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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Kampfplatz der Imperien

    Kampfplatz der Imperien

    Die Stadt Kars liegt im heutigen Ostanatolien. Bekannt wurde sie durch den Roman Schnee von Orhan Pamuk. Der türkische Nobelpreisträger macht darin politische und religiöse Spannungen zum Thema, die aus der wechselhaften Geschichte des Ortes und seiner Bewohner herrühren. Im Lauf der Jahrhunderte war die Region nacheinander Teil mehrerer Reiche: des armenischen Königreichs, von Byzanz, des georgischen Königreichs und des Osmanischen Reichs. Nach dem Russisch-Osmanischen Krieg von 1877/78 wurde Kars schließlich von Russland annektiert

    Um die Region zu „befrieden“, siedelte Russland religiöse Minderheiten wie Duchoborzen oder Molokanen aus anderen Teilen des Imperiums in Kars an. Die neuen Herrscher verpassten der Stadt ein neues Antlitz mit am Reißbrett geplanten Straßen als Symbol von Ordnung und Fortschritt. Die „Modernisierung“ bedeutete aber auch Vertreibung zehntausender muslimischer Bewohner.  

    Bis zum Ersten Weltkrieg war Kars von großer ethnischer Vielfalt geprägt. In der Stadt lebten Armenier, Türken, Kurden, Griechen, Russen, Juden, Esten, Deutsche und zahlreiche andere. Nach der Oktoberrevolution zogen die Bolschewiki die Truppen zurück und Kars kam wieder unter türkische Herrschaft.  

    Inspiriert von Pamuks Roman Schnee hat sich der Fotograf Max Sher 2009 in Kars auf Spurensuche gemacht. Ihm ging es darum, „das Orientalische ohne Klischees einzufangen“ sagt Sher. Er suchte nicht das Fremde, sondern das Vertraute.  

    Gemeinsam mit der Anthropologin Kübra Zeynep Sarıaslan entstand das Buch Snow, das 2025 erschien. Darin beschreiben Sher und Sarıaslan aus historischer, anthropologischer und künstlerischer Sicht, wie Kars zum Schauplatz imperialer Machtspiele zwischen Russland und der Türkei wurde. Die Geschichte der Stadt spiegelt geopolitische Interessen, koloniale Strategien und Migration wider – bis hin zur heutigen Isolation durch die geschlossene Grenze zu Armenien.  

     

    Wir zeigen eine Auswahl von Shers Bildern. 

    Das Buch ist über den Verlag The Velvet Cell erhältlich: Max Sher: Snow 

    Das heutige Dorf Akçalar hieß bis 1928 „Choroscheje“ (Russisch „gut“) und war eines von fünf russisch-orthodoxen Dörfern, die im Zuge der Kolonisierung rund um Kars gegründet wurden. Eine dieser Siedlungen erhielt sogar den großsprecherischen Namen „Wladikars“, Russisch für „Beherrsche Kars“. Er erinnert an zwei andere Außenposten des Imperiums: Wladiwostok („Beherrsche den Osten“) am Pazifik und Wladikawkas („Beherrsche den Kaukasus“) in Ossetien. Die Siedlungspolitik in der Region Kars zielte auf eine loyale russischsprachige Bevölkerung, auch mit religiösen Minderheiten wie Molokanen und Duchoborzen. Nach dem Rückzug Russlands 1921 verließen fast alle Siedler die Region / Foto © Max Sher 
    Ein Telefon mit gesperrter Wählscheibe in der mittlerweile geschlossenen Teestube Yeşilyurt Kıraathanesi. Sie wird in Pamuks Roman Schnee erwähnt / Foto © Max Sher
    In einer Trauer-Prozession über die Faikbey-Straße erinnern Mitglieder der Schia-Gemeinde an den Tod von Imam Hussein, dem Enkel des Propheten Mohammed. Etwa jeder vierte Bewohner von Kars gehört diese Strömung des Islam an. Die meisten von ihnen sind ethnische Aserbaidschaner / Foto © Max Sher 
    Blick über Kars mit den Vierteln Sukapı und Kaleiçi. Man erkennt mehrere Moscheen, darunter die frühere armenische Kathedrale, heute die Merkez-Kümbet-Moschee / Foto © Max Sher 
    Links: Der Landarbeiter Lawrenti lud uns zu sich nach Hause ein. Er wohnt etwa 20 Kilometer nordöstlich von Kars in Arpaçay. Er verstand Russisch, antwortete aber auf Türkisch. Er, seine Frau und sein Sohn waren wohl die letzten am Ort verbliebenen Nachfahren russischer Molokanen. Rechts: Eine Besucherin auf der Skipiste in den Allahuekber-Bergen / Fotos © Max Sher 
    Schneebedeckte Felsen im Viertel Sukapı. In der Nähe stand einst das Haus des armenischen Dichters Jeghische Tscharenz / Foto © Max Sher 
    Der Fluss Kars Çayı / Foto © Max Sher 
    Die Çamçavuş-Brücke auf der Straße von Kars nach Ardahan, über den Fluss Kars Çayı. Der Lkw-Fahrer und das Vieh, das er transportierte, kamen bei dem Unfall ums Leben – verursacht durch vereiste Fahrbahn. Das Gebiet wurde später vollständig vom Çamçavuş-Stausee überflutet, der 2020 gebaut wurde, um die Bewässerung in der Region zu verbessern. Der neue Stausee verschlang zwei Dörfer: Çamçavuş (ehemals Malo-Woronzowka) und Boğazköy (ehemals Prochladnoje). Beide wurden Ende des 19. Jahrhunderts von Molokanen gegründet – im Rahmen der russischen Kolonisation des Karser Grenzgebiets / Foto © Max Sher 
    Ruinen russischer Festungsanlagen aus dem späten 19. Jahrhundert / Foto © Max Sher
    Männer spielen Okey (vergleichbar Rummikub) in der Teestube Yeşilyurt Kıraathanesi, bekannt aus Pamuks Roman Schnee / Foto © Max Sher 
    Ein Autohalter hat seinen Wagen mit einem Teppich abgedeckt. Es steht in der Mimar Oktay Ekinci Straße nahe der Vaizoğlu-Moschee. Das umliegende Viertel wurde in den 2010er Jahren abgerissen, um das historische Zentrum von Kars für Touristen „attraktiver“ zu machen. Es ist eine bittere Ironie der Geschichte, dass dieses Projekt an die Versuche der russischen Kolonialherrscher zur „Neuordnung“ der Stadt im 19. Jahrhundert erinnert / Foto © Max Sher 
    Gendarmen am Kuyucuk-See, einem wichtigen Naturschutzgebiet nahe der armenischen Grenze / Foto © Max Sher 
    Links: Ein Mann mit heißem Tee im Skigebiet bei Sarıkamış 
    Rechts: Yavuz Uzgur, Schriftsteller und Imam der Evliya-Moschee. Die Moschee wurde im Jahr 2000 an der Stelle errichtet, wo zuvor eine Moschee aus dem 16. Jahrhundert stand, die jedoch während der russischen Invasion von Kars im Jahr 1877 zerstört worden war. Sie soll das Grab von Abul Hassan Harakani beherbergen, einem verehrten Sufi-Mystiker aus Chorasan / Foto © Max Sher 
    Die Festung von Kars thront über dem ältesten Stadtteil Kaleiçi. Heute ist sie ein Museum / Foto © Max Sher 
    Ein Blick auf Kars, wie er häufig auf Postkarten aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zu sehen war. Zu sehen ist der Fluss Kars Çayı und – von links nach rechts: das verfallene Herrenhaus von Ahmet Tevfik Paşa, der laut einigen Quellen im 19. Jahrhundert Gouverneur der Provinz Kars war; die Steinbrücke aus dem 16. Jahrhundert, auch bekannt als Brücke von Vardan oder Vartan; die Merkez Kümbet Moschee aus dem 10. Jahrhundert (ehemals armenische Kathedrale der Heiligen Apostel), das Minarett der Evliya-Moschee aus dem 16. Jahrhundert und das Mazlum Ağa Hamamı, ein verlassenes öffentliches Bad aus dem 18. Jahrhundert. Alexander Puschkin erwähnte dieses Bad in seiner Reise nach Erzurum. Kars und Erzurum waren die einzigen Orte außerhalb Russlands, die Puschkin je bereiste – und auch das nur im Zuge eines imperialen Feldzugs / Foto © Max Sher 
    Ein Gedenkmarsch anlässlich des 95. Jahrestags der Schlacht von Sarıkamış in den Allahuekber-Bergen. Diese Schlacht zwischen osmanischen und russischen Truppen im Ersten Weltkrieg forderte zwischen Dezember 1914 und Januar 1915 auf beiden Seiten zehntausende Todesopfer. Sie begann mit einer Offensive unter der Führung des osmanischen Oberbefehlshabers Enver Paşa, der versuchte, das Gebiet um Kars von Russland zurückzuerobern. Die Aktion endete in einer verheerenden Niederlage der türkischen Armee – verursacht durch strategische Fehlentscheidungen, schlechte Kommunikation zwischen den Truppenteilen und fehlende Vorbereitung auf winterliche Kämpfe im Gebirge. Allein am 13. Dezember 1914 erfroren tausende türkische Soldaten bei dem Versuch, die Berge auf dem Weg zur russisch kontrollierten Grenzstadt Sarıkamış zu überqueren. Auf russischer Seite kämpften auch mehrere tausend armenische Freiwillige, was Enver Paşa dazu veranlasste, seine Niederlage allein ihnen zuzuschreiben. Historikern zufolge führte dies zu Deportationen und Massakern an osmanischen Armeniern – geplant und durchgeführt durch Enver Paşa und seine Verbündeten – und mündete schließlich im Völkermord an den Armeniern von 1915  / Foto © Max Sher 
    Der Fluss Arpaçay (armenisch: Akhuryan) markiert die Grenze zwischen der Türkei (linkes Ufer) und Armenien (rechtes Ufer), wie sie im Vertrag von Kars von 1921 festgelegt wurde. Das Abkommen wurde von der provisorischen Großen Nationalversammlung der Türkei und den neu geschaffenen sowjetischen Marionettenregierungen von Armenien, Georgien und Aserbaidschan unterzeichnet. Es beendete eine Serie blutiger Kriege und militärischer Konflikte, die nach dem Zusammenbruch des Russischen Reiches sowie der Aufteilung und Besetzung des Osmanischen Reiches durch die alliierten Mächte des Ersten Weltkriegs (Großbritannien, Frankreich, Italien und Griechenland) ausgebrochen waren. 
    Durch den Vertrag wurden die Provinz Kars sowie weitere Gebiete, die ursprünglich zur unabhängigen Republik Armenien gehören sollten, der Türkei zugesprochen. Zu diesem Zeitpunkt hatte die türkische Armee bereits weite Teile des Südkaukasus erobert, und die kurzlebige Erste Republik Armenien war sowohl von der Roten Armee als auch von der türkischen Nationalbewegung überrannt worden. 
    Die Türkei erhielt damit fast alle Gebiete zurück, die sie 1878 an Russland verloren hatte – und darüber hinaus das benachbarte Iğdır (Surmalu), das vor der russischen Annexion 1828 zu Persien gehörte. Der Vertrag von Kars gilt auch als wichtiger Schritt zur Beendigung der jahrhundertelangen russischen Expansionspolitik in Ostanatolien (Westarmenien) und trug zur Annäherung zwischen zwei jungen Staaten bei: der Republik Türkei und der Sowjetunion. 
    Letztere erhob jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg erneut Gebietsansprüche auf Ostanatolien – unter dem Vorwand, es mit Sowjetarmenien und -georgien „wiederzuvereinigen“. Dies führte dazu, dass die bis dahin neutrale Türkei – militärisch unterlegen und nicht bereit, Territorium abzutreten – der NATO beitrat und Verbündeter der USA wurde / Foto © Max Sher 
    Die nebelverhangene Geisterstadt Ani und die Kirche des heiligen Gregor aus dem 13. Jahrhundert. Ani war von 961 bis 1045 Hauptstadt des Bagratiden-Königreichs Armenien und zählte damals zu den größten Städten der Welt. 1236 wurde sie von den Mongolen geplündert und 1319 durch ein Erdbeben schwer beschädigt. In den folgenden Jahrhunderten fiel Ani unter die Herrschaft verschiedener Reiche: Byzanz, Seldschuken, Georgier, Armenier, Timuriden, Safawiden, Osmanen. Nach und nach verfiel die Stadt und war spätestens im 17. Jahrhundert völlig verlassen. 2016 wurde Ani in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen Foto © Max Sher 

     

    Fotos und Texte: Max Sher 
    Bildredaktion: Andy Heller 
    Veröffentlicht am 24.04.2025 

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  • Gegen die Nostalgie

    Gegen die Nostalgie

    Der russische Fotograf Max Sher lebt im Exil in Berlin. Er fotografiert die Stadt – hauptsächlich den Westteil – und interpretiert das, was er entdeckt, als postsowjetischen Raum. Doch das ist keine Nostalgie, wie er sagt, sondern Zeichen eines Übergangs im Leben – für ihn und für hunderttausende andere Menschen, die Russland verlassen haben.

    Die Serie ist Teil des Projekts Dunkle Zeiten, helle Nächte des Goethe-Instituts in Kooperation mit dekoder. Für diese Reihe wurden Autorinnen und Autoren sowie Film- und Medienschaffende in Russland und im Exil eingeladen, den neuen Alltag seit dem 24.2.2022 zu dokumentieren und zu reflektieren.

    Ruhlebener Str. 150, 13597 Berlin / Foto © Max Sher
    Ruhlebener Str. 150, 13597 Berlin / Foto © Max Sher

    „Ich habe diese Fotos in Berlin mit einem alten Handy gemacht, hauptsächlich im ehemaligen Westteil der Stadt.

    Schon seit einigen Monaten ist Berlin mein neues Zuhause. Davor war ich 10 Jahre in Moskau, 13 Jahre in Piter (die Petersburger mögen dieses Wort nicht), 12 Jahre in Kemerowo und die ersten 11 Jahre im spätsowjetischen Leningrad.

    Man könnte meinen, diese Bilder seien ‚Symptome‘ von Nostalgie: Darauf sind Orte und Details der urbanen Landschaft festgehalten, die jedem aus der ehemaligen UdSSR irgendwie vertraut vorkommen.

    Nostalgie ist überhaupt eines der wichtigsten Themen für die migrantische Kultur. Doch alles mit Nostalgie Verbundene wirkt auf mich höchst anachronistisch – vielleicht wegen meines eigenen halben Nomadenlebens. Obwohl ich in allen Dokumenten jetzt Immigrant oder Migrant bin, bevorzuge ich für mich die Bezeichnung ‚Expat‘ in seiner ursprünglichen Bedeutung, frei von allen Konnotationen: ein Mensch, der einfach ex patria, außerhalb seines Geburtslandes, lebt. Zudem ist die Bezeichnung, auch wenn das vielleicht persönlich und symbolisch ist, eine Herausforderung für die etablierte Hierarchie unter den verschiedenen Kategorien von Zuwanderern. 

    Für mich drücken die Fotografien eine gewisse Trägheit im eigenen Blick aus: im Blick auf die bewohnte Landschaft, die bebaute Umgebung – aber definitiv keine Nostalgie. 

    Für mich drücken die Fotografien eine gewisse Trägheit im eigenen Blick aus: im Blick auf die bewohnte Landschaft, die bebaute Umgebung – aber definitiv keine Nostalgie. Dieser Blick hat sich innerhalb eines Jahrzehnts geformt, während meiner Erkundungen im Bereich der Landschaftsfotografie und während meiner Reisen durch den postsowjetischen Raum (der Begriff ist veraltet, doch einen anderen gibt es wohl leider noch nicht). Und infolge dieser ‚déformation professionelle‘, dieser eigenartigen künstlerischen Entstellung, erfasst mein Blick in der Landschaft Berlins nun ähnliche Orte und Details, auch wenn sie nicht gerade typisch für die Stadt sind. Im Übrigen sehen die nur dann ‚postsowjetisch‘ aus, wenn man sie oberflächlich betrachtet. Wenn man genauer hinsieht, verschwindet die Ähnlichkeit.

    Vielleicht ist es so, dass ich mit Hilfe dieser Flashbacks eine weitere Lebensphase abschließe und eine neue beginne.“

    Haselhorster Damm 57, 13599 Berlin / Foto © Max Sher
    Haselhorster Damm 57, 13599 Berlin / Foto © Max Sher
    Gartenfelder Str. 58, 13599 Berlin / Foto © Max Sher
    Gartenfelder Str. 58, 13599 Berlin / Foto © Max Sher
    Toeplerstraße 35, 13627 Berlin / Foto © Max Sher
    Toeplerstraße 35, 13627 Berlin / Foto © Max Sher
    Spandauer Havelpromenade, 13599 Berlin / Foto © Max Sher
    Spandauer Havelpromenade, 13599 Berlin / Foto © Max Sher
    Popitzweg 18, 13629 Berlin / Foto © Max Sher
    Popitzweg 18, 13629 Berlin / Foto © Max Sher
    Halemweg 17-19, 13627 Berlin / Foto © Max Sher
    Halemweg 17-19, 13627 Berlin / Foto © Max Sher
    Reichenberger Str. 174, 10999 Berlin / Foto © Max Sher
    Reichenberger Str. 174, 10999 Berlin / Foto © Max Sher
    Daumstraße 99, 13599 Berlin / Foto © Max Sher
    Daumstraße 99, 13599 Berlin / Foto © Max Sher
    Schneppenhorstweg 2, 13627 Berlin / Foto © Max Sher
    Schneppenhorstweg 2, 13627 Berlin / Foto © Max Sher
    Telegrafenweg, 13599 Berlin / Foto © Max Sher
    Telegrafenweg, 13599 Berlin / Foto © Max Sher

    Fotografie: Max Sher
    Bildredaktion: Andy Heller
    Übersetzung: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am 24.11.2022

     

    Dieses Material ist Teil des Projekts Dunkle Zeiten, helle Nächte des Goethe-Instituts in Kooperation mit dekoder

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    Reise nach Tuwa

  • Reise nach Tuwa

    Reise nach Tuwa

    Tuwa (oder Tywa, beide Namen exististieren parallel) gelang es über mehrere Jahrhunderte, sowohl Teil von China als auch – als unabhängige Republik – ein Teil der Sowjetunion zu sein. Sie trat als eine der letzten 1944 in die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (RSFSR) ein.

    Heute ist Tuwa eine der ärmsten und unzugänglichsten Regionen Russlands: Die turksprachige Republik ist mit dem übrigen Russland im Grunde nur über eine Autostraße verbunden, laut Rosstat lebten hier im Jahr 2017 40 Prozent der Einwohner unter dem Existenzminium.

    Wie die turbulente politische Geschichte sich auf den Alltag der Tuwinen ausgewirkt hat, zeigt der Fotograf Max Sher auf Zapovednik.

    Die Turkstämme, die auf dem Gebiet des modernen Tuwa lebten, gerieten im 13. Jahrhundert unter mongolische Herrschaft. Als die Mongolei im 17. und 18. Jahrhundert langsam der chinesischen Qing-Dynastie unterworfen wurde, kam auch das Gebiet des heutigen Tuwa unter chinesische Herrschaft.
    Während der chinesischen Revolution im Jahre 1911 und 1912 zerfiel das Reich. Tuwa (damals trug es den mongolischen Namen Uranchai) wurde von China abgespalten und dann zum russischen Protektorat namens Urjanchaiski Krai. Als solches existierte es nur einige Jahre, denn das Russische Reich zerfiel ebenfalls. 
    Im Jahr 1921 wurde die Unabhängigkeit der Tuwinischen Volksrepublik ausgerufen. In Tuwa existiert bis heute die Meinung, dass die hinter den Kulissen getroffene Entscheidung der Regierungsclique, Teil der UdSSR zu werden, gesetzeswidrig gewesen sei, denn es gab kein Referendum, ja nicht einmal eine parlamentarische Abstimmung.

    Anerkannt wurde die Sowjetrepublik allerdings nur von der UdSSR und der benachbarten Mongolei; die wiederum wurde in diesem Moment nur von der Sowjetunion als unabhängiger Staat anerkannt. Für die übrigen blieb Tuwa, wie auch vorher, eine chinesische Provinz. Die Mongolei machte sich derweil für ein Referendum in Tuwa stark, bei dem es um den Beitritt zur Mongolei gehen sollte. Dabei berief man sich auf Gemeinsamkeiten bei Bräuchen und Glauben, wie auch darauf, dass das chinesische Qing-Imperium Tuwa nicht direkt, sondern über einen mongolischen Statthalter verwaltet hatte.
    China, das die Unabhängigkeit der Äußeren Mongolei, seiner ehemaligen Provinz, im Jahr 1949 anerkannt hatte, sagte sich nie offiziell von seiner Oberhoheit über Tuwa los.

    Foto © Max Sher
    Foto © Max Sher

    Der Blick vom Gebirgspass Noljowka im Sajangebirge auf die Turan-Ujuk-Senke – dieser Blick eröffnet sich als Erstes, wenn man über den historischen Us-Trakt nach Tuwa hineinfährt. Die Berge des Sajangebirges dienen als natürliche Grenze, die Tuwa eine relativ isolierte Lage gewährleistet. Im rechten Teil des Bildes ist der Ussinski Trakt zu sehen, die Autostraße Jenissei R257. Es ist die einzige Transport-Ader, die Tuwa mit dem übrigen Russland verbindet.

    Foto © Max Sher
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    Die Stadt Turan wurde 1885 von russischen Umsiedlern gegründet, als Tuwa noch zu China gehörte.

    Foto © Max Sher
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    Das Zentrum von Kysyl, der Hauptstadt von Tuwa, mit ungefähr 117.000 Einwohnern

    Foto © Max Sher
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    Buddhistischer Stupa Dupten-Scheduplin in der Nähe der Siedlung Sug-Aksy im Westen von Tuwa, erbaut 2010. Ein Stupa entspricht einer Kapelle, gewöhnlich markiert er einen bedeutenden Gedenkort. Im Hintergrund das Alasch-Hochland

    Foto © Max Sher
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    Boris Erentschinowitsch Sodunam, oder einfach Baschky (tuwinisch für Lehrer), gründete 1990 die erste buddhistische Gemeinde in Tuwa

    Foto © Max Sher
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    Das Portrait des Dalai Lama, geschmückt mit Gebetsbändchen und -fahnen (Chadak), aufgestellt in der Ruine des Ustuu-Churee-Klosters in der Nähe der Stadt Tschadan im Westen Tuwas.

    Nach einem Umsturz durch die Stalinisten wurde das Kloster zerstört und die Mönche verfolgt. Im Jahr 2008 wurde das Kloster mit Unterstützung des gebürtigen Tschadaners Sergej Schoigu wiederaufgebaut.

    Foto © Max Sher
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    Owaa-Khoomeishi: Der Platz für Riten und Feierlichkeiten mit dem Tuwinischen Kehlkopfgesang (Khoomej) am Ufer des Jenissei im Zentrum von Tuwa

    Foto © Max Sher
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    „Schamanismus ist keine Religion, sondern die Grundlage aller Religionen“, sagt der Schamane Dugar-Sjurjun Oorshak. „Gott ist eine allumfassende Energie. Buddha, Jesus und alle anderen sind nur Bilder.“ Einst künstlerischer Leiter am Theater von Tuwa, gründete er 1990 nach der Einführung von Glaubens- und Religionsfreiheit die erste schamanische Gemeinschaft in Tuwa.

    Foto © Max Sher
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    2014 wurde am Zusammenfluss von Großem und Kleinem Jenissei im Zentrum von Kysyl das Denkmal „Mittelpunkt Asiens“ mit skytischen und chinesischen Motiven errichtet. Warum ausgerechnet dieser Ort das Zentrum Asiens sein soll, ist allerdings nicht bekannt.

    Foto © Max Sher
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    Nach dem Bau des Sajano-Schuschensker Wasserkraftwerks am Jenissei in den 1980er Jahren hat sich das Klima laut Bewohnern und Umweltschützern drastisch verändert: Es wurde wärmer und feuchter mit häufigen Starkregen.

    Foto © Max Sher
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    Schimizi Chumbun (in der Mitte mit roter Jacke, auf dem Schoß sitzt ihre Urenkelin Santschira) wurde in dem schwer zugänglichen Tal des Flusses Katschyk geboren und hat dort ihr ganzes Leben lang gelebt. Sie hat 16 Kinder, 90 Enkel und 19 Urenkel.

    Foto © Max Sher
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    Valentina Kenden melkt ein Yak auf der Nomaden-Weide ihrer Eltern im Flusstal des Katschyk. Valentina lebt in dem 120 Kilometer entfernten Ersin und arbeitet dort als Krankenschwester. Nach Katschyk kommt sie in den Ferien, um Eltern und Bruder in der Landwirtschaft zu helfen. 

    Foto © Max Sher
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    Bajyr-Kys Bantschyk (links) und Valentina Sambyr zeigen das traditionelle Gerben von Kuhhaut, aus der anschließend Schuhe gemacht werden.

    Der Ort Katschyk liegt 3 Kilometer von der mongolischen Grenze entfernt, bis zur nächsten Bezirksstadt sind es 120 Kilometer über Bergwege, die im Winter oft unbefahrbar sind. Die Bewohner, die Tuwinisch, Mongolisch und Russisch sprechen, erzählen, dass die Grenze bis in die 2000er Jahre nicht markiert war, weswegen sich die Bewohner der grenznahen Gebiete problemlos besuchen konnten und sich gegenseitig Vieh klauten. In dem Gebiet wohnen knapp über 300 Menschen, teils im Ort, teils auf nomadischen Weiden in den angrenzenden Tälern. Es gibt hier weder Polizei noch Ärzte noch Läden noch eine stabile Telefonverbindung. Strom gibt es nur abends über einen tragbaren Generator, dafür aber eine Schule und Internet. 

    In den 1960er Jahren wurden mehrere ländliche Ortschaften zusammengelegt, alle Bewohner Katschyks wurden 100 Kilometer westlich nach Naryn umgesiedelt. Doch über die letzten 30 Jahre ist Katschyk wiederauferstanden. Kürzlich wurde ein eigener Sumon (dt. Gebiet) Katschyk gegründet.

    Foto © Max Sher
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    Die Teilnehmer des jährlichen Fests Naadym bauen eine Jurte für den traditionellen Wettbewerb um das schönste Interieur. Naadym ist ein wichtiges Element der modernen tuwinischen Identität; bei dem Fest finden vielerlei Wettbewerbe statt.

    Foto © Max Sher
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    Sieger-Jurte beim Wettbewerb um das schönste Interieur

    Foto © Max Sher
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    Start des 15-Kilometer-Wettritts. Zum Wettkampf werden Jockeys ab 6 Jahren zugelassen.

    Foto © Max Sher
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    Autos von Zuschauern und Teilnehmern an den Wettkämpfen des Naadym

    Foto © Max Sher
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    Junge Einwohner von Kysyl vor dem städtischen Theater. Von den 322.000 Einwohnern bezeichneten sich bei der Volkszählung von 2010 82 Prozent als Tuwinen und 16 Prozent als Russen.

    Foto © Max Sher
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    Das Portrait von Sergej Schoigu am Ortseingang der Stadt Tschadan im Westen von Tuwa. Schoigu wurde 1955 in Tuwa geboren als Sohn der Viehzucht-Spezialistin Alexandra Kudrjawzewa aus Luhansk und des Parteifunktionärs Kushuget Schoigu.

    Sergej Schoigu ist der erste gebürtige Tuwiner, der eine politische Karriere jenseits der Grenzen der Republik gemacht hat. Nachdem Schoigu zum Verteidigungsminister ernannt worden war, begann in Tuwa ein Persönlichkeitskult um ihn: In Tschadan gibt es eine Sergej-Schoigu-Straße, in seinem Elternhaus wurde ein Museum eröffnet.

    Ein Bewohner Tschadans, der einige Jahre in Moskau studiert hat, erzählt, welch einzigartige Schutzfunktion seine Meldeadresse in der Sergej-Schoigu-Straße für ihn hatte: Die Polizei hielt ihn einmal an, um „die Dokumente zu prüfen“. Als sie seine Adresse sahen, gaben sie ihm den Pass sofort zurück und ließen ihn weiterfahren.

    Text und Fotos: Max Sher
    Übersetzung: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am 24.07.2019

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