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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Das russische Koordinatensystem

    Das russische Koordinatensystem

    Während russische Angriffe in der Ukraine täglich Menschen töten und das Land immer weiter zerstören, kreist die russische Perspektive auf den Krieg vor allem um sich selbst: Im Staatsfernsehen wird die Invasion in einer Täter-Opfer-Umkehr gerechtfertigt und als Selbstverteidigung Russlands gegen die NATO dargestellt. Oppositionelle, die den Krieg ablehnen, machen sich häufig nicht bewusst, dass mit dieser vermeintlich „persönlichen Haltung“ nicht alles gesagt ist: Der Status als Aggressor hat Russlands Ansehen und Position in der Welt nachhaltig verändert. Um die Auswirkungen des Kriegs jenseits der persönlichen Befindlichkeit zu erkennen, empfiehlt der russische Journalist Maxim Trudoljubow den Russen, sich und ihr Land von außen zu betrachten.

    Gehen wir mal aus uns heraus. Der Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, wird im russischen Diskurs häufig hermetisch betrachtet – aus dem Inneren des Russki Mir, der russischen Welt, heraus und mit Verweisen auf Eckpunkte aus der Geschichte Russlands. Die Menschen reden darüber, wie sich der Krieg auf ihr Leben auswirkt, streiten über seine Bedeutung für die russische Kultur, für die Emigrierten und die Verbliebenen, für die Zukunft – auf persönlicher und nationaler Ebene.

    Aber der von Russland entfachte Krieg ist nicht nur ein Kapitel der russischen Geschichte, sondern auch eines der ukrainischen, der europäischen und der Weltgeschichte. Den Großteil des Leids bekommt die Ukraine ab. Sollte jemand das moralische Recht haben, sich abzuschotten, dann sind es die Ukrainer. Für diejenigen Russen, die in Sicherheit sind und sich frei fühlen – ob ausgereist oder nicht – ist eine solche Konzentration auf sich selbst nicht angebracht. Dass die Propagandisten das machen, ist ja klar. Sie fokussieren auf das in ihren Augen „gute“ Nationale. Aber oft (nicht immer, natürlich) machen die freien Russen dasselbe, nur unter anderem Vorzeichen. Die einen wie die anderen irren umher im russischen Wald. Aus dem herauszukommen es längst an der Zeit ist.

    Irren umher im russischen Wald

    Russen, die wenigstens ein bisschen Sinn zum Reflektieren haben, sollten lernen, sich nicht nur durch das nationale oder imperiale Prisma zu betrachten. Ein anderer Blickwinkel auf sich selbst, der sich anbietet, ist der ukrainische.

    Es gibt eine große ukrainische Kultur, die jetzt eine Wiedergeburt erfährt. Man kann Serhij Zhadans Tagebuch lesen. Es gibt eine große Kultur, die vor dem Krieg entstand. Darüber diskutiert man in der Ukraine. Es gibt auch bereits Umfragen zur Beziehung von Ukrainern zu Russen und Russland.

    Betrachtet eure Äußerungen und öffentlichen Handlungen aus der Perspektive der Ukrainer. Sogar denen, die gegen den Krieg sind, kann das zu Demut verhelfen. Es bedeutet, sich selbst mit den Augen eines Menschen zu sehen, der täglich mit dem Tod konfrontiert ist – in den Nachrichten, in der Nachbarschaft, in der Familie. Stellt euch vor, wie das Dilemma „gehen oder bleiben“ für Ukrainer aussieht, und der russische Streit zwischen Ausgewanderten und im Land gebliebenen Russen verliert seine Wichtigkeit. 

    Betrachtet eure Äußerungen aus der Perspektive der Ukrainer

    Es gibt einen Blickwinkel, der die großen globalen Prozesse berücksichtigt – auf wirtschaftlicher, sozialer, ökologischer oder auf Gender-Ebene. Keine Diktatur kann große Veränderungen aufhalten. Das Bemühen, wirklich zu verstehen, wo Russland in diesen Prozessen steht – was gebremst und was beschleunigt wird – hilft uns, unseren Blick im Endeffekt wieder auf uns selbst zu richten. Es ist wichtig zu erkennen, welche Folgen die Handlungen des russischen Staates und der russischen Gesellschaft (auch die Migration) auf andere Gesellschaften haben und wie sie dort wahrgenommen werden.

    Die russische Geschichte ergibt isoliert von anderen „Geschichten“, Zusammenhängen, Vergleichen keinen Sinn. Das gilt für die Geschichte jeder Nation. Doch gerade im Fall Russlands hat sich Selbstbezogenheit, die Illusion eines „nationalen Schicksals“ oder „Sonderwegs“ als unglaublich mächtiger Kulturfaktor erwiesen, der letztlich diesen Krieg vorbereitet hat.

    Die Selbstbezogenheit hat letztlich diesen Krieg vorbereitet

    Wenn man glaubt, dass alles auf der Welt wegen, für oder gegen Russland passiert – und das ist Putins Credo –, so kann das im Krieg gipfeln. Allein die Annahme, Russland sei das Zentrum der Welt und nicht nur einer von vielen Teilen im globalen Geschehen, fördert die Zustimmung zum Krieg und seine Akzeptanz. Gesellschaft und Staat sind von diesem Gift geschädigt. 

    Ein Koordinatensystem mit ausschließlich russischen Koordinaten, Autoren, Texten und historischen Daten gibt es nicht mehr. Wir dürfen keine Angst haben und sollten der Fratze, die Russland der Welt zugewandt hat, furchtlos ins Gesicht sehen. Das geht nur von außen – von innen ist sie nicht zu sehen. Und dann wird eine Diskussion zur Vielschichtigkeit der russischen Kultur sinnvoller – wenn es noch Wörter gibt.

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  • Die schwindende Macht der Angst

    Die schwindende Macht der Angst

    Seit einem Jahr versucht Russland, die Ukraine in einem offenen Angriffskrieg zu unterwerfen. Nach einem massiven Truppenaufgebot entlang der ukrainischen Grenze hatte man im Kreml offenbar mit einem eingeschüchterten Gegner und einem schnellen Durchmarsch bis Kyjiw gerechnet. Doch es kam alles anders: Bereits im März 2022 musste sich die russische Armee aus den Gebieten um die ukrainische Hauptstadt zurückziehen, im Herbst konnte die Ukraine – insbesondere mit Hilfe von Waffenlieferungen der westlichen Verbündeten – große Teile der Oblaste Charkiw und Cherson zurückerobern und leistet weiter massiven Widerstand.

    Auf Meduza blickt Maxim Trudoljubow zurück auf dieses Jahr des Schreckens und bilanziert, dass sich die Angst als eine außenpolitische Ressource für Moskau weitgehend erschöpft habe, im Inland jedoch nach wie vor die gewünschte Wirkung zeige. 

    Zu Beginn des Krieges erwarteten Präsident Putin und seine Berater einen schnellen Erfolg mit wenig Krafteinsatz – Widerstand der Ukraine war jedenfalls nicht eingeplant. Die ukrainische Gesellschaft und vor allem die politische Führung der Ukraine, so hoffte man im Kreml, würde sich von der Truppenzusammenziehung an der Grenze einschüchtern lassen – und später dann vom Einmarsch, der gleich aus mehreren Richtungen erfolgte. Immer wieder erklären Militärexperten, die russische Armee sei nicht stark genug, ukrainisches Territorium zu erobern und zu halten. Mittlerweile belegen nicht nur Hinweise, sondern handfeste Fakten, dass Russland keinen langwierigen Krieg geplant und gehofft hatte, die Ukraine in Schockstarre einzunehmen. Der Sieg in der Ukraine hätte ein „moralischer“ werden sollen, errungen nicht durch Gewalt, sondern durch Demonstration von Stärke.

    Putin konnte den Widerstandswillen der Ukraine nicht brechen – trotz Tod und Zerstörung

    Trotzdem ist die russische Armee fähig, der Ukraine in enormem Ausmaß Tod und Zerstörung beizubringen. Da es Putin nicht gelungen ist, den Widerstandswillen der Ukraine zu brechen, nachdem er also eine moralische Niederlage davongetragen hat, setzt er auf materielle Zerstörung und auf Zermürbung. Daten der UNO zufolge gibt es bereits 18.000 zivile Todesopfer, bis zu 50 Prozent der Energie-Infrastruktur sind zerstört oder beschädigt. An die 40 Prozent der Gesamtbevölkerung sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Vor dem Hintergrund dieser von Russland verursachten humanitären Katastrophe ist die Furchtlosigkeit der Ukrainer erstaunlich.

    Das vergangene Jahr hat gezeigt, wie wichtig es für Russland in seinen internationalen Beziehungen war, einen starken Eindruck zu machen. Russlands Potenzial brachte andere Länder dazu, Russland zumindest in Fragen der Sicherheit und Energieversorgung ernst zu nehmen, ja sogar auf Russland zu zählen. Indem es diesen Eindruck erweckte, verfügte Russland über eine Wirkmacht, die mehr auf einer Erwartung denn auf Tatsachen beruhte. Das ist jene Art von Macht, die nur so lange wirkt, bis sie vor der Wirklichkeit standhalten muss. 

    Auch in seinem Energiekrieg gegen Europa setzt der Kreml auf Einschüchterung. Die Europäer hätten sich vor dem Zudrehen des Gashahns fürchten, ihre Abhängigkeit einräumen und um Wiederaufnahme der Gaslieferungen bitten sollen. Den Export von Gas nach Europa hat Russland nicht beschränkt, weil es unter Druck stand, nicht wegen der Sanktionen, sondern freiwillig, um etwas in der Hand zu haben, womit es seinerseits eine Aufhebung der Sanktionen erzwingen kann. Ende September wurde der zu diesem Zeitpunkt bereits minimierte Export über die Pipeline Nord Stream 1 aufgrund einer Sprengung der Rohre vollends eingestellt. Der Kreml schiebt den Anschlag auf die Rohre England und Amerika in die Schuhe, die USA – dem Kreml. Europäische Beamte sprechen von einer möglichen Sabotage, mit unausgesprochenem Verweis auf Russland. Bisher konnte keine der Versionen bewiesen werden.

    Europa hat nicht gefroren – trotz 88 Prozent weniger Gas aus Russland

    Jedenfalls wurde der Export russischen Gases im ersten Kriegsjahr um 45 Prozent verringert, der nach Europa sogar deutlich mehr, nämlich um 88 Prozent. Dabei hat Europa nicht gefroren, sondern hat es geschafft, in Rekordzeit einen Teil durch Flüssiggas zu ersetzen und das, was bereits eingelagert war, effizienter zu nutzen. Begünstigt wurde das durch volle Speicher (unter anderem mit schon früher aus Russland bezogenem Gas) und einen milden Winter. Anfang Januar kehrte der Gaspreis am europäischen Handelspunkt TTF auf Vorkriegsniveau zurück. Außerdem hat Deutschland sich schleunigst in Wilhelmshaven ein eigenes Flüssiggas-Terminal zugelegt, das auch bereits in Betrieb ist. Vor dem Krieg gab es kein solches Terminal, weil Politik und Industrie in Deutschland jahrzehntelang von langfristigen, verlässlichen Lieferungen aus Russland ausgingen. 

    Eine Rückkehr zum früheren gegenseitigen Vertrauen und einer dementsprechenden Kooperation mit Europa und dem Westen wird es in der Energieversorgung nicht mehr geben, auch nicht, wenn die gesprengten Leitungsrohre repariert werden. Der Energiekrieg ist natürlich noch lange nicht beendet, und der nächste Winter kann für Europa schwieriger werden als der aktuelle, allein schon deswegen, weil die Auffüllung der Speicher mit unvorhersehbar teurem Flüssiggas mehr kosten wird als das billige Erdgas. Aber in welche Richtung es geht, ist entschieden: Laut dem Jahresbericht der Internationalen Energieagentur hat der Krieg den Übergang der größten Länder zu erneuerbaren Energien immens beschleunigt. Obwohl sie noch nicht vorherrschen, werden sie größtenteils den wachsenden Energieverbrauch tragen. Der Anteil Russlands am weltweiten Erdöl- und Erdgasmarkt wird diesen Berechnungen zufolge bis zum Jahr 2030 um 50 Prozent zurückgehen und kaum jemals wieder auf das Vorkriegsniveau zurückkehren. Infolge des eigenen Handelns wird Russland langfristig keine Energie-Supermacht mehr sein.

    Drohung mit Atomwaffen – als einseitiger Angriff von seiten Putins

    Der Faktor Angst hätte auch nach Russlands Drohung mit Atomwaffen Wirkung zeigen sollen. Die vielen zuweilen mehr, zuweilen weniger kreativen Äußerungen zu diesem Thema lassen sich so zusammenfassen: Einerseits kann Russland gemäß seiner Militärdoktrin Atomwaffen nur einsetzen wenn es als Staat von außen mit einer Aggression und Bedrohung konfrontiert ist; andererseits kann Russland auch selbst damit anfangen. Bei einem Treffen mit dem UN-Menschenrechtsrat erklärte Putin, im Grunde könne auch von Seiten Russlands die nukleare Bedrohung eskalieren:  

    „Zum Thema, dass Russland auf keinen Fall als erstes [Atomwaffen] einsetzen wird. Wenn es sie tatsächlich unter keinen Umständen als erstes einsetzt, dann wird es sie auch nicht als zweites einsetzen. Denn nach einem nuklearen Angriff auf unser Staatsgebiet werden unsere Einsatzmöglichkeiten stark begrenzt sein.“ 

    Stark verkürzt ist das Putins „Philosophie“, mithilfe derer er sich und anderen erklärt: Wäre Russland nicht in die Ukraine (den Westen) einmarschiert, so hätte der Westen, vertreten durch die Ukraine, Russland angegriffen. Indem Russland den Krieg begonnen hat, versuche es ja nur, ihn zu beenden.  

    Behalten wir diese Formulierungen im Hinterkopf und sehen uns an, inwieweit sich die jetzige Situation von gefährlichen Scheidewegen in der Geschichte unterscheidet. Das heutige Russland ist in einer anderen Position als die USA 1945, als sie die Atombombe auf Japan warfen. Das Aggressor-Land Japan war am Verlieren, während die USA eine führende Rolle in der siegreichen Anti-Hitler-Koalition innehatten. Später veröffentlichte Dokumente haben gezeigt, dass die Bomben, die über Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurden, den Ausgang des Krieges kaum beeinflussten und vielmehr eine Machtdemonstration waren, die über 200.000 Zivilisten das Leben kostete.

    Auch mit der atomaren Konfrontation des Kalten Krieges hat die heutige Situation keine Ähnlichkeit. Die Nervenduelle während der Kubakrise 1962 und während des Able-Archer-Manövers 1983 entstanden durch die Intransparenz der Handlungen beider Parteien und durch Befürchtungen, das Gleichgewicht des Schreckens zwischen den beiden Supermächten könnte aus dem Lot geraten. In beiden Fällen hatten die Parteien Angst, der Gegner könnte Oberhand gewinnen oder sogar den „finalen“ Krieg beginnen. 1962 hegte die US-Regierung den Verdacht, die UdSSR bereite von Kuba aus einen Atomschlag gegen Amerika vor. 1983 wiederum glaubte die Sowjetunion, dass die westlichen Staaten unter dem Deckmantel von Militärübungen von westeuropäischem Territorium aus einen Atomschlag gegen die UdSSR vorbereiten.  

    „2022 versucht Putin nicht, ein ins Wanken geratenes Gleichgewicht des Schreckens mit den USA auszugleichen, denn dieses Gleichgewicht war ja jetzt nicht in Gefahr“, schreibt Fiona Hill, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Brookings Institution und ehemalige Beraterin mehrerer US-Präsidenten. „Stattdessen droht Putin mit einem einseitigen Angriff, weil er einen Krieg verliert, den er selbst begonnen hat.“

    Heutzutage sind dank hochentwickelter Technologien, darunter nachrichtendienstlichen, alle Pläne und Truppenbewegungen transparent. Der Versuch der Manipulation mit Ängsten aus der Vergangenheit ist so durchschaubar, dass sie weniger erschaudern lässt als in früheren Situationen. Die westlichen Gegner in Schockstarre zu versetzen, ist dem Kreml nicht gelungen. 

    Die russische Gesellschaft wird in Angst versetzt – bereits die gesamten Putinjahre hindurch

    Die russische Gesellschaft in Angst zu versetzen – das betreibt der Staat bereits die gesamten Putinjahre hindurch, und im vergangenen Jahr hat er seinen Aufwand verdreifacht. OWD-Info nennt die Repressionen, die die russischen Behörden im letzten Jahr angestrengt haben, „präzedenzlos“. Die Zahl der Strafverfahren, die allein im letzten Jahr als Folge von Anti-Kriegs-Aktionen eingeleitet wurden (378), ist vergleichbar mit der Zahl aller Verfahren, die in den zehn Jahren davor im Zusammenhang mit repressiven Maßnahmen eingeleitet wurden, angefangen mit den Bolotnaja-Prozessen. 

    Diese Verfolgungen wurden durch einen kurzfristig ausgearbeiteten Rechtsrahmen ermöglicht. Im vergangenen Jahr wurde das Strafgesetzbuch der Russischen Föderation (RF) um Paragrafen zur „Verbreitung wissentlicher Falschinformationen über den Einsatz der Streitkräfte der RF“ und zu „öffentlichen Handlungen, die den Einsatz der Streitkräfte der RF diskreditieren sollen“ erweitert. Strafbar sind nun auch die „vertrauliche“ Zusammenarbeit mit ausländischen Staaten und Organisationen, öffentliche Aufrufe zu Handlungen, die gegen die Staatssicherheit gerichtet sind, und die Verletzung der Vorschriften zum Schutz des Staatsgeheimnisses.   

    Verabschiedet wurden allgemeine Gesetze zur „Kontrolle der Aktivitäten von Personen, die unter ausländischem Einfluss stehen“ (also von allen „ausländischen Agenten“) und Gesetze, die die sogenannte Propaganda „nichttraditioneller sexueller Beziehungen“ gänzlich verbieten

    Ein wichtiges Instrument, um Druck auf die Gesellschaft auszuüben, war auch – zweifellos mit Putins Segen – der Aufstieg des Unternehmers Jewgeni Prigoshin. Wobei Prigoshins Höhenflug kein Beweis dafür ist, dass der Staat sein Gewaltmonopol eingebüßt hat, auch wenn es so aussehen mag. Es deutet eher auf den Versuch hin, dieses Monopol auf offenkundig kriminelle Gewalt auszuweiten und sich Verbrecher dienstbar zu machen. Offensichtlich strebt der russische Staat nicht nach Legitimität, wofür das Gewaltmonopol wichtig wäre, sondern nach einer Unterwerfung der Gesellschaft durch Gewalt, materielle Interessen und – offenbar bereits in geringerem Ausmaß – durch Propaganda.  

    Die Bemühungen des Kreml haben zu einer Polarisierung der Gesellschaft geführt, zu ihrer Unterteilung in ungleiche Gruppen. Ein Großteil unterstützt den Krieg vielleicht nicht, nimmt ihn aber zumindest als unausweichlich hin und sucht nach Möglichkeiten, unter den neuen Gegebenheiten zu überleben oder sogar daran zu verdienen. Wie der Finanzanalyst Alexander Koljandr bemerkte, ist der Kreml damit beschäftigt, eine ganze Schicht von Staatsbürgern zu erzeugen, die an der Fortsetzung des Krieges interessiert ist. 

    Der Kreml ist damit beschäftigt, eine Schicht von Staatsbürgern zu erzeugen, die an der Fortsetzung des Krieges interessiert ist

    Für hunderttausende Vertragssoldaten und Einberufene ist der Sold höher als jegliche Einkünfte, die sie in Friedenszeiten erzielen konnten. Profitieren können auch die, die auf die eine oder andere Art an den Rüstungssektor, an Industrien zur Importsubstitution und an neue Importnetze zur Umgehung der Sanktionen angebunden sind. Diese Schichten machen vielleicht gerade mal die Hälfte der Bevölkerung aus, sind aber zahlenmäßig größer als jene Gruppen, die im letzten Jahr emigriert sind – und hier bleibt unberücksichtigt, dass die bereits erfolgte Mobilmachungswelle mit ziemlicher Sicherheit nicht die letzte sein wird. Den mangelnden Kampfgeist ersetzt der Kreml konsequent durch materielle Stimuli und indem es keine Alternativen zu dem neuen Wirtschaftsprogramm gibt.

    Mit Einschüchterung und Repressionen ist es dem Kreml gelungen, den Widerstand gegen den Krieg zu unterdrücken und einen Teil der Kriegsgegner aus dem Land zu drängen. Bei sinkenden Einkünften aus Energie- und sonstigen Exporten geht es in erster Linie um die Aufteilung des Staatshaushalts, der zunehmend danach ausgerichtet wird, den Krieg weiterzuführen. Dazu müssen die Menschen entweder ihre Ansichten verbergen oder wetteifern, wer die meiste Loyalität bekundet. Die russische Gesellschaft war offenbar leichter mit Angst in den Griff zu kriegen als die Ukraine, Europa und die USA. Die Angst hat sie gelähmt. 

    Hört man den russischen Leadern zu, dann haben sie diesen seit 80 Jahren größten Krieg auf europäischem Boden angezettelt, um Sicherheit zu gewährleisten. In der russischen Rhetorik, die auf die Rechtfertigung der Invasion abzielt, sind die Begriffe „Sicherheit“ und „Sicherheitsgarantien“ ständig zu hören. Fiona Hill nennt das ein systemimmanentes Paradoxon der russischen Politik: Indem der Staat die Priorität der Sicherheit in allen Sphären betont, ist er in Wirklichkeit permanent damit beschäftigt, die Angst hochzupeitschen. 

    Es war leichter, die russische Gesellschaft mit Angst in den Griff zu kriegen als die Ukraine, Europa und die USA. Die Angst hat sie gelähmt

    Vor unseren Augen haben Millionen Ukrainer, EU-Bürger und Amerikaner demonstriert, wie man auf solche Manipulationen richtig reagiert. Russlands militärische, energetische und ökonomische Aggression gegen seine Nachbarn und langjährigen Handelspartner bringt unvergleichliche Not und Verluste – momentan natürlich vor allem in der Ukraine. Trotzdem schüren Russlands Handlungen heute weniger Angst als in etlichen früheren brenzligen Situationen.

    Offensichtlich bleibt Russland unter der jetzigen Regierung einer der gefährlichsten Staaten der Welt. Das weiß heute jeder – aber niemand weiß, ob das im Fall eines Machtwechsels anders wird. Sich von Moskaus Handlungen auf vielfältige Weise abzusichern, wird daher für die Politik sämtlicher Staaten, die mit Russland zu tun haben, auf Jahrzehnte hinaus Pflichtprogramm sein. 

    Diese Übersetzung wurde gefördert von: 

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  • Mobilmachung für die Planzahl

    Mobilmachung für die Planzahl

    Auf die Ende September verkündete „Teilmobilmachung“ folgten in Russland vielerorts chaotische Zustände: Neben den kilometerlangen Staus an den Landesgrenzen mehrten sich Berichte von willkürlichen Einberufungen direkt auf der Straße, von missachteten Ausnahmeregelungen und miserabler Ausrüstung für die Einberufenen. Bei einer Sitzung des Sicherheitsrates am 29. September räumte Putin bereits „Fehler“ ein, die korrigiert werden müssten.

    Auch der Umfang der Mobilmachung bleibt vage: Zwar sprach das Verteidigungsministerium zunächst von 300.000 Rekruten, doch Experten befürchten, dass aufgrund fehlender Einschränkungen die tatsächliche Zahl weitaus höher liegen könnte. In einer aktuellen Recherche schätzt Mediazona diese auf knapp 500.000 Soldaten – anhand von sprunghaft angestiegenen Eheschließungen, die für Einberufene kurzfristig und ohne Wartezeit möglich sind. 

    Meduza-Journalist Maxim Trudoljubow geht davon aus, dass der Kreml durchaus konkrete Zielvorgaben macht, wie er auf seiner Facebook-Seite schreibt. Deren Umsetzung auf unterer Ebene erinnert ihn an eine Praxis aus der Stalinzeit, bei der die Erfüllung der Sollzahl wichtiger ist als das „wie“.

    Die kremlsche Panikmobilisierung wird in Zahlen, in „Köpfen“, in „Seelen” gemessen. Die Zahlen – die sind das Wichtigste, obwohl sie gar nicht genannt werden. Eine Schätzung der Menge potentieller Rekruten ist unmöglich, weil die Kriegsziele nicht offengelegt werden. Zu welchem Zweck rekrutiert die Kreml-Armee N Soldaten? Geheimsache. Den Wert von N kennt nur der Kreml. N ist die Hauptsache. Aber N wird nicht nur verschwiegen, sondern ist auch Änderungen unterworfen. Wir wissen von neuen Mobilmachungsplänen für Regionen, die die anfänglichen bereits erfüllt haben. Das ist verrückter als jede Antiutopie. In ihrer Lebensfremdheit und Irrationalität ist diese Arithmetik des Todes unergründlich und furchterregend.

    Rechenschaft von unten – Plan von oben

    Dabei ist sie nicht neu. Kontingente, Zahlen, Pläne und Quoten sind ein fixer Bestandteil der Verwaltungsstrukturen russischer Institutionen, insbesondere der aus der Sowjetunion geerbten „Rechtsschutzorgane“. Reformversuche gab es zwar, doch das Prinzip „Rechenschaft von unten – Plan von oben“ ist nach wie vor in Kraft. Oft werden Kriminalfälle aus nichts erschaffen, um eine Quote zu erfüllen. Die tatsächliche Aufgabe dieses Systems ist – im Gegensatz zur augenscheinlichen – nicht die Aufdeckung, sondern die Erzeugung von Kriminalität. Das war schon in Sowjet- und Postsowjetzeiten so, doch heute erreicht es nie dagewesene Dimensionen des Wahnsinns.

    Die zentrale Bedeutung von Kontingenten bei politischen Projekten war in der sowjetischen Geschichte nicht so sehr für Mobilisierungskampagnen charakteristisch, sondern vielmehr für Repressionen. Kontingente kamen zum Beispiel bei der Kollektivierung und während des Großen Terrors 1937–38 zum Einsatz. Die Regionen lieferten auf Befehl aus Moskau zum Beispiel die Zahlen der erfassten „weißgardistisch-großbäuerlichen Elemente“, und Moskau gab nach unten die „Kontingente“ „erster“ und „zweiter“ Kategorie durch, gab also vor, wie viele zu erschießen und wie viele zu Lagerhaft zu verurteilen seien. Die Regionen versuchten ihrerseits, die Kontingente möglichst zu erfüllen, indem sie wahllos Menschen festnahmen. In diesem diabolischen System gab das Zentrum vor, das wilde Treiben an der Basis zur Aufdeckung der Feinde zu begrenzen – in Wirklichkeit ging die Initiative aber vom Zentrum aus. 

    Das funktioniert auch jetzt bei der Mobilmachungung so. Allerdings glaube ich nicht, dass der Kreml Massenrepressionen geplant hat. Stalin hat Massenrepressionen geplant. Putin hat einen Krieg geplant und dann die Mobilmachung der Menschen für diesen Krieg. Davor hatte er die „Bewahrung des Volkes“ geplant, die Besiedelung des Fernen Ostens, die Unterstützung kleiner Völker, die Förderung von Familien mit Kindern und vieles andere mehr. Das Ergebnis: Der Ferne Osten ist immer dünner besiedelt, die kleinen Völker werden in den Tod geschickt, die Familien verlieren ihre Väter und Ernährer. Es ist ein neuer Großer Terror. Geplant hat er das Leben, herausgekommen ist der Tod. 

    Geplant hat er das Leben, herausgekommen ist der Tod

    Denn so läuft es. Die dünne Schicht aus Verbesserungen und einem gewissen äußeren Glanz, die in den letzten Jahrzehnten aufgebaut wurde, ist weg. Was bleibt, ist das Fundament – ein repressiver Mechanismus, der der Logik geforderter Quoten folgt. Der Kreml ist dabei, den Krieg zu verlieren, aber bevor er in sich zusammenstürzt, kann er durchaus noch – zu aller Entsetzen – die teuflische Schlacht um die Zahl der eingezogenen und in den Tod geschickten Menschen gewinnen.

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  • Putins permanenter Ausnahmezustand

    Putins permanenter Ausnahmezustand

    Alle politischen Handlungen und Motive lassen sich auf die Unterscheidung von Freund und Feind zurückführen, so schrieb es 1927 Carl Schmitt. Zahlreiche russische Politikwissenschaftler meinen, dass man den deutschen Philosophen lesen müsse, um die russische Politik zu verstehen. Schon seit geraumer Zeit stellt die Staatspropaganda Russland als eine „belagerte Festung“ dar: Die ausländischen Feinde hätten auch im Inneren ihre „Agenten“, sie alle zusammen wollen Russland genauso in die Knie zwingen wie schon in den 1990er Jahren, so die Verschwörungserzählung.

    Für viele Wissenschaftler bildet diese Erzählung die zentrale Legitimitätsbasis des Systems Putin: Da das Realeinkommen schon seit 2014 sinkt und der sogenannte Krim-Konsens auch an seine Grenzen stößt, bleibe dem Regime nur noch das Feindschema übrig, um sich nach innen zu legitimieren. Um dies fortzuerhalten, müsse der Kreml das Land in einem dauerhaften Ausnahmezustand halten – ein anderer zentraler Begriff aus der politischen Theorie von Carl Schmitt.

    In einem kurzen Beitrag auf Facebook beschreibt der Journalist Maxim Trudoljubow die Funktionsweise dieses Ausnahmezustands – und warum er ein integraler Bestandteil des Systems Putin ist.
     

    Krieg ist für Putin die natürliche Form der politischen Existenz. Solange er an der Macht ist, wird der Krieg nicht aufhören. Der Krieg und sein Regime sind untrennbar miteinander verbunden.

    Er hat mit einem Krieg angefangen (damals in Tschetschenien), und er wird mit einem Krieg aufhören. Wann immer sich der von ihm geschaffene Ausnahmezustand und die Kriegserregung legten und das Leben verdächtig ruhig wurde, verlor er an Unterstützung und zettelte einen neuen Krieg an. Sobald seine Kriege weniger Blut und Leid forderten, setzte er zu einer neuen Runde an. Tschetschenien, Georgien, Ukraine, Syrien, Ukraine.

    Putins gesamte Macht gründet auf dem Ausnahmezustand

    In Friedenszeiten konnte er der Gesellschaft nichts geben. Nicht einen einzigen Tag hat er während seiner Regierungszeit den De-facto-Ausnahmezustand ausgesetzt, der für einzelne Bevölkerungsgruppen und Gebiete immer wieder in einen De-facto-Kriegszustand überging.

    Putin muss keinen Krieg erklären oder den Ausnahmezustand verhängen, denn seine gesamte Macht gründet auf dem Ausnahmezustand. Er hat jederzeit Zugang zu sämtlichen Instrumenten der Gewalt, zu sämtlichen administrativen und finanziellen Ressourcen. Er kann Kriege beginnen und Kriege stoppen. Er kann Heilung bringen (indem er während des Direkten Drahts über medizinische Hilfe entscheidet). Er kann aus dem Nichts Dinge erschaffen: ein Haus, eine Brücke, eine Straße dort, wo es vorher keine gab und wo es beim normalen Lauf der Dinge – das heißt, wenn die Gesetze befolgt würden – auch keine geben könnte.

    Paradoxerweise würde die Ausrufung des Kriegsrechts oder des Ausnahmezustandes in Russland dem Präsidenten nicht die Hände lösen (die sind sie ihm sowieso nicht gebunden) oder die Verantwortung von ihm nehmen (die liegt sowieso nicht bei ihm, sondern bei sterblichen Beamten), sondern ihm im Gegenteil mehr Verantwortung geben. Er müsste auf die Frage antworten: „Wie, ging es bei diesem ganzen Krieg also nur um Sewerodonezk?“ Er müsste verborgene Möglichkeiten demonstrieren und Ressourcen auffahren, die es nicht gibt. Dieser Krieg legt die geringe Größe und die begrenzten Möglichkeiten des russischen Staates bloß, der in normalen Zeiten größer wirken will, als er ist, indem er die Backen aufbläst. Aber das zuzugeben, käme für Putin dem Tode gleich.

    Mal begrenzte Operation, mal Weltkrieg

    Dieser unausgesprochene Putinsche Dauer-Ausnahmezustand hilft ihm zu manövrieren. Es wäre für ihn von Nachteil, das als Krieg zu betrachten, weil eine „Spezialoperation“ es ihm erlaubt, die Ziele laufend zu ändern – mal von einer „Entnazifizierung“ der ganzen Ukraine zu sprechen, dann wieder von der Rettung der Bevölkerung im Donbass. Doch wann immer es ihm nützt, gibt er zu verstehen, dass es doch ein Krieg ist, nämlich ein Krieg gegen den gesamten NATO-Block, wie seine Propagandisten stellvertretend für ihn sagen. Auf diesen Krieg kann man alles schieben, er ermöglicht Geheimhaltung, erlaubt es, Ausgaben zu verbergen, Diebstähle, Fehler und sogar die Zahl der Toten zu verschweigen, Vorwürfe wegen wirtschaftlicher Probleme abzuwehren – „das ist alles der Feind!“. Deshalb ist es mal eine begrenzte Operation, mal ein Weltkrieg. Je nach medialer Situation.

    Putin wird nicht aufhören, weil er ohne den Krieg die Macht nicht halten kann

    Er wird nicht aufhören, weil er ohne den Krieg die Macht nicht halten kann. Sobald dieser Krieg vorbei ist – auf die eine oder andere Weise –, geht auch Putin zugrunde. Möge mit ihm nur auch der permanente Krieg zugrunde gehen.

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  • Die Rache der verdrängten Geschichte

    Die Rache der verdrängten Geschichte

    Vor etwas mehr als einem Monat, am 24. Februar 2022, ist Russland in der Ukraine einmarschiert. Der Krieg gegen die Ukraine hat das Schlimmste freigesetzt, zu dem der russische Staat in seinem imperialen, sowjetischen und postsowjetischen Gewand fähig war, meint Journalist Maxim Trudoljubow im Exilmedium Meduza (die Seite ist aus Russland nur per VPN aufrufbar und wird außerdem technisch aufwändig gespiegelt). Mit dem Krieg würden auch die Geister der russischen und sowjetischen Vergangenheit wieder zum Leben erweckt: Die verdrängte und nicht aufgearbeitete Geschichte, so Trudoljubow, tritt im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine wieder ans Licht.

    Der Krieg gegen die Ukraine hat das Schlimmste freigesetzt, zu dem der russische Staat in seinem imperialen, sowjetischen und postsowjetischen Gewand fähig war. Dieser Krieg ist der zum Leben erwachte Schuldspruch, der alles in sich vereint, wovor die russische Gesellschaft nicht mehr die Augen verschließen kann.

    Ihre Haltung dazu haben die Kreml-Machthaber mit der Verfolgung von Memorial demonstriert: Memorial ist eine für die Zivilgesellschaft des neuen Russlands wegweisende NGO, die in vielerlei Hinsicht Vorreiter war beim Versuch der Gesellschaft, sich von der Last der Vergangenheit zu befreien. „Memorial erzeugt mithilfe von Spekulationen über politische Repressionen ein falsches Bild von der Sowjetunion als einem terroristischen Staat“, äußerte bei den Verhandlungen einer der Staatsanwälte. „Warum sollen wir, die Nachfahren der Sieger, jetzt Reue zeigen, anstatt stolz auf unser Land zu sein, das den Faschismus besiegt hat?“

    Die Zeit heilt keine Wunden

    Wichtig an den Worten des Staatsanwalts ist nicht die typische Verdrehung der Tatsachen (Memorial sprach nicht von Reue, es plädierte für eine juristische Bewertung der Verbrechen), sondern der „Siegerkomplex“: die Vorstellung, Macher des Sieges in einem Krieg gewesen zu sein, an dem sie selbst gar nicht beteiligt waren. In den Köpfen der russischen Führer musste dieser Krieg (in dem die Russen übrigens Seite an Seite mit Ukrainern und anderen Völkern kämpften) die anderen schrecklichen Kapitel der Vergangenheit irgendwie auslöschen – und zwar so, dass der russische Staat und die russische Gesellschaft das moralische Recht hätten, den Kopf oben zu halten.

    Aber von der Vergangenheit distanzieren wollte sich nicht nur die russische Machtelite. Der Großteil der russischen Gesellschaft wollte das auch.

    Immer wieder tauchte in öffentlichen Debatten Intellektueller zu historischen Themen die Frage nach der Verjährungsfrist auf. Sie wurde unterschiedlich formuliert, diente aber stets demselben Zweck: die Schärfe der Debatte zu mildern. Ja, die Kommunistische Partei und ihre „Einsatztruppen“ – die Geheimdienste – wurden nie in großem Stil verurteilt (bzw. gab es einen Versuch, der jedoch missglückt ist). Aber es ist doch schon so lange her! Warum sollte man ein Volk, das ohnehin schon vom täglichen Kampf ums Überleben zermürbt ist, noch zusätzlich spalten? Das Land von damals existiert nicht mehr, es gibt jetzt ein anderes, das aufgebaut werden will – also muss man in die Zukunft blicken und nicht in der Vergangenheit wühlen. Schließlich gibt es in Russland Gedenkstätten für die Opfer des Terrors, es wird ihrer in Kirchen gedacht, Bücher werden über sie geschrieben und Filme gedreht, und es gibt sogar ein staatliches Museum zur Geschichte des Gulag.

    Diese Logik hat nun keinerlei Sinn mehr. Es hat sich gezeigt, dass die Zeit keine Wunden heilt. Man wird sich nicht nur vom Siegerkomplex des Kreml verabschieden müssen, sondern auch von anderen Einstellungen, die außerhalb des Kreml existieren und verhindern, dass man die eigene Vergangenheit in ihrer ganzen Schwere akzeptiert. Wir leben in einem riesigen Schrank voller Skelette, in einem Keller voller Leichen.

    Verbrechen ohne Verjährung

    Bis zum 24. Februar 2022 konnte man meinen, dass ein Grundpfeiler unserer Identität ein gerechter Krieg war: der Große Vaterländische Krieg. In einem Land, in dem Traditionen und Verbindungen zwischen Generationen und sozialen Gruppen immer wieder abgerissen wurden, war das Gedenken an den Krieg ein verbindender und einheitsstiftender Mythos.

    Im Massenbewusstsein überwog die Geschichte des Krieges die Grausamkeit und den Zynismus anderer Kapitel der russischen Geschichte. Das ist nicht ungewöhnlich – die Menschen erinnern sich lieber an das Gute als an das Schlechte. Und Politiker ganz besonders: Viele Staaten legen in ihrer Erinnerungspolitik die Betonung auf die Siege und lenken die Aufmerksamkeit von den Niederlagen ab. Dabei gibt es in der Geschichte eines jeden Landes Niederlagen und schmachvolle Episoden. Jede Nation, jede Gesellschaft bewältigt den Schmerz der Vergangenheit auf ihre eigene Weise. Die russische Gesellschaft bewältigte die Schande durch das Gedenken an den Sieg im Zweiten Weltkrieg.

    Lange Jahre hat dieses Gedenken verhindert, dass wir unserer Vergangenheit ins Auge blicken. Der Albtraum, der jetzt geschieht, muss uns dazu bringen, es endlich zu tun.

    In unserer Vergangenheit und Gegenwart werden Staaten und Menschen – eigene wie fremde – als Verbrauchsmaterial betrachtet

    In unserer Vergangenheit und Gegenwart werden Nachbarländer als Pufferzonen ohne Recht auf Souveränität behandelt. In unserer Vergangenheit und Gegenwart besteht die Bereitschaft, Gewalt gegen ganze Völker anzuwenden, wenn sie den Machthabern in Moskau illoyal erscheinen. Im Grunde handelt es sich um eine koloniale Politik gegenüber den Nachbarvölkern – und auch gegenüber dem eigenen.

    In unserer Vergangenheit und Gegenwart werden Staaten und Menschen – eigene wie fremde – als Verbrauchsmaterial betrachtet. Um Methoden war der russische – und besonders der sowjetische – Staat dabei nie verlegen.

    In unserer Vergangenheit und Gegenwart hat sich die Macht exorbitante Befugnisse verschafft, eine nicht durch Gesetze und Institutionen eingeschränkte Macht. Im Russischen Reich gab es noch Geschworenengerichte und eine unabhängige Strafverteidigung – der sowjetische Staat entledigte sich dieser Rechtsinstitutionen als „bourgeoise Überbleibsel“. Die sowjetischen Leader verfügten über eine „Legalität“, die zunächst revolutionär und später sozialistisch war, das heißt, sie rechtfertigte jede Handlung, die für den Aufbau des Kommunismus zweckdienlich war. Dieses System hatte nichts mit dem Schutz von Rechten oder Gerechtigkeit zu tun. In unserer Vergangenheit und Gegenwart stellt man die Zweckdienlichkeit über das menschliche Leben. 

    Die Methoden, derer sich die Behörden bedienten, sind bekannt: Repressionen, inklusive außergerichtlicher Hinrichtungen, Gefangenschaft und Zwangsarbeit, die Eintreibung landwirtschaftlicher Produkte und Enteignungen, die zu Hunger und Tod führten. Nicht zu vergessen die militärische Aggression gegen Nachbarländer, Übergriffe auf Zivilpersonen, Geiselnahmen, Folter, die Verfolgung von Menschen aufgrund ethnischer Zugehörigkeit und die Deportation ganzer Volksgruppen.      
    Diese Methoden benutzte die Sowjetunion sowohl auf dem eigenen Territorium als auch bei der Eroberung der Länder Ost- und Mitteleuropas in den 1940er Jahren – zu Beginn des Zweiten Weltkriegs und unmittelbar danach. Sie wurden in beiden Tschetschenienkriegen, in Georgien, in der Ostukraine und in Syrien angewendet – überall dort, wo Russland Gewalt ausübte. Dazu gehören zahlreiche Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die keine Verjährungsfrist haben. Um sich davon zu überzeugen, genügt es, das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs zu lesen, das diese Verbrechen ausführlich behandelt.   

    Nicht nur in der Ukraine, gegen die Russland einen Angriffskrieg führt, sondern auch in Ungarn, in Lettland, Litauen, Polen, der Slowakei, in Estland, Finnland, in Tschechien und anderen Ländern, die in ihrer Geschichte auf die eine oder andere Art ihre Erfahrungen mit Russland gemacht haben, spricht man über die vergangenen Verbrechen des russischen Staates so, als ob sie erst gestern begangen worden wären. Die Mehrheit dieser Länder nimmt heute Flüchtlinge aus der Ukraine auf. Egal, wie die Kampfhandlungen ausgehen – vergessen wird nichts.  

    Methoden ohne Ziele 

    Jetzt kann kein Bürger, keine Bürgerin Russlands, kein einziger Mensch, der sich als Russe bezeichnet, mehr so tun, als wäre die Vergangenheit bloßer Gegenstand akademischer oder publizistischer Auseinandersetzungen. Die Vergangenheit wird gerade auf ukrainischem Boden reproduziert. Dass die Verbrechen des russischen Staates keiner rechtlichen Bewertung unterzogen und von keinem Gericht verurteilt wurden, hat den heutigen Krieg ermöglicht. Ermöglicht hat ihn das ungestrafte Davonkommen der Führer des russischen Staates.

    Vielleicht  glaubt Putin seiner eigenen Propaganda und stützt sich auf die Pseudorealität, die seine Propagandisten erdacht haben

    Die, die jetzt im Namen Russlands Entscheidungen treffen, haben weder große Ziele noch verfügen sie über ein Wissen absoluter Wahrheiten, sie haben weder ideologische oder göttliche Legitimität, die sie so gerne simulieren. Das Einzige, wodurch sie die längst verlorene „große Idee“ – ob von einem Großreich oder vom Kommunismus – erfolgreich ersetzt haben, ist die Lüge. Die Organisatoren des Kriegs gegen die Ukraine haben beschlossen, dass ihnen zur Legitimierung des Krieges Inszenierungen und Fiktionen reichen. 

    Möglicherweise hat Putin seiner eigenen Propaganda geglaubt und stützt sein Vorgehen auf die Pseudorealität, die Propagandisten in seinem Auftrag erdacht haben. Aber in Wirklichkeit ist es gar nicht so wichtig, ob er an etwas glaubt oder nicht. Jedenfalls sehen wir, dass russische Beamte und Militärs ihr Vorgehen mithilfe primitiver Desinformation zu rechtfertigen versuchen, indem sie behaupten, die sterbenden Gebärenden seien Schauspielerinnen, in den Krankenhäusern würden sich Nationalisten verschanzen, und die ganze Ukraine werde von Nazis regiert.     

    Das heutige Russland hat nur Lügen und Methoden zu bieten, die es von den Tschekisten und von Stalin geerbt hat

    Das heutige Russland hat als politisches Gebilde nur Lügen und Methoden zu bieten, die es von den Tschekisten und von Stalin geerbt hat. Die Methoden sind immer dieselben, nur wird jetzt nicht einmal mehr versucht, sie mit einem dekorativen ideologischen Schein zu rechtfertigen. Der russische Staat ähnelt unterdessen einem Zombie – ein Körper ohne Seele, der alles auf seinem Weg zermalmt und nicht einmal versteht, wozu er das tut.  

    „Ist die Vernichtung des Menschen mithilfe des Staates nicht die zentrale Frage unserer Zeit, unserer Moral?“, schrieb Warlam Schalamow. Ja, es ist die zentrale Frage. Und je mehr Russen und Menschen, die sich als Russen begreifen, sich dessen bewusst werden, umso rascher wird der russische Staat für seine Verbrechen vor Gericht stehen. Ohne ein solches Gericht kann Russland weder seinen Bewohnern ein vollwertiges Zuhause bieten, noch kann es eine politische Entität werden, mit der ein vertrauensvoller Dialog möglich ist. Wenn die nationale und kulturelle Gemeinschaft mit dem Namen „Russland“ wieder ein Teil der Welt werden will, dann muss die erste neue Institution, die nach dem Krieg geschaffen wird, ein Gericht über die Verbrechen des russischen Staates sein – in all ihren Ausprägungen, in der Vergangenheit und der Gegenwart.   

    Es darf nicht mehr die Logik der Verjährung gelten, die argumentiert, dass die Verbrecher nicht mehr am Leben seien und es kaum mehr lebende Zeugen gebe, also wen wolle man jetzt anklagen. Da finden sich welche. Diejenigen, die entschieden haben, die Ukraine anzugreifen, wären für diese Rolle durchaus geeignet. Das Gericht muss unabhängig vom Staat sein, sonst hat der Prozess keinen Sinn. Vor 30 Jahren ist ein Verfahren gegen die KPdSU gerade deshalb gescheitert, weil die Verfassungsrichter eben noch selbst Parteimitglieder gewesen waren und das Rechtsorgan von den staatlichen Strukturen nicht sauber getrennt war.   

    Mit einem wirklich unabhängigen Gericht würde Russland der Welt beweisen, dass es überhaupt eine Gesellschaft in Russland gibt  

    Wenn es der russischen Gesellschaft nach dem Krieg – erstmals in seiner Geschichte – gelingt, ein wirklich unabhängiges Gericht zu installieren, dann wird sie sich und dem Rest der Welt damit beweisen, dass es in Russland überhaupt eine Gesellschaft gibt. Das wichtigste Anzeichen dafür, dass es in Russland eine Gesellschaft gibt, wird dann genau das sein: Die Existenz als handelndes Subjekt, die eine rechtliche Bewertung von Handlungen des Staates und seiner Führer erlaubt. Wenn das gelingt, dann schaffen es die Russen vielleicht auch, andere Institutionen aufzubauen.  

    Man wird dabei wohl mit Institutionen beginnen müssen, die die Gewalt des Staates gegen den Menschen, gegen das eigene Volk sowie andere Nationen verhindern. Man wird dafür sorgen müssen, dass nie wieder jemand an die Macht kommt, der in Kategorien wie „einiges Volk“, „gemeinsames Schicksal“, „große Geschichte“ und ähnlichen grandiosen Verallgemeinerungen auch nur denkt. Und natürlich dürfen Politiker in der Zukunft keine Möglichkeit haben, Kriege zu führen, die auf ihren Fantasien beruhen. Ihnen müssen die Hände gebunden sein.     

    Das wird in einem Land, in dem Institutionen, Gesetze und sogar das Bildungssystem immer im Interesse einer zentralistischen Regierung und nicht im Interesse der Menschen gehandelt haben, extrem schwer werden. In einem Land, in dem die soziale Ordnung immer zur Rechtfertigung von Gewalt herangezogen wurde. Der Erfolg dieses schwierigen Unterfangens ist alles andere als garantiert, aber ohne ihn hat Russland keine Zukunft.  

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  • Endkampf gegen die Realität

    Endkampf gegen die Realität

    Er lebt in einer anderen Welt – das soll Angela Merkel wenige Tage nach der Angliederung der Krim 2014 in einem Telefonat mit Barack Obama über Wladimir Putin gesagt haben. Acht Jahre später führt letzterer einen offenen Krieg gegen die gesamte Ukraine, der bereits jetzt tausende Menschen in den Tod und über eine Million in die Flucht getrieben hat. 

    In einem wütenden und zugleich selbstkritischen Meinungsstück auf Meduza schreibt der Journalist Maxim Trudoljubow über eine Welt der Lüge, mit der Putin sich selbst und sein Land vergiftet habe und nun die Ukraine in eine Katastrophe stürzt. 

    Während all der Jahre unter Putin hat die russische Regierung einen erbitterten, aggressiven Kampf gegen die gesellschaftliche Realität geführt. Die politischen Verwaltungsbeamten (Verwalter, nicht Politiker, denn niemand hat sie gewählt) sind gegen jegliche Unabhängigkeit und jeglichen Aktivismus vorgegangen und haben Politiker und Journalisten mit einem eigenen Standpunkt aus dem öffentlichen Raum verdrängt. Ihre Plätze wurden von Figuren eingenommen, deren Aufgabe darin bestand, Aktivität zu heucheln und den Schein zu wahren. Die Manager der Präsidialadministration haben dafür gesorgt, jede selbstorganisierte Partei, Gruppe und Struktur in künstliche, kontrollierte Zellen umzuwandeln.

    Wie die Zerstörung der Gesellschaft zum Krieg führt

    Alles Echte ist für andersartig, ausländisch, fremd, extremistisch und sogar „terroristisch“ erklärt worden. Erinnern wir uns an das Netzwerk, das Alexej Nawalny erschaffen hat – eine Organisation, die einen politischen, gewaltlosen Kampf gegen das Regime führte und aus diesem Grund für kriminell erklärt wurde.

    Was die Zerstörung betrifft, waren die Erfolge der Manager beeindruckend. Zugegeben, doch wir sollten nicht vergessen, dass diese „Erfolge“ mithilfe von gezielten Morden, Repressionen und der Vertreibung von Menschen aus dem Land erzielt wurden. Gesichtslose Verwaltungsbeamte, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten unter der jeweiligen politischen Leitung im Kreml – Wladislaw Surkow, Wjatscheslaw Wolodin, Sergej Kirijenko – tätig waren, haben das Feld in enger Zusammenarbeit mit den Geheimdiensten gesäubert. Die Ergebnisse dieser Arbeit sind in der Tat erschreckend.

    Denken wir an die inhaftierten Aktivisten. Denken wir an all jene, die das Land verlassen mussten, und an die, die ihre öffentliche Tätigkeit eingestellt haben, nachdem sie sämtliche mit ihr verbundenen Risiken nüchtern abgewägt hatten. Vergessen wir auch nicht die ermordeten Politiker, Journalisten und Bürgerrechtler, wer auch immer für ihren Tod unmittelbar verantwortlich sein mag.

    Putins Verwalter wollten nicht nur die Zivilgesellschaft kontrollieren, sondern auch die Ergebnisse im Sport. Die Logik des fairen Wettbewerbs wurde untergraben: Der Leader glaubte offensichtlich nicht daran. Russische Sportler mussten um jeden Preis besser sein als alle anderen. Deshalb wurde der Wettkampf durch ein Dopingprogramm ersetzt, das dem Leader ein Bild von durchschlagendem Erfolg malen sollte. Bei den Olympischen Winterspielen 2014 ging es um das Projekt, garantiert zum Sieg zu gelangen. Die Steuerung der Spiele wurde schließlich von einem Überläufer aufgedeckt, von dem Ex-Leiter des Moskauer Antidopinglabors Grigori Rodtschenko. Dank ihm verfügen wir über ein detailliertes Bild dieser beschämenden Geschichte.

    Etwas zu erschaffen ist mit kriminellen Methoden deutlich schwieriger als etwas zu zerstören

    Etwas zu erschaffen ist mit kriminellen Methoden deutlich schwieriger als etwas zu zerstören. Deshalb wirkte das Putinsche Theater beim Versuch, eine tote Alternative zu einer lebendigen Gesellschaft aufzubauen, wie ein offensichtlicher Reinfall. Diejenigen, die uns zu den „Anderen“ (den „Ausländischen“, „Unerwünschten“) gemacht haben, haben im Grunde nie selbst etwas erschaffen, aus eigener Initiative, aus Inspiration oder dem Ruf ihres Herzens folgend. Und deshalb ist es ihnen auch nicht gelungen, ihren eigenen öffentlichen Bereich zu erschaffen – ihren eigenen offenen Raum für Diskussionen, ihre eigene Politik, eine glaubwürdige Meinungsforschung, Soziologie und Politikwissenschaft, ihre eigene Opposition und Presse.

    Alternative Wirklichkeit

    Ihre alternative Wirklichkeit wirkt wie das Zerrbild einer lebendigen Öffentlichkeit: Clowns anstelle von Politikern, Imitationen anstelle von zivilgesellschaftlichen Organisationen, Propagandisten anstelle von Journalisten und Analytikern. Man konnte leicht damit leben: Die Clowns musste man nicht wählen, die Pseudoanalytiker nicht lesen, Kisseljow und Solowjow nicht anhören – denn diese Figuren entbehrten jeden eigenständigen Denkens. Sie waren schlechte Schauspieler, die einen fremden Text herunterbeten, Instrumente in einem grobschlächtigen politischen Spiel. Alles war dermaßen grob zusammengeschustert, dass man fest überzeugt war: Das Kartenhaus fällt in sich zusammen, sobald sich der Klammergriff der Sicherheitsorgane lockert. Der Grund für eine solche Lockerung hätte, wie auch ich annahm, ein natürlicher Prozess sein können – eine ökonomische Krise, die sinkende Popularität des Leaders, ein Generationenwechsel in den Machtstrukturen.

    So eine Krise hätte die künstlichen Figuren vom Feld gefegt: Die sogenannten „Politiker“ und „Journalisten“ (ja, genau, in Anführungszeichen) wären einfach von der Bildfläche verschwunden, denn sie funktionieren wie Maschinen, nur so lange, wie sie vom Staat gespeist werden. Die Bürger Russlands wären aus ihrer Verblendung erwacht und hätten mitangesehen, wie die Kulisse in sich zusammenstürzt. Wie geht doch gleich das Ende von Alice im Wunderland: Der König, die Königin, die Ritter und Richter verwandeln sich mit einem Schlag in Spielkarten. Oder das Finale von Nabokovs Einladung zur Enthauptung: „Ein Wirbelwind packte und ließ kreiseln: Staub, Lumpen, Splitter aus bemaltem Holz, Stücke vergoldeten Stucks, Pappziegel …“

    Putins alternative Wirklichkeit nicht ernstzunehmen, war ein weitverbreiteter, tragischer Fehler, ein Fehler, den auch ich begangen habe

    Doch heute bringen Raketen, Granaten und Bomben den Ukrainern und Russen den ganz realen Tod. Der Wirbelwind, der heute über das Territorium der Ukraine fegt, ist echt, die Splitter und Ziegel sind echte Splitter und Ziegel. Putins alternative Wirklichkeit nicht ernstzunehmen, war ein weit verbreiteter, tragischer Fehler, ein Fehler, den auch ich begangen habe. Diese Politik als virtuell wahrzunehmen war trügerisch. Das Bühnenbild entpuppte sich nicht als vergoldeter Stuck, die Ziegel nicht als Pappziegel. Im Gegenteil: Die von billig angeheuerten Malern bemalten groben Bühnenbilder erwachen zum Leben und werden zu Tod und Leid.

    Ich bekenne mich zutiefst der eigenen Unfähigkeit bei dem Versuch, die Kulisse herunterzureißen, als es noch möglich war – vor dem Krieg. Ich war überzeugt, dass sie von alleine fallen würde.

    Wie eine Weltanschauung die Welt zerstören kann

    Zu glauben, dass Leben, Gewissen, Talent und Anerkennung käuflich sind, ist eine minderwertige, verachtenswerte Sicht auf die Welt. Aber sie ist kein unschuldiger Fehler. Der Mann, der einst zu der Überzeugung gelangt war, dass alles käuflich und verkäuflich ist, dass man eine Gesellschaft okkupieren, unterwerfen und an ihrer Stelle seine eigene, mit Geld erkaufte Realität erschaffen kann, hat nicht nur sein Land, sondern die ganze Welt in eine Katastrophe gestürzt.

    Er hat nicht nur an seine, von ihm bezahlte Realität geglaubt, sondern sie zur Grundlage seines Handelns in der wirklichen Welt gemacht. Es ist nun klar, dass sein Plan einer kurzen Militäroperation im Bruderland auf dieser von ihm selbst geschaffenen Fiktion basierte. Offensichtlich hatte er erwartet, dass die Anwendung von Gewalt durch den „echten“ – also „seinen“ – Staat zum sofortigen Zusammenbruch des „unechten“ ukrainischen Staates führen würde. Er dachte, er hätte es mit einer Kulisse zu tun, errichtet im Auftrag von irgendwelchen feindlichen Kräften – Amerikanern, Europäern, denen er Verhalten nach seiner Manier unterstellt. Er hatte offenbar geglaubt, dass sich seine künstlich geschaffenen „Umfragewerte“ in eine echte Zustimmung seitens der russischen Gesellschaft verwandeln würden. Dass alle an die Mär von den ukrainischen „Faschisten“ und seine Mission als Befreier glauben würden. Offenbar hat er den ihn umgebenden Speichelleckern Glauben geschenkt und angenommen, Russland wäre bereit für Krieg und Sanktionen.

    Putin hat sich eingeredet, die ukrainische Gesellschaft wäre genau so ein Theater wie das, zu dem er die eigene russische Gesellschaft gemacht hat

    Putin hat sich eingeredet, die ukrainische Gesellschaft wäre genau so ein Theater wie das, zu dem er die eigene russische Gesellschaft mithilfe von Morden und Einschüchterungen gemacht hat. Er hat geglaubt, die Ukrainer – von den einfachen Soldaten auf dem Schlachtfeld bis zur ihm verhassten obersten Staatsführung – würden sich in Spielkarten verwandeln und seine Macht anerkennen. Der ukrainische Präsident – ein Comedian, der Bürgermeister von Kiew – ein Boxer. Wer sind die überhaupt? Offenbar hat er ernsthaft daran geglaubt, er sei der heutigen Ukraine und der ganzen demokratischen Welt psychologisch und moralisch überlegen. Sein defektes Bild von der Welt hat ihm die Sicht darauf verstellt, dass seine ganze „Überlegenheit“ eine Erfindung seiner eigenen Hofnarren ist. Sein Fernsehprogramm und seine Presse hatte jahrelang nur einen Auftraggeber und einen einzigen wirklichen Zuschauer – ihn selbst. Er hat sich selbst mit seiner eigenen Lüge vergiftet.

    Möglicherweise steht er vor der Entscheidung, ob er alle Zerstörungswaffen einsetzt. Das würde zu mehr Leid und Tod führen. Aber im Kern nichts verändern

    Er ist moralisch kein bisschen überlegen, niemandem. Die einzige Überlegenheit besteht in seiner militärischen Stärke. Aber um diese Überlegenheit auszuspielen, braucht es eine klare Mission, Zusammenhalt und das Bewusstsein, im Recht zu sein. Eine klare Mission, Zusammenhalt und das Bewusstsein, im Recht zu sein, haben in diesem Krieg jedoch nur die Ukrainer. Möglicherweise steht er gerade vor der Entscheidung, ob er alle Zerstörungswaffen, die ihm zur Verfügung stehen, einsetzt oder nicht. Das würde zu noch mehr Leid und Tod führen. Aber im Kern nichts verändern.

    Sein Krieg gegen die Realität hätte seine Privatsache bleiben müssen. Wenn du in Groll und Zorn auf die ganze Welt leben willst, dann tu das, so lange du willst. Doch er hat dem russischen Volk seine Anwesenheit mit Gewalt, Manipulation und Lüge  aufgedrängt. Jahrelang hat er mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln seine „Umfragewerte“ hoch gehalten. Indem er mit Gewalt und Drohungen die russische Gesellschaft an sich band, hat er die Identität des eigenen Volkes entwertet, das einst Seite an Seite mit den Ukrainern in einem gemeinsamen und gerechten Krieg gekämpft hat.

    Russland hat diesen Krieg moralisch verloren, indem es ihn begann

    Er hat nicht nur sich selbst vergiftet, sondern auch Russland. Er hat den Weg geebnet für jene Verachtung, mit der die Welt nicht nur auf ihn schauen wird, sondern auch auf uns, die russischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. Noch viele Jahre werden wir die Welt nicht davon überzeugen können, dass „wir nicht so sind“, dass „wir das nicht waren“. Noch viele Jahre – nach Putin – werden wir in Russland eine Gesellschaft aufbauen müssen, die frei ist von politischen Kulissen und Fiktionen.

    Russland hat diesen Krieg moralisch verloren, indem es ihn begann. Ganz unabhängig vom Kampfgeschehen: Russland hat diesen Krieg verloren, als politische, ökonomische und gesellschaftliche Einheit, als Land, als Teil der Welt. Es war immer ganz normal, das Wort „Krieg“, ohne es genauer zu bestimmen, mit dem Großen Vaterländischen Krieg zu assoziieren. Jetzt hat dieses Wort eine neue Bedeutung bekommen. Es ist ein Krieg ohne genauere Bestimmung, ohne Adjektive. Es ist der Krieg, den er entfacht hat, mit dem er mich und alle Russen verantwortlich gemacht hat für die von ihm geschaffene Katastrophe.

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  • Warum der Schlag gegen Memorial ein Schlag gegen Deutschland ist

    Warum der Schlag gegen Memorial ein Schlag gegen Deutschland ist

    Warum Memorial, und warum geht es gleich um die Liquidierung der Organisation? Diese Fragen beschäftigen derzeit (nicht nur) Russlands Zivilgesellschaft: Am 25. November beginnt der Prozess am Obersten Gericht gegen die unabhängige Menschenrechtsorganisation, die sich seit der Perestroika wie keine zweite der Aufarbeitung der Stalinzeit und dem Einsatz für Menschenrechte verschrieben hat. Seit bekannt wurde, dass die russische Generalstaatsanwaltschaft den Antrag auf Liquidierung gestellt hat – offiziell wegen Nichteinhaltung der Regeln für sogenannte „ausländische Agenten“ – wird diskutiert, warum es zu diesem massiven Schlag kommt, warum es in einem von heute auf morgen anberaumten Prozess darum gehen soll, die älteste russische Menschenrechtsorganisation aufzulösen.
    „Das ist keine juristische, sondern eine politische Entscheidung von ganz oben“, sagt Memorial-Mitbegründerin Irina Schtscherbakowa im Podcast von Memorial Deutschland.

    Spätestens seit den Solidaritätsprotesten für den Oppositionspolitiker Alexej Nawalny im Frühjahr und angesichts der Dumawahl im Herbst geht der Kreml massiv gegen unabhängige Akteure vor. Die Politikwissenschaftlerin Tatjana Stanowaja konstatiert bereits im Mai: „Die Unterdrückung wird radikal ausgeweitet, zur Zielscheibe wird alles, was die Macht als eine Form von Anti-Regime-Verhalten empfindet, ob individuell oder institutionell.“ So wurden sämtliche Organisationen Nawalnys – wie etwa sein Antikorruptionsfonds – für „extremistisch“ erklärt, seit Beginn des Jahres wurden aber etwa auch mehr als 70 unabhängige Medien und einzelne Journalisten als „ausländische Agenten“ diffamiert. Auch Irina Schtscherbakowa sieht im Vorgehen gegen Memorial das Signal: „Ihr müsst alle Angst haben!“. Es gehe an alle, die mit der offiziellen Politik nicht einverstanden sind oder „überhaupt ihre Stimme erheben gegen etwas, was ihnen nicht passt“.

    Gleichzeitig geht es bei Memorial um die Organisation der historischen Aufarbeitung, die seit 30 Jahren ein umfangreiches Archiv aufgebaut, eine Datenbank mit rund 3,5 Millionen Biographien angelegt und mit zahlreichen Aktionen wie der Rückgabe der Namen ein Gedenken an die Opfer des politischen Terrors in der Sowjetunion initiiert hat, – die Liste ließe sich fortsetzen. So sieht der Journalist Oleg Kaschin im Vorgehen gegen Memorial eine „Bestrafung des historischen Erinnerns“ und den Versuch des Kreml, die Deutungsmacht über die Geschichte zu monopolisieren. Das explizite Benennen von Opfern wie Tätern wäre demnach im offiziellen Geschichtssynkretismus, bei dem Zarenfans wie Sowjetnostalgiker gleichermaßen bedient werden, selbst in Nischen ausdrücklich nicht mehr erwünscht. 

    Maxim Trudoljubow fügt solchen Thesen auf Meduza eine weitere hinzu: Er sieht das Vorgehen gegen die international renommierte Organisation als asymmetrische Antwort auf Sanktionen des Westens. Auch Schtscherbakowa von Memorial sagt im Podcast, das Signal „Wir sind durch nichts geschützt, die Macht kann mit uns machen, was sie will“ gehe an unabhängige Akteure und ihre Unterstützer im Westen gleichermaßen.

    Die drohende Vernichtung von Memorial durch die Behörden wird als schwerer Schlag empfunden – sowohl gegen die Menschenrechte im heutigen Russland als auch gegen den offenen Diskurs über die schrecklichen Ereignisse der Vergangenheit, für die der Staat die Verantwortung trägt. Eine Gesellschaft, die eine Organisation wie Memorial hat, und eine, die das nicht hat, sind zwei unterschiedlich reife Gesellschaften. Die russische Gesellschaft ist eine reife Gesellschaft. Noch. Doch der politischen Führung in Russland geht es nicht um den Reifegrad der Gesellschaft. Für die Akteure im Kreml ist Memorial die bekannteste russische Organisation in Deutschland und deswegen ein Instrument der Einflussnahme auf deutsche und europäische Politiker. Das ist einer der Knöpfe – und wenn man sie drücken kann, dann drückt man sie auch.

    Zwei Mythen der russischen Politik

    Über seine Innen- und seine Außenpolitik erzählt der russische Staat zwei dem Sinn nach entgegengesetzte Geschichten, zwei Mythen: Innerhalb des Landes, sagen uns Regierungsvertreter und Staatsmedien, herrsche Frieden, Harmonie und Stabilität. In der Welt da draußen gebe es hingegen weder Frieden noch Harmonie noch Stabilität. Russland habe es da gezwungenermaßen mit Feinden zu tun, die es an seinen Grenzen bedrängen, in seiner Entwicklung behindern und seinen Einfluss in der Welt schmälern wollten. Einzelne Probleme habe Russland zwar, sie seien jedoch eine Folge der Konflikte im Außen, sagen uns die Staatsmedien. 

    Für innere Probleme Ursachen im Außen zu suchen, ist eine althergebrachte Technik der Macht, die schon während der gesamten Sowjetära angewendet wurde und die es erlaubt, die Regierung auf rhetorischer Ebene jeglicher Kritik zu entheben. Als Boten des üblen Einflusses von außen nennt die russische Regierung diverse „Andere“, die sich inmitten der einigen russischen Gesellschaft verschanzt hätten. Diese spürt der Staat auf und erklärt sie zu „ausländischen Agenten“, „unerwünschten“ und „extremistischen“ Organisationen.

    Innere Probleme – nur Folgen externer Konflikte

    Die Geschichte vom Frieden im Land ist, wie auch die vom Krieg in der Außenwelt, ausgedacht und hat mit der Realität sehr wenig zu tun. Die russische Gesellschaft ist in zahlreichen Fragen nicht einig, sondern heterogen und polarisiert – angefangen beim Umgang mit dem sowjetischen Erbe bis hin zu den Präferenzen hinsichtlich der Zukunft des Landes (das heißt, dem Weg, den das Land beschreiten soll). Existierten in Russland Parteien und Organisationen, die tatsächlich die Ansichten der Bürger widerspiegeln, würde der politische Machtkampf im Land zu unvorhersehbaren Wahlergebnissen führen und intensive, glühende Debatten über eine Vielzahl von Themen auslösen.

    Nichts dergleichen findet derzeit statt: Die öffentliche Sphäre bleibt der Staatsmacht überlassen, die ständig bemüht ist, die realen inneren Konflikte zu vertuschen und äußere zu erschaffen. Sowohl die Einigkeit im Inneren als auch die Konflikte im Äußeren werden künstlich konstruiert – mit Hilfe von Propaganda, der Unterstützung durch bestimmte Bevölkerungsgruppen, und durch manipulierte Meinungsumfragen und Wahlen.

    Der Krieg zwischen Russland und der Außenwelt ist ein zentraler politischer Mythos. In Wirklichkeit sind die, die der Staatsmacht am nächsten stehen, gleichzeitig am besten in die Außenwelt integriert. Studien über die russische Elite zeigen, dass ihre Einstellung westlichen Ländern gegenüber zwar negativ und von Ressentiments und Unzufriedenheit mit der ihnen entgegengebrachten Gastfreundschaft geprägt ist, aber sie orientieren sich dennoch am Westen.

    Die Abgeordneten des russischen Parlaments verteidigen seit vielen Jahren das Recht, Immobilien im Ausland zu besitzen. Für die, die von der jetzigen Situation in Russland am meisten profitieren, ist der Weg in den Westen praktisch alternativlos – denn ihre Vermögen werden von den westlichen Rechtssystemen besser geschützt, ihren Kindern wird an westlichen Universitäten eine bessere Bildung geboten, und auch der angestrebte Grad an persönlicher Sicherheit ist nur außerhalb des Landes realisierbar.

    In der Konfliktstrategie, die Russland verfolgt, geht es nicht um den tatsächlichen Einsatz von Gewalt, sondern vor allem um Drohungen und vielsagende Gesten

    Russland ist als Abnehmer von Industrieerzeugnissen und High-Tech-Produkten fest in die Weltwirtschaft integriert. Sowohl die russische Gesellschaft als auch die politische Führungsriege sind persönlich von ausländischen Finanz-, Rechts- und digitalen Infrastrukturen abhängig. Aus einer solchen Position heraus ist es schwierig, auf Unabhängigkeit und eine Führungsrolle in internationalen Beziehungen zu bestehen.
    Aber Russlands Regierung will ihre Unabhängigkeit und Führungsrolle trotzdem behaupten. Und weil es nicht gelingt, das mit positiven „Trümpfen“ – etwa ökonomischem Gewicht und Einfluss – zu erreichen, spielt sie negative aus, die auf die eine oder andere Art mit Konflikten zu tun haben. Gerade in Konfliktlagen weiß Russlands Führungsriege um die wirksamsten Knöpfe, die sie im internationalen Dialog drücken kann. In der Konfliktstrategie, die Russland verfolgt, geht es nicht um den tatsächlichen Einsatz von Gewalt, sondern vor allem um Gewaltpotenzial – um Drohungen und vielsagende Gesten.

    Werte versus Preise

    Bei einer solchen Herangehensweise eignet sich absolut alles als Waffe oder Konfliktwerkzeug, was den „Partnern der Gegenseite“ wehtut: Zum Einsatz kommen da Truppenmanöver an der ukrainischen Grenze, Meldungen über neue Waffenarten und andere Kampfansagen. Russland ist für Westeuropa einer der wichtigsten Energielieferanten – also wird auch dieser Hebel in Bewegung gesetzt. Alexander Lukaschenkos Missbrauch von Flüchtlingen als Waffe gegen die EU löst dort Proteste aus – also wird Russland dieses grausame Spiel zumindest nicht verhindern. In diesem Fall wird der belarussische Diktator selbst zu einer Waffe in russischer Hand. Was überaus praktisch ist: Man kann eine Beteiligung an dem Konflikt jederzeit von sich weisen.

    Bedeutende Organisationen und Personen innerhalb Russlands, einschließlich Memorial, werden ebenfalls zur gültigen Währung. Alle Mittel, mit denen man Aufsehen erregen und ein öffentliches Gefecht mit dem Gegner provozieren kann, sind recht. Im Fall von Memorial geht es den russischen Politmanagern nicht so sehr darum, was diese älteste Menschenrechtsorganisation Russlands im Einzelnen tut, als vielmehr um deren Bekanntheit in Europa, vor allem in Deutschland, wo die Verbrechen des Totalitarismus ebenfalls ein sehr wichtiges – und schmerzhaftes – Thema sind. Diese Bekanntheit „funktioniert“ bereits: Die Drohung, Memorial aufzulösen, hat in Deutschland öffentliche Reaktionen ausgelöst. Der Außenminister gab eine scharfe Erklärung ab (allein die Möglichkeit einer Schließung dieser Organisation bezeichnete er als erschütternd), und Personen des öffentlichen Lebens, Russlandforscher und Historiker haben bereits offene Briefe zur Unterstützung ihrer russischen Kollegen verfasst.       

    Je prominenter eine Person oder Organisation ist, desto schwerer wiegt sie in der Konfliktstrategie. Dabei wäre es falsch zu glauben, dieser Handel verlaufe geradlinig: Wir geben euch eine Spielfigur, ihr gebt uns eine – wie beim Austausch von Spionen oder der Ausweisung von Diplomaten. Natürlich hätte Russland gern, dass Deutschland Nord Stream 2 noch unter der aktuellen Kanzlerin zertifiziert. Russland weiß aber auch, dass es aus formalen Gründen diesen Prozess nicht beschleunigen kann, der noch dazu aufgrund anhaltender Diskussionen in und außerhalb der EU erschwert wird (in das Wortgefecht rund um die Pipeline hat sich jetzt auch Großbritannien eingeschaltet).

    „Ausländische Agenten“ und „unerwünschte“ Organisationen als Geiseln

    In der Konfliktstrategie, die die derzeitige Führungsriege des russischen Staates gewählt hat, muss den Gegnern deutlich gemacht werden, dass auf Sanktionen und andere Druckmittel seitens des Westens eine Reaktion erfolgt. Diese Reaktion kann in der Regel nicht symmetrisch sein, dafür ist Russlands ökonomisches und politisches Gewicht zu gering. Trotzdem kann die Antwort schmerzhaft sein, denn „ausländische Agenten“ und „unerwünschte“ Organisationen erinnern an Geiseln. Die Einstufung von Alexej Nawalnys Organisation und Regionalbüros als extremistisch erfolgte im vergangenen Frühling direkt nachdem die USA ein weiteres Sanktionspaket gegen Russland angekündigt hatten. Mit dieser Geste wälzte die russische Regierung einen Teil der Verantwortung für das Schicksal des Politikers und seiner Anhänger auf den Westen ab. Es wäre nicht das erste Mal, dass der Kreml als Reaktion auf den Druck von außen Jagd auf einen westlichen „Agenten“ im eigenen Land veranstaltet.

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  • Thomas Mann, russische Lesart

    Thomas Mann, russische Lesart

    Warum befürworten intelligente, gebildete Menschen Autoritarismus, Diktatur oder Krieg, fragt Maxim Trudoljubow auf Meduza und liest Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen. Darin findet er erstaunliche Parallelen zum Konservatismus im Russland von heute.

    Da diese Parallelen auch für deutschsprachige Leser interessant sind, haben wir den Essay, der auf Meduza erschienen ist, ins Deutsche übersetzt.

    Während des gesamten Ersten Weltkriegs leistete Thomas Mann, wie er es selbst formulierte, „Gedankendienst mit der Waffe“. Er schrieb Artikel, hielt öffentliche Vorlesungen und veröffentlichte 1918 ein patriotisches Manifest mit dem Titel Betrachtungen eines Unpolitischen.

    Thomas Mann, 1928 / © Bundesarchiv, Bild 183-H28795 / CC-BY-SA 3.0
    Thomas Mann, 1928 / © Bundesarchiv, Bild 183-H28795 / CC-BY-SA 3.0

    Der Verfasser dieser Schrift ist nicht der Thomas Mann, den wir aus seinen späteren Werken kennen. Der Autor (der zum damaligen Zeitpunkt unter anderem bereits die Buddenbrooks und den Tod in Venedig geschrieben hatte) rechtfertigt in seinen Betrachtungen den Krieg und erklärt „den Kampf“ gegen die seelenlose Zivilisation des Westens, repräsentiert durch die „Welt-Entente“, zur „ewigen, eingeborenen Sendung“ Deutschlands. Er spricht außerdem von der „deutschen Einsamkeit zwischen Ost und West“ und zitiert oft Dostojewski. Thomas Mann philosophiert voll Bitternis über die Entfremdung Deutschlands vom Rest der Welt und über den Hass, den es ertragen muss, weil es sich gegen den „westlichen Geist“ auflehnt.

    Russland befindet sich gerade in einer ähnlichen politischen Lage gegenüber dem Westen wie Deutschland vor 100 Jahren

    Viele von diesen Ansichten hat Thomas Mann später revidiert, doch das Buch ist geblieben. Ein Text, den man in Zeiten wie den unseren lesen sollte. Unter Vorbehalt und mit Einschränkungen könnte man sagen, dass sich Russland gerade in einer ähnlichen politischen Lage gegenüber dem kollektiven Westen befindet wie Deutschland vor 100 Jahren.

    Thomas Mann lehnt die Ideen der Aufklärung, die westlichen Vorstellungen von Liberalismus und Demokratie derart wortgewaltig ab, dass die konservativen Politiker in Russland viel von ihm lernen könnten – wenn sie eine konsistente Ideologie entwickeln wollten. Denn indem das Regime die Gesellschaft immer wieder daran erinnert, dass das Land sich in einem Kriegszustand gegen den geistlosen, aggressiven Westen befindet, versucht es, seine Bürger genau in dem Sinn „unpolitisch“ zu machen, wie es Thomas Mann seinerzeit war.

    Die Demokratie, so der Thomas Mann von damals, zwinge der Gesellschaft primitive Normen auf und zerstöre Traditionen 

    Die Demokratie mit ihren Parteien und Wahlen steht, so der Thomas Mann von damals, der Poesie, dem Ästhetizismus und der Kunst gänzlich entgegen. Sie zwinge der Gesellschaft primitive Normen auf, zerstöre Traditionen und die althergebrachte Lebensweise. Mit anderen Worten, die Politik vernichtet den „komplexen Menschen“, von dem vor kurzem der Regisseur Konstantin Bogomolow in seinem antiwestlichen Manifest schrieb. Bogomolows prätentiöser Text ist in der Qualität seiner Argumentationsführung sicher nicht mit Manns Manifest vergleichbar, aber der politische Sinn dahinter ist der gleiche.

    Thomas Mann spricht in blumigen Worten von der Unvermeidlichkeit, ja sogar Notwendigkeit einer europäischen Katastrophe, die der Konflikt zwischen der unergründlichen Kultur Deutschlands und der „verfaulenden“ Zivilisation des Westens herbeiführen würde. Die russische, sowjetische und heutige Rhetorik vom „verfaulenden Westen“ ist nicht minder bildhaft.

    Einsamkeit zwischen Ost und West – im Deutschland von damals wie im Russland von heute

    Mann spricht von der „antideutschen“ Einstellung des Westens (das Analogon zur „Russophobie“) und rechtfertigt den Krieg damit, dass Deutschland nicht so sehr der außenpolitische Konkurrent Frankreichs und Großbritanniens sei als vielmehr ihr geistiger Gegner. Parallelen zu all diesen Gedanken lassen sich unschwer in den Äußerungen der russischen Politiker und Propagandisten von heute finden. Einsamkeit zwischen Ost und West empfinden auch in Russland viele.

    Als seine geistigen Gegner betrachtete Thomas Mann die, die er „Zivilisationsliteraten“ nannte. Sie waren für ihn, um es mit einem modernen russischen Ausdruck zu sagen, „ausländische Agenten“. Indem sie „antideutsche“ Werte vertraten, brachten sie die deutsche Kultur vom rechten Pfad ab.

    ,Zivilisationsliteraten‘ waren für ihn, um es mit einem modernen russischen Ausdruck zu sagen, ,ausländische Agenten‘

    Wie der US-amerikanische Politikwissenschaftler Mark Lilla bemerkt, hat der Begriff „Zivilisator“ (aus dem Mund Thomas Manns) einen verächtlichen Beiklang, was umso dramatischer ist, wenn man weiß, dass Manns Betrachtungen unter anderem an seinen Bruder Heinrich gerichtet waren – einen Pazifisten und Befürworter der Demokratisierung Deutschlands.

    Thomas Mann unterscheidet zwischen Zivilisation und Kultur. Während Zivilisation für ihn gleichbedeutend mit Vernunft, Aufklärung, Demokratie und Fortschritt ist, steht Kultur für die dunkle Seite der menschlichen Natur, die Natur schlechthin, die sich nicht den Regeln der bürgerlichen Moral unterwirft. Und es ist die Kultur, nicht die Zivilisation, die laut Mann der wahre Quell der großen Kunst ist. Ebendiese deutsche Kultur wollten die Franzosen und Briten zerstören, sie politisch demokratisieren, sie zivilisieren und Deutschland so zu einer Nation von Spießbürgern machen.

    Bei Mann finden sich die Themen, bei denen die russischen Ideologen Uneinigkeit mit westlichen Politikern deklamieren

    Die Gruppierung, die Russland heute regiert, würde ihre Gedankengänge sogar in Manns Idee von der „Fruchtbarkeit“ Deutschlands wiederfinden. Mann führt die Geburtenstatistik vom Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts an und stellt fest, dass mit Beginn des Jahrhunderts „der plötzliche, bei keinem Kulturvolk erhörte Fruchtbarkeitsrückgang beginnt“. Der Autor macht dafür die „empfängnisverhütenden Mittel“ verantwortlich, die sich im Westen „bis ins letzte Dorf“ verbreiten. Sogar darin erkennt er noch eine bösartige Einmischung in die große deutsche Kultur durch die westliche Zivilisation, die mit ihren neuen Normen des Privatlebens die „Fruchtbarkeit“ der Nation gefährde. Mann redet von der Erhaltung des Lebens, von seiner Konservierung. Die Politik der russischen Behörden in Bezug auf den Schutz der traditionellen Familie und die Erhöhung der Geburtenrate knüpft daran an.

    So finden sich bei Thomas Mann nahezu alle Themen, bei denen die russischen Ideologen ihre Uneinigkeit mit westlichen Politikern deklamieren: die Ablehnung der liberalen Werte, das Misstrauen gegenüber einer Demokratisierung und Amerikanisierung der Gesellschaft, die Romantisierung des Krieges, der Vorrang des Nationalen vor dem Internationalen, die Verteidigung der traditionellen Familie.

    Gesammelte Symptome einer schmerzlich empfundenen Besonderheit 

    Diese Vorstellungen sind weder für das damalige Deutschland noch für das heutige Russland einzigartig. Memes vom verfaulenden Westen wandern von Land zu Land. Wieder und wieder tauchen sie in jenen Kulturen auf, die etwas auf sich halten, aber an einem Mangel an Anerkennung durch andere leiden. Es geht dabei nicht so sehr um den Gedanken selbst, sondern vielmehr um die Symptome einer schmerzlich empfundenen Besonderheit und eines Randdaseins. Am stärksten empfinden dies die Intellektuellen, und dank deren Eloquenz verbreiten sich diese Vorstellungen in der Gesellschaft, bis sie irgendwann mehr sind als nur Worte.

    Mann war sich der Radikalität seines Textes bewusst, und er bestand darauf, dass Gedanken radikal sein müssen. Ein Gedanke dürfe und solle kompromisslos sein, während das Handeln Politik sei, und die münde immer in halbherzige Maßnahmen, Händel und Parteikämpfe.

    Handlungsanleitung im Dritten Reich

    Nichtsdestotrotz revidierte Thomas Mann bereits Anfang der 1920er Jahre vieles von dem, was er in den Betrachtungen geäußert hatte, und unterstützte die Weimarer Republik. 1933, nach Hitlers Machtübernahme, siedelte die Familie Mann in die Schweiz um und später – in die USA, wo Thomas Mann sich aktiv am Leben der Exilgesellschaft beteiligte. Während des Krieges richtete er sich regelmäßig im deutschen Programm der BBC an seine Landsleute; die Radioansprachen finden sich in zwei Bänden mit dem Titel Deutsche Hörer!.

    Während die einen Ideen formulieren, sind es oft andere, die sie in die Tat umsetzen. Die Gedanken, die Mann – in Form der Betrachtungen – in den Jahren des Ersten Weltkriegs festhielt, wurden zur Handlungsanleitung für die Entscheidungsträger des Dritten Reichs. In dieser manifestierten Form erkannte Mann seine Gedanken nicht mehr wieder und distanzierte sich davon.

    ,Jener Verzicht des Geistes auf die Politik ist ein Irrtum, eine Selbsttäuschung‘
    Thomas Mann, 1939

    In seinem Essay Kultur und Politik schrieb er später: „Jener Verzicht des Geistes auf die Politik ist ein Irrtum, eine Selbsttäuschung. Man entgeht dadurch nicht der Politik, man gerät nur auf die falsche Seite – und zwar mit Leidenschaft. A-Politik, das bedeutet einfach Anti-Demokratie, und was das heißen will, auf welche selbstmörderische Weise sich der Geist dadurch zu allem Geistigen in Widerspruch setzt, das kommt erst in bestimmten Situationen höchst leidenschaftlich an den Tag.“

    Im Gegensatz zu Thomas Mann müssen wir nicht jahrelang warten, um angesichts der Ideen, die er während des Ersten Weltkriegs geäußert hatte, erschrocken zu sein. Wir wissen es bereits. Der Thomas Mann jener Jahre aber glaubte – genau wie die Ideologen der faschistischen Regime des 20. Jahrhunderts – an das, was er predigte. Die damaligen Politiker brauchten Parolen, um die Bevölkerung zu mobilisieren. Das heutige russische Regime mobilisiert die Bürger mit administrativen Mitteln (zum Beispiel, wenn es Angestellte im öffentlichen Dienst und Staatsbeamte zwingt, zur Wahl zu gehen).

    Nichts ist neu oder aufregend. Es ist alt und langweilig

    Im heutigen Kontext sind Kriegsromantisierung und Aufrufe zur nationalen Einheit vor den Augen des Feindes bloß eine erlernte, längst bekannte Sprache. Daran ist nichts neu oder aufregend, wie es in den 1920er Jahren in Italien oder in den 1930er Jahren in Deutschland war. Es ist alt und langweilig.

    Die Ideologien, auf die die russischen Staatsmedien heute zurückgreifen, sind nötig, um die Gesellschaft oder internationale Partner abzuschrecken und abzulenken, nicht um attraktiv zu wirken. Die Mächtigen und Vermögenden wollen offenbar möglichst viel Angst und Schrecken verbreiten, damit die aktiven Bürger im Inland und Politiker im Ausland ihren wirtschaftlichen Interessen nicht in die Quere kommen.

    Bedeutet das, dass die derzeitige konservative Welle nicht zum Krieg führen wird? Leider nein: Die offiziösen Medien sind vielleicht voll von unechter Ideologie, aber die Waffen, die wir alle besitzen, sind echt. In gewisser Weise hat der wiedererwachte Konservatismus bereits zum Krieg geführt – zum Krieg der Kulturen. Die liberalen Kräfte (wie auch immer sie in den verschiedenen Ländern heißen) betrachten das Weltgeschehen als eine Reihe von Veränderungen zum Guten. Das Individuum erhält immer mehr Rechte, die Gesellschaften befreien sich von Vorurteilen gegenüber denen, die man früher stigmatisiert und sogar bestraft hat, zum Beispiel LGBT+. Die Konservativen sehen diese Veränderungen dagegen als Zerstörung der Grundfesten von Kultur und Religion an. Der globale Krieg der Kulturen ist eine Realität unserer Zeit, die eine gesonderte Analyse verdient – dazu mehr an anderer Stelle.

     

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    Mediamasterskaja #2: „Allein die Wahrheit zu sagen, ist politisch“

    Was macht es mit dem Journalismus, wenn der Staat immer schärfer gegen unabhängige Medien vorgeht? In der zweiten Folge des Mediamasterskaja-Podcast diskutieren der russische Journalist Maxim Trudoljubow und sein belarussischer Kollege Alexander Klaskowski diese Frage.

    In Russland wie Belarus geraten unabhängige Medien derzeit unter immer stärkeren Druck – wenn auch unter unterschiedlichen Vorzeichen. In Russland haben nach den Solidaritätsprotesten für Alexej Nawalny im Januar/Februar 2021 und vor der Dumawahl im September die Maßnahmen gegen unabhängige Medien und Journalisten dramatisch zugenommen: Erst am vergangenen Freitag haben Behörden das Investigativmedium The Insider zum sogenannten „ausländischen Agenten“ erklärt. Zuvor waren der Chefredakteur und weitere Redakteure des Onlinemagazin Projekt ebenfalls auf die Liste der „ausländischen Agenten“ gesetzt worden. Genauso wie das Onlinemagazin VTimes und das reichweitenstarke unabhängige Portal Meduza.
    Gegen Journalisten anderer unabhängiger Medien wurden mitunter Strafverfahren eingeleitet, etwa gegen vier Redakteure des Studierendenmagazins Doxa – sie hatten zu Solidaritätsprotesten für Nawalny aufgerufen, die Staatsanwaltschaft wertet das als „Aufruf an Minderjährige, an rechtswidrigen Handlungen und illegalen Demonstrationen“ teilzunehmen. 

    Die Situation in Belarus ist noch zugespitzter als in Russland: Die belarussischen Machthaber gehen seit mehr als einem Jahr gezielt gegen unabhängige Medien und Journalisten vor. Auch in den vergangenen zwei Wochen hat es in ganz Belarus wieder Durchsuchungen gegeben, sowie zahlreiche Festnahmen. 27 Journalisten befinden sich derzeit noch in Haft oder unter Hausarrest. Viele Medienschaffende haben das Land bereits verlassen, weil es nahezu unmöglich geworden ist, in Belarus seiner Arbeit nachzugehen. Es ist zu befürchten, dass Alexander Lukaschenko die Strukturen des unabhängigen Journalismus vollständig zerschlagen will. 

    In unserer Podcast-Reihe Mediamasterkaja (dt. Medienwerkstatt) begleiten wir Medienprozesse in Russland und Belarus kritisch und erörtern sie mit unterschiedlichen Akteuren. In der ersten Folge diskutieren die belarussische Philosophin Olga Shparaga und die Gender-Forscherin Lena Ogorelyschewa, inwieweit die Rolle der Frauen bei den Protesten auch die belarussische Medienwelt geprägt hat.

    In der zweiten Folge fragen wir den russischen Journalisten Maxim Trudoljubow und seinen belarussischen Kollegen Alexander Klaskowski, inwiefern der starke Druck auf Medien den unabhängigen Journalismus in beiden Ländern beeinflusst. Wir bringen einige Auszüge aus dem russischsprachigen Podcast in deutscher Übersetzung.

    Alexander Klaskowski: Ich bin Alexander Klaskowski und arbeite bei der Nachrichtenagentur BelaPAN. Das ist eine unabhängige Nachrichtenagentur, was für Belarus untypisch ist, weil man den nichtstaatlichen Medien bei uns, offen gesagt, bereits den Todesstoß versetzt. Bei BelaPAN leite ich die analytischen Projekte, außerdem gelte ich als Medienexperte. Seinerzeit habe ich an der Europäischen Geisteswissenschaftlichen Universität in Vilnius unterrichtet und Workshops unter der Schirmherrschaft des Belarussischen Journalistenverbands geleitet. Manchmal gebe ich Kommentare zu Themen, die mit Medien zusammenhängen. 

    Maxim Trudoljubow: Mein Name ist Maxim Trudoljubow. Ich habe viele Jahre für die Zeitung Vedomosti gearbeitet. Das ist ein Wirtschaftsblatt, das wir 1999 gegründet haben. Vor ein paar Jahren habe ich wegen des Gesetzes, das im Wesentlichen ausländischen Verlegern und Konzernen verbietet, Eigentümer von Medienunternehmen in Russland zu sein, dort gekündigt. Ich habe für ausländische Verlage, unter anderem für die New York Times, geschrieben. Später fing ich an, mit Meduza zusammenzuarbeiten, wo ich seit über einem Jahr das Projekt Idei [dt. Ideen] leite. Als Redakteur des Projekts The Russia File arbeite ich außerdem mit dem amerikanischen Kennan Institute zusammen. 

    Einerseits ist der Bereich der unabhängigen Medien in Russland ziemlich aktiv und entwickelt sich selbst heute noch weiter, aber er ist nicht sehr groß. Unabhängige Medien überleben zum Großteil dank privater Spenden, das gilt auch für das unabhängige Onlinemedium Meduza, mit dem ich zusammenarbeite. Als Meduza zum sogenannten ausländischen Agenten erklärt wurde, war das ein harter Schlag für das Budget [Meduza waren damit unter anderem wichtige russische Werbekunden weggebrochen – dek]. Die Verleger haben darüber nachgedacht, die Zeitung zuzumachen, aber dann gingen sie das Risiko ein und veranstalteten eine Spendenkampagne. Kurzum, bislang konnte das Medium überleben.

    Mediamasterskaja: Unser heutiges Thema ist Objektivität im Journalismus, die nächste Frage richtet sich vermutlich vor allem an Alexander: Alexander, wie ist Ihre Einschätzung, kann der Journalismus unter den derzeit gegebenen Umständen in Belarus objektiv bleiben?

    Alexander: Wenn ich mir einen Schlenker in die Theorie erlauben darf: Ich denke, Objektivität im Journalismus ist ein Mythos. Ich will jetzt nicht zu sehr in die Tiefe gehen, aber völlig objektiven Journalismus gibt es nicht. Außerdem gibt es sehr unterschiedlichen Journalismus. Es gibt einen Journalismus der Fakten und einen Journalismus der Meinungen. Wenn wir von einem Reporter sprechen, dann ja, aber er sollte meiner Meinung nach weniger objektiv, sondern vor allem unvoreingenommen sein. Also keine Fakten verschweigen, nichts verfälschen und so weiter. Das ist eine etwas anders gelagerte Forderung. Ein Reporter sollte sich also bemühen, unvoreingenommen zu sein. Meinetwegen, objektiv zu sein. Einigen wir uns auf diesen Begriff. 
    Wenn es sich aber um einen Kolumnisten handelt, dann versteht es sich von selbst, dass es lächerlich wäre, von ihm Objektivität zu verlangen. Der Clou seiner Texte ist ja gerade der subjektive Blick, die Meinung eines Menschen, der den Nagel auf den Kopf trifft. Und die Menschen, seine Leser schätzen gerade das – wie er die Dinge wahrnimmt, beurteilt, Prognosen für gesellschaftliche Ereignisse stellt.

    Was den Einfluss der politischen Situation betrifft: Ja, sie hat einen Einfluss, kurz gesagt, einen negativen, wie man an den belarussischen Medien sieht. Es ist allgemein bekannt, dass Journalisten freiheitsliebende Menschen sind, und wenn man sie in die Ecke treibt … Wenn das Regime sie, umgangssprachlich ausgedrückt, fertigmacht, dann ist klar, dass sie dieses Regime nicht gerade lieben werden. Und das schlägt sich natürlich auch in den Texten nieder. 

    Ja, die politische Situation hat einen Einfluss, kurz gesagt, einen negativen, wie man an den belarussischen Medien sieht

    Ich sehe in einer Reihe von Medien eindeutig expressive Überschriften, die in Hinsicht auf die Regierung klar negativ aufgeladen sind. Obwohl das im Idealfall nicht so sein sollte. Aber Menschen, die Tag für Tag fertiggemacht werden – kurzum, rein menschlich kann ich es verstehen. Der professionelle Anspruch verlangt, dass man sich unbefangen verhält, aber das klappt nicht.

    Maxim, verfolgen Sie die Situation in Belarus? Halten Sie es für möglich, unter dem Regime, unter dem Ihre Kollegen gerade arbeiten, unbefangen zu bleiben?

    Maxim: Als erstes möchte ich im Namen der russischen Medien unser Mitgefühl und generell unser allgemeines Verständnis ausdrücken. Wir machen uns natürlich große Sorgen wegen all dem, was in Belarus passiert. Ich verfolge es mit, soweit es mir möglich ist.

    Ich bin mir nicht sicher, ob man in dieser Situation völlig objektiv bleiben kann. Ich denke auch, dass es psychologisch wirklich schwer ist. Allein schon aufgrund des großen Drucks auf alles, was im weitesten Sinne unabhängig ist: Sei es politischer Aktivismus, Medien oder irgendeine ehrenamtliche Tätigkeit, die nicht unmittelbar vom Staat genehmigt wurde. Im Prinzip ist es in existentieller Hinsicht eine sehr schwierige Situation, deswegen kann man auch keine überragende Objektivität fordern. 

    Ich bin mir nicht sicher, ob man in dieser Situation völlig objektiv bleiben kann

    Zur Objektivität als solcher würde ich gern noch sagen, dass sie in der Form, wie wir sie heute überwiegend aus den westlichen Medien kennen, noch nicht lange existiert. Als die ersten Medien entstanden, die noch nicht so genannt wurden, konnten sie politische Pamphlete oder irgendwelche Blättchen sein – unabhängig und unvoreingenommen waren sie nie. Ganz im Gegenteil. Es waren immer sehr scharfe politische Statements. Und das zog sich über knapp 200, 300 Jahre lang so hin. Erst im 20. Jahrhundert, hauptsächlich nach dem Zweiten Weltkrieg, als der Mittelstand sehr schnell wuchs und die Wirtschaft sich entwickelte, entstand vor allem in den USA ein großer Markt an Menschen, denen objektive Information wichtig war.

    Es ist also eine ziemlich junge Tradition, die erst einige Jahrzehnte besteht. Deswegen lässt sich schwer behaupten, die Objektivität sei eine immanente Eigenschaft von Medien. Objektivität ist eine komplizierte Sache. Es ist eine philosophische Frage, ob es sie überhaupt geben kann. Wir sind alle Menschen mit eigenen Ansichten und Meinungen. 

    Im Großen und Ganzen lässt sich sagen, dass ich mich der Tradition objektiver Medien verpflichtet fühle und bei dem, was ich mache, versuche, auf Quellen zu verweisen und alle zu Wort kommen zu lassen: Bei einem Konflikt müssen alle Parteien zu Wort kommen, bei einer Story verschiedene Blickwinkel aufgezeigt werden. Geht es um den Staat, wird auch der Blickwinkel des Staates erwähnt, und so weiter. Insgesamt pflegt man also auch in Russland weiterhin diese Arbeitstradition, die schon nach Objektivität strebt. Hauptsächlich in unabhängigen Medien. Auch wenn dieser Sektor sehr klein ist, wird diese Tradition im Großen und Ganzen bewahrt. Und sie wird weiterleben, wie mir scheint.

    Liebe Kollegen, wenn Sie vom Journalismus der Fakten und nicht der Meinungen sprechen, könnten Sie vielleicht eine Art Checkliste für Journalisten nennen, wie man objektiv bleibt, unabhängig von der Situation, die gerade entsteht? Wie schafft man es, dass die eigene politische Haltung die „trockenen“ Fakten nicht überwiegt?

    Alexander: Banal gesprochen, ist es eine Frage der Professionalität. Wir alle haben irgendwo irgendwas gelernt. Dort wurde uns aus professioneller Sicht erklärt, was Fakten sind, wie man mit ihnen umgeht, dass man sie nicht manipulieren darf und so weiter. Kurzum, es ist einfach wichtig, sich an diese Kriterien zu halten und seine Emotionen davon zu trennen.

    Etwas anderes ist es, wenn es – wie im heutigen Belarus – schon eine politische Haltung ist, die Wahrheit zu sagen. Beispielsweise ist das Berichten über die Proteste bereits eine politische Haltung , denn das geht mit Risiko einher. 

    Im heutigen Belarus ist es schon eine politische Haltung, die Wahrheit zu sagen

    Derzeit wird ein Beschluss vorbereitet, demzufolge das gesamte Material von tut.by – eines bereits zerschlagenen und gesperrten Portals, 15 Mitarbeiter sind bereits in Haft – als extremistisch eingestuft werden soll. Das bedeutet zum Beispiel, dass jemand, der vor zehn Jahren einen Artikel von tut.by abgetippt oder verlinkt hat, von heute auf morgen zum Extremisten erklärt werden kann. 

    Aber ich schweife ab. Worauf ich hinaus will, ist, dass es heute schon ein Risiko darstellt und von politischer Haltung zeugt, einfach nur ehrlich und objektiv zu berichten über das, was passiert, und an Themen zu rühren, die der Regierung nicht passen. 

    In diesem Zusammenhang möchte ich betonen, dass es sehr wichtig ist, den Kontext des Materials professionell darzustellen. Ein konkretes Beispiel ist die Pressekonferenz mit Roman Protassewitsch neulich. Hier kommt die Ethik mit ins Spiel – der Journalist der BBC ist gegangen. Einige westliche Diplomaten sind gegangen, weil sie fanden, dass da ein Gefangener vor laufender Kamera gefoltert werde. Demnach sei es unethisch, überhaupt etwas zu senden. BelaPAN, wo ich arbeite, hat das Material gesendet, wofür uns sowohl einige Kollegen als auch einfach ein politisiertes Publikum auf Facebook attackiert haben. 

    Es ist sehr wichtig, den Kontext professionell darzustellen

    Aber wir haben in unseren Berichten immer den Kontext betont: Wer ist Protassewitsch, wie ist er in diese Pressekonferenz hineingeraten? Wir haben Details wie die Meinung seines Vaters ergänzt, der erklärt, dass er einige Dinge, milde ausgedrückt, nicht aus freien Stücken sagt. Sprich, wir haben die Information gesendet, denn sie zu verschweigen, wenn es doch den Fakt, die Pressekonferenz vor unserer Nase, gibt – das wäre doch unprofessionell.

    Maxim: Da stimme ich Alexander zu. Es ist zweifellos eine sehr schwierige Situation, wenn so ein Druck vonseiten des Staates ausgeübt wird. In Russland ist es nicht ganz so schlimm, aber die Situation ist sehr dynamisch, und sie entwickelt sich im Großen und Ganzen in dieselbe Richtung.

    Eigentlich hindert merkwürdigerweise die Regierung die Journalisten sehr oft selbst daran, objektiv zu berichten. Indem sie beispielsweise ein Medium zum ausländischen Agenten erklärt, hindert sie es einfach daran, seine Arbeit zu machen. Das ist ja quasi auch ihr Ziel. Das leuchtet ein. Aber das Medium wird weniger objektiv, weil es viel schwieriger wird, Kommentare von Staatsbeamten zu bekommen oder sogar von Wirtschaftsvertretern, die Angst haben, mit den falschen Leuten in Verbindung gebracht zu werden. Im Endeffekt wird die journalistische Arbeit erschwert. 

    Es wird immer schwieriger professionelle Standards zu befolgen

    In dieser Situation war beispielsweise die Zeitung VTimes. Das sind meine Kollegen, die früher bei Vedomosti gearbeitet haben. Nachdem Vedomosti von einem kremlnahen Verleger aufgekauft wurde, hatten sie ihre Unabhängigkeit eingebüßt, die Leute haben gekündigt, angefangen wieder zu arbeiten und „wurden kürzlich zu ausländischen Agenten“. Sie haben zugemacht. Nicht nur, weil sie kein Geld verdienen konnten, sondern weil ihnen bewusst war, dass sie nicht objektiv sein konnten. Das sind alles Menschen, die in der Tradition eines objektiven, faktenbasierten Journalismus stehen, der zwingend voraussetzt, dass man bei jeder Story mit allen Seiten spricht. Deswegen haben sie zugemacht. Diese Standards, diese Regeln zu befolgen, wird immer schwieriger. 

    Auch das Investigativmedium „The Insider“ (hier Chefredakteur Roman Dobrochotow) wurde vor Kurzem von der russischen Regierung zum ausländischen Agenten erklärt / Foto © Ilya Varlamov/varlamov.ru
    Auch das Investigativmedium „The Insider“ (hier Chefredakteur Roman Dobrochotow) wurde vor Kurzem von der russischen Regierung zum ausländischen Agenten erklärt / Foto © Ilya Varlamov/varlamov.ru

    Alexander: Genau, ich würde Maxims Gedanken gern noch weiterführen. Rein technisch oder technologisch läuft es folgendermaßen: Wenn in Belarus Webseiten gesperrt oder andere Medien dicht gemacht werden, wandert die journalistische Arbeit, der Content, zu anderen Plattformen. Insbesondere zu Telegram (der beliebtesten Plattform unter diesen Umständen), weil man es nicht nicht einfach dichtmachen kann. Aber auf Telegram herrscht ein ganz anderer Stil. Ein viel schärferer. Und weniger Faktencheck. Ich möchte den Gedanken, den Maxim schon formuliert hat, nochmal betonen: Die Regierung drängt den Journalismus tatsächlich dahin, bei bestimmten Formen schärfer, radikaler zu werden. Sie wollen die professionellen Webseiten nicht haben und bekommen dafür Telegram, was überhaupt keine Diplomatie kennt und grob gesagt, das Regime einfach kurz und klein hackt, es von vorn bis hinten zerlegt. 

    Die Regierung drängt den Journalismus tatsächlich dahin, bei bestimmten Formen schärfer, radikaler zu werden

    Maxim: Ja, die sozialen Medien sind noch ein Thema für sich.

    Die Statements in den sozialen Medien, ein aufgenommenes Video, ein Podcast – das alles verlagert den Schwerpunkt auf eine möglichst große Reichweite, auf die Idee, die Fakten dem Publikum – einem großen Publikum – möglichst zugänglich zu präsentieren. Dafür muss vereinfacht werden, müssen Ecken und Kanten abgeschliffen werden, Dinge eher attraktiv und anziehend, statt scharfsinnig und genau dargestellt werden. Die Entwicklung geht, objektiv betrachtet, auf der ganzen Welt in diese Richtung. Bei Weitem nicht nur in Russland oder Belarus. 

    Aber vor dem Hintergrund der Ereignisse bei uns bekommen wir gewissermaßen eine Verdopplung aller Effekte, weil wir nämlich noch den staatlichen Druck haben, neben dem Marktdruck, der Veränderung des Publikumsgeschmacks, dem Auftauchen neuer Plattformen, die ausgesprochen verlockend sind, auch für Journalisten. Das steht außer Frage. Weil sie nämlich einen sehr schnellen und wirkungsvollen Auftritt bieten. Aber all diese Dinge schaden den ursprünglichen Standards. Deswegen verwischen die Standards, leider. 

    Alexander: Ich möchte noch Folgendes sagen: Wenn wir mit einer gewissen Skepsis über die Objektivität und andere Standards sprechen, bedeutet das nicht, dass diese nicht wichtig wären. Ich würde folgende Parallele ziehen: Es gibt die Normen der Moral, aber wir befolgen sie nie zu hundert Prozent, ansonsten wären uns allen längst Engelsflügelchen gewachsen. Wir sündigen, wir verstoßen immer gegen irgendwelche Regeln. Aber das bedeutet nicht, dass man die moralischen Normen in die Tonne treten kann. Es existieren trotzdem Begriffe wie „ein anständiger Mensch“ oder ein „niederträchtiger Mensch“, mit dem niemand etwas zu tun haben möchte. Genauso ist es mit dem Journalismus. Du kannst nicht immer zu hundert Prozent den Standards entsprechen, aber das bedeutet nicht, dass du dich nicht darum bemühen solltest. 

    Soziale Netzwerke, Blogs, Telegram-Kanäle – das alles senkt einerseits die journalistischen Standards. Andererseits könnte man sie doch auch als Quellen glaubwürdiger Information betrachten, gerade vor dem Hintergrund, dass die Redaktionen der unabhängigen Medien schließen und die Menschen trotzdem irgendwoher ihre Information beziehen, Nachrichten lesen müssen. Können die neuen Medien die Redaktionen ersetzen, die uns in den vergangenen 10, 20 Jahren auf dem Laufenden gehalten, Analysen und nicht nur Nachrichten geliefert haben?

    Maxim: Qualitativ hochwertige Information wird immer mehr zu einer „Luxusware“. Wirklich gute Qualität kostet. Menschen, für die sie lebenswichtig ist, sind bereit zu zahlen. Menschen, für die sie nicht wichtig ist, werden nie dafür zahlen. Und dann gibt es noch die Menschen, die aus Prinzip sagen, sie würden nie für Inhalte aus dem Internet zahlen. In diesem Bereich ist es wirklich die persönliche Entscheidung eines jeden einzelnen.

    Du kannst nicht immer zu hundert Prozent den Standards entsprechen, aber das bedeutet nicht, dass du dich nicht darum bemühen solltest

    In der modernen Welt, wo es keine großen Zeitungen mehr gibt, naja, es gibt sie natürlich schon, aber ihr Einfluss ist nicht vergleichbar mit dem von früher. Nirgendwo. Nicht nur in Russland. Nicht nur in Belarus. Das ist überall so. Die Welt ist sozusagen in Stückchen zerfallen und jeder entscheidet selbst, wie er leben möchte, wie er mit Information umgehen möchte. 

    Jemand, der den Wert von Information und von einer qualitativ hochwertigen Analyse kennt, wird dafür bezahlen. Ich habe aber den Verdacht, dass die meisten es nicht tun werden. Im Endeffekt finden sich die Menschen umgeben von qualitativ immer schlechterer Information wieder, immer weiter von der Welt der Fakten entfernt, in der wir mehr oder weniger existieren. Und dann wundern wir uns noch, warum sich Menschen beispielsweise nicht impfen lassen wollen. Warum sie irgendwelche komischen Geschichten, Verschwörungstheorien und so weiter glauben. 

    Jemand, der den Wert von Information und von einer qualitativ hochwertigen Analyse kennt, wird dafür bezahlen

    So ist die moderne Welt. In ihr gibt es zum einen harte Fakten und Analysen, Information von höchster Qualität, die nur wenigen zugänglich sind. Und dann geht es immer weiter nach unten. Außerdem gibt es noch die Propaganda, die auf Hochtouren läuft. Ganz unterschiedliche Propaganda. Nicht nur bei uns im Land, das ist eine sehr verbreitete Erscheinung auf der ganzen Welt. 

    Das Bild, das wir bekommen: Von der höchsten bis zur niedrigsten Qualität gibt es alles in ein und derselben Welt, in ein und derselben Stadt, bis ins Private hinein. Einer konsumiert das eine, der andere das andere. Kurzum, jeder entscheidet für sich selbst.

    Alexander: Ich möchte sagen, dass ich ein Anhänger des klassischen professionellen Journalismus bin und überzeugt, dass er unersetzlich ist. Und zwar nicht aus beruflichen Ambitionen oder Stolz, sondern aufgrund dessen, was ich beispielsweise bei der Arbeit sehe. 

    Ich ergreife nochmal die Gelegenheit für die Nachrichtenagentur BelaPAN zu werben. Kollegen aus anderen Häusern haben in den letzten Jahren angefangen, von einer Monetarisierung des Contents zu sprechen. Darüber können wir nur lachen, weil wir vom ersten Tag an Information verkaufen – wir leben davon. Andere Medien hatten uns abonniert, solange es sie in Belarus noch gab, jetzt sind es vor allem ausländische Botschaften. Wenn ich mit den Diplomaten spreche, sagen sie: „BelaPAN – das ist verifizierte Information, das schätzen wir, und dafür zahlen wir.“ Es gibt also Blogger wie Sand am Meer, aber sie entscheiden sich für BelaPAN, weil ihnen diese Blogger gestohlen bleiben können. 

    Ich bin ein Anhänger des klassischen professionellen Journalismus und überzeugt, dass er unersetzlich ist

    Ich breche es natürlich etwas herunter, weil es eine Reihe von Bloggern gibt, die eigentlich professionelle Journalisten sind, aber das Leben zwingt sie einfach dazu, sich als Blogger „auszugeben“, bei Telegram oder in sozialen Netzwerken zu veröffentlichen. Aber dort produzieren sie exakt dasselbe, was sie gewohnt sind und gelernt haben zu produzieren.

    Für manche ist das sicher zugänglicher und es imponiert ihnen mehr, wie Maxim schon sagte. Aber ich sehe auch, dass eigenverantwortliche, selbstständige Menschen, die es gewohnt sind, die Wirklichkeit kritisch zu durchdringen und selbst Entscheidungen zu treffen – dass sie zu den klassischen Medien tendieren, oder zu Bloggern, die in Wirklichkeit professionelle Journalisten sind.

    Lassen Sie uns ein Jahr nach vorn springen und uns vorstellen, was mit dem belarussischen und dem russischen Journalismus sein wird, wenn man die Krisen berücksichtigt, die sie gerade durchleben. Lassen sich Prognosen machen? Und wenn ja, welche?

    Alexander: Was Belarus betrifft, sind die Prognosen leider nicht sehr erfreulich. Denn die Repressionen dauern an, die Gerichtsprozesse dauern an, knapp 30 Journalisten befinden sich gerade in Haft. 

    Vieles hängt von der Entwicklung der politischen Lage ab. Wenn die Regierung doch noch versucht, mit der EU und Washington das Gespräch zu suchen, wird es vielleicht ein kleines bisschen leichter, obwohl mit einer Liberalisierung natürlich nicht zu rechnen ist. Deswegen werden die Medien – ich rede von den unabhängigen Medien (den staatlichen Journalismus klammere ich gleich aus, denn ich würde ihn nicht als Journalismus bezeichnen, es ist die reinste Propaganda, die immer tiefer sinkt, sodass sie überhaupt nicht mehr Gegenstand einer professionellen Diskussion sein kann), also die nichtstaatlichen Medien, die noch da sind, werden vermutlich auf andere Plattformen ausweichen, sprich, lernen in diesem aggressiven, hochaggressiven Umfeld zu überleben, irgendwelche neuen Kanäle zur Informationsvermittlung erfinden, weil das in der Gesellschaft gefragt ist. 

    Die nichtstaatlichen Medien, die noch da sind, werden vermutlich auf andere Plattformen ausweichen, sprich, lernen in diesem hochaggressiven Umfeld zu überleben

    Die Belarussen haben bewiesen, dass sie eine, wenn auch noch nicht gänzlich so doch zunehmend politische Nation sind. Und Bürger brauchen keine Propaganda, sondern professionelle, durchdachte, vielseitige Information. Das ist gefragt, und deswegen werden die belarussischen Medien weiterarbeiten, wenn auch in einer etwas partisanischen Form. 

    Positive Aussichten sind nur bei einem Regimewechsel denkbar, bei einem Wandel des gegenwärtigen Systems, das sich mittlerweile schlicht in einen Polizeistaat verwandelt hat.

    „Die Regierung tut gerade alles, um tut.by zu vernichten, sie verpassen der Plattform gerade den Todesstoß.“ / Foto ©  tut.by
    „Die Regierung tut gerade alles, um tut.by zu vernichten, sie verpassen der Plattform gerade den Todesstoß.“ / Foto © tut.by

    Alexander, was denken Sie, wenn wir die positiven politischen Szenarien annehmen – wird tut.by in irgendeiner Form wieder zum Leben erwachen?

    Alexander: Die Regierung tut gerade alles, um die Plattform zu vernichten, sie verpassen ihr gerade den Todesstoß. Deswegen wird die Regierung erstmal versuchen tut.by vollends zu erwürgen, die waren ein zu großer Reizfaktor für sie. 

    Die belarussischen Medien werden weiterarbeiten, wenn auch in einer etwas partisanischen Form

    Ich denke, es gibt die Möglichkeit, dass dieses Portal teilweise, natürlich nicht ganz, im Ausland wiederentstehen wird. Denn jetzt wurde tut.by ja lahmgelegt, weil sich der Content, soweit ich weiß, rein physisch auf einem Server in Belarus befand, den man ganz plump ausschalten konnte. Aber wenn der Server im Ausland wäre, wenn die Leute – und die Belarussen haben in dieser Hinsicht im vergangenen halben Jahr einen enormen Fortschritt gemacht – mit VPN, Psiphon und all diesem Schnickschnack umgehen können, dann werden sie, wie die Erfahrung Chinas, des Irans und anderer repressiver Regimes beweist, die Information finden. Das lässt sich nicht mehr unterbinden. 

    Maxim, vielleicht könnten Sie abschließend noch ein paar Prognosen über die Entwicklung des objektiven Journalismus in Belarus und Russland geben?

    Maxim: Es ist etwas traurig, Prognosen zu machen, denn ausgehend von dem, was wir jetzt haben, bekommen wir in der Zukunft exakt dasselbe, minus noch ein paar Zeitungen. Das war’s. Das ist nicht besonders interessant. 

    Ich mache mir eher Gedanken über das Schicksal des faktenbasierten Weltbildes. Eines Weltbildes, das die Analytik ernstnimmt, das auf dem fußt, was man beweisen, und nicht auf dem, was man erfinden kann. Bis vor kurzem waren wir der Ansicht, dass Fakten existieren. Aber in den vergangenen 10, 15 Jahren beobachten wir, wie diese Überzeugung schwindet. Es ist seltsam, das zu sehen, aber es passiert vor unseren Augen, die Menschen finden es zuweilen viel interessanter, die Welt ganz anders zu sehen, als wir es früher mal, teils in der sowjetischen Schule, gelernt haben. 

    Es ist etwas traurig, Prognosen zu machen, denn ausgehend von dem, was wir jetzt haben, bekommen wir in der Zukunft exakt dasselbe, minus noch ein paar Zeitungen

    Das ist ein globaler Prozess. Er hängt von unterschiedlichen Faktoren ab: dem politischen Populismus, der Demokratisierung des Zugangs zu jeglicher Information, der Entwicklung der sozialen Medien, wo jeder Mensch längst selbst Autor, Journalist und Verfasser von Texten, Statements, Bildern und Tönen ist.

    Qualitativ hochwertige Information – das, was wir gewohnt sind als Standard zu setzen, als das einzig Wichtige zu betrachten, nennen wir es provisorisch „objektiver“, faktenbasierter Journalismus – wird heutzutage zu einem Gut für ein sehr kleines Segment der Gesellschaft.
    Wir leben in einer Welt, in der darüber gestritten wird, ob es überhaupt Fakten gibt, ob es überhaupt Objektivität gibt. In Wirklichkeit ist das das fundamentale Problem – weitaus mehr als das Schicksal der Medien in autoritären Staaten. Die autoritären Staaten sind in diesem Fall einfach ein Teil des Weltgeschehens und der Veränderungen auf der Welt.

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  • „Symptom einer politischen Krankheit im Endstadium“

    „Symptom einer politischen Krankheit im Endstadium“

    Am vergangenen Freitag haben die russischen Behörden erklärt, das Online-Medium Meduza in die Liste der sogenannten „ausländischen Agenten“ aufzunehmen. Das Exilmedium (mehr zur Vorgeschichte hier) hat seinen Sitz im lettischen Riga und ist seit seiner Gründung 2014 zu einem der populärsten unabhängigen russischsprachigen Medien avanciert, aus dem auch dekoder regelmäßg übersetzt. Als sogenannter „ausländischer Agent“ muss Meduza alle Beiträge mit einem entsprechenden Vermerk kennzeichnen und die Finanzen offenlegen, bei Verstößen droht eine Geldstrafe und letztlich die Blockade. „Das ist eine langsame Erdrosselung“, sagtе Meduza-Chefredakteur Iwan Kolpakow im Interview auf Doshd

    Schon während der Solidaritätsproteste für Nawalny im Januar und Februar waren die Behörden massiv gegen einzelne Medien und Medienschaffende vorgegangen, im April hatte außerdem die Festnahme von vier RedakteurInnen des Studentenmagazins Doxa für Aufsehen gesorgt.

    Vom Agentengesetz jedoch waren bislang Auslandsmedien wie die BBC oder Golos Ameriky (Voice of America) betroffen, ansonsten vor allem NGOs wie die Menschenrechtsorganisation Memorial und das unabhängige Meinungsforschungsinstitut Lewada. 2020 hatte die Duma außerdem Verschärfungen des 2012 ins Leben gerufenen Gesetzes beschlossenen, wonach auch Einzelpersonen als „ausländischer Agent“ bezeichnet werden können – und zwar auch dann, wenn das Geld, das sie aus dem Ausland empfangen haben, gar nicht in Zusammenhang mit irgendeiner politischen Tätigkeit steht. Die EU bezeichnete die Einschränkung unabhängiger Medien in Russland am Samstag als „extrem besorgniserregend“.

    „Ausländischer Agent“ – Maxim Trudoljubow nimmt das Vorgehen gegen Meduza auf Facebook zum Anlass, den Begriff vor allem auf den symbolischen Gehalt hin zu hinterfragen.

    Mitbürger zu „ausländischen Agenten“ zu erklären – das ist ein zynischer und selbstgerechter politischer Trick. Vielfach erprobt, in unterschiedlichen Epochen und unter unterschiedlichsten Bedingungen – in revolutionären Situationen und in solchen mit einer einzigen „siegreichen“ Partei. Die schlichte Einstufung des Opponenten als äußerer Feind macht den innenpolitischen Dialog zum Krieg. Da ist kein parlamentarischer Disput mehr, kein Disput zwischen Parteien, kein öffentlicher Dialog mit Veröffentlichungen und angriffslustigen Gegendarstellungen, nicht mehr Pamphlet um Pamphlet, nicht ein Wort, das das andere gibt. Hier ist Schluss mit lustig, übereinander Lachen ist verboten – keine Witze, Meme und Satire mehr. Die andere Seite führt das Gespräch aus einer Position der Gewalt heraus. Das passiert, wenn die, die momentan  am Ruder sind, keine Argumente mehr haben. Das ist wie eine Vergewaltigung.

    Aber das ist nicht alles. Es ist nicht nicht nur Zynismus und Selbstgerechtigkeit von Menschen mit Villen in Südfrankreich. Es ist der Beweis für die Transformation des Regimes, das sich immer weiter ändert, um der sogenannten ersten Person Schutz zu gewähren – was wiederum seine, also des Regimes, einzige Mission ist. Ob „er“ (das Regime und sein Gesicht mit dem Anfangsbuchstaben P) will oder nicht – der endgültige Schritt, jegliche politische Gegner, nicht registrierte, nicht anerkannte, unverständliche Akteure als „die Anderen“ zu klassifizieren und ihnen ein Label anzuheften, das ist das eindeutige Symptom einer politischen Krankheit im Endstadium, die viele Namen hat: Totalitarismus, Faschismus, alles Mögliche, über das man nicht diskutieren möchte. 

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