse Zugeständnisse nötig. Und das wiederum hieße, die absolute Autonomie bei Entscheidungen zu verlieren. Es gefährdet den Status der russischen Elite, ergo ist es inakzeptabel.


    Die Kontrahenten erkennen mittlerweile die Spielzüge Moskaus


    Darüber hinaus basiert der Erfolg vieler Elemente der Honigdachs-Doktrin auf dem Kriegsnebel-Effekt, das heißt dem gegnerischen Mangel an Informationen über die Ziele, die Russland verfolgt, und die Handlungen, die es auszuführen gedenkt. Leider lichtet sich der Nebel nach und nach; die Kontrahenten lernen, Moskaus Spielzüge zu erkennen und sogar vorauszusagen, die Effektivität der Methode sinkt. Für die westlichen Geheimdienste wird es zur Routine, Trolle und Hacker aufzuspüren, Politiker, denen Verbindungen zu Moskau vorgeworfen werden, scheiden immer früher aus dem Rennen aus und erhalten immer weniger Stimmen.


    Die Honigdachs-Doktrin mag Russland durchaus in die Lage versetzen, seinen Partnern Respekt abzuringen. Aber echten Aufschwung kann sie dem Land nur als Teil einer weiter gedachten Strategie bringen. Die Angst, die die russische Außenpolitik aktuell sät, müsste sich in Achtung verwandeln, nicht in den Wunsch, eine Quarantänezone um die Russische Föderation zu errichten und so wenig wie möglich mit den Russen zu tun zu haben.

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  • Chinesisch für Anfänger

    Chinesisch für Anfänger

    Russland ist zum Westen auf Distanz gegangen – nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich. Bereits bei den Präsidentschaftswahlen 2012 bereitete Putin eine „Wende nach Osten“ vor, um „chinesischen Wind in den Segeln der russischen Wirtschaft einzufangen”. Doch China reagiert weniger enthusiastisch, als man erwartet hatte.

    Das erste Jahr der „Wende gen Osten“ ist um, und kaum jemand lässt ein gutes Haar daran. Nach Meinung der meisten von Kommersant-Wlast befragten Politiker und Unternehmer ist das Projekt gescheitert, sogar einige Beamte sind der gleichen Meinung. Das ist zwar nur eine subjektive Wahrnehmung (im Vorfeld waren keine Erfolgskriterien festgelegt worden), aber deswegen nicht weniger bemerkenswert.

    Vor dem Hintergrund der eindeutigen politischen Erfolge wirkt das vielleicht seltsam: Schließlich haben Wladimir Putin und Xi Jinping im Mai 2015 eine Kooperation zwischen der Eurasischen Wirtschaftsunion und dem Wirtschaftsgürtel entlang der Seidenstraße vereinbart, und beide Staatsführer besuchten die jeweiligen Militärparaden in Moskau und Peking am 9. Mai und 3. September.

    Obwohl keiner offiziell eine Wende nach Osten verkündet hat, ist die Aufmerksamkeit russischer Beamter gegenüber China stark gewachsen.

    Auch die traditionelle Zusammenarbeit im Militärbereich hat sich positiv entwickelt: China war der erste ausländische Käufer von S-400 Luftabwehrsystemen und Kampfjets des Typs SU-35. Und das Unterwasserkabel für die vom Stromnetz getrennte Krim wurde auch in China hergestellt, bei Jiangsu Hengtong. Was also ist hier schiefgegangen?

    Putin richtet 2012 Kurs auf Osten

    Der Grundstein für die Wende wurde bereits 2012 im Vorfeld des APEC-Gipfeltreffens in Wladiwostok gelegt. Ein halbes Jahr zuvor, im Februar 2012, hatte Putin im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen einen Artikel veröffentlicht und darin bemerkt, Russland habe nun „die Chance, chinesischen Wind in den Segeln der russischen Wirtschaft einzufangen“. Drei Monate später wurde offiziell das Ministerium für Ostentwicklung eröffnet, zu dessen Aufgaben die Anwerbung von asiatischen Geldern zählte, insbesondere von chinesischen. Die Zusammenarbeit zwischen den Ländern entwickelte sich jedoch ziemlich schwach, abgesehen vom Energiesektor (Rosneft-Verträge von 2013 und 2014). Russische Unternehmer und Beamte waren misstrauisch gegenüber ihren chinesischen Partnern. Die Verhandlungen mit ihnen nutzten sie in erster Linie als Druckmittel gegenüber den Europäern in Energiepreisfragen.

    Die Reaktion der Chinesen auf unsere plötzliche Aufmerksamkeit war eher zurückhaltend und kühl.

    Alles änderte sich nach der Einführung der westlichen Sanktionen gegenüber Russland nach der Angliederung der Krim. „Obwohl keiner offiziell eine Wende gen Osten verkündet hat und der erste Vize-Premier Igor Schuwalow diese im Juni 2015 sogar bestritt“, erinnert sich für Kommersant-Wlast der Leiter des Asien-Programms des Carnegie-Zentrums in Moskau Alexander Gabujew, „ist die Aufmerksamkeit russischer Beamter gegenüber China spürbar gewachsen.“

    Zum „asiatischen Davos“ in Bo’ao im April 2014 reiste zum ersten Mal eine riesige russische Delegation an, unter der Leitung des Vize-Premiers Arkadi Dworkowitsch. Gazprom und CNPC, die sich zehn Jahre lang nicht über Gaslieferungen nach China einigen konnten, unterschrieben im Schnellverfahren einen Vertrag mit einer Laufzeit von 30 Jahren über die Lieferung von 38 Milliarden Kubikmeter Gas jährlich, der auch den Bau der Pipeline Sila Sibiri umfasst. Ein Jahr später, am 8. Mai 2015, wurde er um einen Vertrag über den Bau eines zweiten Pipelinestranges und am 3. September um ein Memorandum über einen dritten Pipelinestrang ergänzt.

    Obwohl diese Vereinbarungen eine starke politische Komponente hatten sowie ernsthafte Fragen bezüglich ihrer Wirtschaftlichkeit aufwarfen, vermittelten sie das Gefühl einer wachsenden Kooperation und der Bereitschaft Chinas, langfristig in Russland zu investieren. Dies wiederum schaffte die angenehme Illusion, dass im Fall der Fälle Peking aktiv an der finanziellen Unterstützung Russlands interessiert bleiben würde, und sei es nur, um die investierten Mittel nicht zu verlieren.

    China findet wenig Anreize, in Russland zu investieren

    Aber schon Ende 2015 hat sich durch unbarmherzige Zahlen das ganze Pathos der unzerstörbaren russisch-chinesischen Freundschaft in den Augen von Experten in Luft aufgelöst. Zwar gab es Vereinbarungen über eine ganze Reihe von Großprojekten in der Maschinenbau- und Energiebranche, durch den Rubelverfall konnte man aber keinen Nutzen aus diesen Erfolgen ziehen. Der Rückgang des Handelsvolumens mit China wird 2015 circa 30 Prozent betragen.

    Chinesische Investoren machten sich nicht einmal den Preisverfall für russische Aktiva zunutze. Gerade mal 0,7 Prozent (794 Millionen US-Dollar von 116 Milliarden) aller chinesischen Auslandsinvestitionen wurden in Russland getätigt. Die Öllieferungen nach China sind zwar um 30 Prozent gestiegen, jedoch sanken aufgrund des Rubelverfalls die daraus resultierenden Einnahmen im gleichen Maße. Die Flüssiggaslieferungen fielen von Januar bis September 2015 um 51,3 Prozent, was im Geldäquivalent einem Rückgang von 71,5 Prozent entspricht. Und was den Bau des zweiten Pipelinestranges betrifft, so dringen in regelmäßigen Abständen beunruhigende Nachrichten über Verzögerungen und merkwürdige Kapriolen der chinesischen Partner durch und lassen um das Schicksal des Projekts bangen.

    Auch die Versuche russischer Staatsunternehmen, versiegte Kreditströme aus Europa durch chinesische zu ersetzen, blieben erfolglos. Chinesische Banken wissen ihre guten Beziehungen zu amerikanischen Kollegen zu schätzen (mit Ausnahme der ExIm Bank und China Development Bank, chinesischen Entsprechungen der russischen staatlichen Wneschekonombank VEB und VTB-Bank, bei deren Handeln politische Motivationen eine Rolle spielen). Sie schlossen sich faktisch den anti-russischen Sanktionen an und setzten alles daran, um Kreditvergaben herumzukommen.

    Projekte, bei denen die russische Seite nur ihr geistiges Eigentum anbietet, rufen bei den Chinesen meistens keinen Enthusiasmus hervor.

    Außerdem wurden, wie Kommersant-Wlast vom Geschäftsführer des Russland-ACEAN Business-Rates Viktor Tarussin erfuhr, viele Russen gezwungen, ihre Konten bei chinesischen Banken zu schließen und die Mittel zu anderen Banken zu transferieren. Und Gazprom verkündete, enttäuscht von den asiatischen Kollegen, am 9. Dezember, der alljährliche Investorentag, der 2015 in Singapur und Hong Kong stattgefunden hatte, würde nach London und New York zurückverlegt. Als Grund dafür nannte Gazprom Interfax „die Unentschlossenheit und den Konservativismus der asiatischen Investoren“.

    China hat kaum Gründe, aktiv in Russland zu investieren. Peking lässt sich meist von harter Wirtschaftslogik leiten und investiert normalerweise entweder in die Staaten der Ersten Welt, die in der Lage sind, Technologien oder Management-Knowhow zur Verfügung zu stellen (USA) oder Dritte-Welt-Staaten, die sich vergleichsweise billig und ohne arbeitsrechtliche Sperenzchen von Ressourcen und Anbauflächen trennen (Sudan, Simbabwe). Russland gehört weder zur ersten noch zur zweiten Kategorie.

    Im Ranking zur Geschäftsfreundlichkeit, dem Doing Business-Index, bei dem Russland im Oktober auf Platz 51 gestiegen ist, liegt China im Umfeld von Singapur (Platz 1), Hong Kong (Platz 5), Südkorea (Platz 4), Taiwan (Platz 11) und Malaysia (Platz 18). Im Global Opportunity-Index, der die Investitionsattraktivität eines Staates misst, belegt Russland den 81. Platz, Singapur den 1., Hong Kong den 2., Malaysia den 10., Südkorea den 28. und Japan den 17. Wenn es um Rechtstaatlichkeit geht, rutscht Russland sogar auf Platz 119 und landet damit in der Nachbarschaft von Nigeria und Mosambik.

    Russland hat die chinesischen Bedürfnisse falsch eingeschätzt

    Durch all die politischen Vereinbarungen und die pompösen gegenseitigen Freundschaftserklärungen entstand sowohl bei russischen Unternehmern als auch bei der Staatsbürokratie der Eindruck, nun würden die chinesischen Firmen von oben Anweisung bekommen, mit Russland Verträge unter dem Marktwert abzuschließen. Dies ist nicht geschehen.

    „Ich denke, Russland hat zu emotional auf die Verkündung der Wende gen Osten reagiert. Die Reaktion der Chinesen auf unsere plötzliche Aufmerksamkeit war dann eher zurückhaltend und kühl“, so Irina Sorokina, geschäftsführende Leiterin der Russisch-chinesischen Kammer zur Förderung des Handels in der Maschinenbau- und Innovationsindustrie. „Wir haben eine Investitionsflut aus China erwartet, aber dort zögert man lieber erst einmal und wiegt alles sehr sorgfältig ab.“

    Wo die Europäer meinen, es sei bereits eine Entscheidung getroffen, sehen die Chinesen bloß eine Grundlage für Verhandlungen.

    Ihrer Meinung nach ist für chinesische Unternehmer – egal bei welchem Projekt – die Rentabilität ihrer Investitionen am wichtigsten. Außerdem schätzen sie die Bereitschaft der Partner, auch finanziell einzusteigen, doch dazu sind russische Unternehmer oft nicht bereit. „Projekte, bei denen die russische Seite nur ihr geistiges Eigentum anbietet und von den Partnern Geld als Anteil für das gemeinsame Unternehmen verlangt, rufen bei den Chinesen meistens keinen Enthusiasmus hervor“, ergänzt Irina Sorokina.

    Wegen der Probleme bei der Wende nach Osten entstand in der russischen Staatsführung offensichtlich der Wunsch, die Situation zu verbessern. „Die Regierung hat versucht, gezielt Expertise aufzubauen“, sagt Alexander Gabujew. „Also wurde ein Ausschuss für die Förderung der Wirtschaftsinteressen in der Asien-Pazifik-Region gegründet. Ansonsten haben die unter dem ersten Vize-Premier Igor Schuwalow im Vorjahr eingeführten Gremien ihre Arbeit fortgesetzt.“ Nach Meinung von Experten reichen diese Bemühungen jedoch nicht für grundlegende Veränderungen.

    Es gibt einzelne Erfolgsbeispiele

    Gelingt der Zugang zu den chinesischen Partnern, sind die Ergebnisse oft interessant. Maxim Sokow, Generaldirektor des Metall-, Bergbau- und Energiekonzerns En+, ist überzeugt, dass es zwar nicht einfach sei, sich an die Eigentümlichkeiten des chinesischen Geschäftsgebarens zu gewöhnen, aber durchaus möglich. „Man muss bedenken, dass man mit China nicht von heut auf morgen Geschäftsbeziehungen aufbauen kann. Du musst mit den Menschen zunächst große Mengen Tee trinken und viele Worte des Respekts äußern, doch dann geht alles ziemlich schnell“, so Sokow im Gespräch mit Wlast. „Das russische Sprichwort ‘Wer langsam einspannt, der fährt schnell’ hat in China eine Entsprechung.“ Wo die Europäer meinen, es sei bereits eine Entscheidung getroffen, sehen die Chinesen bloß eine Grundlage für den nächsten Verhandlungsschritt, so Sokow.

    Im Jahr 2015 gab es eine Vereinbarung über die Gründung eines Zentrums für Datenverarbeitung. Beteiligt waren die Konzerne En+ und Lanit, die Regierung der Region Irkutsk sowie die chinesischen Unternehmen Huawei und Centrin Data Systems. Schon im Sommer 2016 soll das Rechenzentrum in Betrieb gehen. Es wird Informationen chinesischer Firmen auf von Huawei gelieferten Anlagen verarbeiten.

    Im Gegensatz zur teilweise „politischen“ Pipeline Sila Sibiri steht dieses Projekt auf rein kommerziellen Füßen und hat somit gute Aussichten auf Erfolg. Das ökonomische Kalkül ist einfach: kaltes sibirisches Klima (Server brauchen ständige Kühlung) plus billiger Strom aus sibirischen Wasserkraftwerken (hierauf entfallen 60 Prozent der Selbstkosten des Zentrums) plus der unendliche chinesische Markt, der nach immer mehr Rechenkapazität verlangt.

    Ob Russland und China sich wirklich wirtschaftlich aufeinander zubewegen, ist offen

    Das wichtigste Ergebnis des Jahres ist, dass russische Beamte und Unternehmer Asien für sich entdeckt haben und und nun beginnen, sich für die landesspezifischen Businessregeln zu interessieren. „Der Osten wurde ein Thema in Strategiesitzungen großer Unternehmen, und nicht nur in Staatsbetrieben. Wobei die Überlegungen dort bisher noch nicht sehr qualifiziert sind“, so die Beobachtungen von Dimitri Ontojew, dem Leiter des Labors für regionale Studien im Institut für Schwellenländer an der Skolkowo School of Management in Moskau. „Das Hauptproblem ist: Der Markt ist voll. Westliche Unternehmen haben sich schon vor 40 Jahren Richtung Osten gewandt, daher sind russische Firmen jetzt gezwungen, ziemlich entschieden mit den Ellbogen zu arbeiten, worauf sie nicht vorbereitet waren.“

    Das Hauptproblem ist: Der Markt ist voll. Westliche Unternehmen haben sich schon vor 40 Jahren Richtung Osten gewandt.

    Das Jahr 2016 hat vielversprechend begonnen: Am 18. Januar lud die russische Delegation im Asia Society Hong Kong Center in Hong Kong zu einer Veranstaltung ein namens Russlands Platz im Wirtschaftsmodell der Asien-Pazifik-Region – neue Möglichkeiten für Wachstum und Investitionen. Vize-Premier Arkadi Dworkowitsch und der Magnat Viktor Wexelberg versuchten, die Teilnehmer aus einflussreichen asiatischen Wirtschaftskreisen zu überzeugen, dass sich Investitionen in Russland lohnen.

    Das Auditorium reagierte zugänglich. Aber mit einer Antwort, die er auf eine Frage des Moderators Ronnie Chan gab, plauderte Arkadi Dworkowitsch zufällig das wichtigste russische Staatsgeheimnis aus: das Fehlen einer langfristigen Planung. „Wie sehen Sie Russland in 10 bis 20 Jahren?“, fragte Ronnie Chan und fügte hinzu, dass Chinas Staatsoberhaupt Xi Jinping auf diese Frage wohl wie aus der Pistole geschossen antworten würde. Arkadi Dworkowitsch sagte: „Als einen normalen Staat.“ Um dann zu präzisieren: „Stark und offen für die Weltgemeinschaft.” Ob diese Antwort die asiatischen Investoren zufrieden gestellt hat, sehen wir dann an den Ergebnissen des Jahres 2016.

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