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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Bystro #22: Twitter gedrosselt – wie, warum, weshalb?

    Bystro #22: Twitter gedrosselt – wie, warum, weshalb?

    Anfang März hatte Putin vor den Gefahren des Internets gerade für Jugendliche gewarnt, die im Netz zum Suizid oder zur Teilnahme an illegalen Aktionen aufgefordert würden. Mit fast gleichlautender Begründung verlangsamte die russische Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor am 10. März plötzlich den Kurznachrichtendienst Twitter. Gleichzeitig lagen Seiten von staatlichen Institutionen lahm – viele fühlten sich an den Kampf von Roskomnadsor gegen Telegram 2018 erinnert.
    Was genau ist passiert? Warum ausgerechnet jetzt? Und ist das überhaupt legal?
    Ein Überblick von Meduza in fünf Fragen und Antworten.

    1. 1. Was ist passiert? 

      Die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor hat erklärt, dass sie vom 10. März an die Zugangsgeschwindigkeit zu Twitter in Russland verlangsamen wird. Erklärt wird das damit, dass das Soziale Netzwerk auf Bitten der Regulationsbehörde nicht reagiert, „rechtswidrigen Content“ zu entfernen: Aufrufe zum Selbstmord, extremistische Materialien, Kinderpornographie, Informationen zu Drogen et cetera.

      Roskomnadsor bestätigt, dass Twitter derartige Forderungen schon über viele Jahre ignoriert, genau genommen seit 2017. Wenn die Leitung des Kurznachrichtendienstes seinen Ansatz nicht ändert, würden „die Maßnahmen zur Einflussnahme erweitert“. Mit anderen Worten: Twitter könnte in Russland blockiert werden.

    2. 2. Entfernt Twitter das alles tatsächlich nicht?

      Twitter entfernt Inhalte, jedoch nicht in dem Umfang, wie Roskomnadsor das gern hätte. Laut dem letzten Transparency Report der Plattform, hat der Kurznachrichtendienst in der ersten Hälfte 2020 von russischen Staatsorganen 8949 Anfragen bekommen, Content unterschiedlichsten Inhalts zu entfernen. Dem ist Twitter in gut 20 Prozent der Fälle nachgekommen: 1437 Tweets wurden auf dem Gebiet Russlands gesperrt.

      Gegen 628 Accounts wurden gemäß der Nutzungsbedingungen des Sozialen Netzwerks Maßnahmen ergriffen – sei es, dass Content entfernt oder Accounts blockiert wurden. Twitter selbst legt jedoch nicht offen, was genau unternommen wurde.

      Roskomnadsor behauptet, seit 2017 über 28.000 Löschaufforderungen an Twitter geschickt zu haben, jedoch habe Twitter 3168 Materialien mit verbotenem Inhalt immer noch nicht entfernt.

    3. 3. Warum können sich Roskomnadsor und Twitter nicht einigen?

      Es gibt seit Langem Probleme zwischen Roskomnadsor und Twitter. Beispielsweise erfüllt Twitter nicht die gesetzliche Forderung, persönliche Daten russischer User auf Servern in Russland zu speichern. Dafür wurde das Soziale Netzwerk Anfang 2020 mit einer Geldstrafe von vier Millionen Rubel [damals etwa 56.000 Euro – dek]  belegt, was natürlich keinerlei Wirkung auf die Firmenleitung hatte.

      In den letzten Monaten fordert Roskomnadsor besonders eifrig, dass Soziale Netzwerke auf seine Bitte hin Inhalte entfernen. Dies ist vor allem auf die verstärkte Protestaktivität im Zusammenhang mit der Vergiftung, Rückkehr und Verhaftung Alexej Nawalnys zurückzuführen. Im Ordnungswidrigkeitengesetz stehen seit dem 30. Dezember 2020 denn auch „Sanktionen im Fall der Unterlassung von beschränkenden Maßnahmen beim Zugang zu Informationen, die einen Minderjährigen zur Teilnahme an einer nicht genehmigten Versammlung, Kundgebung, Demonstration verleiten“. Twitter hat es bisher nicht eilig, diese neue Regel einzuhalten.

      Außerdem missfällt Roskomnadsor außerordentlich, wie Twitter Accounts mit prorussischer Propaganda blockiert. Ende Februar hat die Behörde Twitter zur Erklärungen aufgefordert wegen 100 gesperrter Accounts, die angeblich der russischen Trollfabrik gehören.

    4. 4. Ist die Verlangsamung des Zugriffs auf Twitter überhaupt legal?

      Das ist eine umstrittene Frage. In der aktuellen Gesetzgebung gibt es keine Regelung, die explizit eine mögliche Geschwindigkeitsdrosselung für Internetressourcen vorsieht, falls diese den Forderungen der Regierung nicht entsprechen, wie der Jurist und Partner des Zentrums für Digitalrechte Sarkis Dabrinjan gegenüber Meduza erklärt und die Direktorin des Instituts für Internetforschung Karen Kasarjan bestätigt.

      Nach Angaben beider Gesprächspartner von Meduza nutzt Roskomnadsor zur Begründung der Geschwindigkeitsbegrenzung für Twitter ein Schlupfloch im Gesetz über das souveräne Runet, das im November 2019 in Kraft getreten ist. Eine der gesetzlichen Bestimmungen besagt Folgendes: Das Zugänglichmachen von Informationen, die nach russischen Gesetzen einer Beschränkung unterliegen, gelte als „Gefahr für die Funktionsfähigkeit des Internets auf dem Gebiet der Russischen Föderation“. Roskomnadsor muss diese „Gefahr“ in eine interne Liste aufnehmen und anschließend festlegen, wie man darauf reagiert, einschließlich konkreter Maßnahmen zur Beseitigung der „Gefahr“. Zu solchen Maßnahmen zählen die „Veränderung von Routen für Telekommunikationsmitteilungen“ und die „Veränderung der Konfiguration von Verbindungsmitteln“. 

      Das sind sehr schwammige Formulierungen, mit denen man quasi beliebige Handlungen im Telekommunikationswesen begründen kann, darunter eben auch die Verlangsamung von Zugriffsgeschwindigkeiten, da dafür tatsächlich die „Konfiguration der Verbindungsmittel“ verändert wird.

      Aber ob das Vorgehen von Roskomnadsor legal ist, lässt sich nicht eindeutig sagen, denn gesetzlich ist ein genaues Vorgehen festgelegt, und ob dieses eingehalten wurde, weiß man nicht.

    5. 5. Sollte Twitter vielleicht einfach gegen die Entscheidung von Roskomnadsor klagen?

      Die Plattform hat das Recht, sich an ein russisches Gericht zu wenden, um das Vorgehen von Roskomnadsor anzufechten. „Doch die Chancen, dass eine amerikanische Social-Media-Plattform im Haus- und Hofgericht von Roskomnadsor im Moskauer Taganski-Bezirk gewinnt, gehen gegen Null“, meint Sarkis Darbinjan.

    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Text: Maria Kolomytschenko/Meduza
    Übersetzung: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am 12.03.2021

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  • QR-Codes zur Kontrolle der Wahlbeteiligung

    QR-Codes zur Kontrolle der Wahlbeteiligung

    Die Stimmlokale sind geöffnet, rund 110 Millionen russische Bürger sind aufgerufen, bis einschließlich ersten Juli ihr Votum über die Verfassungsänderung abzugeben. Vorgelegt wird ihnen ein „Paket“ von Verfassungsänderungen: vom Gottesbezug über Tierrechte bis hin zur Nullsetzung der Amtszeiten von bisherigen Staatspräsidenten.

    Wegen der Pandemie musste die Abstimmung um mehr als zwei Monate verschoben werden. Da die wirtschaftlichen Probleme in dieser Zeit genauso gewachsen sind wie die Unzufriedenheit mit dem Seuchenmanagement, haben einige Beobachter schon gemutmaßt, dass der Kreml die Volksabstimmung ganz aufgeben würde – spiele sie doch eh nur eine symbolische Rolle, weil die Verfassungsänderung gesetzlich schon dingfest sei.

    Tatsächlich haben sich die Wahlberechtigten laut Meinungsumfragen zunächst kaum für die Abstimmung interessiert. Bis die Idee mit der Nullsetzung aufgeworfen wurde: Diese Frage spaltete laut Meinungsforschern von Lewada die russische Gesellschaft in nahezu gleiche Hälften. Die Gegner, so fanden die Soziologen heraus, zeigen sich aber weniger bereit, an der Volksabstimmung teilzunehmen. Das hat zur Folge, dass der Kreml durchaus das gemunkelte Wunschergebnis von mindestens 60 Prozent bekommen kann. Die gewünschte Wahlbeteiligung von 55 Prozent bleibt dabei aber fraglich.

    Für die Abstimmung gelten verschiedene Besonderheiten, um selbst unter Corona-Bedingungen eine hohe Wahlbeteiligung zu erzielen – schließlich geht es für den Kreml auch um symbolische Legitimität. Abstimmen können russische Bürger daher eine ganze Woche lang auch außerhalb des Wahllokals mit einer „mobilen“ Wahlurne oder – wie in Moskau und der Oblast Nishni Nowgorod – auch erstmals online.

    Zum Arsenal der Instrumente zur Wählermobilisierung gehört traditionell auch die Nutzung von Druckmitteln gegenüber Menschen in Abhängigkeitsverhältnissen. Wie Meduza rausfand, kommen dabei neuerdings IT-Innovationen zum Einsatz.

    Bei der Abstimmung über die Verfassungsänderungen ermöglicht ein elektronisches System die Kontrolle der Wahlbeteiligung von Mitarbeitern großer Firmen. Auf der Seite votely.ru können Chefs Listen ihrer Mitarbeiter hochladen und jedem einen eigenen QR-Code zuweisen. Während der „Volksabstimmung“ scannen Freiwillige in den Stimmlokalen die QR-Codes – unter dem Vorwand von Gewinnspielen und Verlosungen – um so Daten zur Wahlbeteiligung zu gewinnen.

    Meduza hat Zugriff auf eine Demoversion des Systems erhalten und die auf dem Portal veröffentlichten Anleitungen ausgewertet. „Die Zählung der im Wahllokal erschienenen [Mitarbeiter] erfolgt durch personengebundene QR- oder Strichcodes, die mittels einer speziellen App für Android oder iPhone ausgelesen werden“, heißt es in einer Präsentation auf votely.ru.

    Gewinnspiele und Lotterien

    Eines der Dokumente besagt, dass das Scannen der individuellen QR-Codes im Wahllokal als „Projekte zusätzlicher Abstimmungsformen“ durchgeführt wird. Dazu zählen laut Anleitung: „Quizspiele, [Abstimmungen über] die Verleihung des Status ,Stadt werktätigen Heldenmuts‘, über Projekte zur Steigerung der städtebaulichen Lebensqualität und andere regionale oder kommunale Befragungen über für die Bevölkerung relevante Themen.“ 

    In einigen Regionen Russlands wurden bereits verschiedene Gewinnspiele, Wettbewerbe und Lotterien für die Wähler angekündigt. In Barnaul, Nishni Nowgorod, Ishewsk und einer Reihe weiterer Städte findet während der Verfassungsabstimmung auch ein Votum statt, bei dem Menschen über die Verleihung des Status „Stadt werktätigen Heldenmuts“ entscheiden sollen. Die Zentrale Wahlkommission Russlands verkündete, dass sie gegen derartige Wettbewerbe und Gewinnspiele in Wahllokalen keine Einwände hat, sofern diese nicht den Abstimmungsprozess behindern. 

    Die Mobilisierungsverantwortlichen können die Wahlbeteiligung in Echtzeit verfolgen

    Die am Abstimmungstag „mobilisierungsverantwortlichen“ Unternehmens-, Branchen- und Regionalchefs sowie die Projektleiter selbst können die Wahlbeteiligung in Echtzeit verfolgen – unterteilt nach unterschiedlichen Unternehmen, Branchen und Regionen. Das geht aus der Dokumentation auf der Seite des Projekts hervor. Darüber hinaus lassen sich in der Datenbank die Telefonnummern all derer Mitarbeiter anzeigen, die nicht abgestimmt haben.

    Screenshot der Demoversion von votely.ru / © Meduza
    Screenshot der Demoversion von votely.ru / © Meduza

    In der Demoversion von votely.ru, in die Meduza Einblick bekommen hat, waren bereits einige Dutzend russische Großunternehmen gelistet. Neben der Russischen Post sind dies unter anderem Sibur, Severstal, Rostec, Rostelecom, die Russische Eisenbahn, Lukoil, AFK Sistema und andere. Informationen über die Anzahl ihrer Mitarbeiter und deren QR-Codes werden in der Demoversion jedoch nicht geliefert – dort sind nur die Namen der Organisationen angegeben.

    Einem Gesprächspartner von Meduza zufolge soll das IT-System votely.ru zur Kontrolle der Wahlbeteiligung in Großunternehmen der Oblast Jaroslawl und der Region Altai eingesetzt werden. 

    Du kommst in einen Wahllokal, zeigst einem Menschen deinen QR-Code, stimmst ab und gehst

    Vor einigen Tagen berichtete das Online-Portal Ura.ru über die geplante Verwendung von QR-Codes zur Kontrolle der Wahlbeteiligung bei Bjudshetniki in Jekaterinburg. Dabei beschrieb das Portal ein ähnliches Schema wie das von votely.ru: „Du kommst in einen Wahllokal, zeigst einem Menschen deinen QR-Code, stimmst ab und gehst“, so eine der Quellen von Ura.ru

    Schon 2018 im Einsatz

    Dem Portal votely.ru zufolge gibt es das System bereits seit einigen Jahren. 2018 hatte MBKh Media während der Präsidentschaftswahl berichtet, dass man in der Region Jaroslawl die Wahlbeteiligung kontrolliert, und dass E-Mails mit Daten zur Wahlbeteiligung von der E-Mail-Adresse robot[at]votely.ru versandt werden. 

    Wie Meduza herausgefunden hat, heißt der Schöpfer von votely.ru und von den Apps zum Scannen der QR-Codes Iwan Valentinowitsch Petrow, ein gebürtiger Rybinsker aus der Oblast Jaroslawl. Er lehnte es ab, mit Meduza über die Einzelheiten des Votely-Systems zu sprechen, da „er grundsätzlich unter keinen Umständen mit Journalisten spricht“. Wenige Minuten nach dem Anruf bei Petrow hat der Demozugang zu votely.ru nicht mehr funktioniert.


    Update: Am 26. Juni hat Meduza eine weitere Recherche veröffentlicht darüber, dass die Plattform votely.ru über Server staatlicher Organe in Russland betrieben werden.

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