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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Die russische Propaganda hat sich selbst besiegt“

    „Die russische Propaganda hat sich selbst besiegt“

    Eine Corona-Impfung in Moskau zu bekommen ist ungefähr so einfach wie sich ein Brot zu kaufen – auf diese Formel hat es vergangene Woche Sergej Medwedew gebracht. Der Politologe fügte hinzu, dass der Impfstoff allerdings nur in Moskau so einfach zu bekommen sei; in den Regionen geht die „Massenimpfung“ mit Sputnik V dagegen nur langsam voran.

    Bislang haben landesweit rund fünf Prozent der Gesamtbevölkerung mindestens ihre Erstimpfung erhalten. Dabei gehört Russland zu den am schlimmsten betroffenen Ländern der Welt und hat als erstes Land überhaupt einen Impfstoff für die breite Anwendung zugelassen.

    Warum ist die Impfquote in Russland dann so niedrig, fragt der Journalist Maxim Trudoljubow auf Facebook.

    Die Mehrheit der Russen (62 Prozent) will sich nicht gegen Covid impfen lassen, 64 Prozent denken, dass es sich bei diesem Virus um eine biologische Waffe handelt (was muss wohl bei denen im Kopf vorgehen, die das eine wie das andere denken?)

    Gleichzeitig liegt Russland unbestritten an der Weltspitze, was die schnelle Entwicklung eines wirksamen Impfstoffs gegen Covid betrifft. Und es bildet die Weltspitze, was die Hilfe für andere Länder bei der Impfung betrifft: 39 Länder haben den russischen Impfstoff zugelassen, darunter zwei EU-Staaten, die nicht die EU-Zulassung abgewartet haben – Ungarn und die Slowakei.

    Natürlich ist das ein Sieg. Die Frage ist: ein Sieg über wen?
    Die russische Propaganda hat sich selbst besiegt und die eigenen russischen Bürger. Die jahrelange Verbreitung von Verschwörungstheorien und diversem antiwissenschaftlichem Unsinn hat dazu geführt, dass sich in dem Land, das in der Impfstoffentwicklung an der Spitze steht, die Menschen vor Impfungen fürchten. Das führt zu Todesfällen, die zu vermeiden wären, und zur Isolation in der Weltgemeinschaft, denn das Tempo der Impfung ist wahrhaft ein Wettrennen. Die Länder mit der größten Impfquote werden füreinander die Grenzen öffnen.

    In Russland ist die Impfquote niedrig. Hier führen Israel, die Vereinigten Arabischen Emirate und Großbritannien das Feld an, aber mittlerweile auch die USA, wo es anfangs große Probleme gab. Dies sind Daten der Universität Oxford.
    Russland ist wohl das einzige Land auf der Welt, wo das Angebot an Impfstoff die Nachfrage übersteigt.
    Die PR-Kampagne sollte zur Anerkennung des russischen Erfolgs führen, und zwar weltweit. Doch betrachtet man die gigantischen Möglichkeiten der russischen Propagandamaschine – würde es sich dann nicht vielleicht lohnen, sie für die  Anerkennung der Erfolge Russlands in Russland selbst einzusetzen?

    Schon allein aus diesem Grund ist Propaganda nicht einfach nur eine Technologie, sondern eine Waffe, die wir gegen uns selbst richten.

    P. S.: Und womit wurde eigentlich Putin geimpft, und warum haben sie es nicht gesagt? Das hätte doch die Impfkampagne vorangebracht. Wurde er gar nicht geimpft, ist er also ein Impfgegner? [Oder doch geimpft, mit – dek] Moderna, das als ein besonders gutes Mittel gilt, was man aber nicht laut sagen darf?

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  • Ausländische Agenten – Krieg in den Köpfen

    Ausländische Agenten – Krieg in den Köpfen

    Die Aufregung war groß, als die Duma vergangene Woche in dritter Lesung dafür gestimmt hat, dass künftig auch einzelne Personen als „ausländische Agenten“ eingestuft werden können. Bislang waren davon nur NGOs und Medien betroffen – als „ausländischer Agent“ sind derzeit zehn Auslandsmedien gelistet, darunter etwa Radio Swoboda (Radio Liberty) und Voice of America. Das neue Gesetz ist so breit formuliert, dass theoretisch jeder, der Inhalte von solchen als „ausländische Agenten“ registrierten Medien öffentlich repostet und außerdem Geld aus dem Ausland erhält – und sei es von seiner Tante –, als „ausländischer Agent“ eingestuft werden kann. Duma-Abgeordnete beeilten sich zu erklären, dass das Gesetz als Antwort auf US-amerikanische Gesetze zu verstehen sei. 

    Nun müssen sich Mitarbeiter derjeniger Auslandsmedien sorgen, die bereits als „ausländische Agenten“ gelistet sind. Leonid Lewin, Vorsitzender des Duma-Ausschusses für Informationspolitik und Ko-Autor des Gesetzes, erklärte zudem, wer über Sport oder Musik schreibe, habe nichts zu befürchten – und russische Blogger schon gar nicht. 

    Solche mündlichen Einschränkungen sind jedoch rechtlich nicht bindend, sie sorgen vielmehr für Unruhe: Es wäre nicht das erste Mediengesetz, das, unklar formuliert, selektiv und willkürlich angewandt wird und gerade so Angst und Selbstzensur schürt. Das Gesetz wurde von der Duma Ende November in dritter Lesung ohne Gegenstimme beschlossen. Damit es in Kraft tritt, fehlt nun noch die Unterschrift Putins, in der Regel eine Formalie.

    Maxim Trudoljubow fragt auf Vedomosti, was hinter der Rhetorik und den neuen Maßnahmen eigentlich steht.

    In öffentlichen Auftritten russischer Staatsbeamter, Duma-Abgeordneter sowie TV-Moderatoren und selbst in den Gesetzestexten, die die Duma verabschiedet, geht es immer um dasselbe. Alles, was der Staat der Gesellschaft vermitteln will, lässt sich in einem Gedanken zusammenfassen: dass Russland äußere Feinde hat und dass die Feinde Helfershelfer haben innerhalb der Landesgrenzen. Anfangs, mit dem ersten Gesetz über ausländische Agenten, wurden die Feinde als kollektive Gruppe erfasst – es ging um [Nicht-Regierungs-] Organisationen. Nun kann der Staat auch einzelne Bürger als ausländische Agenten einstufen.

    Die Gesetze über ausländische Agenten können zivilgesellschaftlichen Organisationen und konkreten Personen unmittelbar Schaden zufügen. Doch die Hauptaufgabe dieser Bestimmungen und überhaupt der gesamten TV-Rhetorik besteht darin, Format und Ton des gesellschaftlichen Diskurses festzulegen oder dessen, was man darunter versteht. Die Repressalien selbst sollen laut Absicht derer, die sie sich ausdenken, nur minimal sein. Doch die Ideen, die über solche Repressalien der Gesellschaft vermittelt werden sollen, sollen Allgemeingut werden. Der Einsatz von Gewalt ist also punktuell, wird aber geistig-gedanklich massenhaft Wirkung haben.

    In diesem modellierten Diskurs muss man für bestimmte Ziele nicht mehr kämpferisch aufmarschieren, man muss sie nicht unterschreiben, ja, nicht einmal laut aussprechen. Nirgends wird gesagt, dass Russland einen Krieg führt, aber ausländische Feinde – und ihre Agenten – gibt es. Es ist nicht so ganz klar, wo genau die Front verläuft, aber ein wehrhaftes Hinterland gibt es ganz sicher. Und für jenes Hinterland muss man Einheit demonstrieren und Agenten entlarven. In Friedenszeiten stellen Agenten keine Gefahr dar.

    Niemand glaubt in Russland ernsthaft, dass das, was öffentlich ‚Wahlen‘ genannt wird, tatsächlich Wahlen sind. Es ist Dekoration, aber sie wird gebraucht, solange der Feind vor den Toren steht

    In Friedenszeiten wäre das anders, aber aktuell ist – zumindest vorübergehend, angesichts der rauen Kriegszeit – Wachsamkeit gefragt. Darum lasst doch die Wahlen vorerst ruhig Formsache sein – jetzt gerade ist nicht die Zeit für politischen Wettbewerb. Ein nicht zugelassener Kandidat bei den Wahlen ist ein Helfer des Feindes. Niemand glaubt in Russland ernsthaft, dass das, was öffentlich „Wahlen“ genannt wird, tatsächlich Wahlen sind. Sie sind Dekoration, aber sie werden gebraucht, solange der Feind vor den Toren steht. Soll doch ruhig auch die Wirtschaft eher Formsache sein – jetzt gerade ist nicht die Zeit für echte Konkurrenz. Niemand glaubt, dass Russlands Wirtschaft ungestüm wächst, aber es gibt dieses schön dekorierte Schaufenster – das Zentrum von Moskau –, das aussieht, als befände sich Russland im Wirtschaftsboom.
     
    Es bleibt die Frage, wo jene Frontlinie verläuft, wegen der all das geschieht und um die der Kreml den gesellschaftlichen Konsens konstruiert. Sie wurde aus dem Diskurs verdrängt, wie auch das Wort „Krieg“. Es ist interessant, dass ausländische Experten (aus jenen Ländern, deren Agenten für Russland so gefährlich sind) in letzter Zeit die Außenpolitik des Kreml loben, vor allem die Erfolge im Nahen Osten. Doch in der Innenpolitik konzentriert sich der Kreml nicht auf diese Siege. Die Politmanager sehen, dass es nicht gut ankommt, den Fokus auf die Außenpolitik zu legen. Zudem kann man auch nicht ernsthaft die gegenwärtige Innenpolitik mit Erfolgen im Nahen Osten rechtfertigen. So wird die Frontlinie zu einer virtuellen. Das große allgemeine Ziel, das die Politik des Kreml rechtfertigen soll, wird nicht laut geäußert. Vielleicht, weil es gar keins gibt.

    Das große allgemeine Ziel, das die Politik des Kreml rechtfertigen soll, wird nicht laut geäußert. Vielleicht, weil es gar keins gibt

    Die Aufgabe der russischen Politmanager ist keine leichte: Sie müssen in einer Situation arbeiten, in der Krieg abgelehnt wird, in der die Nachfrage wächst nach individuellen Rechten, nach einer tatsächlich funktionierenden Wirtschaft, nach steigenden Einkommen und Wohlstand der Bürger. Russland lebt in derselben Zeit wie die ganze übrige Welt: in einer Moderne, in der Grenzen durchlässig und Verhältnisse von Dominanz und Unterwerfung instabil sind. Ein realer, heißer Krieg mit einem richtigen Hinterland – mit dem dazugehörigen Einheitsgefühl und Sonderschichten in den Fabriken – lässt sich in einer solchen Situation nicht durchführen. Darum versucht man, einen imaginären Krieg und ein starkes Hinterland in den Köpfen der Bürger zu formieren.

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  • „Dieses Haus ist eine Metapher“

    „Dieses Haus ist eine Metapher“

    Das Haus der Regierung entstand 1931 am Ufer der Moskwa. Yuri Slezkine, Geschichtsprofessor an der Universität Berkeley, erzählt in seinem gleichnamigen Buch die Geschichte des Sowjetkommunismus anhand des Gebäudes und seiner Bewohner. 2018 ist es auf dem deutschen, 2019 auch auf dem russischen Markt erschienen.

    Jahrzehntelang hat Slezkine dafür in Archiven recherchiert, entsprechend unterteilt der US-amerikanische Historiker, der 1982 aus der Sowjetunion emigrierte, sein Buch in drei unterschiedliche Stränge: einen biografischen, einen historischen und einen analytischen.

    Im Interview mit Maxim Trudoljubow für Colta.ru spricht Yuri Slezkine über das besondere Gebäude und seine Bewohner und darüber, weshalb er den Kommunismus als Sekte begreift.

    © Peter-Andreas Hassiepen
    © Peter-Andreas Hassiepen
    Maxim Trudoljubow: Die Baustelle ist eine gute Metapher. Die Bolschewiki machten sich an den Bau dessen, was sie Sozialismus nannten, ohne einen Bauplan zu haben. Aber für das Haus der Regierung gab es einen Bauplan – übrigens eines der wenigen Wohnhäuser, die damals überhaupt gebaut wurden.

    Yuri Slezkine: Dieses Gebäude ist in der Tat eine Metapher. Das Haus der Regierung wurde gleichzeitig mit der Sowjetunion erbaut und, wenn man so will, gleichzeitig mit dem Stalinismus – in den Jahren des ersten Fünfjahresplans. Die Bewohner errichteten eine neue Wirtschaft, einen neuen Staat und gleichzeitig ein Haus, in dem sie mit ihren Familien leben wollten.

    Die Bewohner errichteten einen neuen Staat und gleichzeitig ein Haus, in dem sie mit ihren Familien leben wollten

    Man redete zwar ständig von Städten und Wohnraum, und es wurde viel darüber geschrieben, wie die Wohnkommunen aussehen sollten. Gebaut wurde allerdings wenig, der Staat hatte andere Sorgen – die Industrialisierung, die Kollektivierung. Baustellen gab es viele, vor allem aber industrielle und metaphorische. Das Haus der Regierung war eines der wenigen Wohnprojekte.

    Als ich [Ihr Buch Das Haus der Regierungdek] zu lesen begann, dachte ich, es würde um das Haus und seine Bewohner gehen. Aber es stellte sich heraus, dass die Protagonisten noch etwas anderes als der Wohnort verbindet. Die zentrale Metapher des Buchs (oder ist es keine Metapher?) ist die Sekte. Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?

    Ich hatte nicht die Absicht, über eine Sekte zu schreiben. Als ich mit der Arbeit an dem Buch begann, hatte ich keine Ahnung von Sekten. Erst beim Lesen der Briefe, Manifeste, Tagebücher und anderer Dokumente kam mir dieser Gedanke. Ich war erstaunt, wie oft das Wort Glaube vorkam, wie diese Menschen dachten und worauf sie hofften. Mich verblüffte die Ähnlichkeit dessen, was sie sagten, mit dem, was ich aus ganz anderer Literatur kannte. Ich fing an, Bücher über Millenarismus, Apokalyptik und ähnliche Phänomene zu lesen. 

    Als ich mit der Arbeit an dem Buch begann, hatte ich keine Ahnung von Sekten. Erst beim Lesen der Briefe, Manifeste, Tagebücher und anderer Dokumente kam mir dieser Gedanke

    Eigentlich wollte ich das Haus der Regierung „bauen“, seine Bewohner dort „einziehen“ lassen, zuschauen, wie sie darin leben, um dann Zeuge ihrer Verhaftung und Hinrichtung zu werden. Aber am Ende hatte ich ein Buch, das viel größer war, in seinem Umfang und auch in jeder anderen Hinsicht.

    Das bolschewistische Sektentum ist für mich keine Metapher. Ich ziehe keinen Vergleich zwischen den Bolschewiki und religiösen Sektenanhängern. Ich verwende das Wort Religion nicht, weil es das Bild nur verstellen würde. Ich behaupte, dass die Bolschewiki Sektenanhänger waren, ohne Anführungszeichen.

    Welche Art von Sektenanhängern?

    Der apokalyptische Millenarismus ist der Glaube daran, dass die Welt, die voller Ungerechtigkeit und Unterdrückung ist, noch zu Lebzeiten der jetzigen (oder spätestens nachfolgenden) Generation in einem katastrophalen Gewaltausbruch ihr Ende finden wird. 
    Manche bezeichnen solche Bewegungen als religiös, andere nicht – das hängt ganz davon ab, welche Religionsdefinition man ansetzt. Für mich spielt das keine Rolle. Als mir beim Lesen der Dokumente bewusst wurde, dass die Bolschewiki – ganz egal, welche Definition man benutzt – apokalyptische Millenaristen waren, begann ich sie im Vergleich zu anderen, ähnlichen Bewegungen zu betrachten. Cargo-Kulte, das frühe Christentum, der frühe Islam, die Münsteraner Wiedertäufer, die Roten Khmer, der Taiping-Aufstand – all das sind millenaristische Bewegungen. Die Anhänger- oder Opferzahlen miteinander zu vergleichen ist uninteressant. Wichtiger ist der Kern der Sache.

    Lenin nannte sie eine ,Partei neuen Typs’, aber er hätte sie auch ,Sekte gewöhnlichen Typs’ nennen können

    Für die Bolschewiki selbst war ihre Partei keine Partei, wie Politiker und Soziologen sie definieren. Es war keine Vereinigung, deren Tätigkeit auf die Machtergreifung im Rahmen eines bestehenden politischen Systems abzielte. Es war vielmehr eine Organisation, die auf den Sturz des bestehenden politischen Systems im Kontext der Zerstörung der gesamten Alten Welt hinarbeitete – einer Welt der Ungerechtigkeit und unauflösbaren Widersprüche. Lenin nannte sie eine „Partei neuen Typs“, aber er hätte sie auch „Sekte gewöhnlichen Typs“ nennen können.

    Ihre Protagonisten machen keinen Halt vor Grausamkeit, aber sie leiden auch und weinen immerzu. Lenins Tod lässt Tränenströme losbrechen, die Ermordung Kirows löst eine Schockstarre aus. Warum? Waren sie so unglaublich emotional?

    Ich denke, das hat mit ihren Vorstellungen zu tun, mit der Prophetie, an die sie glaubten, mit der Intensität der Erwartungen, der Opferbereitschaft, die ursprünglich zum Bolschewismus gehörte. Außerdem dürfen wir nicht vergessen, dass es am Anfang des Buches um sehr junge Menschen geht. Um emotionale, ehrfürchtige junge Männer und Frauen, die von fieberhaften apokalyptischen Stimmungen beseelt sind. 
    Sie lebten in konspirativen Wohnungen, in Gefängnissen, in der Verbannung. In ihrem Weltgefühl waren Sehnsucht, Verzweiflung und die inbrünstige Hoffnung auf das Kommen des „rechten Tages“ vereint. Und dann geschah etwas, das in der Geschichte solcher Bewegungen unglaublich selten ist: Ihre Apokalypse trat ein. Der rechte Tag kam. Zumindest erlebten sie seinen Anbruch. Genau, wie es einmal ein anderer Millenarist prophezeit hatte: „Es wird aber ein Bruder den andern zum Tod überantworten und der Vater das Kind, und die Kinder werden sich empören gegen ihre Eltern und werden sie zu Tode bringen“ (Matthäus 10,21).

    Ihre Apokalypse trat ein. Der rechte Tag kam. Zumindest erlebten sie seinen Anbruch

    Die Briefe aus den Tagen des Bürgerkrieges zeugen von einem beeindruckend intensiven Erleben. Extreme Erfahrungen bringen extreme Emotionen. Alle Millenaristen ereilt früher oder später das, was die amerikanische Geschichte als die „große Enttäuschung“ kennt: Die Zeit vergeht, aber die Prophezeiung tritt nicht ein. 
    Für die Bolschewiki war diese Erfahrung besonders schmerzhaft, weil sie die „Schlacht von Armageddon“ bereits gewonnen hatten. Aber kaum war sie gewonnen, da wurden die Positionen auf dem X. Parteitag auch schon aufgegeben, der charismatische Anführer starb, und in den Häusern der Sowjets wurde nur irgendwelches Zeug gemacht. Die Periode der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) war ihre große Enttäuschung. Das wird deutlich, wenn man die Parteiliteratur der 1920er Jahre liest oder sich ansieht, wie diese Menschen lebten, wie sie weinten, wie sie sich in Sanatorien behandeln ließen.

    Kommt das Gefühl der „belagerten Festung“ erst in den 1920er, 1930er Jahren auf? Oder war das ein allgemeiner Wesenszug?

    Es war ein Wesenszug. Es ist nicht so, dass ich – nur weil ich einmal beschlossen habe, dass die Bolschewiki eine Sekte sind – ihnen alles zuschreibe, was ich über Sekten weiß. Es zeigte sich einfach, dass vieles von dem, was ich über sie herausfand, mit dem übereinstimmt, was wir über Sekten wissen. 

    Die Absonderung von der Außenwelt ist eines der Merkmale des frühen Bolschewismus. Und eine Sekte ist, in welcher Definition auch immer, eine Gruppe von Gleichgesinnten, die sich von der feindlichen, sündigen, dem Untergang geweihten Welt lossagt. Die Bolschewiki haben viel darüber geschrieben, was es für sie bedeutete, ein Teil dieser heiligen Bruderschaft zu sein und welch ein Abgrund sie von dem kleinbürgerlichen „Sumpf“ trennt. Das Haus der Regierung war ihre belagerte Festung.

    Das heißt, sie fühlten sich auch innerhalb des Landes umzingelt?

    Das Haus an der Uferstraße war eine riesige Festung. Bei seiner Eröffnung war im Land gerade die Kollektivierung im Gange. Die Bewohner wussten und wussten gleichzeitig nicht, wie sie genau abläuft. Sie erließen Dekrete und stellten Pläne auf, aber sie diskutierten nicht, welchen Preis sie dafür zahlten. Sie sprachen nicht mit ihren Haushälterinnen darüber, was mit deren Familien passiert war. 
    Es war in dem Sinne eine belagerte Festung, als sie von sowjetischen Menschen umgeben waren, die gar keine waren. Die Sowjetunion war eine belagerte Festung innerhalb einer bourgeoisen Welt, das Haus der Regierung war eine belagerte Festung innerhalb der Sowjetunion, und jede einzelne Wohnung eine innerhalb des Hauses. Jeder Bolschewik war in seinen eigenen vier Wänden belagert. 

    Jeder Bolschewik war in seinen eigenen vier Wänden belagert

    Wir sehen, wie sehr sie darunter litten, dass das Leben von allen Seiten an sie herandrängte. Die Kinder wuchsen heran, auf den Tischen breiteten sich Tischdeckchen aus, an den Fenstern Vorhänge; Eltern, Verwandte kamen zu Besuch. Kleine Familien gab es da kaum, die allermeisten hatten eine Großfamilie. Der Schwiegervater – ein ehemaliger Rabbi – kam, die Schwiegermutter betete flüsternd, die Haushälterin vom Land taufte heimlich die Kinder. 
    Der rechtgläubige Bolschewik wurde überwuchert von Sachen und armen Verwandten. Denen, die Zeit zum Nachdenken hatten, war bewusst, dass sie Tag für Tag und Stunde für Stunde ihren Glauben verrieten. Und wenn man sie holen kam, wussten sie deshalb auch, dass sie in gewisser Weise schuldig waren.

    Stalin bleibt in Ihrem Buch fast außen vor. War er für [die Bolschewiki] der „Großinquisitor“, eine Dostojewski-Figur, die verstanden hat, dass man nicht auf die „Wiederkunft“ warten darf, sondern ein System errichten muss?

    Über Stalin habe ich nichts Neues zu sagen. Und er lebte ja auch nicht im Haus an der Uferstraße. Das ist gut, weil man in historischen Romanen den König normalerweise nicht zur Hauptfigur macht. Im Unterschied zu jemandem, der einen historischen Roman schreibt, konnte ich nichts erfinden, es kam mir also sehr gelegen, dass Stalin auf der anderen Seite des Flusses wohnte. Und es ist auch nicht so wichtig, was er dachte. Ich glaube, dass er ein wahrer Bolschewik war, ein gläubiger Mann. Aber gleichzeitig ein pragmatisches Staatsoberhaupt. Sie waren alle zugleich Gläubige und Staatsbeamte.

    Welches Erbe hinterließ die erste Generation von Bauherren der UdSSR? Ist es der nachfolgenden Generation gelungen, dem System Routine zu verleihen?

    Der Bau war nicht besonders solide. Wir wissen, wie die Sowjetunion zu Ende ging. Sie ist nie wirklich zur Routine geworden. Das Christentum existiert als Zivilisation schon seit 2000 Jahren. Die Kommunisten sind ausgestorben. Die Entwicklungskader meiner Figuren sind gestorben, und mit ihnen auch der Staat, den sie aufgebaut haben. Das heißt, etwas ist ihnen schon gelungen, und das ist nicht wenig. Sie sind die einzige millenaristische Sekte, die es geschafft hat, die Herrschaft in Babylon an sich zu reißen. 

    Das Christentum wurde erst vier Jahrhunderte nach dem Tod seines Propheten die offizielle Religion des Römischen Reiches, als kaum noch jemand den baldigen Weltuntergang herbeigesehnt hat. Die Bolschewiki blieben auch nach ihrer Machtergreifung inbrünstig gläubige Millenaristen. So etwas hat es noch nie gegeben. Aber es währte eben nicht lange.

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  • Auf in die Zukunft mit Lew Tolstoi!

    Auf in die Zukunft mit Lew Tolstoi!

    Der Sozialismus ist nicht mehr, die Zeit der Heilsversprechen ist vorbei. Die Entzauberungwelle nach dem Ende der Ideologien ebbe aber immer noch nicht ab, schreibt Maxim Trudoljubow auf Inliberty. Seit den 1990er Jahren erschallen in Russland Rufe nach Visionen. Die Politik des Kreml quittiere diese aber höchstens mit ideologischen Versatzstücken aus der Mottenkiste, und im Ergebnis braue sich in den Köpfen ein höllischer Brei zusammen, kritisiert etwa der Journalist Andrej Loschak.

    Wie ist dieser Orientierungslosigkeit beizukommen? In einer Inliberty-Serie über das Comeback Tolstois meint Maxim Trudoljubow, die Antwort genau bei jenem Klassiker der russischen Literatur gefunden zu haben.

    Will ich zu Tolstoi vordringen, erwische ich mich häufig bei dem beruhigenden Gedanken: Das ist ist ja alles auf Russisch geschrieben und gar nicht anstrengend. Doch es ist anstrengend. Von den Themen, um die es geht – Mensch, Leben, Schicksal der politischen Gesellschaft – trennen uns heute dicke Schichten wissenschaftlicher Formeln, Termini, Ziffern und Daten. Die sowjetischen Formulierungen sind noch nicht aussortiert und oben auf dem Stapel häufen sich chaotisch Lehnbegriffe wie „Ressourcen-Fluch“, „hybride Systeme“ und „extraktive Insitutitionen“.

    Bei Debatten über Politik und Gesellschaft geht es meist nicht um Werte, sondern um Techniken. Was nicht überraschend ist, denn die Auffassung von Politik als einem technischen Prozess, für den es Ingenieure und keine Ideologen braucht, war eine Reaktion auf das Scheitern des sowjetischen Systems. 
    Kaum jemand bedauert den Verlust der Ideologie, dennoch haben wir ein Trauma davongetragen und ein gemeinsames zukunftsgerichtetes Koordinatensystem eingebüßt: An die Stelle der marxistisch-leninistischen Geschichtsphilosophie mit einem materialistischen Ziel und Schritten, die eine Gesellschaft dorthin führen sollen, traten Polittechnologien – eine Ansammlung von Instrumenten, die nicht dazu dienen, eine Gesellschaft voranzubringen, sondern sich allein um eines zu drehen – die Macht. 


    Prognosen, Umfragen, PR-Strategien


    Wir betrachten das gesellschaftliche Leben nicht mehr als eine Etappe auf dem Weg zu etwas, sondern als ein Spielfeld, auf dem es ein System, Spieler, Prognosen, Umfragen, die Türme des Kreml und PR-Strategien gibt. Der heutige Publizist und seine Leser bleiben oft bei der Diskussion eines Schemas hängen, ohne zum Wesentlichen vorzudringen: dem Leben der Menschen und ihrem Umfeld. So wurden beispielsweise die Bürgermeisterwahlen und die Niederlagen der Kremlkandidaten 2018 größtenteils als Siege und Niederlagen von Polittechnologen diskutiert. 


    Sogar dort, wo wir nicht durch die Zensur oder die zunehmenden juristischen Hürden für Medien eingeschränkt sind, sogar dort, wo wir uns nicht auf die Diskussion ein und derselben Politmühle beschränken müssten, sind wir durch Autoritäten beschränkt. Und da sich die meisten von ihnen jenseits der Grenzen der russischen Gesellschaft befinden, ist das heutige Russland provinzieller und beschränkter als das Russland vor 150 Jahren, in dem die Romane von Turgenjew, Dostojewski, Gontscharow und Tolstoi entstanden. 

    Ideologiefetzen, Ablagerungen gesellschaftswissenschaftlicher Vorstellungen, Zitate einflussreicher Meinungen – das alles bildet ein geistiges Sediment, das man erst einmal durchstoßen muss, um zu Tolstoi zu gelangen. Zugegeben, das gilt nicht nur für Russland. Aber in der russischen Situation zeigen sich gewisse Vorgänge besonders deutlich. Wobei ein schmerzlicher Umgang mit den Ergebnissen einer rapiden Modernisierung und das Trauma durch den Verlust einer Zukunftsvision sowohl uns als auch den westlichen Kulturen eigen ist.   

    Fast das ganze 20. Jahrhundert hindurch gab es auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs sehr verschiedene Zukunftsvisionen, doch mit dem Fall der Mauer verschwanden die Perspektiven hier wie dort. Nicht nur Russland, sondern die ganze Welt ist am Ende eines langen Weges angelangt, auf dem Autoritäten und eine Expertenindustrie dafür zuständig waren, Ziele wie Entwicklung und Fortschritt durchzusetzen – unabhängig davon, wie diese Ziele in der jeweiligen Ideologie aussahen. 
    Es wäre jedoch falsch anzunehmen, dass dieser Weg irgendwann in ruhigen und stabilen alten Zeiten begonnen habe. Genau wie wir heute, durchlebte die damalige Gesellschaft tiefgreifende Umbrüche und das Trauma des Verlusts eines einheitlichen Weltbildes. 

    Tolstoi, der in den ewig gestrigen Zeiten der 1820er Jahre geboren wurde, erlebte die Erfindungen des Grammophons, des Automobils, des Flugzeugs und die Entstehung des russischen Parlamentarismus. Er war Zeuge der industriellen Revolution und wissenschaftlicher Entdeckungen, die die Vorstellung vom Leben von Grund auf umkrempelten. Vor seinen Augen vollzogen sich die Bauern- und Rechtsreformen, sowie administrative und andere Reformen, die den russischen Staat modernisierten. 

    Ende der 1850er Jahre erscheint Darwins Entstehung der Arten, in den 1860ern veröffentlicht Marx Das Kapital und Mendelejew entdeckt die periodische Gesetzmäßigkeit. Die Welt lässt sich immer besser erklären und man kann förmlich dabei zusehen, wie sie in ihre Einzelteile zerlegt wird. 


    Die Welt, in ihre Einzelteile zerlegt


    In den 1860er und 1870er Jahren erscheint sukzessive die Bibel in moderner russischer Sprache. Der Haupttext der Christenheit hatte bis dahin nur auf der Sprache der Geistlichkeit existiert und wird so erstmals den breiten Massen zugänglich.

    In der Nähe von Jasnaja Poljana verläuft die Tschugunka – die erste Eisenbahn. Die Zeitungen berichten von Weltausstellungen und sagenhaften Innovationen, die schnell auch Russland erreichen. In den 1880ern gab es erstmals elektrisches Licht: elektrische Straßenlaternen, beleuchtete Rampen im Theater, angestrahlte Gebäude. Alles Zeichen eines immer schnelleren Fortschritts, der das Denken der Bildungsschicht über die Gegenwart und Zukunft maßgeblich mitbestimmt. Die meisten Intellektuellen jener Zeit waren Fortschrittsoptimisten, dabei sahen insbesondere deutsche Denker den Staat als Triebkraft des Fortschritts.
    Tolstois Antwort, die ihn sofort zu einem Außenseiter im Kreis der europäischen Intellektuellen machte (wobei er natürlich nicht völlig allein dastand, man denke nur an Schopenhauer oder Proudhon), war: dem „progressiven“ Geschichtsbild zu widersprechen, sprich im Staat keine modernisierende Kraft, sondern einen Unterdrückungsapparat zu sehen und die sich rapide in Spezialgebiete auseinanderdividierende Wissenschaft abzulehnen. 

    „Ich sehe überhaupt keine Notwendigkeit, in der Geschichte nach allgemeingültigen Gesetzen zu suchen, ganz abgesehen davon, daß dies ja unmöglich ist. […] Das Gesetz des Fortschritts beziehungsweise der Vervollkommnung ist einem jeden Menschen in die Seele geschrieben und wird nur irrtümlich auf die Geschichte übertragen“ (Der Fortschritt und die Definition der Bildung, 1862/1863).

    Gegen Ende seines Lebens formuliert Tolstoi seine Auffassung von wahrer Wissenschaft folgendermaßen: „Wissen, was man tun und was man lassen soll. Darin, und nur darin, bestand und wird die echte, die wahre Wissenschaft auch weiterhin bestehen. Diese Wissenschaft ist wirkliche Wissenschaft, d. h. ein Konglomerat aus Erkenntnissen, die sich dem Menschen nicht von selbst erschließen.“ (Über die Wissenschaft (Antwort an einen Bauern), 1909). Tolstoi konzentriert sich nicht darauf, wie das Leben im materiellen und sozialen Sinne beschaffen ist, sondern darauf, wie der einzelne Mensch sein Leben führt und was ein richtiges oder falsches Leben ausmacht. 


    Weltumspannender Umsturz statt Revolution


    In dem Traktat Das Ende des Jahrhunderts verallgemeinert Tolstoi seine Ablehnung des liberalen und des sozialrevolutionären Fortschritts und nennt die für ihn einzig zulässige Form historischer Entwicklung: von einer Welt der Nötigung durch den Staat oder die Revolution hin zu einer Welt, in der sich die Menschen gegenseitig verpflichtet sind und die auf der Befolgung von Lebensregeln gründet, welche von Gelehrten des Christentums, Buddhismus und Konfuzianismus aufgestellt worden sind. Dieser „große weltumspannende Umsturz“ müsse von Russland ausgehen, denn das russische Volk kenne, so Tolstois Überzeugung, besser als alle anderen Völker die gewaltsame Natur des Staates, weil er sie im verheerenden Japankrieg gezeigt habe. 

    Das Ende dessen, was zu Tolstois Zeiten begann, haben wir miterlebt. Russland hat ein wahnwitziges politisches und menschliches Experiment durchlaufen, dessen Initiatoren an ein allgemeingültiges Gesetz der Geschichte glaubten. Die Kommunisten schufen einen Apparat physischer und moralischer Gewalt, wie ihn die Geschichte nicht kannte, und der die Menschen dazu brachte, an ein gemeinsames historisches Ziel für alle zu glauben. Dieser Apparat, der Sowjetstaat, hat alle Ziele, für die er erschaffen worden war, überdauert. 

    Alle halbherzigen, unentschlossenen Versuche, diesen Staat von kommunistischen auf liberal-demokratische Ziele auszurichten, sind erwartungsgemäß gescheitert. Der Staat, der – ich sage es nochmal – für die Lösung einer großen historischen Aufgabe entwickelt worden war, ist zum Selbstzweck geworden und wird von der gegenwärtigen Regierung zähnefletschend verteidigt. Dieser Gewaltstaat, der das Volk zu keinem historischen Ziel führt, sondern nur im Kreis, um sich selbst herum, hat seine wahre Natur unverkennbar gezeigt. Etwas Ähnliches würde Tolstoi wohl sagen, würde er von Zauberhand in unsere Zeit befördert.
    Heute kann man sich bei den großen Lebensfragen nur schwer eine solche intellektuelle und spirituelle Unbefangenheit vorstellen, wie sie Tolstoi an den Tag legte. Aber man muss mit Tolstoi nicht in allem übereinstimmen, um von ihm zu lernen, wie man jene Schicht aus wissenschaftlichen Formeln und einflussreichen Zitaten durchbricht und anfängt selbst zu denken.

    Heute stehen wir da mit Tolstoi „nach dem Fortschritt“, auf den Trümmern des Gebäudes, vor dessen Errichtung er warnte. Wir befinden uns immer noch im Zeitalter der „großen Entzauberung“: Wir durchleben verschiedene Formen der Erschöpfung, Empörung und Ignoranz gegenüber gesellschaftlichen Prozessen. Die Entscheidung der russischen Führung für die Polittechnologie und gegen die Ideologie ist nachvollziehbar und unter den gegebenen historischen Umständen sogar unumgänglich. Zudem wurden sogar mehrfach Versuche unternommen, etwas wie eine Ideologie zu erschaffen. Diese Versuche wurden von der Gesellschaft weder angenommen noch begrüßt. Die russische Gesellschaft besteht aus Menschen mit verschiedenen Überzeugungen und lehnt offenbar schon die Vorstellung einer gemeinsamen Zukunftsvision ab.  

    Bei seiner Warnung vor dem Glauben an einen linearen Geschichtsverlauf, sagte Tolstoi im Wesentlichen, dass ein Staat keine Zukunftsvision für alle schaffen könne, das könne nur der einzelne Mensch für sich selbst. Die Fokussierung auf das individuelle Leben und die Erforschung dessen, was richtig und was falsch ist, waren die Stärke des Denkens in Tolstois Russland. Wir können in diese Zeit nicht zurückkehren, das müssen wir auch nicht. Es genügt, wenn wir von unseren Vorfahren lernen, die eigene Erfahrung selbstständig zu reflektieren. 

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  • Die Schule der inneren Emigration

    Die Schule der inneren Emigration

    In Deutschland ist das Phänomen bekannt aus NS- und DDR-Zeit: Statt auszuwandern oder in eine offene Opposition zu treten, ziehen sich Menschen unter unliebsamen äußeren Umständen oft zurück in eine innere Emigration. Wer in der Sowjetunion aufgewachsen ist, verfügt hier über einen reichhaltigen Erfahrungsschatz, der zu einem gefragten Gut werden könnte, meint Maxim Trudoljubow auf Republic.

    Unbeteiligt und abwesend sein, den lästigen Lärm der Außenwelt ausblenden, innerlich emigrieren, an verschiedenen Orten und zugleich nirgendwo sein können – diese Fähigkeiten sowie die damit verbundene Geistesschule sollten wir zum goldenen Erbe der Sowjetunion zählen. Es ist ein Gut, das sich mit anderen zu teilen lohnt.

    Brodskys Strategie macht Schule in den USA

    „[Joseph – dek] Brodskys Strategie des Abschaltens machte plötzlich auf abstruse Weise Sinn für mich“, schreibt eine Redakteurin des jungen amerikanischen Magazins The Point mit Blick auf die aktuelle politische Lage in den USA. Der ehemalige Top-Manager eines internationalen Konzerns setzt diese Strategie in die Praxis um – indem er seinen Alltag so gestaltet, dass er buchstäblich keine Nachrichten mehr bekommt, und die New York Times bringt darüber eine große Reportage. Außerdem gibt es mittlerweile zahlreiche praktische Ratgeber und Berichte über das Flüchten aus der US-amerikanischen Wirklichkeit nach Kanada.

    Und das bereits nach anderthalb Jahren Trump. Was kommt nach vier oder nach – gar nicht so undenkbaren – acht Jahren? Genau hier können wir eine helfende Hand reichen. Die Russen haben sich von den Amerikanern so einiges an Technologie und Praxis abgeguckt. Es ist höchste Zeit, die Schuld zu begleichen.

    Ein Leben im Kloster des eigenen Geistes

    Doch die Sache ist ernst, und so schnell wird das nicht gehen. Dort, wo der US-Bürger vor der simplen Entscheidung des An- oder Abschaltens steht, verfügen wir über fünfzig Facetten der Teilnahmslosigkeit und inneren Emigration. In welcher Kultur sonst findet man so feine, ausgeklügelte Überlebenstechniken und Wege, den gesunden Menschenverstand unter Bedingungen zu bewahren, die dafür nicht geschaffen sind? Wo sonst hatten die Menschen so viel Gelegenheit zu lernen, wie man abwesend ist, während man anwesend zu sein vorgibt?

    Brodsky hat ein völlig neues Verhaltensmuster vorgelegt. Er lebte nicht in einem proletarischen Staat, sondern im Kloster seines eigenen Geistes. Er kämpfte nicht gegen das Regime. Er nahm es nicht zur Kenntnis.

    (Sergej Dowlatow, Das unsichtbare Buch)

    „Die ewigen Fotos von Stahlgießereien in jeder Morgenzeitung und der ununterbrochene Tschaikowski im Radio – diese Dinge hätten einen in den Wahnsinn treiben können, hätte man nicht gelernt abzuschalten“, schreibt Brodsky selbst in [seinem autobiographischen Essay – dek] Weniger als man. Nicht nur Brodsky beherrschte das Abschalten, viele konnten das, vielleicht sogar alle, selbst die Parteifunktionäre. Man hat gelernt, die Außenwelt zu akzeptieren, aber diese Akzeptanz war eine rein oberflächliche, formelle. Die sowjetischen Gelehrten fügten Lenin-Zitate in ihre Schriften ein, ohne den abgetippten Buchstaben den geringsten Sinn beizumessen. Sowjetische Führungskräfte hielten Reden, ohne sich bewusst zu machen, was sie da eigentlich erzählen. Der sowjetische Mensch konnte anwesend sein, ohne wirklich da zu sein.

    Das Außerhalbsein – ein sowjetisches Konzept

    „Innerhalb des Systems, als Teil davon, existierte das Individuum im selben Moment auch außerhalb dessen, an einem anderen Ort“, schreibt der Anthropologe Alexei Yurchak in seinem Buch Everything Was Forever, Until It Was No More. Diesen Zustand, wenn man sich gleichzeitig innerhalb und außerhalb des Systems befindet, bezeichnet Yurchak als wnenachodimost – das Außerhalbsein.

    Und es geht nicht nur um die Hausmeister und Nachtwächter, das heißt, um Menschen, die in Heizwerken und Kesselhäusern arbeitend Lieder dichteten, alte Sprachen lernten und philosophische Traktate verfassten. Auch Verkäufer und Kassierer waren oft gleichzeitig anwesend und woanders. Ganz zu schweigen von der praktischen Unmöglichkeit, einen zuständigen Beamten physisch an seinem Arbeitsplatz anzutreffen. Die Menschen konnten Positionen bekleiden und, ob sie nun da waren oder nicht, anstatt zu arbeiten, ihre gesamte Zeit mit Gesprächen zubringen. Eine gängige Praxis war das Abfeiern – man verdiente sich Urlaubstage, indem man an (den ausschließlich offiziellen) Demonstrationen teilnahm oder zur Kartoffelernte aufs Land fuhr.

    Das Regime war etwas, das man am besten einfach nicht bemerkte

    Aktives Dissidententum konnte dabei genauso zu Ausgrenzung führen wie aktive Unterstützung des Regimes. Politische Themen galten in der spätsowjetischen Kultur als nicht der Rede wert. So war es – das ist wichtig – bis zum Beginn der Perestroika. Gegen das Regime zu kämpfen hätte bedeutet, es anzuerkennen, doch das Regime war etwas, das man am besten einfach nicht bemerkte.

    Verbotene Literatur wurde gelesen – von denen, die an sie herankamen, aber gelesen wurde auch sonst alles, was unter den Bedingungen des Informationsdefizits nur entfernt Beachtung verdiente. Was zählte, war das Gespräch.

    Diskussion als lebendige Reaktion der Gesellschaft auf Zensur und Kontrolle

    Der Raum der Diskussion und des – persönlichen – Austauschs war eine lebendige Reaktion der Gesellschaft auf Zensur und Kontrolle. Aber weil solcher Austausch Vertrauen voraussetzt, bildeten sich bald Erkennungsmethoden nach dem Prinzip „Freund oder Feind“: Man konnte in den engeren Kreis aufgenommen, aber auch plötzlich ausgestoßen werden, was in einer Kultur, die sehr sensibel mit der Würdigung per Handschlag umging, eine empfindliche Strafe sein konnte. Formelle Anerkennung war so gut wie nie deckungsgleich mit informeller Anerkennung, inoffizielle Autorität wog schwerer als die offizielle.

    Übrigens, wir sollten die Prinzipien der Realitätsflucht auch heute an uns selbst überprüfen. Die Praktiken liegen uns im Blut und lassen sich sicher leicht abrufen. Es würde mich zum Beispiel nicht wundern, wenn Angestellte im öffentlichen Dienst für die Teilnahme an offiziellen Demonstrationen einen Ausgleichstag bekämen. Genauso wenig würde mich wundern, wenn Führungskräfte ihre Reden heute wieder hielten, ohne groß über deren Inhalt nachzudenken. Und genügend Arbeitsplätze, wo sich die Angestellten den ganzen Tag nur unterhalten, gibt es sowieso.

    Die russische Lebensweise als unvollständig anwesende Existenz

    Sich entziehen, sich um etwas herumdrücken, anwesend sein und im selben Moment nicht – diese Dinge sind in den unterschiedlichsten Formen weit verbreitet. Die russische Lebensweise – mit ihren ständigen Abstechern auf die Datscha oder, wenn man in der Provinz lebt, Ausflügen in die Großstadt – hat an und für sich etwas von einer unvollständigen Anwesenheit.

    Und doch hindert uns irgendetwas daran, die Glückseligkeit des totalen Abschaltens zuzulassen. Die Ähnlichkeiten mit der späten UdSSR sind augenfällig, sollten uns jedoch nicht täuschen. Im heutigen Russland ist es ohnehin schwer, sich eine allgemeingültige Praktik auszumalen.

    Heutzutage gibt es ungleich mehr Möglichkeiten, sein Leben nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten, sich seinen eigenen Raum und seine eigene Zeit zu schaffen, als zu Sowjetzeiten.

    Aber das sollte uns natürlich nicht davon abhalten, jene Praktiken des Abschaltens zu erforschen, die so tief in unserer Kultur verwurzelt sind – und diese Kunst der jungen und noch unerfahrenen US-amerikanischen Intelligenzija beizubringen.

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  • Staat im Staat 2.0

    Staat im Staat 2.0

    Egal, ob es um Vorwürfe wegen vermeintlicher Wahleinmischung in den USA oder russischen Kämpfern in der Ostukraine geht: Der Kreml bestreitet dies stets. Offiziell hat sich Putin immer von Hackerangriffen distanziert (s. Video). Zu den aktuellsten Recherchen von Nawalnys Fonds für Korruptionsbekämpfung, die eine russische Einflussnahme auf die US-Wahlen über Vize-Premier Prichodko und den Oligarchen Oleg Deripaska nahelegen, hat sich der Kreml offiziell nie geäußert.

    Einen Monat vor der russischen Präsidentschaftswahl beobachtet Maxim Trudoljubow eine Art „Staat im Staat“, die Auslagerung wichtiger Operationen aus den staatlichen Institutionen heraus.

    Ausländische Staaten sprechen von einer Einmischung Russlands in ihre inneren Angelegenheiten und in ihre Wahlen. Russlands offizielle Vertreter dementieren das. Und sichtbare Anzeichen für eine Beteiligung russischer Staatsangehöriger an den Kriegshandlungen in Syrien und in der Ukraine oder an den Troll-Angriffen auf amerikanische Wähler ändern nichts an der offiziellen Position: Das sind nur Privatpersonen, Urlauber und Enthusiasten. 

    Wenn Putin auf die Frage eines ausländischen Journalisten nach möglichen Hackerangriffen auf die Wahlen in Deutschland sagt: „Auf staatlicher Ebene machen wir so etwas nie“, dann wählt er seine Worte sorgsam und zieht eine für ihn wichtige juristische Grenze zwischen Privatem und Staatlichem.

    Wie sind die gefallenen Kämpfer nach Syrien gekommen?

    Das Außenministerium räumt ein, dass in Syrien bei Kämpfen zwischen Assad-treuen Einheiten und Kräften, die von den Amerikanern unterstützt werden, russische Staatsangehörige ums Leben gekommen sind. Wie aber diese russischen Kämpfer, die nicht im Dienst der Armee standen, nach Syrien gelangten, ist den Behörden nicht bekannt.

    Nicht bekannt ist auch, warum individuelle Mitarbeiter privater Medienunternehmen amerikanisch anmutende Accounts in Sozialen Netzwerken einrichten oder sogar E-Mail-Server amerikanischer Politiker hacken. „Hacker, das sind freie Menschen, wie Künstler: Die stehen auf, und wenn sie in Stimmung sind, setzen sie sich hin und malen. Genau wie Hacker: Die wachen auf und lesen, dass da was los ist in den internationalen Beziehungen, und wenn sie patriotisch gesinnt sind, dann leisten sie ihren Beitrag“, meinte Wladimir Putin im vergangenen Jahr.

    Projekte, bei denen nichtstaatliche Kräfte eingesetzt werden, sind von erheblicher Bedeutung. Es ist also kein Programmfehler, sondern es ist das Programm – eine bewusst aufgebaute Public-private-Partnership im politischen und militärischen Bereich. Ganz offensichtlich ist das Besondere an in diesem Ansatz, dass sich eine Beteiligung des Staates leugnen lässt, ohne sich groß verbiegen zu müssen. 

    Alibi für den Kreml

    Dem Kreml ein Alibi zu verschaffen, ist natürlich nicht die einzige Aufgabe, an der Oleg Deripaska, Jewgeni Prigoshin, Konstantin Malofejew und andere sehr wichtige Privatpersonen arbeiten – jeder in seinem Bereich.

    Eine untergründige, aber wichtige Entwicklung all der Jahre unter Putin bestand darin, den Charakter von Eigentum zu ändern: Grundsätzliche Voraussetzung für Besitz ist mittlerweile der Dienst am Staat. Wer über „altes Geld“ verfügte (in Wirklichkeit waren das natürlich junge Leute mit sehr jungem Geld), ging auf dem Wege von trial and error dazu über, ungeschriebene Eigentumsverträge durch neue zu ersetzen, nachdem man gelernt hatte, wie Verhandlungen laufen; jeder gab nach seinen Fähigkeiten: Die einen subventionierten ganze Regionen sowie verlustträchtige, aber sozialpolitisch wichtige Unternehmen. Andere unterstützten Jugendgruppen und politische Parteien, bei denen die Regierung Pate steht, die dritten beteiligten sich an der Sanierung oder dem Bau von Palästen und Projekten zur nationalen Prestigesteigerung.

    Es ging dabei nicht nur um den Neuabschluss alter Verträge, sondern auch um das Knüpfen neuer Beziehungen. Im Unterschied zu den alten Oligarchen erhalten die neuen Leute – von denen viele lustigerweise gar nicht so jung sind – einfach die Möglichkeit großer Gewinne (beispielsweise durch Kontakte zu Gazprom oder dem Verteidigungsministerium), vorausgesetzt, sie übernehmen für das Gemeinwohl nützliche Aufgaben. Ein wertvoller Beleg für diesen Prozess sind die Materialien von Sergej Kolesnikow, der einst munter medizinische Geräte aus Deutschland nach Russland lieferte, sich dann aber entschloss, die Geschichte des „Putinpalastes“ publik zu machen.

    Wichtige Vorgänge aus den staatlichen Institutionen auszulagern, ist heute ein äußerst wichtiges politisches Instrument des Kreml. Natürlich könnte man den Einsatz dieser Mechanismen ausschließlich in Korruptionsmotiven suchen: weniger Transparenz, also mehr Möglichkeiten zu stehlen. Das wäre jedoch zu eindimensional. Für das konsequente Vorgehen, das außerhalb Russlands oft angriffslustig wirkt, ist eine solche Erklärung nicht hinreichend. Es ist völlig klar: Putins neue Oligarchen erhalten unbeschränkt Zugang zu Gewinnquellen, aber sie führen seine Kriege und bauen seine Brücken.

    Sie führen Putins Kriege und bauen Putins Brücken

    Paradoxerweise vertraut der Staatsmann Putin dem gewöhnlichen Staat nicht, der ihm zu unpersönlich ist. Und für jeden CIA-Agenten ist es ein Leichtes, die Berichte einzusehen; er ist also für den Feind transparent. Der Staat mag sich zwar heute unter der Kontrolle Putins befinden, aber er ist nach Grundzügen aufgebaut, die – zumindest theoretisch – Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und eine Verantwortlichkeit gewählter Politiker gegenüber der Gesellschaft vorsehen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein nicht im Vorhinein abgesegneter Kandidat bei Wahlen gewinnt, ist natürlich verschwindend gering, aber sie ist nicht gleich Null. Und für einen vorsichtigen Spieler ist bereits diese geringe Wahrscheinlichkeit einer Niederlage Grund genug, sich abzusichern.

    Gewöhnlicher Staat versus Staat des Zaren

    Eine solche Absicherung ist die Schaffung eines Staates, der außerhalb des gewöhnlichen Staates existiert. Einst gab es ein Synonym für wne („außerhalb“), otdelno („gesondert“) oder snarushi („von außen“): Es lautete opritsch. Die Opritschnina war ihrem Sinne nach ein Staat des Zaren außerhalb der gewöhnlichen Semschtschina. Sie war eine neue institutionelle Realität, mit neuen Leuten, die Eigentum und Reichtum nur für treue Dienste erhielten und dem Geltungsbereich der verhassten Feudalordnung entzogen waren.

    Die Beziehungen zwischen diesen beiden Staaten müssen sich nicht unbedingt derart blutig gestalten, wie Iwan IV. („der Schreckliche“) es eingerichtet hatte (auch wenn die Abrechnung mit einigen Gouverneuren und dem ehemaligen Minister für wirtschaftliche Entwicklung, Alexej Uljukajew, etwas von Opritschnina hatte). Ein Hort idyllischer Harmonie werden sie aber wohl nie werden.

    Der „andere Staat“ sammelt Einkommensquellen und rekrutiert Oligarchen, die sie überwachen. Dem gewöhnlichen Staat überlässt er die Kosten, soziale Verpflichtungen und das Fußvolk der Gouverneure.

    Den gewöhnlichen Staat leitet der Premierminister, dem ist alles übertragen, womit sich der Anführer des „anderen“, des zarischen Staates, nicht befassen will.

    Die Reformprogramme werden für den gewöhnlichen Staat geschrieben, dessen Beamte berechnen ächzend die Haushalte und führen Handelsgespräche. Aber es reicht eine Bewegung des unberechenbaren „anderen Staates“ und alles war umsonst – wie schon mehrfach geschehen. 


    Sollte Putin irgendwann einmal die Kontrolle über die Wahlen lockern, wird er zwar die Wahl eines Oberhaupts für den gewöhnlichen Staat zulassen, den Staat des Zaren aber wird er selbst behalten.

    Der „andere Staat“ bleibt unsichtbar

    Russland fällt in der Welt immer stärker durch das Vorgehen des „anderen Staates“ auf (jenes Staates, der private Kriege führt und die öffentliche Meinung manipuliert). Doch ist der „andere Staat“ für Russen wie für Ausländer unsichtbar: Wir kennen seine Dimensionen nicht, wissen nicht, wieviel Geld und wieviel Leben durch ihn aus dem gewöhnlichen Staat abgezapft werden und dann in der Blackbox des parallelen, privaten Staates verschwinden. Offiziell werden nur die üblichen Zahlen veröffentlicht und diskutiert, und nur auf dieser Grundlage werden Prognosen erstellt. Das vermittelt uns aber keine Vorstellung von den Plänen des privaten Staates. 

    Welcher von beiden Staaten wird mehr Gewicht haben? Den meisten Bürgern des Landes, so scheint es, gefällt es, auf die Erfolge des agilen „anderen Staates“ stolz zu sein. Sie leben aber in der Realität des depressiven gewöhnlichen Staates, eines Staates, in dem die staatlichen Angestellten mit Ach und Krach versuchen, ein schändliches Minimalgehalt an das kärgliche Existenzminimum anzugleichen.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Gefühlt Alternativlos

    Gefühlt Alternativlos

    Vergangene Woche, am 6. Dezember, kündigte Wladimir Putin an, was quasi schon jeder wusste, dass er bei der Präsidentschaftswahl 2018 kandidieren wird. Kurz vorher war Russland wegen Dopings von den Olympischen Spielen ausgeschlossen worden. Nachweislich nicht belastete russische Sportler können teilnehmen, allerdings unter neutraler Flagge.

    Für Maxim Trudoljubow ist kein Zufall, dass beide Ereignisse nah beieinander lagen. Das analysiert er auf Republic – und den Umgang des Staates mit der Wahrheit.

    Viele erinnern sich noch an die Zeit, als die Wahrheit noch etwas bedeutete. In den 1980er Jahren konnte eine neue Erkenntnis – eine Publikation, die wenig Bekanntes der Öffentlichkeit zugänglich machte – zum Thema einer landesweiten Diskussion werden. Ähnliches geschieht auch heute noch, aber nur in sehr kleinem Maßstab, sicher nicht mehr im ganzen Land. In den Ereignissen der letzten 30 Jahre offenbaren sich Nervenzusammenbrüche und emotionale Schwankungen im Verhältnis der Gesellschaft zu jener ungreifbaren Wirklichkeit, die sich unter dem erstaunlichen russischen Wort Prawda – „Wahrheit“ – verbirgt.

    Der Umgang des Staates mit der Wahrheit

    Gerade kürzlich war es wieder angebracht, sich das ins Gedächtnis zu rufen, angesichts Olympiade und Doping, und davor zum Beispiel, als das Passagierflugzeug über der Ukraine vom Himmel geholt wurde, und in all den anderen Fällen von aktiver staatlicher Arbeit an den Fakten. Nun, der Umgang des Staates mit der Wahrheit wird wohl auch für die nächsten mindestens sechs Jahre ein aktuelles Thema bleiben, denn der „Chefredakteur“ der Arbeit mit Informationen in der Russischen Föderation hat gerade erklärt, für eine weitere Legislaturperiode zu kandidieren.

    Symbolisch ist der Zeitpunkt, der für die Erklärung der Kandidatur gewählt wurde. Nicht auszuschließen, dass das mit Absicht geschah, um auf diese Weise die aufgeflammte Debatte über den Ausschluss der russischen Staatsdiener vom Sport einzudämmen. Wenn dem so ist, dann wäre das nur ein weiterer manipulativer Zug von tausenden, aus denen die vergangenen 18 Jahre unter Wladimir Putin bestehen und alle noch kommenden bestehen werden.

    Die Entdeckung, dass es so etwas wie PR gibt

    Irgendwo tief vergraben unter all den Ereignissen der letzten zwei Jahrzehnte liegt eine Entdeckung Putins und der Leute in seinem Umfeld. Sie entdeckten, dass es auf der Welt so etwas wie PR gibt, eine Erfindung der gewieften Amerikaner; dass man Informationen auch manipulieren kann, anstatt sie einfach zu unterschlagen und direkte Propaganda zu betreiben, so wie zu Zeiten der UdSSR.

    Jemand, der, sagen wir, 1952 geboren ist, wie eben dieser neue russische Präsidentschaftskandidat zum Beispiel, jemand, der den damaligen ideologischen Kampf unmittelbar miterlebt hat, musste irgendwann zu der Einsicht gelangt sein, dass seine sowjetischen Vorgesetzten alte Idioten waren. Erst haben sie das ausgediente System der Zensur ad absurdum geführt und dann alle Schleusen auf einmal geöffnet. Währenddessen haben die Feinde – langsam, aber stetig – mit den Mitteln von PR, Marketing und Merchandising gearbeitet. Und gesiegt. Man hätte also schlauer sein müssen, PR lernen.

    Der lacht am meisten, der am besten lügt

    Schlauer sein wollten damals vermutlich alle. Der Unterschied bestand darin, was man unter „Schlauheit“ verstand. Der Weg, den die Gesellschaft als Ganzes und einzelne ihrer Mitglieder zurücklegen mussten (vor allem die, die beruflich damit zu tun hatten), war hart. Es war der Weg weg von der Enttäuschung durch die Zensur hin zu einem aufrichtigen Glauben an die Macht der empirischen Wahrheit – und dann hin zu einer neuen Enttäuschung und Erkenntnis: Dass Information zum Gegenstand von Manipulation werden kann. Dass der am meisten lacht, der am besten lügt und daran verdient. Natürlich denken nicht alle so, aber die, die so denken, sind sehr einflussreich.

    Den Weg von der Hoffnung in die Hoffnungslosigkeit beschreibt die Anthropologin Natalia Roudakova, Autorin des Buchs Losing Pravda: Ethics and the Press in Post-Truth Russia in einer jüngst erschienenen Untersuchung zur postsowjetischen Presse folgendermaßen: Zu Zeiten der späten Sowjetunion hätten Journalisten sich als die humanste unter den staatstragenden Stützen gesehen, erklärt Roudakova unter Bezug auf Interviews und das jahrelange Eintauchen in die Journalistenkreise von Nishni Nowgorod. Vor der Perestroika hielt man sich für einen Hort der Humanität in der sowjetischen Welt, für die letzte Hoffnung des kleinen, von der Bürokratie verprellten Mannes.

    Der Weg zum Zynismus

    Während der Perestroika verinnerlichte man eine neue Metapher, die die Rolle der Presse beschrieb – „die vierte Macht“. Journalisten sahen sich als Träger progressiver Werte, als Intellektuelle der Öffentlichkeit, die der Gesellschaft Orientierungspunkte boten. Gegen Ende der 1990er Jahre änderte sich die Leitmetapher wieder – nun war man „das zweitälteste Gewerbe der Welt“. Schon gegen Mitte der 1990er taucht in den Gesprächen immer häufiger das Wort „Verkäuflichkeit“ auf. Und zu Beginn der 2000er war es in Nishni Nowgorod weit verbreitet, Journalismus für „politische Prostitution“ zu halten.

    Im Folgenden entwickelte sich die Stimmung Richtung Zynismus. (Es sei kurz angemerkt, dass ich persönlich mich auch an andere Orientierungspunkte erinnere. Das Gefühl einer vergifteten Atmosphäre in der Medienbranche war Ende der 1990er sicher da. Als die Zeitung Vedomosti 1999 gegründet wurde, wurden nur in Ausnahmefällen Leute mit Arbeitserfahrung aus anderen Medien eingestellt. Dasselbe galt für alle neuen Projekte, die sich auf die Fahne geschrieben hatten, zum Vorbild hoher professioneller Standards zu werden. Für mich persönlich waren die 2000er Jahre und der Anfang der 2010er Jahre eine Zeit der aufrichtigen Wahrheitssuche, allerdings ohne irgendwelche Illusionen oder das Gefühl einer höheren Mission.)

    Der allgegenwärtige Zynismus – das ist eine der Errungenschaften der Regierung Wladimir Putins. Unter ihm einen anderen Zustand der Gesellschaft zu erwarten, ist sinnlos: Putin zu wählen heißt, dasselbe wieder zu wählen, nur in verstärkter Form. Für die Elite ist es ein „Zynismus der Herrschaft“, die Einsicht, dass man zum eigenen materiellen Nutzen alles manipulieren kann, was sich bewegt. Und begrenzt ist diese Herrschaft einzig durch Repressionen, die von anderen ebensolchen Mitspielern organisiert werden.

    Für die Mehrheit der Bürger ist es ein „Zynismus der Benachteiligten“, ein Zynismus der Zurechtgewiesenen, ein Zynismus derer, die die Wahrheit kennen, für die sich dieses Wissen jedoch als bitter erweist. Es ist die Wahrheit von Bediensteten, die hinter dem Rücken der Herren tuscheln. Die Dissidenten der 1980er Jahre lachten über die Lügen der Diktatoren. Putin erinnert sich gut daran und tut deshalb alles dafür, dass in seinem postmodernen Imperium nicht die Lüge das Komischste ist, sondern die Wahrheit.

    Das Gefühl, nichts ändern zu können

    Natürlich ist er nicht uneingeschränkt erfolgreich, und dieser Zustand hat sich in seiner Schwere nicht auf die gesamte Gesellschaft verbreitet: Bei Weitem nicht alle sind zu Zynikern geworden. Es gibt viele Inseln positiven Schaffens, das ohne eine gesunde Portion Idealismus unmöglich wäre. Doch das Gefühl, nichts grundlegend verändern zu können, überwiegt. Wichtig ist, dass es sich nur um eine Wahrnehmung, um ein Gefühl handelt. Es entsteht ganz natürlich aus dem Führungsansatz, den Putin gewählt hat (nicht erfunden) und der auf dem Manipulieren von Information und Ressourcen gründet.

    Der Glaube an die Allmacht von PR und Marketing hat seinen Ursprung irgendwo in den 1990ern. Er gesellt sich in dieser Weltsicht zu dem Unglauben an die Eigenständigkeit der Bürger, an ihre Schaffenskraft. Nicht einmal schnell rennen und Sportrivalen besiegen können sie – sie müssen gedopt werden. Selbstständig Geld verdienen können sie auch nicht – deshalb kann man nur kleine Summen an sie verteilen, das Eigentum ist in den Händen des Staates konzentriert. Und wählen können sie ebenfalls nicht.

    Die Idee der Manipulation widerspricht der Idee des Erschaffens, denn Manipulation ist das bloße Hin- und Herschieben von bereits Vorhandenem. Von den einen nehmen, den anderen geben.

    Die Kehrseite der zum Prinzip erhobenen Manipulation ist der Unglaube an die Fähigkeit der Menschen, ihr eigenes Land zu verändern, seine Entwicklung mitzugestalten, nicht bloß beim Überleben mitzuhelfen. Bewegungsunfähigkeit und existenzielle Skepsis – das ist nicht die offensichtliche, aber die wichtigste Seite von Putin als Politiker.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Abgesandte Gottes

    Abgesandte Gottes

    Nach dem Zerfall der Sowjetunion herrschte Aufbruchstimmung in der Russisch-Orthodoxen Kirche. Die jahrzehntelange Unterdrückung durch die Staatsmacht war vorbei, die Kirche konnte und wollte wieder eine Rolle spielen in der Gesellschaft, auch als kritische Instanz gegenüber dem Staat. In der Tat hat sie sich inzwischen zu einer gewichtigen Stimme in Russland entwickelt. Laut Umfragewerten genießt die Russisch-Orthodoxe Kirche mehr Vertrauen in der Gesellschaft als die Presse, die Duma oder gar die Regierung von Dimitri Medwedew.

    Das von Manchen erhoffte Gegengewicht zur Staatsmacht wurde sie allerdings nicht. Maxim Trudoljubow beschreibt auf InLiberty seine enttäuschten Hoffnungen.

    Ich erinnere mich noch: Als ich Ende der 1980er Jahre an der Moskauer Architektur-Universität anfing zu studieren, war sie teilweise noch in den Heiligtümern des ehemaligen Mariä-Geburts-Klosters untergebracht. Im Schwesternflügel, eingeschossig und feucht, war das Studentenwohnheim. In der Kirche des Heiligen Nikolaus, am anderen Ende des Klostergeländes, besuchte ich Vorbereitungskurse – wir zeichneten Gipsplastiken ab.

    Später erinnere ich mich, wie wir Erstsemestler (die meisten waren allerdings Philologen und keine Architekten) uns zu einer damals noch gesetzlich erforderlichen Zwanziger-Schar zusammenfanden: Wir füllten beim Exekutivkomitee irgendwelche Formulare aus und eröffneten dann eine Kirche, eine der ältesten Kirchen Moskaus – die Mariä-Geburts-Kirche in eben diesem Kloster.

    Hätte es damals schon Soziale Netzwerke gegeben, wären sie sicherlich voll gewesen mit Nachrichten über Wiedereröffnungen von Kirchen, Streitereien mit der Regierung, mit Debatten über die Rückgabe enteigneter Kirchengüter sowie über die Umsetzung der Beschlüsse des Landeskonzils von 1917/1918.

    Heute sehe ich in meinem Newsfeed haufenweise Beiträge von Menschen, die von einer Zeitung zur nächsten oder von einem Medienlager ins andere wechseln, sich permanent gegenseitig beschimpfen, aber sich dennoch als Gemeinschaft empfin­den. Damals sah ich etwas ganz Ähnliches: Es wurde lebhaft und leiden­schaftlich diskutiert, allerdings in der analogen Welt und zwar im kirchlichen Umfeld.

    Luken, die in die Freiheit führen

    Portale in eine andere Wirklichkeit gab es damals in Form von berühmten Kirchen mitten in der Stadt: Ohne großen Aufwand konnte jeder junge Mensch unbekann­tes Terrain betreten und dort Luken finden, die über seine Grenzen hinausführen – aber auch über den Schulunterricht, über Teenagerkonflikte und über die starre, gut gefestigte Sowjetrealität hinaus. Das eröffnete unvergleichliche Freiheiten.

    Schon fast peinlich ist es mir heute, aber ich war damals fest davon überzeugt, dass sich die Kirche gleich nach dem Zerfall der Sowjetunion „auf die Seite des Volkes stellen“ würde. Das klingt heute so seltsam, dass ich mir diesen neophytischen Irrtum selbst nur schwer erklären kann.

    Ich dachte zum Beispiel, dass sich Gemeinden entwickeln und starke, unabhängige Stimmen der Kirche erklingen würden. Dass eine Kraft entstehen würde, die die politischen Machthaber durch ihre Autorität zurechtweisen könnte, sollten diese bei Privatisierungen oder Kriegen Gewissen und Anstand verlieren. Die eintreten würde für die Erniedrigten und Beleidigten und die Strafgefangenen. Mit anderen Worten: Ich dachte, dass es jemanden geben würde, der dem Staat von oben auf die Finger schaut.

    Aber nein, daraus wurde nichts. Schon bald wurde mir klar, dass ich zu viel über Polen und Chile gelesen hatte, wo zumindest ein Teil der einflussreichen kirch­lichen Würdenträger gemeinsam mit dem Volk einen moralischen Widerstand gegen den wahnsinnig gewordenen Staat bildete, und zwar unabhängig von der Ideologie – in dem einen Fall war der Staat radikal links, im anderen radikal rechts.

    Effektiver als der Staat

    Als ich in sehr jungen Jahren in die Kirche kam, wurden der Glaube und die Möglichkeit des Gedankenaustauschs mit anderen Gläubigen meine Freiheit. Heute, 25 Jahre später, fühlt sich die Wiedereröffnung einer Kirche nicht mehr an, als würde man eine Kirche wiedereröffnen – die Freude fehlt.

    Ebenfalls heute, 25 Jahre später, bietet die Kirche jungen Menschen eine Möglichkeit der Befreiung, allerdings nicht über die Eröffnung von Kirchen und das Gemeindeleben, sondern über den Protest.

    Nach dem aufsehenerregenden Prozess gegen die jungen Frauen von Pussy Riot, die in der Kirche wild getanzt hatten, wurde eine neue Gesetzesgrundlage geschaffen, und langsam beginnt sie zu wirken.

    Der Videoblogger Ruslan Sokolowski, der sich mehr als einmal Ausfälle gegen die Kirche erlaubt hatte, wurde im letzten Jahr des Extremismus und der Verletzung religiöser Gefühle angeklagt. Auf dem Höhepunkt des Erfolgs von Pokemon Go hatte sich der 22-Jährige auf Pokemonjagd in eine der Kathedralen von Jekaterinburg begeben und es in einem Video festgehalten. Ein Lokaljournalist schrieb daraufhin einen Brief an die Staatsanwaltschaft, in dem er den Organen nahelegte, sich dieses Material anzusehen. Solokowski ist seit September [2016 – dek] in Untersuchungshaft und wartet auf die Entscheidung des Gerichts.

    Im November kam es in Moskau zu Schau-Festnahmen von Teilnehmern einer Mahnwache zum Schutz des Torfjanka-Parks. Sie hatten dagegen protestiert, dass dort eine orthodoxe Kirche gebaut wird. Man drohte ihnen mit Strafverfolgung wegen Verletzung der Glaubens- und Gewissensfreiheit und wegen der Verletzung religiöser Gefühle. Angestoßen wurden die Ermittlungen durch Anzeigen von Mitgliedern der orthodoxen Bewegung Vierzig mal vierzig.

    Gerade läuft ein Prozess gegen einen Mann aus Stawropol, der beschuldigt wird, in einem Sozialen Netzwerk die religiösen Gefühle seiner Diskussionspartner verletzt zu haben.

    Erst vor kurzem wurde ein Student aus Orenburg der Verletzung religiöser Gefühle angeklagt. Wie die Ortsmedien berichten, habe der junge Mann mittlerweile „vor dem Kirchenvorsteher Buße getan“ (hier wurden offenbar die Instanzen vertauscht: man muss nun vor dem Kirchenvorsteher Buße tun und nicht vor Gott), habe sich bei den Christen im Netz entschuldigt und sei beim weltlichen Gericht mit einer Geldstrafe von 5000 Rubel [etwa 80 Euro – dek] davongekommen.

    Ende letzten Jahres wurde der Programmierer und Yoga-Lehrer Dimitri Ugai der gesetzeswidrigen Missionstätigkeit (nach dem Jarowaja-Gesetz) angeklagt. Man verhaftete ihn letzten Oktober mitten in einem Vortrag, im Januar kam sein Prozess vor das Friedensgericht. Die nächste Verhandlung findet in wenigen Tagen statt.

    Man ist geneigt, diese Vorgänge für eine organisierte Kampagne gegen Andersdenkende zu halten. Aber es scheint komplizierter zu sein. Die Geschichte mit Pussy Riot hätte auch eine Welle von Nachahmungen auf verschiedensten Ebenen nach sich ziehen können – so etwas kommt in Russland vor – aber bisher blieb eine Strafprozess-Flut aus.

    Prozesse als Folge von Denunziationen

    Eine klassische, „von oben“ organisierte Kampagne führen Moskaus Politmanager in diesem Fall wohl nicht. Die obengenannten Prozesse sind allesamt aus der Initiative von Bürgern hervorgegangen oder ganz einfach gesagt: Sie sind die Folge von Denunziationen. Im Fall Sokolowski, im Fall Krasnow, im Torfjanka-Prozess genauso wie in allen anderen Fällen wurden die Anzeigen auf Initiative einzelner Personen erstattet. Im Fall des verhafteten Yogis brachte der Denunziant, der angeblich selbst einmal Opfer einer exotischen Sekte geworden war, den Beamten den Text des Jarowaja-Gesetzes mit und erklärte ihnen sogar, wie sie weiter vorgehen sollen.

    In der Tat arbeitet die Zivilgesellschaft in Fällen von beleidigten Gefühlen wesentlich effektiver als der Staat, und nicht nur dort: Die Beamten haben das Jarowaja-Gesetz noch nicht einmal richtig gelesen, während die Bürger es längst eingehend studiert haben. Diese Entwicklung könnte man auch einfach als Förderung von Denunziantentum bezeichnen oder man nennt es „horizontales Enforcement“.

    Der Mensch ist ein freies und ein kompliziertes Wesen. Man weiß nie, in welche Richtung es ihn plötzlich zieht. Manchmal hat man den Eindruck, dass die offiziellen Mitarbeiter der kirchlichen Sphäre gar nicht mehr tun können, als den Menschen, allen Menschen, subtil Gründe an die Hand zu geben, richtig zu handeln, das Beste im Menschen zum Vorschein zu bringen. Menschen Gründe an die Hand zu geben, einander zu denunzieren, ist das genaue Gegenteil.

    Aber was soll man machen? So will es nun mal die weise Politik, und sie ist immerhin besser als die Politik, alle ins Gefängnis zu werfen. Die Aufsicht über die Bürger wurde komplett an die Sozialen Netzwerke abgetreten, und zwar nicht nur in Fragen von religiösen Gefühlen. Wozu sollte man auch tausende Leute anstellen und dafür bezahlen, dass sie die Bürger überwachen, wenn man sich vollständig auf beinahe freiwillige Mitglieder von befreundeten Organisationen verlassen kann, die von befreundeten Fonds finanziert werden.

    Wozu Gelder aus der Staatskasse aufwenden?

    Totalitarismus ist ein kostspieliges Regime: Alles muss der Staat selbst erledigen. Moderne autoritäre Systeme, darunter auch Russland, sind viel klüger. Wozu sollte man etwas aus der Staatskasse bezahlen, wenn man es auch über Belohnung, Preise und Trophäen regeln kann. Menschen, die eine Polizei-Funktion erfüllen, müssen nicht im Dienst der Polizei oder der Kirche stehen. Es genügt, wenn sie Abgesandte oder Steuerpächter sind, sprich Menschen, die im Namen des Staates Steuern eintreiben.

    Das Geniale an diesem Trick ist, dass der Staat noch so klein und sparsam sein kann, es gibt dennoch niemanden, der von oben auf ihn schauen könnte. Denn alle sind seine Pächter – keine gleichgestellten Partner, und schon gar keine Wider­sacher.

    Selbst der potenziell am besten geeignete Kandidat für diese Rolle, die Kirche, kann sie nicht erfüllen. Wirklich seltsam, wie ich vor 25 Jahren denken konnte, dass nicht nur die Kirche, sondern auch die Kunst und die bürgerlichen Kräfte zutage treten und den Staat durch ihr Bestehen in die Schranken weisen würden. Dass unab­hängige Gemeinden vom Sockel der Tradition und der Erfahrung des katastrophalen 20. Jahrhunderts auf den Staat blicken würden.

    Aber wie sich herausgestellt hat, gibt es niemanden, der so von oben auf den Staat schauen könnte. Alle brauchen und wollen, dass er ihnen etwas zuteilt oder sie an die nächste Kreuzung stellt, damit sie dort Geld eintreiben.

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  • Das Labyrinth der Pandora

    Das Labyrinth der Pandora

    Was heißt Regieren und Regiert-Werden in Russland? Wie funktioniert das politische System überhaupt, nach welchen Regeln wird hier gespielt? Und hat das alles eine Zukunft?

    Wer all diese Fragen beantworten möchte, müsste eigentlich eine Dissertation verfassen. Der renommierte Journalist Maxim Trudoljubow dagegen, Redakteur der Wirtschaftszeitung Vedomosti, vertraut der kurzen Form: In seinem Essay auf Inliberty.ru verdichtet er hochkomplexe Zusammenhänge in starker Metaphorik. Und schreibt dabei unter anderem an einer Debatte zur politischen Ethik fort, die sein Kollege Andrej Archangelski eröffnet hatte – mit der These, dass sich nach dem Ende der Sowjetunion ein breites ethisches Loch aufgetan hätte, auch in der Politik.

    MAUS IM LABYRINTH

    Läuft eine Maus durch ein Labyrinth, muss sie sich den Gesetzen des Labyrinths unterwerfen – und all ihre Kräfte darauf verwenden, sich in der sich ständig wandelnden Konstruktion zurechtzufinden. Sie muss die nächste Abzweigung suchen und dann weiterrennen. Sie hat keine Leiter, auf die sie klettern und dann schauen könnte, wie die Wege aussehen, die sie entlangrennt. Sie hat keinen Überblick und weiß nicht einmal, dass es sich um ein Labyrinth handelt. Wegweiser oder Beschriftungen gibt es nicht – nur Türen und Gänge, Gänge und Türen. Sie kann die Wände nicht durchbrechen, sie weiß nicht, dass das möglich ist, und sie ist nicht verpflichtet, es zu versuchen. Tut sie es doch, kann sie wegen Beschädigung der Wand bestraft werden. Man kann der Maus also kaum vorwerfen, dass sie nicht versucht, die Wand zu durchbrechen.

    Aufgabe der Legislative: Nicht die Experten stören!

    Lassen Sie uns eine kleine Zeitreise machen und für einen Moment in die Werkstatt schauen, in der das Labyrinth gebaut wird:

    Einer der Architekten ist Igor Schuwalow, der Erste Stellvertretende Premierminister Russlands. Er ist es, der die Idee der Unterordnung der Legislative unter die Exekutive formuliert hat, und zwar in seiner Dissertation Die Regierung der Russischen Föderation im Prozess der Gesetzgebung aus dem Jahr 2004. Er wollte seinerzeit begründen, dass die Regierung der beste Gesetzgeber ist: „Die meisten Entwürfe für föderale Gesetze sollten von der Regierung kommen. Die dortige Praxis und die tatsächlichen Verhältnisse sind derzeit oft der föderalen Gesetzgebung voraus. Die Regierung der Russischen Föderation verfügt über beträchtliche Möglichkeiten und ist in der Lage, diese Prozesse zu verfolgen.“ Sprich: Aufgabe der gesetzgebenden Gewalt ist es, die Experten nicht bei der Arbeit zu stören.

    Herrschaft der Technokraten

    Schuwalow ging es vor allem um die Gesetzgebung. Die Manager, die mit Medien, NGOs und Unternehmen arbeiteten, haben zwar keine Dissertationen hinterlassen, aber ihre Argumente sind ähnlich: Schafft uns die Demagogen aus den Augen und lasst uns arbeiten, arbeiten, arbeiten. Wir kennen das aus dem, was Alexej Wolin über die Medien gesagt hat und wie sich Wladimir Putin über gesellschaftliche Organisationen äußerte: Gesetze, Medien, Unternehmen und Zivilgesellschaft, das sind Instrumente für die, die wissen, was zu tun ist. Die Schöpfer und Betreiber des derzeit in Russland herrschenden Systems nehmen das System nicht als autokratisch oder als „Putins Diktatur“ wahr, sondern als Herrschaft von Experten, von Meistern, von Leuten, die sich auskennen – also als Technokratie.

    Politik der „Projekte“

    Was wir um uns herum wahrnehmen, ist das Ausarten einer Expertokratie. Es sind Exzesse einer versuchten Rückkehr zu nutzenorientierter Politik, zu einer Politik in „Projekten“ und dazu, dass der Erfolg von Politik mit den Begriffen effektiv und nicht effektiv gemessen wird.

    Die Bürger, die einfachen Beobachter, nehmen dieses System nicht als Technokratie wahr, sondern als Regime einer gewissenlosen Elite, die jedwede Orientierung verloren hat, weil sie nie für irgendetwas bestraft wird. Doch das wiederum will das System nicht verstehen. Die Systemadministratoren denken, dass nur Inkompetente, Unwissende und Zurückgebliebene dort ein Übel vermuten, wo die Administratoren selbst lediglich zu behebende Bugs und entsprechende Kosten ausmachen.

    2011 hat die Gesellschaft versucht, wieder ethische Werte  in Umlauf zu bringen: Das Gute und das Böse, Wahrheit und Lüge wurden für kurze Zeit zu Maßstäben für die Legitimität der Staatsmacht. In Russland drohte plötzlich die „Gefahr“, dass Ethik im politischen Raum eine Rolle spielen könnte. Und selbst wenn wir der These folgen würden, dass die Proteste zumindest in gewissem Maße von einem einzelnen, abgespaltenen Teil der Elite inszeniert wurden, so ist das zwar ein Versuch „von oben“ – aber eben doch ein Versuch, sich eine Ethik anzueignen.

    Mobilmachung entlang der Linie Freund – Feind

    Die Systemadministratoren antworteten mit einer punktgenauen Verteilung von Wohltaten und einer eiligen Totalmobilmachung entlang der Linie Freund – Feind. Es begann die Verfolgung ausländischer Förderer, Verleger, Lehrer und ihrer Agenten.  

    Dann initiierte Russland bewaffnete Konflikte, die die russische Gesellschaft in ihrer Haltung gegenüber den Feinden polarisierten – wer ist nicht alles als Feind gebrandmarkt worden an einer der launischen Biegungen der Generallinie.

    Alles ging den Technokraten leicht von der Hand, weil sie wissen, auf welchem Nährboden sie operieren. Die russische (sowjetische) Massenkultur ist vom Feindesmotiv durchzogen. Wo bei den Amerikanern das Böse zu finden ist, ist bei uns der Feind – also muss man einen Krieg anzetteln.

    Gefangene einer monströsen Illusion

    Die aktuelle Lage ist kompliziert. Nicht, weil Ideologen oder Nationalisten an der Macht wären, sondern weil es „Ultrarealisten“ sind, die das Land führen. Leute, die davon überzeugt sind, dass sie die verrottete Natur des Menschen durch und durch kennen, dass sie über alle Daten zur Gesellschaft und Wirtschaft Russlands verfügen und dass sie in der Lage sind, dem undankbaren Publikum eine ausreichende Menge Nutzen zu bringen. Vielleicht sind diese Leute Zyniker – wer weiß? Gut möglich aber auch, dass sie Gefangene einer monströsen Illusion sind.

    Viele Einzelmechanismen, die technische Kenntnisse und Fertigkeiten erfordern, funktionieren: Die Zentralbank funktioniert, Dokumente durchlaufen Abstimmungsprozesse, Nationale Projekte werden aufgelegt und umgesetzt.

    Wobei die Ergebnisse nach unabhängigen Maßstäben, die gerade die technokratischen Leistungen erfassen, katastrophal sind: Die Arbeit unserer staatlichen Verwaltung hält in Hinblick auf ihre Qualität einem Vergleich mit den Nachbarländern nicht Stand, die Staatsausgaben sind ineffizient und wirken sich negativ aus, außerdem wurden keine Wachstumsquellen erschlossen, die von den Rohstoffvorkommen unabhängig wären.

    Ein Labyrinth mit sich ständig ändernden Routen

    Doch gibt es niemanden, der an das Handeln der „Meister“ eine solche Messlatte anlegt; diejenigen, die das hätten tun können, wurden geschasst. Das Ganze gerät zu einem l’art pour l’art: Diese Konstruktion, geschaffen von Experten zu dem Zweck, sich gegen alternative Bewertungen abzusichern, ist ein Labyrinth mit sich ständig ändernden Routen. Das permanente Verschieben der Verbindungen zwischen den Gängen (das Revidieren von Gesetzen, die Änderung der Spielregeln) ist für die Betreiber notwendig, damit sie keiner bei der Arbeit stört. Ungestörtes Handeln ist ihr Hauptzweck, ein anderes erklärtes Ziel haben sie nicht.

    All das geschieht des Labyrinthes wegen: um es weiter umbauen zu können, damit es möglichst wenig Mäuse schaffen, den Kopf zu heben und sich zu überlegen, wie man hinter die Trennwände schauen könnte.

    Die in Russland geschaffene Architektur der Gesellschaft ist sinnlos und gleichzeitig äußerst klug. Klug in dem Sinne, dass sie einen bedingungslosen Gehorsam programmiert. Und zwar nicht einen Gehorsam gegenüber einer Idee, sondern gegenüber der Aufgabe, durch Gänge zu rennen, die ständig verschoben werden.

    Wenn dem so ist – ist das System dann nicht eigentlich harmlos? Wäre dann nicht das Schlimmste, was es anrichten kann, dass es der Maus Holzlatten und Nägel wegnimmt, wenn sie versucht, sich eine Leiter zusammenzuzimmern, um die Konstruktion von oben zu betrachten? Zumal es manchen Mäusen diese Materialien sogar lässt und sich nicht besonders daran stört.

    Revolution ohne Banner

    Es gibt hinter den Wänden auch gar nicht viel zu sehen. In der Banalität des Bösen untersucht Hannah Arendt eingehend das Verhalten eines Menschen, der sich weigert, den Kopf zu heben und sich bewusst zu machen, an welchem systemischen Verbrechen er beteiligt ist. Hinter den damaligen Verbrechen standen Führer, die Gesetze waren verbrecherisch und nahmen Millionen Menschen ihre Würde, und alles fand im Zeichen einer für jeden sichtbaren Flagge statt. Auch das sowjetische System hatte seine Flaggen und seine Ideologie; es proklamierte seine eigene Idee des gesellschaftlichen Wohls, auf das jeder seinen Eid abzulegen hatte, der in die führende Partei eintreten wollte, und damit, potentiell, in die Elite.

    Unsere Architekten hingegen tragen keinerlei Flaggen, auf denen etwas geschrieben steht, sie stehen nicht für die Idee irgendeines Wohls, nicht einmal eines willkürlich verkündeten. Welche Flagge halten die Präsidentenberater, der Premierminister und seine Stellvertreter denn hoch? Das sind Fachleute, Verwalter, und mehr nicht. Und sie arbeiten immer besser, weil sie auf immer weniger Barrieren stoßen. Schon sind Telegraphenstation, Fernsprechamt, Postämter, Fabriken, Parteien, gesellschaftliche Organisationen, Künstler- und sämtliche anderen Verbände erobert.

    Doch halt – ist das alles nicht das Gleiche, was schon vor einem Jahrhundert Menschen taten, die mit einer machtvollen revolutionären Idee gewappnet waren? Es ist ähnlich und unähnlich zugleich, denn es gibt jetzt kein niedergeschriebenes Programm, und die Leute kommen auch nicht in Lederjacken daher, sondern in Anzügen, und das alles hat keinen Namen.

    Man verzichtet darauf, die Dinge beim Namen zu nennen

    Ja, es hat keinen Namen – und hierin liegt das Geheimnis und der Sinn des Ganzen. Man verzichtet darauf, die Dinge beim Namen zu nennen (Enteignung ist nicht Enteignung, Krieg ist nicht Krieg, ein abgeschossenes Flugzeug ist kein abgeschossenes Flugzeug), und damit auch auf ethische Urteile. Mehr braucht es nicht. Darin besteht schon der Eid – und damit akzeptiert man gleichzeitig ein System, das derart in Freund und Feind unterscheidet.

    Das ist selbst in Kleinigkeiten bemerkbar: Die neuernannte Chefredakteurin einer Zeitschrift fühlt sich genötigt, in einem Interview zu erklären, dass sie auf Berufsethos verzichte.

    Der Eifer, mit dem das System alle, selbst potentielle, Quellen ethischer Urteile bekämpft, zeugt davon, dass genau hier der Übergang zur Politik stattfindet. Kontrollierte Medien, Organisationen und Prominente verzichten auf Werturteile. Und werden so zu Instrumenten, um Freund, die eigenen Leute, von Feind, den anderen, abzugrenzen.

    Gleichzeitig können anscheinend jene, die nicht auszuschalten sind, im politischen Bereich für zehn arbeiten. Die erstaunliche Leistung Alexej Nawalnys besteht darin, dass er – auch wenn er von einer unmittelbaren Beteiligung am politischen Prozess ausgeschlossen ist – dort gleichwohl als Institution präsent ist. Das Gewicht, das seine Untersuchungen und Einschätzungen zu politischen Figuren erlangen, und die Kräfte, die darauf verwandt werden, um die jeweils Betroffenen reinzuwaschen (jetzt ist es der „Architekt“ Igor Schuwalow selbst; zuvor hatte es Juri Tschaika, Maxim Liskutow, Wladimir Jakunin, Andrej Kostin und viele andere getroffen), belegen etwas Wichtiges: Eine Politik zu betreiben, die jegliches moralisches Urteilen über das Regime unmöglich machen will, gelingt nur mit übermäßiger Kraftanstrengung. Der Utilitarismus, der dabei herauskommt, ist ein schadhafter. Und die moralische Entrüstung schafft sich dennoch Gehör. Schließlich ist Nawalny nicht der einzige, der dieses Feld bearbeitet. Ob man es will oder nicht: Es gibt außer ihm auch andere, und es wird sie weiterhin geben.
    Das Bedürfnis, das aktuelle Geschehen moralisch zu beurteilen, ist stärker als alle Versuche, eben dieses Bedürfnis medientechnologisch zu neutralisieren. Selbst eine für Ethik taube Gesellschaft wie die russische will einen Austausch darüber, was „gut“ ist, und was „schlecht“. Weil der Mensch eben nicht nur ein politisches Wesen ist, sondern auch ein moralisches.

    Büchse der Pandora

    Das ist eine gute Nachricht und eine schlechte zugleich: Es bedeutet einen Haufen Risiken für die Zukunft, weil es ein potentielles Schlachtfeld gegen das politische Böse eröffnet. Jene Macht ohne Banner und Namen, die endlos ihr Labyrinth errichtet, um die Versuchsmäuse mit irgendeiner physischen Aktivität beschäftigt zu halten, produziert gleichzeitig eine riesige Büchse der Pandora. Dort stopft sie ihre Verbrechen hinein, Verbrechen, die im Namen vom Nichts begangen und auch nicht als Verbrechen bezeichnet werden, und schöpft ihre Daseinsberechtigung aus der Überzeugung: Was nicht benannt wird, das existiert auch nicht.



    Diese Übersetzung wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

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  • Symbolischer Wohlstand

    Symbolischer Wohlstand

    Der ungeschriebene russische Gesellschaftsvertrag scheint sich zu wandeln: Statt materieller Sicherheit bietet der Staat seinen Bürgern nun zunehmend eine Art seelischen oder moralischen Bonus. Eine durchaus zweischneidige Art der Kapitalanlage, meint Maxim Trudoljubow von den Vedomosti.

    Wenn das Geld ausgeht, müssen die Herrschenden, wer auch immer es sei, von einer großzügigen Sozialpolitik übergehen zu einem reichen spirituellen Leben. Statt Brot zu verteilen, nährt man selbstlosen Patriotismus. Statt Freiheiten zu gewähren, zieht man die Zügel straff.

    Die Grundlage des ungeschriebenen Vertrags mit dem Kreml war lange Zeit eine ganz und gar materielle: Der Anstieg des Realeinkommens gewährleistete das Einverständnis mit der generellen Linie der Chefetage. Aber in irgendeinem Moment – möglicherweise wegen des Maidans, möglicherweise wegen des Abfalls des Ölpreises – hörte diese Grundlage auf, materiell zu sein. Zwischen den Bewertungen der Wirtschaftslage des Landes und den Popularitätsratings des Kreml besteht insofern kein Zusammenhang.

    Plötzlich war der Wohlstand, der stets das zentrale Thema der Verhandlungen mit der Staatsmacht war, nicht länger materiell sondern symbolisch. Und sogar der wichtigste russische Indikator, den man längst in den Medien anstelle von Börsenindizes und Wechselkursen veröffentlichen müsste – das Beliebtheits-Rating des Präsidenten – spiegelt heute nicht mehr den Sättigungsgrad des Konsumhungers wider, sondern die Verbesserung des symbolischen oder moralischen Selbstgefühls eines bedeutenden Teils der Bevölkerung.

    Es muss viele geben, die zum Glauben ans Symbolische bekehrt wurden – über die gewaltige Zahl sprechen all jene, die Stimmen auszählen und in der Gesellschaft Meinungen zu dem ein oder anderen Thema erfragen (ob man das, was die Menschen im heutigen Russland auf die Fragen in Interviews antworten, als frei geäußerte Meinungen ansehen kann, soll bitte jeder selbst entscheiden).

    Der neue Wohlstand hat wohl kaum direkt etwas zu tun mit der subjektiven Befriedigung im Leben – mit dem, was der Einfachheit halber in verschiedenen internationalen Indizes Glück genannt wird. Das ist ein modischer Kennwert, der seinerzeit sogar das Bruttosozialprodukt ersetzen oder ergänzen sollte. Das Glücksniveau in der Russischen Föderation ist in den Putin-Jahren gestiegen, bleibt aber niedrig. Der Index Happy Planet beispielsweise versucht  zu messen, in welchem Maße ein Staat dazu in der Lage ist, seinen Bürgern ein langes, stabiles und gesundes (auch in ökologischer Hinsicht) Leben zu ermöglichen. Russland steht in diesem Index auf Platz 122 von 151. Im World Happiness Report, der die subjektiv empfundene Lebensqualität erfasst, belegt Russland Platz 64 von 158. Und wenn man den ganz und gar [staats-]loyalen Sozialen Optimismus betrachtet, der von dem russischen Meinungsforschungzentrum WZIOM erhoben wird, so zeigt sich, dass dieser sinkt: Im August 2014 betrug der Index der Lebenszufriedenheit der Russen 77 Punkte, im August 2015 lag er bei 56 Punkten.

    Im Grunde handelt es sich hierbei weder um Zufriedenheit mit dem Leben, noch um Freude über seine hohe Qualität, Dauer oder seine allgemeinen Annehmlichkeiten. Vermutlich ähnelt der russische symbolische Wohlstand einem moralischen Wohlbefinden, das üblicherweise darin besteht, dass man bei einem Streit auf Seiten der Guten ist oder in einem Kampf mit dem Bösen und der Dunkelheit auf Seiten des Guten und des Lichts. Ein tiefes Gefühl der eigenen Richtigkeit, vor dem Hintergrund der Unrichtigkeit aller anderen; die Freude, Teil von etwas Großem und Starkem zu sein; die Befriedigung, es „dem Westen gezeigt zu haben“. Möglicherweise gesellt sich hier auch ein Gefühl von Geborgenheit hinzu – ein Leben hinter Festungsmauern. Dieses Gefühl von Geborgenheit findet übrigens keine faktische Entsprechung, da jeder durch Zufall den Spezialkräften im Namen eben jener Sicherheit zum Opfer fallen kann, doch darum geht es jetzt nicht. Es geht darum, dass die Menschen umgesiedelt sind: aus Russland in eine magische Welt der Symbole.

    Und noch etwas. Es mag eine Festung sein, aber es ist kein Zufluchtsort. Flüchtende aufzunehmen oder solche, die ein besseres Leben suchen, will und kann Russland nicht. Menschen aus anderen Ländern, einschließlich der Syrer oder Ukrainer (an deren Wunsch, ihr Land zu verlassen, Russland heute unmittelbaren Anteil hat), die aufrichtig in Russland leben und arbeiten wollen, haben es extrem schwer, hier unterzukommen. Das Verhältnis zu Migranten in der russischen Festung ist offen feindselig, aber auch das ist offensichtlich Teil des moralischen Wohlbefindens und des symbolischen Wohlstands, der für die Gesellschaft so unabdingbar ist.

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