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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Der Vertrag von Rapallo 1922 – Ein deutsch-(sowjet)russisches Jahrhundert-Abkommen

    Der Vertrag von Rapallo 1922 – Ein deutsch-(sowjet)russisches Jahrhundert-Abkommen

    Im Frühjahr 1922 findet in Genua eine Konferenz statt: Insgesamt 34 Staaten beraten darüber, wie das internationale Wirtschaftssystem nach dem Schock des Ersten Weltkrieges neu aufgestellt werden könnte. Auch die beiden Parias der Versailler Friedensordnung – Deutschland und Sowjetrussland – gehören zu den Teilnehmern. Am 16. April kommen am Rande der Konferenz die Delegationen beider Länder in Rapallo, einem Kurort nahe Genua zusammen. Das Abkommen, das sie unterzeichnen, wird von Zeitgenossen als Sensation aufgefasst – es soll die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts entscheidend beeinflussen. Als Vertrag von Rapallo geht es in die Geschichte ein und wird zu einem wichtigen Teil jenes deutsch-sowjetischen „Sonderwegs“, der 1939 zur gewaltsamen Aufteilung Ostmitteleuropas beitrug – und dessen Auswirkungen bis in unsere Gegenwart reichen:

     „Rapallo“ stand und steht für die Sorge vor einer zu engen Bindung Deutschlands an die Sowjetunion beziehungsweise Russland, die zu Lasten der anderen europäischen Staaten geht. Befürworter des Vertrags sahen in ihm hingegen ein Modell für die friedliche Koexistenz konkurrierender Gesellschaftssysteme. 

    Sowjetrussland und Deutschland gehörten auch vier Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zu den Außenseitern der internationalen Ordnung. Während Deutschland aufgrund seiner von den Siegermächten zugeschriebenen Verantwortung für den Ausbruch des Krieges weitgehend isoliert war, galt die Moskauer Sowjetregierung nach Revolutionen und Bürgerkrieg lange Zeit als inakzeptabler Verhandlungspartner. Beide Staaten litten insbesondere unter Wirtschaftssanktionen, Handelsembargos – und im deutschen Fall besonders dramatisch – den Reparationsforderungen, die im Vertrag von Versailles festgelegt worden waren. 

    In Genua hofften beide Staaten, bei den anderen europäischen Regierungen Verständnis für ihre Situation und ihre Forderungen zu finden. 

    Doch sowohl die deutsche als auch die sowjetrussische Delegation mussten feststellen, dass sie mit ihren Forderungen kaum durchdrangen: Weder waren die Sieger des Ersten Weltkriegs bereit, den Deutschen einen Teil der Reparationszahlungen zu erlassen, noch konnten die sowjetischen Diplomaten darauf hoffen, dass die Schulden des Zarenreichs gestrichen würden. 

    In dieser Situation unterzeichneten die beiden Außenminister Georgi Tschitscherin und Walther Rathenau ein bilaterales Abkommen. Die meisten Punkte der Übereinkunft, die nur sechs Artikel umfasste, waren unspektakulär: Beide Staaten vereinbarten die Aufnahme diplomatischer Beziehungen, räumten einander das Meistbegünstigungsrecht in Handelsfragen ein und erleichterten deutschen Unternehmen Investitionen in Sowjetrussland. Dabei erklärten die Vertragspartner eher vage, sie würden „den wirtschaftlichen Bedürfnissen der beiden Länder in wohlwollendem Geiste wechselseitig entgegenkommen“. Zudem erklärten sie den wechselseitigen Verzicht auf Reparationen oder die Begleichung sonstiger Kriegskosten oder -schulden.1 

    Der Geist von Rapallo

    Die eigentliche Bedeutung des Vertrags lag indes nicht in seinen konkreten Bestimmungen, sondern sie bestand in der Kooperation zweier Staaten, die – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen – die europäische Nachkriegsordnung ablehnten. Er bildete einen integralen Bestandteil der gegen den Versailler Vertrag gerichteten deutschen Revisionspolitik sowie der sowjetischen Bündnispolitik nach dem Scheitern sozialistischer Revolutionen in anderen Ländern. Der Vertrag richtete sich deshalb wesentlich gegen die Architekten und Profiteure dieser Ordnung: also gegen Großbritannien und Frankreich, aber auch ganz besonders gegen Polen.2 Überall in Europa wurde diese Botschaft verstanden. 

    Bis heute hält sich hartnäckig das Gerücht, der Vertrag sei ohne größere Vorbereitung vereinbart worden und eine unmittelbare Reaktion auf den unbefriedigenden Konferenzverlauf gewesen. Und tatsächlich verging vom konkreten Vertragsangebot der sowjetrussischen Delegation bis zur Unterzeichnung nur eine schlaflose Nacht, in der die Deutschen in einem Hotelzimmer beisammensaßen und beratschlagten. Diese sogenannte „Pyjamakonferenz“ trug – zumindest in der deutschen Geschichtswissenschaft – erheblich zur Legendenbildung bei. Doch die Zusammenarbeit hatte sich seit langem angebahnt: Die Bolschewiki suchten bereits seit Jahren den Ausgleich mit Deutschland. Allerdings hatten sich die Rahmenbedingungen seit dem Friedensvertrag von Brest-Litwosk 1918 entscheidend gewandelt. Musste die Führung um Lenin damals erhebliche Konzessionen machen, um sich überhaupt an der Macht zu halten, kamen die Abgesandten Moskaus vier Jahre später als Sieger des russischen Bürgerkriegs nach Genua. 

    Rapallo – Vorgeschichte des Hitler-Stalin-Paktes?

    Die Interessen beider Seiten ergänzten sich: Die sowjetrussische Seite benötigte ausländisches Kapital und Know-How für den wirtschaftlichen Wiederaufbau. Deutschlands Industrie war auf der Suche nach neuen Absatzmärkten und Rohstofflieferungen. Angesichts dieser offensichtlichen Komplementarität lag eine ökonomische Zusammenarbeit auf der Hand. Deutsche Unternehmen wie Krupp, Otto Wolff, die AEG, Siemens ließen sich daher die Gelegenheit nicht nehmen, mit dem „Klassenfeind“ zügig geschäftliche Beziehungen aufzubauen.3 Gebündelt wurden die ökonomischen Interessen im Russlandausschuss der Deutschen Wirtschaft, einer am Reichsverband der Deutschen Industrie angedockten Institution. Sie wurde nach 1945 im Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft wieder gegründet und übersetzte das Ziel der politischen Annäherung durch Handel maßgeblich in praktische Wirtschaftsbeziehungen.4

    Hinzu kam die enge Kooperation auf militärischem Gebiet. Auch wenn dieses Thema im Vertrag von Rapallo nicht erwähnt wurde, so stand das Abkommen doch am Beginn einer intensiven Zusammenarbeit von Reichswehr und Roter Armee. In der Sowjetunion entstanden Testzentren der Luftwaffe, und es wurden Versuche mit Waffensystemen durchgeführt, die Deutschland nicht einmal besitzen durfte. Sowjetische Offiziere erhielten Zugang zum überlegenen strategischen und taktischen Wissen der Deutschen. Diese enge Zusammenarbeit war essentiell für das Aufrüstungsprogramm der Nationalsozialisten nach 1933, und sie trug zur Professionalisierung der Roten Armee bei.

    Aus all diesen Gründen gehört der Vertrag von Rapallo zur Vorgeschichte des Hitler-Stalin-Pakts vom 23. August 1939. Doch es führt keine direkte Linie zu diesem „Teufelspakt“ mit dem die beiden Diktatoren Ostmitteleuropa unter sich aufteilten. Denn auch wenn Nationalsozialisten und Bolschewiki Todfeinde waren, so hatten sie doch gemeinsame Interessen, die zu Beginn des Zweiten Weltkriegs eine Kooperation für beide Seiten sinnvoll erscheinen ließen. Erst mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 endete die Zusammenarbeit der beiden Diktaturen. 

    Rapallo-Komplex und die „deutsche Frage“

    Nach dem Zivilisationsbruch des Zweiten Weltkriegs und der deutschen Teilung blieb der „Rapallo-Komplex“ eine weithin verständliche Chiffre für eine mögliche Annäherung der Bundesrepublik an die Sowjetunion zu Lasten ihrer westlichen Bündnispartner. Dahinter stand die lange Zeit insbesondere in Großbritannien und Frankreich artikulierte Sorge, dass die Regierung in Bonn auf diese Weise versuchen könnte, sowjetische Zusagen zur Lösung der „deutschen Frage“ zu erhalten. Alle deutschen Bundeskanzler – von Konrad Adenauer bis Helmut Kohl – wurden mit diesem Problem konfrontiert und mussten öffentlich versichern, dass es für die Bundesrepublik keinen „Weg zurück nach Rapallo“ gibt.5

    Angesichts der fortschreitenden europäischen Integration, der bundesdeutschen Mitgliedschaft in der NATO und insbesondere angesichts des KSZE-Prozesses, zu dessen Grundlagen die friedliche Koexistenz unterschiedlicher politischer Systeme gehörte, verlor „Rapallo“ langsam seinen unmittelbaren Aktualitätsbezug.6 Dies änderte sich jedoch Mitte der 1980er Jahre. Osteuropäische Intellektuelle wie Ágnes Heller und Ferenc Fehér artikulierten ihre Sorge vor einem „Osteuropa unter dem Schatten eines neuen Rapallo“. Denn, so befürchteten sie, der Preis für eine mögliche Wiedervereinigung Deutschlands bestehe in der dauerhaften Unterwerfung der Staaten Osteuropas unter sowjetische Dominanz.7 

    Zugleich gab es lagerübergreifende Versuche, Rapallo als „Modell für Europa“ zu rehabilitieren. In der Bundesrepublik und in der DDR fanden solche Überlegungen überall dort Anklang, wo die Sorge vor einem alles vernichtenden Atomkrieg besonders präsent war. Dem Verweis auf „Rapallo“ lag dabei die Vorstellung zugrunde, dass es allen Differenzen zum Trotz übergeordnete gemeinsame Interessen „zwischen Ost und West“ gäbe. In der Sowjetunion wurden angesichts der Abrüstungsgespräche mit den USA nun ebenfalls neue Töne angeschlagen: Nun gehe es nicht mehr um eine „Politik der Stärke, sondern um die Stärke der Politik“, erklärte etwa der sowjetische Journalist und Spitzenfunktionär Lew Tolkunow.8 Und der Historiker Alexander Tschubarjan beschrieb Rapallo als „Ausdruck des politischen Realismus“ und „Grundlage auch für die Beziehungen des Sowjetstaats mit anderen Ländern“.9 Aus einer anderen Perspektive priesen Wirtschaftshistoriker wie Manfred Pohl die „deutsch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen zwischen den beiden Weltkriegen [als] ein Musterbeispiel für die Kooperation zwischen Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung. Das Deutsche Reich läßt sich hier als Vorreiter im modernen Ost-West-Handel darstellen“.10

    Wiedervereinigung und deutsch-russische „Modernisierungspartnerschaft“

    In Westeuropa und in den USA erlebte die Sorge vor einem neuen Rapallo in den Jahren 1989/90 eine Renaissance. Nun stand die Frage der deutschen Einheit auf der Tagesordnung und damit auch die gesamte europäische Sicherheits- und Bündnisarchitektur. Erneut wurde die Sorge laut, Deutschland würde die staatliche Einheit um den Preis der Bündnistreue erlangen wollen. Doch zur Überraschung aller erklärte die Sowjetunion sowohl ihr Einverständnis zur deutschen Wiedervereinigung als auch zur NATO-Mitgliedschaft der Bundesrepublik. Auch wenn der britische Economist das entscheidende Treffen zwischen Helmut Kohl und Michail Gorbatschow im Juli 1990 in Gorbatschows Heimatregion Stawropol als „Stawrapallo“ bezeichnete11, bestand das Ergebnis gerade nicht in einem deutsch-sowjetischen Sonderweg. Vielmehr schien Deutschland die letzte Etappe des „langen Wegs nach Westen“ anzutreten.12

    Doch in der heutigen Rückschau müssen die deutsch-russischen Beziehungen der letzten 30 Jahre anders gewichtet werden: Zwar blieb Deutschland durch Mitgliedschaft in NATO, EU und in anderen supranationalen Organisationen fest „im Westen“ verankert. Gleichwohl wurde eine deutsch-russische „Modernisierungspartnerschaft“ integraler Bestandteil deutscher Ostpolitik in allen Bundesregierungen unter Kohl, Schröder und Merkel. Russland wiederum hofierte deutsche Unternehmen, deren Expertise und Kapital dringend für die Modernisierung der desolaten Wirtschaft benötigt wurde. Nord Stream 2 war nur das prominenteste Beispiel eines deutsch-russischen Sonderverhältnisses, das Deutschland in eine gefährliche Abhängigkeit von russischen Importen und russischem Einfluss besonders im Energiesektor brachte. Diese – insbesondere in Osteuropa misstrauisch beäugten und vielfach kritisierten – deutsch-russischen Beziehungen stehen in einem historischen Zusammenhang mit dem Vertrag von Rapallo.


    1. 1000dokumente.de: Der deutsch-russische Vertrag (Rapallo-Vertrag), 16. April 1922 ↩︎
    2. So etwa Müller, Rolf-Dieter (2011): Der Feind steht im Osten: Hitlers geheime Pläne für einen Krieg gegen die Sowjetunion, Berlin, S. 31 ↩︎
    3. Lutz, Martin (2011): Siemens im Sowjetgeschäft: Eine Institutionengeschichte der deutsch-sowjetischen Beziehungen 1917– 1933, Stuttgart ↩︎
    4. Perrey, Hans-Jürgen (1985): Der Rußlandausschuß der Deutschen Wirtschaft: Die deutsch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen der Zwischenkriegszeit: Ein Beitrag zur Geschichte des Ost-West-Handels, München ↩︎
    5. Hennes, Michael (1990): Zeitenwende – Deutschland, die Bündnisse und Europa, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 9/1990, S. 571 ↩︎
    6. Schulze-Wessel, Martin (2001): Rapallo, in: Francois, Étienne/Schulze, Hagen (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte, München, S. 537-551 ↩︎
    7. Heller, Ágnes/Fehér, Ferenc (1985): Osteuropa unter dem Schatten eines neuen Rapallo, in: Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, 15 (60) 1985, S. 17-51. Replik darauf: Süß, Walter (1985): „Rapallo“, Entspannungspolitik und Friedensbewegung: Eine Antwort auf F. Fehér und A. Heller, in: Ebd., S. 52-76 ↩︎
    8. Tolkunov, Lev (1987): Nicht die Politik der Stärke, sondern die Stärke der Politik, in: Hörster-Phillips, Ulrike u. a. (Hrsg.): Rapallo – Modell für Europa? Friedliche Koexistenz und internationale Sicherheit heute, Köln, S. 296-308 ↩︎
    9. Čubarjan,Alexander (1985): Der Weg Sowjetrusslands nach Rapallo (1917–1922), in: Ebd., S. 190-198 ↩︎
    10. Pohl, Manfred (1988): Geschäft und Politik: Deutsch-russisch/sowjetische Wirtschaftsbeziehungen; 1850–1988, Mainz, S. 110 ↩︎
    11. Encounter at Stavrapallo, in: The Economist 21.7.1990, S. 47-48 ↩︎
    12. Winkler, Heinrich-August (2000): Der lange Weg nach Westen. Bd. 2. Deutsche Geschichte vom „Dritten Reich“ bis zur Wiedervereinigung, München ↩︎

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  • Siemens in Russland und der Sowjetunion

    Siemens in Russland und der Sowjetunion

    Es war ein besonderes Jubiläum, das die Siemens AG 2003 in Sankt Petersburg feierte – 150 Jahre Siemens in Russland. Prominente Gäste nahmen am Festakt teil: unter anderem Präsident Putin und der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder. Dieser hob in seiner Rede die große Bedeutung von Siemens für die deutsch-russischen Beziehungen und für die wirtschaftliche Entwicklung Russlands hervor. 
    Die Beziehungen des deutschen Unternehmens zum russischen Staat spielten dabei eine zentrale Rolle – Siemens machte nicht nur im vorrevolutionären Zarenreich und in der Sowjetunion Geschäfte, auch nach der Krim-Angliederung im Jahr 2014 bemühte sich das Unternehmen um gute Beziehungen. Im Mai 2022 gab das Unternehmen jedoch bekannt, seine Geschäfte in Russland vollständig einzustellen: „Wir verurteilen den Krieg in der Ukraine und haben beschlossen, unsere industriellen Geschäftsaktivitäten in Russland in einem geordneten Prozess zu beenden“, sagte Konzernchef Roland Busch.

    Telegrafenbau während des Krimkriegs 1853 bis 1855

    1847 in Berlin gegründet, konzentrierte sich das Unternehmen Siemens anfangs auf die neue Technologie der telegrafischen Kommunikation. Bereits 1849 kamen die ersten Kontakte zu einem Verwaltungsbeamten in Russland zustande.1

    Zwei Jahre später zog Carl Siemens, ein jüngerer Bruder des Unternehmensgründers Ernst Werner, nach Sankt Petersburg. Der Ausbruch des Krimkriegs im Oktober 1853 sollte seine Strategie der Markterschließung begünstigen: Russlands Militärführung forderte eine Telegrafenverbindung von der Hauptstadt in das Kriegsgebiet, und Carl Siemens lieferte.

    Im Auftrag des russischen Staats verlegte die Firma innerhalb von zwei Jahren rund 9000 Kilometer Telegrafenkabel und schuf damit erstmals eine moderne Kommunikationsinfrastruktur. Den Kriegsausgang hat dies natürlich nicht beeinflusst. Für Siemens aber bedeutete der Auftrag einen enormen Geschäftsaufschwung. Nahezu die gesamte Produktion der Firma ging in diesen Jahren nach Russland.2

    Der „Prussky Ingener“ Siemens

    Ein wichtiger Grund dafür war, dass Carl Siemens bereits zuvor enge Beziehungen zu Entscheidungsträgern im russischen Staat aufbauen konnte. Im Winter 1853/1854 verlegte die Firma ein Telegrafenkabel vom Winterpalast zur Inselfestung Kronstadt und erwarb sich dadurch das Vertrauen von Graf Kleinmichel, Leiter der russischen Telegrafenverwaltung. 
    Dieser mochte den jungen Ingenieur aus Preußen und habe ihm versprochen, er würde „später auch alle [Telegrafen-]Linien zu machen bekommen [sic!] und er [Kleinmichel – dek] wolle künftig jeden Concourrenten [sic!] aus der Türe werfen“3, so schrieb Carl Siemens im Dezember 1853 nach Berlin.

    Kleinmichel hielt sein Versprechen, sodass Siemens den Staatsauftrag für die Wartung der Telegrafenlinien bekam und sich in den folgenden Jahren eine privilegierte Position im Zarenreich erarbeiten konnte.

    Licht und Schatten

    Nach dem Krimkrieg stagnierte das Geschäft allerdings. Erst als die Modernisierungspolitik Zar Alexanders II. langsam anfing Früchte zu tragen, konnte Siemens in den 1880er Jahren wieder an die vergangenen Erfolge anknüpfen.

    Staatliche Aufträge für die Elektrifizierung setzten dabei die entscheidenden Impulse. Im Herbst 1882 fand in Moskau eine Industrieausstellung statt, auf der Siemens einen erst kürzlich entwickelten elektrischen Zug vorstellte. Zar Alexander III. ließ sich auf der Miniaturbahn mehrfach im Kreis herumfahren. Zum Dank für diesen „Triumphzug“4 durfte Siemens den kaiserlichen Doppeladler im Briefkopf führen. Das Unternehmen bekam Staatsaufträge für elektrische Bahnen zum Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs. 

    Wenige Jahre später machte sich Carl Siemens auch bei der elektrischen Beleuchtung verdient. 1883 installierte er elektrische Lampen in der Sankt Petersburger Isaakskathedrale und auf dem Newski-Prospekt, auch den Winterpalast durfte Siemens 1887 mit einer Beleuchtungsanlage ausstatten.

    Geschäfte ohne staatliche Beteiligung waren dagegen weitaus seltener. Wie auch für die meisten anderen ausländischen Unternehmen, die Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend in Russland aktiv wurden, war der russische Staat der weitaus wichtigste Geschäftspartner für Siemens.

    Carl Siemens verfügte über exzellente Kontakte zur Staatsmacht, auf seinem Landsitz in der Nähe der Hauptstadt war politische Prominenz häufig gesehen. Zar Nikolaus II. erhob den „treuunterthänigen Siemens “5 für seine Verdienste um die russische Elektroindustrie in den erblichen Adel. 

    Zu dieser Zeit hatte Russland aber seine anfangs so entscheidende Bedeutung für das Unternehmen schon verloren. Die wirtschaftliche Dynamik im Zarenreich hinkte den westeuropäischen Entwicklungen hinterher, insbesondere die Kriegsniederlage gegen Japan 1905 und die folgenden revolutionären Unruhen im Land hemmten die Geschäftsentwicklung.

    Ein Revolutionär als Manager

    Als Folge dieser inneren Krisen stellte sich 1908 ein ungewöhnlicher Arbeitssuchender in Berlin-Siemensstadt vor. Es handelte sich um Leonid B. Krassin, der als Gefolgsmann Lenins in den Revolutionswirren mehrere Überfälle organisiert hatte und als polizeilich Gesuchter das Zarenreich verlassen musste. 

    Krassin war Ingenieur und bot nun seine Dienste dem deutschen Elektrounternehmen an. Dort arbeitete er sich schnell nach oben und wurde 1911 nach Sankt Petersburg versetzt. Dank guter Beziehungen zwischen Siemens und den staatlichen Behörden blieb Krassin von der Polizei unbehelligt. 

    Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs übernahm er die Leitung der russischen Siemens-Niederlassung. Staatliche Aufträge, vor allem für das Militär, sorgten für ein enormes Wachstum. 

    Mit der Oktoberrevolution änderte sich die Situation dann allerdings völlig. Das Geschäft kam zum völligen Stillstand, und Krassin besann sich seiner früheren Vergangenheit. 1918 nahm er für die Bolschewiki an den deutsch-sowjetischen Friedensverhandlungen teil. In der Folgezeit wurde er zu einem der wichtigsten Ratgeber Lenins in wirtschaftspolitischen Fragen.6

    Seine hervorragenden Kontakte nach Berlin kamen Krassin dabei zustatten. Mehrfach führte er in Berlin-Siemensstadt Gespräche über die Geschäftsmöglichkeiten von Siemens im sowjetischen Russland. Durch die Kriegsniederlage des Deutschen Reichs zerschlugen sich diese Pläne aber zunächst.

    Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes

    Dieser Leitspruch Lenins aus dem Jahre 1920 sollte maßgeblich für die wirtschaftliche Entwicklung Sowjetrusslands nach dem Bürgerkrieg sein. Ohne die Einbindung ausländischer Unternehmen war dies allerdings nicht realisierbar. 

    Krassin, nunmehr Volkskommissar für Außenhandel, reaktivierte daher seine Kontakte zu Siemens. Im Dezember 1920 kam der erste Auftrag zustande: Siemens lieferte unter anderem einen Telegrafen für den Moskauer Kreml. 

    Doch insgesamt erwies sich die groß angekündigte Elektrifizierungspolitik Lenins als eine Illusion. Das Geschäft entwickelte sich schleppend, bis die deutsche Reichsregierung in den späten 1920er Jahren anfing, sowjetische Bestellungen durch Ausfallbürgschaften abzusichern. 

    Während der Weltwirtschaftskrise und des ersten Fünfjahresplans kam das Sowjetgeschäft von Siemens dann voll in Schwung. Große Aufträge verzeichnete das Unternehmen unter anderem bei der Planung von Großprojekten wie dem Staudamm von Dnjeprostroi und der Moskauer Metro. Die Sowjetunion wurde zu einem der wichtigsten Kunden von Siemens. 

    Nach 1933 kam das Geschäft weitgehend zum Erliegen. Als Folge des Hitler-Stalin-Pakts erhielt Siemens zwar noch große sowjetische Bestellungen, diese kamen nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 aber  nicht mehr zum Abschluss.

    Besatzungszeit

    Für die deutschen Besatzer der Sowjetunion hatte die Wiederherstellung der weitgehend zerstörten kriegsrelevanten Infrastruktur eine hohe Priorität. Siemens erhielt unter anderem Aufträge zur Wiederherstellung der Elektrizitätsversorgung im Donbass. Das Auftragsvolumen stieg, Siemens führte nicht nur zivile Projekte aus, sondern auch viele Aufträge von Wehrmacht und SS. 

    Angesichts des weiteren Kriegsverlaufs währte diese Episode des Sowjetgeschäfts von Siemens nur kurz. Im November 1944 berichtete das mit dem Ostgeschäft betraute Technische Büro Ost an die Siemens-Zentrale, dass durch „den Verlust unseres Arbeitsgebietes mit neuen Aufträgen vorläufig nicht zu rechnen“7 sei.

    Neue alte Beziehungen

    Es ist bemerkenswert, dass sowohl die deutsche Kriegsniederlage 1945 als auch der beginnende Kalte Krieg das Sowjetgeschäft von Siemens nicht völlig zum Erliegen brachten. Bereits im Frühjahr 1950 nahm das Unternehmen Kontakt zur neu gegründeten sowjetischen Handelsvertretung in Berlin auf, in Erwartung „demnächst wieder Aufträge aus der UdSSR zu erhalten“8. 1959 kam die erste große Bestellung – Siemens sollte elektrische Lokomotiven für den Güterverkehr in Sibirien ausrüsten. 

    Weitere Aufträge der Sowjetunion folgten. Als Siemens nach dem Zerfall der UdSSR 1991 eine Niederlassung in Sankt Petersburg gründete, konnte das Unternehmen auf eine nahezu bruchlose Geschäftsbeziehung zurückblicken.

    Beziehungen zum Staat 

    Tragende Säule für Siemens waren über all die Jahrzehnte immer die Beziehungen zum Staat. Nicht nur während des Kalten Krieges, auch nach 2014 bemühte sich das Unternehmen um gute Geschäftsbeziehungen. So traf sich Siemens-Chef Joe Kaeser kurz nach der Angliederung der Krim mit Putin; danach sprach er von einer „vertrauensvollen Beziehung“ zu russischen Unternehmen – und erntete damit vor dem Hintergrund der kurz zuvor beschlossenen Sanktionen gegen Russland scharfe Kritik aus Deutschland.9

    Solche Vorwürfe, dass das Unternehmen Geschäfte über die Politik stelle, stießen bei Siemens allerdings meist auf taube Ohren oder wurden zurückgewiesen. Insofern war es ein absolutes Novum, als Siemens im Juli 2017 ankündigte, Kraftwerksgeschäfte mit russischen Staatsfirmen bis auf Weiteres zu stoppen. Hintergrund waren Gasturbinen des Unternehmens, die trotz Sanktionen auf die Halbinsel Krim gelangt waren. 

    Diese teilweise Kündigung der Geschäftsbeziehung war sehr außergewöhnlich. Schließlich verliefen die rund 170 jährigen Beziehungen von Siemens zum russischen Staat trotz Weltkriege und Oktoberrevolution weitgehend kontinuierlich. Und so währte diese Periode auch nur sehr kurz: Bereits drei Monate nach der Ankündigung gab Siemens bekannt, sich an der Modernisierung russischer Kraftwerke zu beteiligen. 

    Wegen des russischen Kriegs gegen die Ukraine kündigte der Siemens-Chef Roland Busch am 12. Mai 2022 an, das Russlandgeschäft zu beenden. Nach langem Zögern folgte Siemens damit zahlreichen anderen westlichen Unternehmen bei dem Rückzug aus Russland. 

    Aktualisiert am 12.05.2022


    1. Bähr, Johannes (2016): Werner von Siemens: 1816-1892, München, S. 139 ↩︎
    2. Lutz, Martin (2013): Carl von Siemens: Ein Leben zwischen Familie und Weltfirma, München, S. 96f. ↩︎
    3. Brief Carl Siemens an Werner Siemens, 13.12.1853, verfasst in St. Petersburg, Brüder-Briefe, Siemens-Archiv ↩︎
    4. Brief Carl Siemens an Werner Siemens, 24.9.1882, verfasst in Moskau, Brüder-Briefe, Siemens-Archiv ↩︎
    5. SAA 19380, Adelsdiplom Carl von Siemens ↩︎
    6. Lutz, Martin (2011): Siemens im Sowjetgeschäft: Eine Institutionengeschichte der deutsch-sowjetischen Beziehungen 1917-1933, in: Perspektiven der Wirtschaftsgeschichte 1, Stuttgart, S. 108ff. ↩︎
    7. TB Ost: Mitteilung an Reyß, Zwickau 13.11.1944, SAA 10756 ↩︎
    8. ZTB-Rundschreiben Nr. 265, München 11.3.1950, SAA 68 Li 141. ↩︎
    9. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Siemens-Chef verteidigt Treffen mit Putin ↩︎

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