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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Welcher Gott, um Gottes willen?!

    Welcher Gott, um Gottes willen?!

    „Russland, vereint durch eine tausendjährige Geschichte, wahrt das Andenken der Vorfahren, die uns Ideale und den Glauben an Gott weitergegeben haben sowie die Kontinuität in der Entwicklung des russischen Staates. Es erkennt die historisch begründete staatliche Einheit an und bittet, ihm nicht noch mehr Alkohol nachzuschenken.“

    Anekdoten dieser Art kursieren derzeit im Runet und lenken die Aufmerksamkeit auf Fragen, über die sich aktuell viele in Russland den Kopf zerbrechen: Warum hat Wladimir Putin am 2. März der Duma eine vielen so skurril anmutende Verfassungsänderung zur Abstimmung vorgelegt? Bleibt es bei den in der Anekdote oben zitierten Worthülsen oder sollen diese Begriffe tatsächlich mit Sinn gefüllt werden? Warum soll das Volk überhaupt am 22. April über die Verfassungsänderung abstimmen – wenn sie sowieso wirksam wird, nachdem das Parlament sie angenommen und Putin seine Unterschrift daruntergesetzt hat? 

    Um diese Rätsel zu lösen, hat Kommersant FM den Kremlsprecher Dimitri Peskow befragt. Meduza hat einen Ausschnitt aus dem Gespräch abgetippt, über den auf Social Media viel gelacht wurde.

    Kommersant FM: Gerade wurden Putins Änderungen an der von ihm vorgelegten Verfassungsänderung bekanntgegeben. Da gibt es zum Beispiel die Formulierung über das „Andenken der Vorfahren, die uns die Ideale und den Glauben an Gott weitergegeben haben“. Wessen Vorfahren meint Wladimir Putin denn?

    Dimitri Peskow: Die Änderung in welchem Paragraphen meinen Sie?

    Die, die Wjatscheslaw Wolodin verkündet hat. Meines Wissens ist das die Präambel.

    Jetzt möchte ich Ihnen mal was sagen – da stimmen einfach nicht alle Informationen mit der Realität überein. Die Informationen entsprechen einfach nicht dem, was der Präsident eingebracht hat. Das heißt, das, was da gestern groß und breit veröffentlicht wurde, entspricht nicht dem, was ist. Machen wir schon mal weiter. Ich suche derweil.

    Machen wir schon mal weiter. Ich suche derweil

    Aber kann man denn nicht auf der Website des Kreml oder in den Medien irgendwas veröffentlichen, damit wir wenigstens nachvollziehen können, was Wolodin denn nun gesagt oder was Putin da eingebracht hat?

    Solche Texte werden gewöhnlich nicht veröffentlicht. So etwas nennt sich „amtliche Vorlage“. Aber selbstverständlich werden sie früher oder später veröffentlicht. Ich kann Ihnen nur nicht sagen, wann. Derzeit läuft die Arbeit in den Arbeitsgruppen und in der Duma und in entsprechenden Ausschüssen. Experten und Juristen – alle arbeiten daran.

    Nun ja, nur haben wir alle gestern aus der Duma die Erklärung vernommen, dass Putin das und das vorgeschlagen hat, und jetzt stellt sich heraus, dass er nicht das und auch jenes nicht vorgeschlagen hat.

    „Nicht das und auch jenes nicht“ hat niemand gesagt, und „das und das“ hat auch niemand gesagt. Es ist hier einfach sehr wichtig, sich an die konkreten Formulierungen zu halten. Einige Meldungen, die gestern zu diesem Thema in den Medien waren, entsprechen schlichtweg nicht der Realität. Jetzt wird es lange dauern, herauszuarbeiten, welche Meldungen das waren und inwiefern sie abwichen.

    BOG (russ. Gott) taucht nicht nur in Putins Reden immer häufiger auf, sondern bald womöglich auch an prominenter Stelle in der russischen Verfassung.  
    Welche Begriffe sonst noch Konjunktur hatten oder haben beim russischen Präsidenten, könnt ihr demnächst in unserem Putin-Special erforschen – stay tuned!

    Vielleicht haben Sie die Stelle ja doch gefunden, der Vorschlag beginnt mit dem Satz „Die Russische Föderation, die vereint ist durch eine tausendjährige Geschichte, die das Andenken der Vorfahren wahrt und uns die Ideale und den Glauben an Gott hinterlassen hat, und auch die Kontinuität in der Entwicklung des Russischen Staates, bekennt sich zu einer historisch begründeten Einheit“. Existiert dieser Satz in den Änderungsvorschlägen von Wladimir Putin?

    Ich bin hier immer noch am Suchen, der Text ist recht umfangreich.

    […]

    (Er hat das Zitat gefunden.) Schauen Sie, ja, tatsächlich „die uns die Ideale und den Glauben an Gott weitergegeben haben“. Ja, diesen Satz gibt es tatsächlich.

    Welche Vorfahren meint Wladimir Putin denn?

    Unser aller Vorfahren. Die Vorfahren derer, die in der Russischen Föderation leben.

    Schauen Sie, ja, tatsächlich ‚die uns die Ideale und den Glauben an Gott weitergegeben haben‘. Ja, diesen Satz gibt es tatsächlich

    Und welche Ideale haben uns diese Menschen weitergegeben?

    Unsere gemeinsamen. Nun, das ergibt sich aus dem Text.

    Und welchen Gott meint Wladimir Putin?

    Ich nehme an, das wird zu gegebener Zeit geklärt.

    Wie das? In einem gesonderten Gesetz?

    Nein. Ich kann diese Frage jetzt nicht beantworten.

    – Und welchen Gott meint Wladimir Putin?
    – Ich nehme an, das wird zu gegebener Zeit geklärt

    Ist unser Staat dann weiterhin überhaupt noch ein säkularer Staat? Und wie wird sich der Staat gegenüber Atheisten verhalten, wenn diese Änderung angenommen wird?

    Auch diese Frage kann ich jetzt nicht beantworten. (Pause) Doch ganz offensichtlich wird der Staat in gar keiner Weise seinen säkularen Charakter verlieren.

    Die Frage zu der Mehrdeutigkeit von Gott und den Vorfahren – wie soll die geklärt werden und wann?

    Zu gegebener Zeit, mehr kann ich nicht sagen.

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  • Haltet durch, Freunde vom Kommersant!

    Haltet durch, Freunde vom Kommersant!

    Am 20. Mai wurde bekannt, dass zwei Journalisten der Tageszeitung Kommersant ihren Arbeitgeber verlassen. Daraufhin haben alle Mitglieder der Politikredaktion geschlossen ihre Kündigung eingereicht. 

    Der Sprecher des Verlagseigentümers Alischer Usmanow legt den zwei Journalisten zur Last, einen „bestellten“ Artikel geschrieben und damit gegen die redaktionellen Standards verstoßen zu haben. Beweise dafür bleiben bislang aus, sowohl die Journalisten als auch der stellvertretende Chefredakteur von Kommersant bestreiten den Vorwurf. 

    Viele unabhängige Journalisten sind bestürzt über den Vorgang, sie sehen darin einen weiteren Schlag gegen die Pressefreiheit in Russland. Sie erinnern sich an das Schicksal des Onlinemediums Lenta.ru und des Investigativ-Portals RBC. Tenor damals: Diese beiden Medien hätten die „Verkehrsregeln“ des russischen Journalismus verletzt und dabei eine gewisse „durchgezogene Linie“ überschritten. Gemeint ist vor allem Selbstzensur. Russland nimmt auf der Rangliste der Pressefreiheit Platz 149 ein – von insgesamt 180.

    Die Redaktion von Meduza äußerte ihr Mitgefühl gegenüber den 13 Kollegen vom Kommersant.

    Der Unternehmer und Eigentümer der Zeitung Kommersant Alischer Usmanow hat die Kündigung zweier Journalisten der Zeitung erzwungen: Iwan Safronow und Maxim Iwanow. Dem Aktionär gefiel ein Artikel nicht, in dem es darum ging, dass Valentina Matwijenko womöglich den Posten als Sprecherin des Föderationsrates aufgibt und der Chef des Auslandsgeheimdienstes Sergej Naryschkin ihren Platz einnimmt.

    Der Chefredakteur und Generaldirektor von Kommersant Wladimir Shelonkin sagte gegenüber Vedomosti: „Wir haben uns von den Journalisten getrennt, da beim Erstellen des Artikels die redaktionellen Standards des Kommersant verletzt wurden.“ Unter anderen Umständen – sprich zu anderen Zeiten oder außerhalb von Russland – hätte Shelonkin wahrscheinlich erklären müssen, gegen welche redaktionellen Standards genau verstoßen wurde. Denn unmittelbar nach Safronow und Iwanow hat die gesamte Belegschaft der Politikredaktion von Kommersant ihre Kündigung eingereicht – als Zeichen, dass sie mit der „Entscheidung des Aktionärs“ nicht einverstanden sei.

    Es ist erstaunlich, dass sich Shelonkin ausgerechnet auf redaktionelle Standards beruft: Denn seitdem Usmanow die Zeitung gekauft hat, mischt er sich regelmäßig und, allem Anschein nach, durchaus effektiv in ihre Arbeit ein – will sagen, ein Verstoß gegen redaktionelle Standards ist eher dem Eigentümer und Chef vorzuwerfen. Aber der Kommersant hat eine phänomenale Anziehungskraft. So arbeiten trotz allem dort immer noch dutzende hochprofessionelle Mitarbeiter, für die, davon sind wir überzeugt, Zensur inakzeptabel ist. Von außen zuzusehen, wie es mit einer Zeitung schrittweise den Bach runtergeht, tut ziemlich weh; mit denen, die Teil davon sind, nicht mitzufühlen, ist unmöglich. In all den Jahren haben sowohl Mitarbeiter des Kommersant als auch ihre Leser und Konkurrenten gehofft, dass die Krise auf magische Weise enden wird – doch das ist, oh weh, nicht passiert.

    Von Quellen aus dem Verlagshaus Kommersant wissen wir, dass die Veröffentlichung über Matwijenko einen solch starken Unmut eines Aktionärs ausgelöst hat, dass sogar die Kündigung des Chefs diskutiert wurde. Stattdessen hat man jedoch den Autoren des Artikels nahegelegt zu gehen und ihnen zudem die Verletzung von Standards angelastet. Allein der Gedanke daran, wie so etwas abgelaufen sein mag, ist beschämend.

    In der Meduza-Redaktion arbeiten ehemalige Kommersant-Mitarbeiter, doch nicht nur ihnen ist es schwer ums Herz. Der russische Journalismus verliert seine Profis mit erschreckender Geschwindigkeit: Die Leute gehen nicht, um bei anderen angesagten Medien anzuheuern, sondern sie gehen in den meisten Fällen in angrenzende Berufszweige, das heißt ins Nirgendwo. Und doch trauern wir heute nicht um unseren Beruf, sondern um eine konkrete Redaktion in einer konkreten Zeitung. Wir wissen, der Kommersant ist eine Familie. Und in dieser Familie ist ein Unglück geschehen. Haltet durch, Freunde! 

    Die Redaktion von Meduza

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