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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Yes Future No Future – erfahrungen nichtlinearer ansichten

    Yes Future No Future – erfahrungen nichtlinearer ansichten

    Maxim Shbankou, 1958 in Minsk geboren, hat sich unter anderem mit seinen scharfen und scharfsinnigen Polemiken als Kulturkritiker und -forscher einen Namen in seiner Heimat Belarus gemacht. Zudem ist er einer der Organisatoren des Filmfestivals Bulbamovie, das zwischen 2011 und 2015 in Warschau veranstaltet wurde. In einem Essay voller popkultureller Reminiszenzen, den Shbankou für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft geschrieben hat, vollzieht er den geistigen und kulturellen Aufbruch des unabhängigen Belarus nach, den er sich als junger Mensch in der Sowjetunion ersehnt hatte. Ein Aufbruch, der aber häufig konträr zu dominierenden politischen Entwicklungen und erzkonservativen Geisteshaltungen verlief. Vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine und einer Radikalisierung des politischen Systems in Belarus ergründet er, was das Versprechen der Zukunft überhaupt noch wert ist und bedeuten kann:  „Hier gibt es nicht nur keine Zukunft. Hier gibt es nicht einmal eine wirkliche Gegenwart.“

    Русская Версия

    „Knoten der Hoffnung” / Illustration © Tosla
    „Knoten der Hoffnung” / Illustration © Tosla

    Die Zeitrechnung endete 2020 und George Orwell verging vor Neid. Die Endzeitliteratur wurde vom belarussischen Nachrichtenstream auf den Müll verfrachtet. Gleichzeitig schwanden auch alle anderen Gruselschriften – vom Prozess über Einladung zur Enthauptung bis hin zum Archipel GULag. Das Happy End verreckte, der Himmel voller Diamanten erwies sich als schwarzes Loch. Nirgends konnte man hinschauen. Nirgends konnte man abschreiben. Alle Partituren zurück auf Null. Meme der Saison: Bleib stehen! Hab Angst! Alle auf Stopp. Alles auf Stopp. Nein, die Erde dreht sich weiter. Kaffeepausen laut Plan. Und da Winter ist, wird wahrscheinlich auch wieder Sommer. Nur werden an diesem Bahnhof keine Fahrkarten nach Morgen mehr verkauft. Ob es je welche gab, ist unklar. Vielleicht liegt es daran, dass es gar kein Bahnhof ist. Bloß eine Eisbude neben einem Provinzzirkuszelt.

    Wenn ich darüber nachdenke, dann hatte ich niemals eine Zukunft. Wobei – niemals. Das halbe Leben auf jeden Fall. Was sagten sie uns immer? „Schau, wenn du mal groß bist …“ Und dann? Nichts. Dann bist du eben groß. Als ich klein war, verfrachteten sie mich in den Kindergarten, man musste lange fahren, mein Physiker-Vater kam immer zu spät ins Institut. Später die Schule, ich laufe auf die Kreuzung, stürze mit dem Knie aufs Eis, es tut weh, da kommt ein schwarzes Auto. Bremst gerade noch. Uff. Noch mal heil davon gekommen. Ich schaffe es noch zum Unterrichtsbeginn. Weiter – höher. Neue Kurse. Alles fremd. Wozu? Weil es so sein muss. Zwei Jahre Wehrdienst. Uni. Dissertation (war langweilig, daher brauchte ich nur die Hälfte der Zeit). Professur. Hochzeit. All sowas eben.

    Die Zukunft schufen andere: die kommunistischen Zombies von den Paradenporträts, die Chefs in spitzen Schuhen und glänzenden Anzügen, die kühnen Baumeister, die das alte Minsk komplett auskämmten, und die Kulturschmuggler, die pünktlich frische Dosen Rock’n’Roll-Gift ins kommunistische Paradies schmuggelten. Kurz gesagt alle, die wenigstens ein bisschen Einfluss hatten und den globalen Rahmen auf den eigenen Eifer zuschnitten. Sicherlich nicht ich – ein Statist in Jeans in einem Theaterstück unter fremder Regie. Ein frischer Ziegelstein in einer Mauer ungewissen Zwecks. Vielleicht Supermarkt, vielleicht Mausoleum.

    Ich habe die Zukunft nicht bestellt, die Zukunft hat mich bestellt. Und es blieben nur drei Möglichkeiten: sich als Bahnschwelle unter diesen Zug legen, vor der Lok herrennen oder an den Rand zu treten. Für jeden Bewohner des Sowjetreichs der späten 1970er Jahre war in der Zone fremder Geräusche und transzendenter Signale, im Bereich der Kultur, die bis an den Rand gefüllt war mit Produkten der Lebensaktivität ausländischer Programmierer, eine Form der Präsenz normal, in der an erster Stelle und unvermeidlich der Pioniereid stand. Dann folgte – das Anderssein des Teenagers. Und schließlich für die dreistesten – die reife und bewusste Abkehr. Praktiken der Selbstidentifikation außerhalb des Systems. Aus der Trias Sex, Drugs and Rock’n’Roll lag das erste noch im Dunkeln, das zweite war unerreichbar. Dafür haute die dritte Komponente mit voller Wucht rein.

    An die Stelle des „Zeit, voran!“ unter rotem Banner – schon damals völlig entleert vom Heldenpathos der Anfangszeit und eingetauscht gegen gestammelte Gesänge von hohen Tribünen – trat die private kulturelle Gestaltung: Welche helle Zukunft bitteschön sollte da sein? Welcher Kommunismus? Welche Subbotniks? Die Zeit drehte und kurvte herum. Sie zerstob zu den Tracks von Led Zeppelin und den Mantren der Doors. Der einzig wichtige Tagesplan war das Programm des polnischen Radiosenders. Wo seit ihrem Erscheinen Tag für Tag die komplette Pink-Floyd-Platte The Dark Side of the Moon lief. 

    Im Land des feierlichen Auf-der-Stelle-Tretens war uns ein kulturelles Plateau zugeteilt, auf dem alles mit Verspätung ankam. Aber doch, oh Wunder, genau rechtzeitig. Lennon und McCartney begann ich vom Ende an zu hören: mit der Kollage  des Weißen Albums und dem Grand Finale Abbey Road. Sobald wir die Tonbandkopien in die Hände bekamen, ging es los. Und so lief es weiter. Eine gebundene Fotokopie der Nowy-Mir-Ausgabe von Meister und Margarita fand ich auf einer Parkbank im Stadtzentrum. Ein exzellenter Platz, um den teuflischen Kater mit der Browning lieben zu lernen. Meine weißen T-Shirts färbte ich in einer Schüssel in der Küche, zu einem Knoten verschnürt – wie die britischen Hippies in der zerfledderten Zeitschrift Anglia

    Während die irren Planer uns Perspektiven formten, lebten wir in unserem selbstgemachten Heute. Das reichte uns vollkommen zum Glück.

    Hier, in diesem Standbild des Welpendunstes gab es kein Gefühl des Kontrollverlustes. Denn es gab überhaupt keine Kontrolle. Von der Komsomol-Versammlung liefen wir direkt zu den strawberry fields. Dort blieben wir und fingen Käfer und pafften Pusteblumen. Ausflippen im abgekoppelten Waggon.

    Wir erwarteten keine Siege, weil der Sieg schon in unseren zotteligen Köpfchen stattfand. Die schwache Selbstidentifikation sprengte jeden Wunsch, Prozesse zu leiten und in Fünfjahresplänen zu denken. Wichtiger war herauszufinden, was da auf der neuesten Kassette der Stones stand – Family oder Country Joe? Und wer hatte sich eigentlich diesen Jungen namens Bananan ausgedacht?

    Die Manöver der Staatspitze und das Lächeln vom Mausoleum beherrschten die ersten Spalten der Zeitungen. Letztlich bedeuteten sie aber nicht mehr als die Stunde Morgengymnastik im Radioprogramm. Selbst als Gorbatschow kam. Die Perestroika klang wie eine idiotische Rochade der Regierung. Plus die eingeschalteten Abgeordnetenmikrofone in unserem grenzenlosen Neubaugebiet. Die Zeit gewann nicht an Tempo. Sie gaben einfach Solschenizyn zurück, gaben Brodsky heraus und tauschten in Karabach Sowjetmief gegen Bleikugeln. 

    Die Volksfronten? Sie kämpften für ein schlecht retuschiertes Gestern und ein trübes Heute. Eigentlich wie ihre Gegner auch. Der Unterschied lag in der Farbe der Flaggen und dem Heldenportfolio. Wieder keine Zukunft. Es war unklar, wer aufrief und unklar, wozu. In diesen Film wollte ich nicht: Ich hatte schon meinen eigenen. Die Choreografie der Reformierer und der Konservierer erschien wie ein Kampf der Papierdrachen, während ich Jimi Hendrix hörte.

    Und was kam dann? Dann kam das Gestern. Immer dasselbe, nur dass anstelle des rotgebannerten sowjetischen Morgen das belarussische Kolchosen-Retro zu uns kam. Das, was sich heute aktiv als polizeilich-militärischer Triumph hervortut.

    Die große Zeit blieb nicht stehen, sondern begann ihren eigenen Schwanz zu jagen wie ein beklopptes Kätzchen. Erst kamen die Demonstranten. Dann die Gefangenentransporter. Dann wurden Kredite verteilt und die Zinsen wucherten. Danach wieder Demonstranten. Und noch mehr Gefangenentransporter. Und fünfzehn Tage für einen Repost. Und dann durfte selbst die Kartoffel das Land nicht mehr verlassen. Und in der Ukraine sind wieder „Nazis“.

    Damals aber, an der Jahrhundertwende, war in der netten Kulturwelt alles greller und bunter. Wir durchforsteten die Archive und studierten das Verpasste. Der Eiserne Vorhang hatte sich irgendwohin verzogen. Die Zensur war eingetrocknet. Für Rock’n’Roll wurde man nicht mehr verhaftet. Europa kam näher, die Grenzen wurden transparenter. Die Bohème bekam britische Journale, schwarze Jeans und polnische Platten. Vor diesem Hintergrund des popkulturellen Glücks war es den abgesonderten aktiven Bürgern noch gleichgültiger, wohin die Machtspitze uns manövrierte. Gleichgültig und unverändert unklar.

    Die Bewegung im Stil der lässigen beautiful People blieb die beste Technik des psychischen Wohlbefindens und ein sicherer Selbstschutz vor den weiteren Mobilisierungen. Die minimalen Karriereoptionen und null Einflussmöglichkeiten auf die bestehende Ordnung wurden vollständig kompensiert durch die Absage des Staates, sich in deine persönlichen Pläne einzumischen. Man konnte weiterhin als Dekor leben, da immer mehr Dekor hinzukam. Der Lebensraum deiner Transitträume erstreckte sich von Porto bis Stockholm.
    Doch hier geht es wieder nicht um die Zukunft. Nicht ums Morgen. Denn all dieser Jazz ertönte hier und jetzt. In unseren unteren Etagen.
    Und wer weiß, was die da oben rauchten? Und ob dort überhaupt noch jemand am Leben war?

    Man kann das leicht als stagnierenden Stupor oder nationale Depression betrachten. Als abgekartetes Spiel der sozialen Stabilität: „Ihr lasst nichts anbrennen – wir üben keinen Druck aus.“ Doch ich würde eine solche Ordnung eher als kulturelle Gleichgültigkeit bezeichnen. Als flackernde Präsenz einzelner Piratensender dort, wo Störsender nicht hin reichen. 
    Ja, das ist ein Spiel mit Metaphern, aber keine verbale Effekthascherei. Einfach nur der Versuch Bedeutungsnuancen mit Wortkonstruktionen zu erfassen. Der hybride Zustand kulturellen Tauchens mit Übergang zum emotionalen Strudel. 

    Dabei haben auch Sinnbrüche einen Sinn. Und in parallelen Sphären findet sich manchmal Licht. So hatte auch unsere nach dem grenzwertigen Präsidenten benannte Provinzdiktatur ihre samtene Periode. Irgendwo in der zweiten Dekade dieses Jahrhunderts ergab sich eine inoffizielle Parität zweier Unabhängigkeiten – derjenigen der Basis und derjenigen der Spitze. Die stille Anerkennung der gegenseitigen Unvereinbarkeit des Old-School-Regimes und der neuen kreativen Klasse. Wir können so gut ohneeinander, dass wir einander nicht auf die Mokassins treten. 
    Nahe, aber nicht zusammen. Eine scheinbar integrierte Nation. Bis zum ersten Protest. Bis zur ersten Verhaftung.

    Es war eine wunderbare Welt an der Welt vorbei. Ein choreografierter, ineinandergreifender Übergang von Hochtechnologie und Machtbalett. Hi-Tech-Dancing im Affenhaus. Die Außerirdischen sind schon angekommen und lassen sich bereitwillig als Minderheit und rein dekorative Rasse halten. 

    No News from Belarus / Foto  © Alexander Komarov, 2010
    No News from Belarus / Foto © Alexander Komarov, 2010

    No News from Belarus – wie ein belarussischer Künstler melancholisch konstatierte. Wieder Sowjetunion, nur durchtrainiert. Zwei ausgebremste Realitäten – den administrativen Wahnsinn und das kreative Hub – nähten Staatssicherheit und Venediger Biennale periodisch aneinander. 
    Auf die Schnelle. Situativ. Notdürftig. Thema hinbiegen und Problem abhaken, solange niemandem Leid zugefügt werden musste.

    Was geschah im stürmischen Jahr 2020? Bruch der Konventionen. Die oberste Etage krachte unter Schreien, Schimpfen und Schüssen runter. Wahrscheinlich bildeten sie sich ein, dass der Keller den Umsturz angezettelt hatte, um zum Penthouse zu werden. Vielleicht war es an einem gewissen Punkt auch so. Wirklich, wie kann man nicht das Penthouse sein wollen? Das wollen doch alle.

    Der aufgebrachten Vertikale der trüben Macht waren zwei einfache Ideen nicht zugänglich. Erstens: Es gibt nichts Schlechtes an der Horizontalen. Und zweitens: Der größte Feind der Vertikalen ist die Vertikale selbst. Eine aggressive Gopnik-Band hat die Führung des Landes ruiniert, schuld aber sollten die sein, die Mandarinen schälen oder einfach das Kinderzimmer neu tapezieren wollten.
    In der Folge wurde nicht darüber gestritten, wo man leben wollte, sondern mit wem man sein will. Alles ist ganz einfach: Sie können uns nicht vergeben, dass wir ohne sie zurechtkommen. 

    Die Kolchos-Elite wird von ihrer eigenen Geistesarmut, ihrer aggressiven Selbstverliebtheit und der völligen Phantasielosigkeit erstickt. Daher der Wille, alles zurückzudrehen. Wo es noch verständlich war. Aufzeigen, dass die horizontalen Menschen ein statistischer Fehler sind. Alles, was in diesen unglücklichen, vom Fernseher ramponierten Köpfen ankommt: „Sie lieben uns nicht, weil sie gekauft wurden“. Hier gibt es nicht nur keine Zukunft. Hier gibt es nicht einmal eine wirkliche Gegenwart.

    Worin liegt also der Sinn einer belarussischen Perspektive? Darin, dass hier keine für alle gültige Version entstanden ist. Die Nation lebt dauerhaft im dauerhaften Ungleichtakt. Tür an Tür, aber in verschiedene Richtungen.

    Fast wie die Konstellation in Berlin: S-Bahn versus U-Bahn. Verkehr auf verschiedenen Ebenen. Oben der Versuch zu regieren – eine (scheinbar) pragmatische Polit-Choreografie und/oder ein hysterischer Tanz kriegspropagandistischen Vokabulars. Unten – das private Mosaik aus Bruchstücken des vergangenen Lebens. 
    Die Züge fahren nicht nur auf verschiedenen Ebenen. Sie fahren in verschiedene Richtungen und mit unterschiedlichen Passagierzahlen. Es gibt grundsätzlich nie einen Zug für alle. Auch die Waggons sind verschieden. Und dabei geht es nicht um besser oder schlechter. Es sind verschiedene Systeme von Organismen. Verschiedene Lebensformen. Wie Fische und Kaninchen. 
    Die Zukunft wächst gleichzeitig in alle Richtungen. Es kann nie nur eine geben. Zum Glück. 

    Und nun kommt das Wichtigste: Die Zukunft gibt es nicht deshalb, weil jemand sie besser als ein anderer erdacht hat. Sie ist kein Plan und kein Szenario. Sie ist ein gegebener Verlauf jenseits toter Konzepte. Ein anderes Leben, das keine Angst hat sich zu verändern. Die natürliche Erfahrung eines vorübergehenden Bewohners instabiler sozialer Verschiebungen. Ihr Sinn ist die Unschärfe der Route und ein nicht offensichtlicher Bedeutungshorizont. Der Zustand der offenen Suche und der permanenten Degustation von Optionen.

    Sie kann nicht regiert werden, und sie hat keinen Chef. Sie ist eine unumkehrbare Abfolge von Dias und ein permanentes Upgrade von Inspirationsquellen und Energieressourcen. Die echte Zukunft killt unsere Illusionen. Und sie gelingt niemals hundertprozentig. Die Zukunft ist der Anstieg von Problemen und Katastrophen. Ein Training am Komplizierten. Oder Dramedy Non-Stop.    

    Die Zukunft gibt es nicht, weil sie schon da ist. Und unser allgemeines Theater bleibt Theater, nur kann man die Show jetzt anschauen, ohne die Angst kotzen zu müssen. Was rettet? Wir haben das Recht auf eine Stimme, Bewegungsfreiheit und Zutritt zur Bühne. Was stört? Genau dasselbe.
    Gut daran – regelmäßiger Spielerwechsel, die Freiheit abzuhauen, der Effekt der Mitleidenschaft und die ständige Wahl der Helden der Saison. Schlecht ist, dass ständig jemand den Einsatz verpasst, in den Saal platzt, die Rolle verwechselt und scharf drauf ist rumzuballern.

    Heute lebt jeder sein Morgen – so gut er kann – für sich. Die Nation ist keine Paradeabordnung, sondern einfach ein gut ausgestattetes Feld für gemeinsamen Jazz. Statt einer verängstigten Kaserne – ein zerfranster Stapel bunter Identitäten. Postkino. Telegram-Style für die posttotalitäre Gesellschaft.
    Apokryphen sind unvermeidlich. Mutationen erwünscht. Dezentralisierung garantiert.

    Das totalitäre Theater brennt – aber im Großen und Ganzen gibt es niemanden, der ihm nachweinen würde. Außer Feuerwehrleuten, Platzanweiserinnen und Jongleuren ballistischer Raketen.
    Die Matrix ist zerlegt. Die Kreativität ist geblieben. Sie haben nichts mehr miteinander zu schaffen.

    Stellt euch die Titanic vor, deren Decks wie ein Strandhaus im Hurricane auseinanderfliegen. Welche gemeinsame Zukunft sollten sie haben? Sie haben nichts gemeinsam: Ozean, Sturm, Eisberg. Und eine absolut vorhersehbare Scheiße. Deren Fahrplan wiederum für jedes Deck ein anderer ist. Die Bedeutung dieser Zukunftsversion liegt am Ende einer gemeinsamen Route und eines gemeinsamen Märchens. Und auch im gemeinsamen Unglauben an Märchen und Märchenerzähler. Nein, die Bullshit User werden bleiben. Aber die Realität wird sie schnell korrigieren.

    Sie kommt auf Putins Panzern angefahren und bringt die nächste Brigade derer, die mit einer ausgedachten Vergangenheit vergiftet wurden. Um sie in kalten ukrainischen Feldern zu vergraben. Oder sie führt dich in der Geschützpause raus zum Rauchen. Damit du die Sterne am Himmel zählst – Gold auf Blau. Und dich freust, dass du die Morgendämmerung noch erlebst.

    Was eint? Was verbindet uns alle in diesen Erschießungsstürmen? Keine neue Ganzheit, sondern ein neuer Schwall von Brüchen. Die Stabilität der Instabilität. Wir sind schon morgen. Weiter zu denken ist unmöglich.

    Die Bewohner der Gegenwart wurden in eine unerwartete, katastrophal schöne Konstellation geworfen – Flüchtlinge und politische Gefangene, Schützen und Poeten, Performer und Cyber-Partisanen, IT-Jedi und Straßencellisten, rebellische Gastronomen und Underground-Künstler – sie alle werden nicht durch ein neues Zirkuszelt gerettet, sondern durch seine glänzende Abwesenheit.
    Zeit für aufrechten Aufbau und messerscharfe Wahl. Die Möglichkeit für seltsame Reime und spontane Konsonanzen. Ein mosaikhaftes Draußen. Raum der situativen Kollaborationen. Logik der Easy Riders.

    Nächster Orientierungspunkt? Zugluft und Mangel als Zone des persönlichen Antriebs und der privaten Obsessionen verstehen und lieben.
    Der grundlegende Sinn? Kontrolle über die eigene private Situation. Einrichtung der Selbstbestimmung. Der persönlichen – also der öffentlichen.
    „Imagine there’s no heaven …“ Der bebrillte Beatle Johnny-John wusste, was er sagen sollte. 
    Es ist einfacher, in einen leeren Himmel zu fliegen.

    Wie also existieren? Leben nach der verbrannten Show. Sich schärfen für eine neue Welt. Schusswaffen und Messer verbinden. Asche kosten. Hülsen aufsammeln und Matrizen begraben.
    Es gibt keine Kanons, es gibt einen Baukasten der Bedeutungen. Einen Garten sich gabelnder Pfade. Jeder ist sein eigener Borges. Jeder ist sein eigener Buddha.
    Danke, Chaos. Die Ordnung tötet sich selbst.

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  • „Der Krieg mit uns selbst“

    „Der Krieg mit uns selbst“

    Laut des russischen Verteidigungsministeriums sollen die „militärischen Aktivitäten“ in der Ukraine bei Kiew und Tschernihiw deutlich reduziert werden. Man wolle sich vor allem auf den Donbass konzentrieren. Allerdings gingen die Angriffe von russischer Seite auch nach dieser Ankündigung weiter. Es gab auch das erste Treffen seit Wochen zwischen Vertretern der Ukraine und Russland in Präsenz. Doch ob die Verhandlungen wirklich eine Annäherung gebracht haben, wird sich erst zeigen müssen. Bisher wird das eher skeptisch gesehen.

    Belarussische Medien wie Zerkalo berichteten am Dienstag von einem Rückzug russischer Truppen aus der Ukraine nach Belarus, das der Kreml von Anfang an als Aufmarschgebiet für den Angriffskrieg genutzt hat. Immer wieder gab und gibt es Hinweise, dass der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko eigene Truppen in den Krieg schicken könnte, was bis heute allerdings nicht passiert ist. Ein Grund könnte sein, dass Lukaschenko die innenpolitischen Folgen eines solchen Schritts fürchtet. Denn die große Mehrheit der Belarussen scheint gegen den Krieg zu sein. Mittlerweile kämpfen mehrere Gruppen mit belarussischen Freiwilligen auf Seiten der Ukraine. Und im Land selbst haben Belarussen durch diverse Protestaktionen oder Sabotageakte beispielsweise an den Eisenbahnstrecken, über die russisches Gerät transportiert wird, ihren Unmut gegenüber dem Krieg zum Ausdruck gebracht. Ein weiterer Grund: Der Widerstand innerhalb der belarussischen Armee gegen den Kriegseinsatz ist einfach zu groß.

    Die Belarussen befänden sich in einer komplexen moralischen und emotionalen Zwickmühle, meint der belarussische Autor Maksim Shbankou. Nach einer begonnenen friedlichen Revolution im Jahr 2020, die aber nicht zu einem Wechsel der Regierung geführt hat, seien sie nun Teil einer Gemengelage, die durch Lukaschenkos fatale Abhängigkeit vom Kreml entstanden ist. In dieser unheilvollen Situation würden sich auch bekannte Komplexe und Schuldgefühle bemerkbar machen und altbekannte Unsicherheiten in Bezug auf das kollektive Ich der Belarussen. In einem Stück für das belarussische Online-Portal SN Plus seziert der in Vilnius lebende Shbankou die momentanen Selbstvergewisserungsversuche und -möglichkeiten der Belarussen.

    Belarussischer Protest gegen Russlands Krieg in der Ukraine / © Belarusian Canadian Alliance
    Belarussischer Protest gegen Russlands Krieg in der Ukraine / © Belarusian Canadian Alliance

    Der Krieg arbeitet in zwei Richtungen: Er pustet die Hirne durch und erhöht den Grad des Wahnsinns. Klar, die Führung des Landes liegt im Koma. Unangenehm, wenn du selbst nicht im Land bist. Plötzlich schämst du dich, dass hier nicht geschossen wird und du nicht schießt. In die richtige Richtung. Irgendwie peinlich, jetzt shoppen zu gehen. Den Newsfeed zu scrollen – ist eine billige Ausrede: Scheinbar auf dem Laufenden zu sein, aber doch dran vorbei. Du wartest auf eine Invasion oder Raketen. Du weißt nicht mehr genau: Ist es gut oder schlecht, dass Vilnius so nah an Minsk liegt? Seltsam, Filme anzuschauen. Keine Filme zu schauen ist noch seltsamer. Uncool, Russisch zu sprechen. Und du weißt nicht, wo man eine kugelsichere Weste kauft. Unser Film hat Schnellvorlauf integriert. Der Plot schwimmt und schmilzt. Es bleiben nur die einfachen Dinge. Ohne Angst aufwachen. Rausgehen. Die Katze füttern. Sich selbst für schuldig an allem erklären. 

    Die beste Frage des russisch-ukrainischen Krieges: Wie hält man es mit den Belarussen? Am häufigsten hört man das von den Belarussen. Alle anderen kümmert es nur schwach – im Zusammenhang mit Alltagsgeopolitik oder öffentlicher Rhetorik. Sie leben von anderem. Aber wir haben ja nur uns. Unsere Firmenstrategie ist die aggressive Selbstaufopferung: Wir verhören uns selbst, wir richten und verurteilen uns, wir nageln uns selbst ans Kreuz. Wenn man es durchschaut hat, tatsächlich eine hervorragende Form der traumatischen Eigenwerbung. 

    Vielleicht nimmt man uns so wenigstens wahr. 

    Wir sind schuld, dass wir Lukaschenko nicht besiegt haben

    Die erste ukrainische Front ist dort, wo Kiew belagert wird, Iskander in Geburtskliniken einschlagen, ausgebrannte russische Panzer liegen und Wohngebiete flächenbombardiert werden. Die zweite ist in den Köpfen einzelner belarussischer Klugscheißer. Die sich nicht entscheiden können, was sie tun sollen: Reue zeigen oder gekränkt sein. Für alle Fälle wählen sie einfach beides.

    Was hat uns gekränkt? Dass wir im Sandkasten vergessen wurden. Dass wir so großartig sind – aber nur schwach geliebt werden. Prag macht dicht, London will uns nicht, die Grenzer lächeln nicht.

    Dass Europa uns einen Kampf schuldig ist – aber diese Schuld nicht einlöst. Dass Schengenvisa zu kurz sind und die Überweisungen zu lange dauern. Dass die Belarussen nicht im Trend und überhaupt kaum auf der Agenda sind – dabei war das Thema noch gar nicht durch. Dass sie uns blöde mit Lukaschenko verwechseln – und jetzt auch noch mit Putin.

    Plus, wir sind schuld, dass wir Lukaschenko nicht besiegt haben. Und jetzt auch noch Putin.
    Ein triumphales Tribunal. Humanitäre Selbstverstümmelung. Und was nun? Wir wurden so gemacht. Wir haben uns so gemacht. Vermeintliche Papierschiffkapitäne. 

    In einer Situation, in der Dächer einstürzen und Züge brennen, fliegt unser kulturelles Gepäck wie der Koffer eines überstürzt Flüchtenden in alle Winde und legt intime Details grundlegender geistiger Übungen dem zufälligen Betrachter zum Urteil vor. Geistige Klammer namens postsowjetischer Intellektualismus.

    Alles hier besteht aus populären Illusionen, ausgebremstem Transitiv und emotionalen Rückschlägen. In einer solchen nach fremden Vorbildern zusammengebauten Welt bewegen Klugscheißer die Massen und säen das ewig Gute, diktieren Bücher die Regeln, erhalten die Beleidigten Blümchen, triumphiert die Vernunft, herrschen höhere Werte. Und das klangvolle Wort eines Nobelpreisträgers wiegt mehr als eine Ladung Marschflugkörper aufs nächste heiße Ziel.

    Wir warten auf private Tänze im Wahnsinn der globalen Katastrophe

    Hier laufen zwei im postsowjetischen Raum populäre Legenden in einem gemeinsamen Schwung zusammen: intellektuelle Selbstverliebtheit und provinzielle Unterlegenheit. Erstere erlaubt es jedem beliebigen Individuum, das halbwegs „Habermas“ aussprechen kann, im Namen des besten Teils der Nation auf Sendung zu gehen. Letztere bringt einen dazu, sich beleidigt und minderwertig zu fühlen, selbst wenn man es in die höchste Liga geschafft hat. Der traumatische Messianismus bringt komplexbehaftete Helden zum Vorschein und fordert im Gegenzug obligatorische Knickse und regelmäßige Reue. Aber muss man überhaupt sagen, dass beide oben beschriebenen Märchen ausschließlich in unserer Fantasie existieren?

    Die Nation ist eine Abstraktion. Das Volk eine Verallgemeinerung. Ein Konzept. Ein rhetorisches Mittel. Wollen die Russen Krieg? Eine inhaltslose Frage, die nach Konkretisierung schreit. Ist der Dichter schuld, dass er Schriftsteller und nicht Scharfschütze ist? Selbes Spiel. Oder: Ist Belarusse ein Makel oder ein Qualitätsmerkmal? Ebenso. Frag gefälligst konkreter.

    Sich für die Hölle zu entschuldigen ist ausschließlich dann sinnvoll, wenn du – und zwar genau Du und nicht eine angenommene „Nation“ oder ein „Volk“ – irgendwie in der Lage warst, die Geschehnisse zu beeinflussen. Und das nicht getan hast. Mit anderen Worten, Reue erfordert Beteiligtsein.

    Ein in Asphalt gewalztes Land möchte bestimmt nicht an einem Panzertango teilnehmen. Und ohne den verlieren alle Reueakte und weitere Wortakrobatik sofort ihren Wert, wenn wir den Mund aufmachen.
    Noch eine Videoansprache. Noch eine Petition. Ein neues Wortpaket. Eine frische Geste. Und noch ein Kommentar hinterher. Wer hat denn gesagt, dass unsere Konzepte etwas wert sind? Wer hat entschieden, dass die Orks Partituren brauchen?

    Wir sind schön, laut, leicht verbeult – und stehen noch auf einem leeren Bahnsteig. Wir warten auf private Tänze im Wahnsinn der globalen Katastrophe. Wir senden im Namen derer, denen das scheißegal ist. Wir sind bereit, fremde Schuld auf uns zu nehmen, die wir niemals begleichen können. Noch immer zu wenig Liebe? Stellt euch drauf ein, es wird schlimmer.

    Es hat uns alle zugedeckt. So leben wir weiter.

    Die zweite ukrainische Front – das ist der Krieg mit uns selbst. Mit der erdachten Mission und dem erträumten Status. Mit der Facebook-Brunft und der Youtube-Extase. Mit der ewigen Promo-Aktion der eigenen Minderwertigkeit und dem Pseudo-Partisanentum.

    Ein jeder hat sein Gewicht. Seine Geschichte. Und seine Front. Wir brennen wie wir können.

    Alles Weitere ist Agitation und Propaganda.
     

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  • Kampf der Kulturen

    Kampf der Kulturen

    Auch Künstler, Musiker, Schriftsteller oder Kulturmanager sind seit dem 9. August 2020 Ziel staatlicher Repressionen in Belarus. Bei den sogenannten Hinterhofkonzerten im Herbst 2020 wurden dutzende Musiker festgenommen. Uladzimir Liankevich, der ehemalige Frontmann der Band TonqiXod, landete sogar zweimal im Gefängnis. Auch überprüfen staatliche Stellen aktuell, ob der Roman Die Hunde Europas von Alhierd Bacharevich als „extremistisch“ eingestuft und damit verboten wird. Zum Jahrestag des Beginns der Proteste haben bekannte Vertreter und Vertreterinnen dieser alternativen Kultur in einem dekoder-Special von der Erschütterung erzählt, die Belarus mit der Eskalation der Gewalt erfahren hat. In einer Erhebung stellt der unabhängige Schriftstellerverband Belarussisches Pen-Zentrum, der wie über 100 NGOs von den Behörden liqudiert wurde, 621 Fälle fest, bei denen die Rechte von Kulturschaffenden verletzt wurden – und zwar allein für das Jahr 2021. Ist das ein Zeichen dafür, wie machtvoll die neue Kultur tatsächlich ist?

    Warum es die belarussischen Machthaber auf die sogenannte alternative Kultur abgesehen haben und was die aktuellen Entwicklungen für die Kulturszene bedeuten, analysiert der Philosoph, Kulturwissenschaftler und Medienanalytiker Maxim Shbankou in einem Beitrag für das belarussische Medium Belorusy i rynok.

    Störung des Wertegleichgewichts

    Es ist kein Geheimnis, dass bei uns – schon seit langer Zeit – nicht nur die eine Kultur existiert, sondern kulturelle Strömungen unterschiedlicher Qualität, Ausrichtung, ideeller Basis und Prinzipien. Wenn wir über die staatliche Kultur sprechen, so ist das stets, und in letzter Zeit verstärkt, eine Kultur der Loyalität, eine patriotismusgeleitete Kultur. Ihr zentrales Ziel war nicht die Entwicklung oder Suche nach neuen Formen, sondern vielmehr die Aufrechterhaltung quasisowjetischer Traditionen. Es ist also eine Kultur, und das sage ich auf Russisch, des „Bestandsschutzes“. Die auf staatlicher Ebene oft beschworene Stabilität wird im Kulturbereich durch eben diese Einförmigkeit sichergestellt, durch die Erziehung zu Staatsloyalität und zur Einsicht, dass Staat und Gesellschaft praktisch eins sind und all das geschützt werden muss, da das unser Schicksal ist, unser Land und so weiter und so fort.

    Auf der anderen Seite entwickelte sich auf der Ebene der, sagen wir, nichtstaatlichen oder alternativen Kultur viel Interessanteres und Komplexeres. Dort gab es kreatives Suchen, Experimente, Versuche, neue Beziehungen zur Vergangenheit herzustellen, zu kulturellen Traditionen, zum globalen Kontext – als nichtlineare Entwicklung. Die staatliche Kultur war stets einer konventionellen ideologischen Linie unterworfen (da unser System aber nie eine eigene Ideologie hatte und sie auch jetzt nicht hat, gibt es lediglich sekundäre, aus der Sowjetzeit entliehene Prioritäten und Werte). Die andere Kultur hingegen zeichnete sich gerade durch ihre Vielfältigkeit aus, durch Buntheit, Patchwork, Mosaik, eine viel breiter gefasste und interessantere schöpferische Bandbreite – und selbstverständlich auch durch den Charakter aller am Prozess Beteiligten und natürlich die Ergebnisse. Ich kann mit vollem Ernst und Verantwortungsgefühl sagen, dass die wertvollsten und interessantesten Ereignisse im Kulturbetrieb der vergangenen 20 Jahre in der freien, nichtstaatlichen Sphäre verortet sind, in einer Kultur, die nicht auf das Züchten von Loyalität, sondern, im Gegenteil, auf die Herausbildung einer gewissen kulturellen Freiheit abzielt, und dabei die unterschiedlichsten kulturellen Strömungen und Traditionen umfasst.

    Die politische Krise, in die wir im Sommer des vergangenen Jahres geraten sind, offenbarte die Stärke der unabhängigen Kultur, denn eben da begann ein sehr kraftvoller, explosiver kultureller Aktivismus, es entstanden unzählige neue visuelle Arbeiten, eine neue Street Art, eine neue literarische samt poetischer Lexik, neue musikalische Werke und vieles mehr. Es gab viele spontane Reaktionen auf die Situation, die eine für die stagnierende staatliche Kultur ungewöhnliche und komplett andere Dimension unserer Kunst bedeuteten. Es ist klar, dass in der Situation der politischen Konfrontation, in der der Staat sehr gewaltsam und energisch sein Recht zur Lenkung der Bevölkerung verteidigt, die kreative, „andere“ Kultur natürlicherweise zu einer Kultur des Dissens wird, einer Kultur der Unruhe, einer Kultur des intellektuellen Nonkonformismus und ideologischen Widerstandes. Und ebenso klar ist, dass eine solche Kultur des Dissens, eine Schule des freien Denkens und der unabhängigen Realitätsdeutung – in diesem Moment, meines Erachtens vollkommen angebracht, vom Staat als Problemquelle angesehen wird. 

    Wobei sich die staatliche Kultur in dieser Situation zusehends selbst eliminierte. Gefragt waren starke Slogans und frische Ideen, doch die staatliche Kultur vermochte nur eine Sammlung vermoderter Schablonen und banaler Verweise auf sowjetische Heldensprüche hervorzubringen. Das System der staatlichen Kulturindustrie stand also völlig hilflos vor den Herausforderungen einer neuen Epoche. Und diese Selbsteliminierung parallel zur Kulturrevolution, die meiner Ansicht nach im Sommer und Herbst des vergangenen Jahres stattfand, führten in der Summe zu einer Störung des Wertegleichgewichts. Oder dem, was die Machthaber für ein Wertegleichgewicht hielten. 

    Es zeigte sich, dass die ideologisch stabile Propaganda die Energie des Dissens, die zu jener Zeit im Umfeld der unabhängigen Kultur ausbrach, nicht blockieren konnte. Das Gefühl der Bedrohung, das mit der massenhaften Veränderung der grundlegenden Weltanschauung einherging, als ein beträchtlicher Teil der Nation plötzlich auf einer anderen Welle unterwegs war, führte daher tatsächlich zu einem Krieg der Kulturen, zu einer Konfrontation mit einer für den Staat völlig unverständlichen, feindlichen und verstörenden Sicht auf die Dinge.

    Der Feind muss vernichtet werden, der Gegner muss vom Feld

    Doch für einen Krieg der Kulturen braucht es einen angemessenen Gegner. In unserer Situation stand auf Seiten der offiziellen Kultur eine glatte Null: ein absolutes Kreativitätsdefizit, absolut unflexibles Schablonendenken und das Fehlen von energischen, markanten und überzeugenden Ausdrucksformen. Demgegenüber stand diese Kulturexplosion, die als ideologische Herausforderung, weltanschauliche Sabotage verstanden wurde. Aus ideologischer Konfrontation wurde Gewalt. Wenn ein Künstler nicht nur als Künstler, sondern auch als ideeller Gegner begriffen wird, wenn ein Musiker, ein Journalist oder wer auch immer aus dem kreativen Bereich nicht nur als anders, sondern als Feind aufgefasst wird, greifen plötzlich grundlegende Prinzipien des Selbstschutzes: Der Feind muss vernichtet werden, der Gegner muss vom Feld. Andere Mittel als die der Repression haben die Machthaber nicht gefunden. Das Standardvorgehen des bürokratischen Apparates wurde in Gang gesetzt: „Wer ist der Anstifter? Wer hat das genehmigt? Wer hat das losgetreten?“ Ein bürokratisches System, das ausschließlich auf Befehlen und Direktiven beruht, kann sich nicht vorstellen, dass die Gesellschaft in der Lage ist, eigenständig etwas umzusetzen. Der Dissens muss stets einen Regisseur haben, der Dissens braucht immer einen Strippenzieher. Und wen kann man am einfachsten als Strippenzieher abstempeln? Klare Sache: diejenigen, die herausstechen, diejenigen, die laut schreien, diejenigen, die sichtbare und markante künstlerische Zeichen setzen. 

    Trauer über die Ausreisewelle? Das wäre falsch

    Was die Frage der Emigration der Kulturschaffenden angeht, ob sie nun temporär ist oder nicht, so sei vorangestellt, dass jeder Mensch ein Recht auf die eigene Unversehrtheit hat. Jeder Mensch hat das Recht, sich und seine Nächsten zu schützen und zu verteidigen. Daher werde ich nie etwas Schlechtes über diejenigen sagen, die das Land verlassen. Der Mensch hat das Recht auf freie Entscheidung, Mobilität und Selbstschutz.

    Zweitens scheint mir, dass unsere Überlegungen darüber, dass jemand das Land verlassen und uns hier im Stich gelassen hat, dass wir hier zurückbleiben und sie nicht bei uns sind und so weiter, auf Vorstellungen aus dem vorvergangenen Jahrhundert beruhen. Denn damals war es ein unglaublicher Verlust, wenn ein Mensch nicht mehr an deiner Seite war, da es nur minimale Möglichkeiten des Kontakts, geschweige denn der ideellen oder ästhetischen Kommunikation gab. Damals hatte eine Änderung deines geografischen Aufenthaltsortes mitunter tragische Folgen. Wie für so viele im Emigrantenmilieu kam ein Verlassen der Heimat faktisch einer Lebenskatastrophe, einem existenziellen Debakel gleich.

    Heute bewegen wir uns jedoch in einem offenen, globalen Informationsraum. Heute ist die digitale Anwesenheit bedeutender und stärker als die physische Anwesenheit in einem konkreten Raum, vor allem im Bereich der Kultur. Darüber hinaus kann die physische Abwesenheit in einem Territorium der Gefahr und der zeitweise katastrophalen Ereignisse für Kulturschaffende durchaus zuträglich sein. Distanz schafft Reflexionsräume. Wenn du im Zentrum der Ereignisse stehst, bist du eine Geisel deiner Emotionen, eine Geisel der Gefühle. Um all das aber in Text, Musik, Bild, Film oder Ähnlichem abzubilden, braucht es eine gewisse Distanz. Deshalb können diese Distanzen und Grenzen dem kreativen Ausdruck seltsamerweise doch zum Vorteil gereichen.

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