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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Das Moskau-Experiment

    Das Moskau-Experiment

    Wer Moskau noch aus den frühen 2000er Jahren kennt, wird staunen: Das Moskau unter Bürgermeister Sergej Sobjanin ist heute ein ganz anderes als damals. Die Kioske vor den Metrostationen sind weg, mitten in der Innenstadt sieht man auch Radfahrer, der Gorki-Park hat sich vom runtergerockten Rummelplatz zum hippen Großstadtpark mit einem Museum für moderne Kunst, Bühnen und mehreren Spielplätzen verwandelt. Unweit vom Roten Platz am Ufer der Moskwa, wo früher das Hotel Rossija war, blühen nun im neu angelegten Sarjadje-Park Blumen und Bäume aus sämtlichen russischen Vegetationszonen.

    Ist doch schön? Maria Kuwschinowa spaziert auf Colta durch „eine Stadt der Trugbilder”.
     

    Wenn man spät nachts nach langer Reise und langer Abwesenheit die Twerskaja hinunterfährt, scheint es, als gleite man einen blankgeputzten, weiß schimmernden menschlichen Schädel hinab. Alles Organische – alles, was atmet, duftet, geboren wird, stirbt, alles, was lebt – ist ausgerottet und beseitigt, stattdessen haben sich überall phosphoreszierende Chimären breitgemacht. 

    Gleich kosmischem Staub hat sich über Nacht der Sarjadje-Park niedergelassen / Foto: Мos.ru, Wikipedia CC BY 4.0
    Gleich kosmischem Staub hat sich über Nacht der Sarjadje-Park niedergelassen / Foto: Мos.ru, Wikipedia CC BY 4.0

    Unter Sobjanin hat sich Moskau in eine Stadt der Trugbilder verwandelt, wo die halluzinogene experience selbst dem Abstinenzler an jeder Ecke auflauert: Im Minutentakt schießen wie Pilze neue Metrostationen aus dem Boden; gleich kosmischem Staub hat sich über Nacht neben dem Kreml der Sarjadje-Park niedergelassen; die Stadt dehnt sich mit der Geschwindigkeit eines aggressiven Krebsgeschwürs aus. Plötzlich – ein gigantischer Filzstiefel mitten auf einer Hauptstraße, ein Aufmarsch von Kreuzzüglern auf dem Boulevard; in jeder Seitenstraße der Goldenen Meile ein Wachmann, das Passwort, das du sagen musst, lautet: „Es gibt keinen Gott“, denn sie bewachen die Warteschlange vor den Reliquien, damit sich keiner vordrängelt.

    Phosphoreszierende Chimären

    Die verzweifelte Suche nach einem Parkplatz, das tägliche mehrstündige Manöver zur Verpflanzung der Kinder auf das gegenüberliegende Ufer des Prospekts. Der störungsfrei funktionierende Separator, der den Pöbel mit einem Einkommen unter 200.000 Rubel im Monat [ca. 2.500 Euro – dek] aus dem historischen Zentrum verdrängt. Das alles zusammen heißt: „Seht nur, wie schön Moskau unter Sobjanin geworden ist.” 
    Über den universellen Hauptstadtsnobismus und die spezifischen Arroganz gegenüber den SaMKADowzy hinaus – der neue Moskauer hat sich, selbst wenn er mit den Veränderungen nicht einverstanden ist, mittlerweile daran gewöhnt, sich täglich in einer Situation des Absurden wiederzufinden, die ein Außenstehender kaum ertragen würde. Das Absurde kann nicht anders, als das Bewusstsein zu beeinflussen, es formatiert das Bewusstsein; und schon wird der Blick deines alten Bekannten glasig, und er sagt: „Wieso, die Sachen von WkusWill haben mir die importierten Nahrungsmittel komplett ersetzt.“

    Urbanistische Karzinogenese 

    Es ist bereits festgestellt worden, dass die Testversion unter Kapkow und dann auch die umfassende urbanistische Karzinogenese unter Sobjanin eine Antwort auf die Bolotnaja-Proteste gewesen seien – auf die Unzufriedenheit der Mittelschicht auf die Stagnation der MedwedewschenModernisierung“. Als Reaktion auf die Karnevalsproteste wird jetzt das ganze Jahr über fieberhaft und unaufhörlich Karneval gefeiert.

    Ihre Bewohner unterhaltend und ablenkend, erfüllt die Stadt, die mit der Zeit neu verpackt und zur Vitrine des putinistischen Russland gemacht worden ist, mittlerweile eine weitere wichtige Funktion für die Bewahrung des Status quo: Moskau, das auf Kosten des gesamten Landes existiert, entzieht den Regionen nicht nur die natürlichen Ressourcen, sondern auch die menschlichen, die ambitioniertesten und talentiertesten – damit deren Energie in die Produktion von blutleeren Chimären einfließen kann. Rein formell ist das noch immer derselbe Deal, den ein gewöhnlicher zentralistischer Staat seinen Bürgern anzubieten hat: ein Umzug in die Hauptstadt im Tausch gegen Geld und Möglichkeiten, die man in der Provinz nicht hat. 

    Biete Status, verlange Abkehr von der Produktion von Sinn

    Doch im Grunde macht das heutige Moskau, das sich im Herzen des heutigen Russland befindet, ein anderes Angebot: Es bietet Status und verlangt dafür die freiwillige Abkehr von der Produktion von Inhalten. Du kannst „Kurator“ werden, „Regisseur“, „Journalist“, „Micro-Influencer“ (jemand, der sein Essen und seine Klamotten, die er von Werbekunden bekommt, fotografiert und in sozialen Netzwerken postet), „Mitarbeiter bei Yandex“, „Drehbuchautor“, „Guest-Manager“ (jemand, der Geld dafür bekommt, dass er seine Micro-Influencer-Freunde persönlich zu Partys einlädt), „Künstler“, „Promoter“ – die Liste ist lang. Du wirst etwas haben, das du auf deine Visitenkarte schreiben kannst, ein Gehalt und eine Krankenversicherung, du wirst von einer Stelle zur nächsten gehen und deinen Triumph auf Facebook teilen, aber Gott bewahre, dass du einen Fuß dahin setzt, wo ein auch nur ein ansatzweise sinnvolles Gespräch über Gegenwart und Zukunft stattfinden könnte. 

    Kultur in Moskau – das ist, wenn Menschen, die 700 Rubel [9 Euro – dek] Eintritt gezahlt haben, sich auf der Strelka oder im Garash den letzten Hit aus Cannes ansehen, der niemals auf die Leinwände anderer Städte kommen wird, weil die politische und wirtschaftliche Zensur den unabhängigen Verleih zu Grunde gerichtet hat. Aber du kannst zehn mal das Garash sein, nie im Leben wirst du Loznitsas Donbass zeigen dürfen, denn die Frage nach dem Grenzzustand des postsowjetischen Menschen und des postsowjetischen Raums darf weder ernsthaft noch laut gestellt werden.

    Moskau fehlt Energie, Kompromisslosigkeit und innere Freiheit

    Sobjanins Wahlkampfleiter Konstantin Remtschukow erzählt etwas von einer globalen Konkurrenz der Metropolen, in der die erneuerte russische Hauptstadt auf Augenhöhe mit New York, Paris und London figurieren würde. Und vergisst dabei, dass New York, Paris und London Ideen für die ganze Welt produzieren, während Moskau, umzingelt von eingebildeten Feinden und einem real ausgebluteten Land, nicht einmal hybride Propaganda of international fame produziert, weil die Trolle von Olgino woanders sitzen (in den letzten vier Jahren wurde die russische Staatsbürgerschaft auf Basis der Quote für „gesuchte Fachkräfte“ ganze zwölf Mal erteilt). Das einzig nennenswerte popkulturelle Phänomen der vergangenen Jahre – die Rap-Battles – kam in Krasnodar auf und donnerte durch St. Petersburg; Moskau hatte dafür weder genug Energie noch Kompromisslosigkeit noch innere Freiheit.

    Das, was von Zeit zu Zeit aus diesem hermetisch abgeriegelten elektrisch-sauren Universum nach außen dringt – Ausgaben in Millionenhöhe für Sobjakuras (Plastikbäume in Kübeln) oder das Olympiastadion, bis oben hin gefüllt mit Leuten, die das Monats- oder gar Jahresgehalt eines Durchschnittsverdieners für einen Abend in Gesellschaft eines Motivationstrainers zahlen –, ruft im Rest des Landes nur banges Unverständnis hervor. Der einstige Neid auf das Geld und die Möglichkeiten der Hauptstadt weicht nämlich langsam der Angst, man könnte sich noch am Moskauer Wahnsinn infizieren.


     


    Moskau lesen: Wir haben einzelne Orte mit dazu passenden Artikeln, Gnosen und Blurbs verlinkt. Zum Spazieren, Schmökern und Staunen. Zum Zoomen mit dem Mausrad die Strg/Ctrl-Taste gedrückt halten.

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  • Der Hungerstreik des Oleg Senzow

    Der Hungerstreik des Oleg Senzow

    August 2015, der ukrainische Filmemacher Oleg Senzow steht im Gitterkäfig eines russischen Gerichtssaals und spricht das letzte Wort des Angeklagten. Er sagt, dass die Behörden ihm schon am Tag seiner Verhaftung 20 Jahre Haft prophezeit hätten.

    Senzows Urteil lautet schließlich genau so: 20 Jahre, wegen Terrorismus. Tatsächlich hatte Senzow im Frühjahr 2014 in Simferopol auf der Krim Automaidan-Proteste organisiert – gegen die Angliederung der Halbinsel an Russland. Vorgeworfen wurde ihm dann jedoch, Terroranschläge auf Brücken und öffentliche Denkmäler vorbereitet zu haben, außerdem sei er Teil des nationalistischen ukrainischen Rechten Sektors.

    Beweise gab es dafür keine. Deswegen und auch wegen der Appelle von Filmschaffenden, wie Pedro Almodóvar und Wim Wenders, erregt der Fall des bekannten Regisseurs internationales Aufsehen. Bei Präsident Putin stoßen sie jedoch auf taube Ohren. Auch der Dokumentarfilm The Trial: The State of Russia against Oleg Sentsov, der unter anderem auf der Berlinale 2017 lief, ändert nichts an dem Urteil, das viele Justizexperten als kafkaesk bezeichnen. 

    Mitte Mai 2018, nach vier Jahren Haft, greift der Filmemacher zur Ultima Ratio des passiven Widerstands: Er tritt in den Hungerstreik mit der Forderung, alle ukrainischen politischen Gefangenen in Russland freizulassen. 

    Maria Kuwschinowa fragt für Colta.ru, was Kultur – gerade vor dem Hintergrund des Falls Senzow – eigentlich bedeutet.

     

    Am 14. Mai [2018 – dek] hat Oleg Senzow in einem Straflager jenseits des Polarkreises mit einem unbefristeten Hungerstreik begonnen. Seine einzige Forderung ist die Freilassung aller ukrainischen politischen Gefangenen in Russland (laut einer Liste von Memorial sind das knapp über 20 Menschen).

    Im August 2015 hatte Senzow 20 Jahre bekommen für die Organisation einer terroristischen Vereinigung und die Vorbereitung von Terroranschlägen.

    Der Schauprozess (nach Muster der Prozesse vom 6. Mai) sollte demonstrieren, dass sich nur ein Häufchen Terroristen gegen das Referendum auf der Krim ausspricht. Wer Widerstand plante, sollte eingeschüchtert werden. Es sollte eine einmalige Operation zur Verängstigung und Unterdrückung sein. Doch zwei Umstände störten die betriebssichere Arbeit der Repressions-Maschine: Erstens gingen die Angeklagten keinen Handel mit den Ermittlern ein und weigerten sich, die Legitimität des Gerichts anzuerkennen. Zweitens erwies sich der Automaidan-Aktivist Oleg Senzow unerwartet als Regisseur, was eine Welle öffentlicher Reaktionen nach sich zog, von Protesten der Europäischen Filmakademie bis hin zu Fragen wie: „Was? Kulturschaffende dürfen Denkmäler sprengen?“

    Ein Teil der russischen Kulturszene reagierte auf die Situation herzlos und verärgert: Der ist gar kein Russe und auch kein wirklich großer Regisseur, irgend so ein Computerclub-Besitzer in Simferopol. Der einzige, halb-amateurhafte Film von Senzow, Gamer, wurde auf Festivals in Rotterdam und Chanty-Mansijsk gezeigt, der Start des zweiten Films Nossorog wurde wegen des Maidans aufgeschoben.

    Für fast alle unbequem

    Für die ukrainische Intelligenzija steht Senzow in einer Reihe mit anderen politischen Gefangenen des Imperiums, wie etwa dem Poeten Wassyl Stus. Dieser hat einen großen Teil seines Lebens in sowjetischen Gefängnissen verbracht und starb im Herbst 1985 im Perm-36, nachdem er eine Woche zuvor zum wiederholten Mal in den Hungerstreik getreten war.

    Für die ukrainische Staatsmacht ist [Senzow – dek] – ein Krimbewohner, der gegen seinen Willen die russische Staatsbürgerschaft bekommen und keine Möglichkeit auf einen Gefangenenaustausch hat – nun unbequem geworden. Für die russische Regierung wäre sein Tod kurz vor Beginn der Weltmeisterschaft eine lästige, eine sehr lästige Unannehmlichkeit.

    Senzow ist für fast alle unbequem. Zum Zeitpunkt seiner Verhaftung war er kein Terrorist, doch im Gefängnis ist er zu einem geworden, denn sein Prozess und seine Heldentat sind eine Zeitbombe, die unter dem nun schon vier Jahre dauernden Post-Krim-Konsens tickt. Senzow ist ein Aufstand gegen die hybride Realität des totalen Kompromisses, in dem sogar Google Maps die Krim als russisch oder ukrainisch anzeigt, abhängig davon, wie es euch gefällt. Zu wem gehört die „unblutig“ angegliederte Krim, wenn auch viele Jahre später noch ein Mensch bereit ist zu sterben und sich weigert, die Angliederung anzuerkennen?

    Das Festival-Schicksal des Films Gamer, der Senzow in die Kinowelt brachte, und seine heutige Gefängnisexistenz hinter dem Polarkreis zwingt folgende Frage auf: Was ist eigentlich Kultur, wer schafft sie und aus welcher Haltung heraus? Es gibt darauf verschiedene Antworten.

    Kultur ist ein Instrument, das der Reflexion dient, eine Möglichkeit der Selbsterfahrung und Selbstfindung der Menschen und der Gesellschaft; dabei geht es nicht unbedingt um „hohe Kunst“, das kann auch Popmusik sein oder Mode oder Rap. Oder sie ist, für Menschen mit einem bestimmten Einkommensniveau, kurzen Arbeitstagen und langen Wochenenden, eine Art, die Freizeit zu verbringen.

    Selbstfindung oder Freizeitspaß?

    Es ist offensichtlich, dass die Kultur, die heute in Russland unter der Ägide von Medinskis Ministerium entsteht, nicht zur Kultur des ersten Typs gehört. Die kompromisshaften, zensurfreundlichen „Werke“, die in der Kulturgemeinschaft entstehen, haben gar nicht die Möglichkeit, eine der Fragen zu berühren, vor denen das Land und die Welt heute stehen. Der Donbass und die gesamte Ukraine sind ein großer weißer Fleck – vor fünf Jahren gab es mit ihnen noch umfangreiche und alles durchdringende Verbindungen. Aber man muss ja weiter „arbeiten“. Und was die ganzen schmerzhaften Momente angeht, so ist es leichter zu sagen „das interessiert doch niemanden“ und lieber einen Film zu drehen über die Schwierigkeiten im Familienleben eines trinkenden Arztes und einer nicht trinkenden Krankenschwester.

    Wenn wir über den zweiten Typ sprechen – Kultur als Freizeitvergnügen – dann sprechen wir in erster Linie von Moskau, wo es nur so sprudelt vor Premieren, Lesungen und Ausstellungen – viel, viel seltener ist das in den anderen großen Städten Russlands anzutreffen. In den Regionen ist Kultur des Moskauer Typs nur möglich in Form von innerer Kolonisation.

    Es gibt noch zwei weitere Antwortmöglichkeiten, was denn Kultur sei: Sie ist Propaganda oder einfach ein Aushängeschild von Unternehmen, um sich Staatsgelder anzueignen. Die Auswahl ist nicht besonders groß, und so entsteht ein Motivationsparadoxon: Wenn du dich heute einverstanden erklärst mit Propaganda, Raspil und unnötigen Freizeitfreuden, zensurfreundlichen Kunstprodukten und innerer Kolonisation zwecks Geld, Status und Zugehörigkeit zur professionellen Gemeinschaft, so befindest du dich als Beteiligter automatisch außerhalb der sinnstiftenden Kultur.

    Aus diesem Teufelskreis herauszutreten, und sei es nur als Zeichen des Protests gegen den langsamen Selbstmord eines in einer konstruierten Strafsache verurteilten Kollegen, dazu lässt sich niemand hinreißen, denn das ist nicht praktisch. Obwohl wir durch die Ereignisse der letzten Monate und Jahre schon längst jenseits der Angst hätten landen sollen – das Gefängnis droht heute jedem ohne Ausnahme, Unschuldigen wie Schuldigen.

    Unfähig zur Empathie

    Der postsowjetische Infantilismus ist ein totaler, er befällt die Intelligenzija nicht weniger als das Volk. Infantilismus bedeutet die Unfähigkeit zur Empathie, die Unfähigkeit sich in die Lage des Anderen zu versetzen, selbst wenn dieser Andere der seit 20 Jahren aufs Genaueste studierte Präsident Putin ist, ein Mensch mit einem klaren ethischen System.

    Allem Anschein nach ist die Botschaft, die mit der Festnahme Kirill Serebrennikows versandt wurde, noch immer unverstanden geblieben. Sie besagt: Man darf nicht von Papas Tisch essen und den alten Herrn dann besudeln – das ist gegen die Ponjatija. Willst du ein Dissident sein? Dann nimm den schweren Weg der Festnahmen wegen Ordnungswidrigkeiten und verweigerten Raumanmietungen, der Marginalisierung und Verzweiflung. Willst du ein großes Theater im Zentrum von Moskau? Dann spiel nach den Regeln.

    Kulturschaffende, die heute gegen den Arrest von Kollegen protestieren, die offene Briefe unterzeichnen, aber dabei im System bleiben und ihre Worte nicht mit Taten untermauern, bleiben für die Staatsmacht erträglich. Für die Leute außerhalb von Moskau sind sie Mittäter bei Plünderungen und Genozid.

    Senzow hat die Wahl getroffen zwischen 16 Jahren langsamen Dahinsiechens in der Strafkolonie und einem demonstrativen Selbstmord, nicht einmal, um Aufmerksamkeit auf sein eigenes Schicksal, sondern auf das von anderen politischen Gefangenen zu lenken. Unabhängig vom Ausgang seines Hungerstreiks hat er einen neuen Maßstab für die menschliche und berufliche Würde geschaffen. Ob man diesen Maßstab annimmt oder nicht – das ist eine Sache jedes Einzelnen. Aber ignorieren kann man ihn jetzt nicht mehr.


    Hintergründe:
    Im August 2015 wurde der ukrainische Regisseur Oleg Senzow in Rostow am Don zu 20 Jahren Haft verurteilt – für die Organisation einer terroristischen Vereinigung und die Vorbereitung von Terroranschlägen.
    Außerdem wurde in diesem Zusammenhang noch Oleksandr Koltschenko verurteilt – zu zehn Jahren Straflager. Aus den Mitschriften [der Verhandlung, veröffentlicht auf Mediazona dek] geht hervor, dass als einziger Beweis für die Existenz einer terroristischen Organisation die Aussagen von Alexej Tschirni gelten, der mit Senzow nicht einmal bekannt war. Der Video-Mitschnitt von der Operation der Festnahme Tschirnis mit einem Rucksack, in dem sich eine Sprengsatz-Attrappe befindet, wird von der Propaganda oft als Mitschnitt von Senzows Festnahme ausgegeben.
    Aktivist des Automaidan
    Vor seiner Festnahme war Senzow Aktivist des Automaidan und organisierte im Frühling 2014 friedliche Proteste gegen die Angliederung der Halbinsel an Russland. „Der gestrige ,Autokorso der Smertniki‘ hat auf den Straßen Simferopols stattgefunden, aber in sehr begrenztem Umfang“, schrieb er am 12. März [2014 – dek] auf Facebook. „Am Treffpunkt versammelten sich bloß acht Autos plus sechs Kameras mit Journalisten plus zwanzig Aktivisten als Beifahrer. Ich hatte auf mehr gehofft, aber leider hat die Mehrzahl der Sofa-Revolutionäre Angst bekommen. Verkehrspolizei und Miliz waren auch am Start und haben eindringlich empfohlen, im Sinne unserer Sicherheit nicht loszufahren. Wir haben gesagt, dass unsere Aktion friedlich ist, dass wir nicht vorhätten, die Verkehrsregeln zu brechen, und haben ihnen vorgeschlagen, uns zur allgemeinen Beruhigung zu begleiten.“
    Der zweite Angeklagte, Oleksandr Koltschenko, hat gestanden, dass er beteiligt war an der Inbrandsetzung eines Raums, der in den Akten des Verfahrens als Büro von Einiges Russland bezeichnet wird, obwohl sich dort im April 2014 noch das Büro der ukrainischen Partei der Regionen befand. Die Brandstiftung erfolgte nachts und zielte auf materiellen Schaden, nicht auf menschliche Opfer.
    Man hat versucht sowohl Senzow als auch Koltschenko mit dem in Russland verbotenen Rechten Sektor in Verbindung zu bringen. In Senzows Fall ist das nicht bewiesen. Im Falle Koltschenkos, der für seine links-anarchistischen Ansichten bekannt ist, absurd. Gennadi Afanassjew, der zweite Zeuge, auf dessen Aussagen sich die Anklage stützt, erklärte, dass auf ihn Druck ausgeübt und er gefoltert worden sei.

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