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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Olga Skabejewa

    Olga Skabejewa

    Olga Skabejewa tut Dinge, die Politik-Journalisten normalerweise nicht tun: Sie geht in den Vollkontakt, lauert Menschen auf, wird körperlich, nicht selten brüllt sie ihr Gegenüber einfach nieder.1 Als 2019 die Parlamentarische Versammlung des Europarats in Straßburg tagte, drängte sich Skabejewa in ein Interview des ukrainischen Kanals Prjami mit dem damaligen ukrainischen Vize-Präsidenten der Versammlung. Die Journalistin des Senders stoppte die Russin resolut: „Wir lassen nicht zu, dass Sie unsere Live-Übertragung annektieren. Wir wissen sehr genau, wie Ihre Klospülung rauscht, die bei normalen Leuten ‚Mund‘ genannt wird.“ Den Spitznamen „Klospülung“ (sliwnoi batschok) wird Skabejewa seitdem nicht mehr los.2 

    Olga Skabejewa auf Sendung / Screenshot © YouTube/Tvrain

    So lange zu provozieren, bis andere ausrasten, ist Skabejewas Spezialität. Bei den Verhandlungen zu Minsk II im Februar 2015 nahm ein Personenschützer Skabejewa kurzerhand in den Schwitzkasten, nachdem sie den vorbeieilenden ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko angebrüllt hatte.3 2016 brachte sie den ARD-Doping-Experten Hajo Seppelt bei einem Interview in Köln so zur Weißglut, dass der sie aus dem Hotelzimmer jagte und ihr das Mikrofon entriss – der Tumult gab ein ideales Sujet für die russische Propaganda ab.4 Noch am selben Tag veröffentlichte ihr Sender das Videomaterial und das nicht freigegebene Interview in den Hauptabendnachrichten von Rossija-1.  

    Das eiserne Püppchen 

    Olga Skabejewa hält sich auch in ihren TV-Auftritten an ihr Motto: „Wer am lautesten schreit, dem gehört die Wahrheit“.5 Sie liebt es, mit chauvinistischen und skandalösen Aussagen zu provozieren, westliche Medien vergleichen sie mit dem amerikanischen Skandal-Journalisten Tucker Carlson: Nur dass dieser mit seinen Verschwörungserzählungen bei Fox News rausflog, während das russische Staatsfernsehen von Skabejewa nicht genug kriegen kann.6 Wenn Skabejewa vom täglichen Blutvergießen und anderen Gräueltaten an der Front berichtet, klingt ihre Stimme tonlos und metallisch, ihr Blick wirkt hart, ihr Mund ist zu einem verächtlichen Grinsen verzogen. Maria Sacharowa, die Sprecherin des russischen Außenministeriums, hat Skabejewa deshalb mit einem weiteren Spitznamen bedacht: „eisernes Püppchen“.7 Ihre Sendungen moderiert Skabejewa wie eine Staatsanwältin, die Beschuldigte vor Publikum überführt. Erbarmungslos schmettert sie jeden Versuch nieder, ihr zu widersprechen.8 Sie beleidigt und erniedrigt Gäste, die oft nur deshalb in die Sendung geholt werden, um abweichende Ansichten vorzutragen, die umgehend von der Moderatorin niedergebügelt werden.9  

    Olga Skabejewa bringt den Sportjournalisten Hajo Seppelt vor laufender Kamera zum ausrasten / Screenshot: dekoder
    Olga Skabejewa bringt den Sportjournalisten Hajo Seppelt vor laufender Kamera zum ausrasten / Screenshot: dekoder

    Nachrichten im Sinne des Staats 

    Den Weg in den Journalismus hat die 1984 in der Provinzstadt Wolschski im Gebiet Wolgograd geborene Olga Skabejewa schon als Schülerin eingeschlagen. Ihre Kindheit in einer Mittelschicht-Familie – der Vater Bauingenieur, die Mutter Architektin – war von strenger Disziplin geprägt.10 Sie besuchte eine russisch-US-amerikanische Schule und arbeitete währenddessen  bei der lokalen Gratiszeitung Nedelja Goroda, später bei der Wolschskaja Prawda. 2003 zog Skabejewa nach Sankt Petersburg, um dort an der staatlichen Universität Journalismus zu studieren. Gleichzeitig begann sie, für die Nachrichtensendung Westi Reportagen zu machen. Damit startete Skabejewas Karriere im Dienst der Regierung: Westi läuft auf dem Sender Rossija-1, der zur Medienholding WGTRK gehört. Ihr Talent und ihre Bereitschaft, es in den Dienst des Staates zu stellen, fielen bald auf: 2006 erhielt sie den Jugendpreis der Regierung von Sankt Petersburg im Bereich Journalismus, ein Jahr später die „Goldene Feder“ in der Kategorie „Perspektive des Jahres“.  

    2008 schloss Skabejewa ihr Studium mit Auszeichnung ab und ging nach Moskau, wo sie als Korrespondentin für Westi und die Wochenendausgabe Westi Nedeli berichtete. Die abstrusen Behauptungen, die Skabejewa regelmäßig in ihren Beiträgen aufstellte, machten sie überregional bekannt. Eine davon: Kinder von Homosexuellen würden unter Geschlechtskrankheiten leiden.11 

    60 Minuten Hass 

    Ihre bedingungslose Loyalität zahlte sich aus: 2015 bekam Skabejewa eine eigene Talkshow: Westi.doc. Seit 2019 vertritt sie außerdem Dimitri Kisseljow als Moderatorin von Westi und Westi Nedeli. Kisseljow ist für seine Hetze gegen Homosexuelle bekannt sowie für seine antiwestliche Propaganda und die Drohung, Russland sei in der Lage, die USA „in radioaktive Asche zu verwandeln“. Im Vergleich zu Skabejewa wirke Kisseljow jedoch wie ein „gemütlicher, netter Rentner“, urteilt die Medienkritikerin der Novaya Gazeta, Slawa Taroschtschina.12 

    Nach einem Jahr hatte Westi.doc ausgedient. Man hatte sich ein besseres Format ausgedacht: 60 Minut, angelehnt an die gleichnamige amerikanische Talkshow – mit der 60 Minut sonst nichts vereint. Olga Skabejewa moderiert die Show gemeinsam mit ihrem Ehemann Jewgeni Popow, der nicht nur Moderator im staatlichen Fernsehen ist, sondern gleichzeitig auch Abgeordneter für die Kreml-Partei Einiges Russland. Entgegen ihrem Namen dauert eine Folge nicht nur eine sondern ganze 2,5 Stunden und wird zwei Mal am Tag ausgestrahlt. Unabhängige russische Journalisten bezeichnen die Sendung als „60 Minuten des Hasses“ gegen alles Ukrainische und Westliche – in Anspielung auf das Ritual „Zwei Minuten Hass“ in George Orwells Dystopie 1984.13 In einer Ausgabe ließ Skabejewa ein Video einspielen, das angeblich die junge britische Königin Elisabeth II dabei zeigte, wie sie Kindern „wie Tieren im Zoo“ Essen hinwerfe. Die Aufnahme zeigte jedoch – entgegen Skabejewas Behauptung – nicht die junge Monarchin,  sondern eine Filmszene.14  Im Februar 2022  forderte Skabejewa , dass Russland die baltischen Staaten besetzen solle. Ein andermal erklärte sie, Russland müsse die gesamte NATO entmilitarisieren.15 2023 reiste Skabejewa nach Nordkorea, um von dort den laut eigenen Angaben „ersten Live-Bericht aus der nordkoreanischen Hauptstadt” zu senden. Das Fazit des Berichts: alles nicht so schlimm. Bösen Behauptungen zum Trotz gäbe es in Nordkorea Internet, niemand habe ihrem Team verboten zu filmen, oder würde sie kontrollieren. Und trotz der alptraumhaften Sanktionen, so Skabejewa, würden die Nordkoreaner ziemlich gut leben.16 

    Ihren Beitrag zur Verteufelung des Westens und zur Reinwaschung Russlands und anderer Diktaturen belohnt der russische Staat großzügig: 2017 wurden Skabejewa und Popow für 60 Minut mit der „Goldenen Feder“ ausgezeichnet. Den wichtigsten Fernsehpreis des Landes, TEFI, konnte sich das Paar gleich zweimal abholen. Darüber hinaus erhielten sie 2023 den Medienpreis der russischen Regierung. 

    Das Moderatoren- und Ehepaar Jewgeni Popow und Olga Skabejewa in einer Frühsendung des russischen Fernsehens / Screenshot © YouTube/Tvrain
    Das Moderatoren- und Ehepaar Jewgeni Popow und Olga Skabejewa in einer Frühsendung des russischen Fernsehens / Screenshot © YouTube/Tvrain

    „Ich diene Russland!“ 

    Für Skabejewa gibt es nur ein Ziel: immer weiter nach oben. Ihre Arbeit, das betont das Ehepaar gerne, stehe bei beiden an erster Stelle. Das änderte weder ihre Hochzeit, die sie – weil es gerade in ihren Dienstplan gepasst habe – allein in New York feierten, noch die Geburt ihres Sohnes, der die ersten Jahre bei den Großeltern aufgewachsen sei.  

    Hass und Desinformation zahlen sich aus: Laut Recherchen des Portals The Insider beträgt Skabejewas monatliches Einkommen mehr als 12,8 Millionen Rubel [derzeit etwa 122.000 Euro – dek]17. In Moskau soll sie laut Recherchen des belarussischen Medienprojekts NEXTA vom März 2022 Immobilien im Wert von 300 Millionen Rubel [damals etwa 3,3 Millionen Euro] besitzen.18  

    Die Propagandistin steht unter anderem auf den Sanktionslisten von Kanada, der EU, Großbritannien und den USA. „Es ist eine Ehre, die erste verbotene russische Journalistin in Amerika zu werden“, schrieb sie dazu auf ihrem Telegram-Kanal, „Washington tritt das Erbe seiner Gründungsväter mit Füßen, um gegen Russland zu kämpfen. Wir wünschen ihnen viel Glück bei ihrer Selbstvernichtung. Ich diene Russland! Und ich tue gern mein Bestes!“19  


    1. Freedom Live/YouTube: Rossijskaja propagandistka Ol’ga Skabeeva ustroila provokaciju v PASE: https://www.youtube.com/watch?v=THVhD4gJb98 ↩︎
    2. 1news.az: “Slivnoj bačok” Skabeevoj, ili Kak naglaja provincialka stala v odin rjad s glavnymi rossijskimipropagandistami: https://1news.az/news/20201123052528422-Slivnoi-bachok-Skabeevoi-ili-Kak-naglaya-provintsialka-stala-v-odin-ryad-s-glavnymi-rossiiskimi-propagandistami ↩︎
    3. 17 Kanal/YouTube: Na Minskich peregovorach žurnalistike kanala „Rossija 24“ zakryli rot: https://www.youtube.com/watch?v=oi19yfgBN0w ↩︎
    4. faz.net: WDR geht gegen russisches Staatsfernsehen vor: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/interview-ueberfall-auf-wdr-wdr-geht-gegen-russisches-staasfernsehen-vor-14282620.html ↩︎
    5. NEXTA live/YouTube: Skabeeva stala kukloj Putina/Neožidannyj povorot v biografii: https://www.youtube.com/watch?v=TJuldkICxPg ↩︎
    6. businessinsider.nl: Meet the star Russian propagandist known as the ‘iron doll of Putin TV’, whose escalating rhetoric has shocked the West: https://www.businessinsider.nl/meet-the-star-russian-propagandist-known-as-the-iron-doll-of-putin-tv-whose-escalating-rhetoric-has-shocked-the-west/ ↩︎
    7. stern.de: Kreml-Propaganda: Das sind ihre bekanntesten Gesichter: https://www.stern.de/politik/ausland/kreml-propaganda–das-sind-ihre-bekanntesten-gesichter-_33811566-33185434.html ↩︎
    8. NEXTA live/YouTube: Skabeeva stala kukloj Putina/Neožidannyj povorot v biografii: https://www.youtube.com/watch?v=TJuldkICxPg ↩︎
    9. NEXTA live/YouTube: Skabeeva stala kukloj Putina/Neožidannyj povorot v biografii: https://www.youtube.com/watch?v=TJuldkICxPg ↩︎
    10. svpressa.ru: Ol’ga Skabeeva: https://svpressa.ru/persons/olga-skabeeva/ ↩︎
    11. https://www.sueddeutsche.de/politik/diskussion-um-doping-vorwuerfe-ein-lehrstueck-russischer-propaganda-1.3029260 ↩︎
    12. svoboda.org. Štatnaja val’kirija. Teleobzor Slavy Taroščinoj. https://www.svoboda.org/a/30069334.html ↩︎
    13. NEXTA live/YouTube: Skabeeva stala kukloj Putina/Neožidannyj povorot v biografii: https://www.youtube.com/watch?v=TJuldkICxPg ↩︎
    14. stopfake.org: V ėfire „Rossii 1” vydali fil’m 1899 goda za video s Elizavetoj II, gde ona jakoby brosaet eduafrikanskim detjam na zemlju: https://www.stopfake.org/ru/v-efire-rossii-1-vydali-film-1899-goda-za-video-s-elizavetoj-ii-gde-ona-yakoby-brosaet-edu-afrikanskim-detyam-na-zemlyu/ ↩︎
    15. InformDetox/YouTube: Skabeeva ob’’javila Tret’ju mirovuju vojnu: https://www.youtube.com/watch?v=8KK1KSLppM0 ↩︎
    16. theins.ru: Skabeeva pochvastalas’ „pervym v mire“ prjamym ėfirom iz Pchen’jana „bez tovarišča majora zaspinoj“, a Lavrov priglasil rossijan na kurorty KNDR: https://theins.ru/news/266019 ↩︎
    17. theins.ru: 13 druzej Putina. Skol’ko zarabatyvajut samye izvestnye propagandisty rossijskogo TV. https://theins.ru/politika/235089 ↩︎
    18. NEXTA Live: Skabeeva. Pikantnye fakty: https://www.youtube.com/watch?v=kSPr4Oct7Gg ↩︎
    19. https://t.me/skabeeva/16229 ↩︎

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    Margarita Simonjan

    Aufrecht sitzend und mit verschränkten Armen schaut sie in die Kamera oder zu den vor Pulten stehenden Diskutanten, der Blick stets changierend zwischen herausfordernd und desinteressiert: Margarita Simonjan tritt regelmäßig in politischen TV-Talkshows auf – und ist eine der wenigen Frauen in der von Männern dominierten russischen Fernsehwelt. Häufig erhält sie als Erste das Wort, von den ständigen Unterbrechungen des Moderators oder der anderen Gäste lässt sie sich nicht beirren. Anders als ihre männlichen Kollegen schreit und schimpft sie nicht lautstark, sondern bleibt ruhig und analytisch. Gleichzeitig ist das, was Simonjan sagt, oftmals zynisch, aggressiv und menschenverachtend. So schlug sie im Herbst 2023 in ihrer eigenen Sendung „Was zu beweisen war“ vor, eine Atombombe „irgendwo über Sibirien” zu zünden – zur Abschreckung des Westens.1 Und bei nächster Gelegenheit behauptet sie wieder: „Ich glaube an Gott. Ich könnte mich niemals auf die Seite von Ungerechtigkeit und Grausamkeit stellen.”2 

    Für besondere Verdienste um das Vaterland: Wladimir Putin zeichnet seine Chef-Propagandistin mit dem Alexander-Newski-Orden aus / Foto © IMAGO / ITAR-TASS 

    Ihre Position ändert Simonjan je nach Bedarf – mal zeigt sie sich als brutale Hardlinerin, die die Bombardierung der ukrainischen Infrastruktur unterstützt, mal gibt sie sich als Verteidigerin der Menschenrechte und behauptet, sie sei gegen Gewalt und empfinde Mitleid mit den Zivilisten in der Ukraine.3 Dann wiederum tritt sie als Patriotin und Nationalistin auf und dankt den russischen Soldaten, die ihr Leben an der Front lassen.4 Simonjans Loyalität folgt keiner persönlichen Moral: Nach eigener Aussage gelten all ihre Tätigkeiten nur dem Dienst an ihrer Heimat.  

    Vom Blumenmarkt in den Kreml 

    Margarita Simonjan, geboren 1980, war 25 Jahre jung, als sie im April 2005 den Chefposten beim neu gegründeten Auslandssender Russia Today übernahm. Dabei deutete zunächst nichts darauf hin, dass aus dem Kind einer armenischen Familie aus Krasnodar einmal die mächtigste Propagandistin der russischen Staatsmedien werden sollte: Ihr Vater verdiente sein Geld mit der Reparatur von Kühlschränken, die Mutter verkaufte Blumen auf dem Markt. Die junge Margarita besuchte die beste Schule der Stadt und begann früh, Gedichte zu schreiben. Als Zehntklässlerin ging sie 1995 im Rahmen des Austauschprogramms Future Leaders Exchange für ein Jahr in die USA und wohnte bei einer amerikanischen Familie. Diese wollte Margarita adoptieren, doch sie lehnte ab – angeblich, weil sie in Russland bleiben wollte.5 Im Interview mit dem amerikanischen Journalisten Max Seddon sagte sie elf Jahre später, sie habe sich desillusioniert gefühlt von ihren Erlebnissen in den Staaten: „Aus irgendeinem Grund glauben wir in Russland, ein ganzes Land sei anders, als es eigentlich ist. Ich hatte angefangen mich zu fühlen, als wären wir angelogen worden”. Diese Erkenntnis habe sie dazu gebracht, darüber nachzudenken, wie Medien die Wahrnehmung beeinflussen.6 

    Zurück in Krasnodar schloss Simonjan 1997 als Klassenbeste die Schule ab. Anschließend besuchte sie die Meisterschule für Fernsehen des bekannten russisch-amerikanischen Journalisten Wladimir Posner sowie die Fernsehschule Internews der 2022 verstorbenen Manana Aslamazjan, die von der Moscow Times als „Patin des russischen Fernsehens” bezeichnet wurde. Danach studierte Simonjan Journalismus an der staatlichen Universität des Kubangebiets. Bereits während des Studiums stand sie für den lokalen Fernseh- und Radiosender Krasnodar vor der Kamera. Mit nur 19 Jahren berichtete Simonjan für Krasnodar als Korrespondentin im Zweiten Tschetschenienkrieg. Ein beruflicher Erfolg folgte dem anderen: Zuerst stieg sie zur Chefredakteurin von Krasnodar auf, dann wechselte sie als Berichterstatterin zur allrussischen staatlichen Fernseh- und Radiogesellschaft WGTRK in Rostow am Don. 2002 zog Simonjan nach Moskau und begann, als Sonderkorrespondentin des Nachrichtenprogramms Westi zu arbeiten. In dieser Funktion wurde sie in den Pressepool des Kreml aufgenommen.  

    Eine Geiselnahme als Karriereanschub 

    Ein Schlüsselmoment in Margarita Simonjans Karriere aber war der 1. September 2004. Am ersten Tag des neuen Schuljahres nahmen tschetschenische Terroristen in einer Schule im nord-ossetischen Beslan mehr als 1100 Kinder und Erwachsene als Geiseln. Sie forderten einen Abzug der russischen Truppen aus Tschetschenien. Simonjan war eine der ersten Journalistinnen vor Ort und wusste von der großen Zahl der Geiseln. Trotzdem wiederholte sie über drei Tage die Zahl von lediglich 354 Gefangenen, die Putins damaliger Pressesprecher Alexej Gromow und dessen damaliger Stellvertreter Dimitri Peskow vorgegeben hatten. Dass die Terroristen von der Regierung verlangten, ihre Soldaten aus Tschetschenien abzuziehen, verschwieg sie. 

    Am dritten Tag der Geiselnahme ließ der Kreml die Schule stürmen. Mehr als 300 Menschen wurden getötet, die genaue Anzahl der Opfer ist bis heute unklar. Menschenrechtsvertreter und Angehörige der Opfer beklagen: Wäre bekannt gewesen, dass die Geiselnehmer mehr als 1000 Kinder und Eltern in ihrer Gewalt hatten, hätte der Kreml sich schwergetan, den Sturm der Schule vor der Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Jahre später räumte Simonjan selbst ein, dass sie in Beslan Desinformation betrieben hatte: „Vielleicht wollten sich diejenigen, die die offizielle Version bestätigten, selbst davon überzeugen, dass es nur 354 Geiseln gab… In Zeiten wie diesen braucht die Gesellschaft die Wahrheit”.7  

    In Putins Präsidialverwaltung aber war die junge Frau positiv aufgefallen, die zwei nützliche Eigenschaften in sich vereinte: Talent und absolute Loyalität. Ein Jahr nach der Tragödie verlieh ihr das russische Verteidigungsministerium für ihre Berichterstattung in Beslan die Medaille für die „Stärkung der Kampfgemeinschaft“.  

    Als Alexej Gromow ein Jahr nach der Geiselnahme von Beslan den Auslandssender Russia Today (heute RT) gründete, machte er Margarita Simonjan zur Chefredakteurin. 2013 erhielt sie zusätzlich den Posten als Chefredakteurin der neu geschaffenen staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja.   

    Keine Lüge zu groß 

    Seit ihrem Aufstieg zu einem der wichtigsten Propagandasprachrohre des Kreml steht auf Simonjans Schreibtisch ein Telefon mit direkter Verbindung in den Kreml.8 Dass ihr Einfluss mit ihrer Loyalität zum Staatsapparat und ihren Kontakten zu wichtigen Personen verflochten ist, weiß sie. Und sie lässt keinen Zweifel daran, für wen sie arbeitet: Obwohl sie de facto an der Spitze ihrer Organisation steht, bezeichnet sie Wladimir Putin als ihren Natschalnik (dt. Kommandeur). „Früher war er einfach nur unser Präsident und man konnte ihn austauschen. Jetzt ist er unser Führer. Und wir lassen nicht zu, dass er ausgetauscht wird. Das habt ihr (der Westen – dek) mit euren eigenen Händen erwirkt”, schrieb Simonjan 2018 in einem Tweet – und benutzt mit Woschd (dt. Führer) einen Begriff, der bis dahin Stalin vorbehalten war.9 Während eines Talkshowauftritts beschrieb sie Putin zudem als „unwiderstehlich“ und „animierend”.10 

    RT produziert nicht nur am Fließband verzerrende oder falsche Meldungen über den verkommenen Westen, sondern auch gern erfundene Geschichten über Putins angebliche Popularität im Ausland. Berühmt wurde die Geschichte über ein New Yorker Burger-Restaurant, das angeblich aus Anlass von Wladimir Putins Geburtstag einen „Putin-Burger“ kreiert habe. Tatsächlich hatte der Reporter selbst den Burger in Auftrag gegeben.11 RT spielt eine Schlüsselrolle dabei, Moskaus Verantwortung für Verbrechen auf internationaler Ebene abzustreiten und Verwirrung zu stiften: Ein eindrückliches Beispiel dafür ist das Interview, das Simonjan nach der Vergiftung des britischen Agenten Sergej Skripal und seiner Tochter 2018 mit den zwei Hauptverdächtigen führte. Unhinterfragt konnten die beiden erzählen, sie seien lediglich als Touristen nach Salisbury gereist, um sich die schöne Kathedrale anzusehen.12 

    Tigran Keosajan und Margarita Simonjan bei einer Premiere im Oktober 2024 in Moskau. Die Filme, die das Paar zusammen produziert, fallen regelmäßig beim Publikum durch, werden vom Staat aber üppig gefördert / Foto © IMAGO / Russian Look 

     

    Neben ihrer Tätigkeit als Senderchefin schreibt Margarita Simonjan Bücher und fungiert als künstlerische Leiterin der Comedy-Talkshow Meschdunarodnaja Pilorama (dt. Internationales Sägewerk) ihres Ehemannes Tigran Keosajan. Simonjan hatte eine offizielle Ehe zuvor stets abgelehnt, im März 2022 jedoch beschlossen, mit der Hochzeit angeblich die gegen sie und ihren Mann verhängten Sanktionen zu feiern.13 Meschdunarodnaja Pilorama läuft zur Hauptsendezeit auf dem Sender NTW und ist bekannt für seine rassistischen und chauvinistischen Witze. Pro Folge bezahlt der aus staatlichen Geldern finanzierte Kanal NTW 3,4 Millionen Rubel, davon sind 370.000 Rubel Produktionskosten – der Rest wandert in die Taschen des Ehepaars Simonjan-Keosajan. Zusätzlich haben die beiden einen exklusiven Werbevertrag mit der staatlichen russischen Fluggesellschaft Aeroflot, der ihnen laut Recherchen der Stiftung zur Korruptionsbekämpfung (FBK) bereits über eine Milliarde Rubel eingebracht hat.14 

    Erfolg beim Publikum ist keine Voraussetzung dafür, dass das Duo Simonjan und Keosajan aus der Staatskasse reich belohnt wird. 2018 drehten sie gemeinsam den propagandistischen Spielfilm Krymskij Most. Sdjelano s ljubowju (dt. Die Krimbrücke. Mit Liebe gemacht), der sowohl bei Kritikern als auch Zuschauern floppte. Dem FBK zufolge gingen 46 Millionen Rubel und somit mehr als 30 Prozent der Gesamtkosten des überwiegend aus staatlichem Budget finanzierten Films auf die Konten des Ehepaars und weiterer Familienmitglieder.15 Derartige Summen ermöglichen der Mutter dreier Kinder ein luxuriöses Leben. In Interviews gibt sie sich jedoch volksnah und großzügig und behauptet, ihr Gehalt für Wohltätigkeitszwecke zu spenden.16  

    Auch den Erfolg ihres Senders RT – der auf YouTube mit über drei Milliarden Views vor seiner Löschung zu den meistgeklickten Nachrichtenkanälen gehörte – sichert sie mit dubiosen Tricks: Der FBK fand heraus, dass RT die Aufrufe seiner Videos künstlich in die Höhe getrieben und Kommentare an Internetbörsen gekauft hat.17 Über die Finanzierung ihres Senders muss sich Simonjan allerdings keine Gedanken machen: In den vergangenen Jahren hat der Kreml das Budget für den Desinformationskanal kontinuierlich erhöht – 2022 erhielt der Sender ein Budget von fast 30 Milliarden Rubel, umgerechnet etwa 284 Millionen Euro.18 

    „Wir haben uns eingemischt. Wir mischen uns ein. Wir werden uns einmischen“  

    Dass die russische Regierung so viel Geld in RT steckt, zeigt, welch hohen Stellenwert der Kanal als Propagandamaschine einnimmt. Das leugnet auch Simonjan nicht, die RT als Informationswaffe und somit als Instrument der staatlichen Verteidigungspolitik sieht.19 In der Anfangsphase bemühte sich der Kanal um ein professionelles Auftreten. Man wollte sich als ernstzunehmende Ergänzung zu etablierten Sendern präsentieren und stellte bekannte US-amerikanische und britische Moderatoren ein. Als Gäste in Talkshows waren besonders Personen gefragt, die aus dem Westen kommen und dort polarisieren: der WikiLeaks-Gründer Julian Assange etwa oder der Brexit-Politiker Nigel Farage.  

    Ging Russia Today bei seiner Gründung 2005 noch vorgeblich mit dem Ziel an den Start, ein positives Russlandbild im Ausland zu vermitteln, änderte sich das seit dem Russland-Georgien-Krieg 2008. Gemäß dem Motto „Question more“ ging es nun darum, die Berichterstattung westlicher Medien in Zweifel zu ziehen und Akteuren mit anti-westlicher Agenda eine Plattform zu bieten.  

    Margarita Simonjan selbst hat immer wieder öffentlich ihre persönliche Abneigung gegen den Westen betont. So habe ihr das Austauschjahr als Schülerin in den USA gezeigt, dass es im „patriarchalen, konservativen und polizeistaatlichen Amerika“ viel weniger Freiheit als im Krasnodar des Jahres 1995 gegeben habe. 

    2008 wurde der Sender in RT umbenannt. Er trägt jetzt Russland nicht mehr offen im Namen.20 Die Inhalte drehen sich ohnehin nur selten um Ereignisse im eigenen Land, meistens geht es stattdessen um Fehler und Versagen des Westens. Mehrere Tochtergesellschaften verbreiten RT-Produktionen, ohne für die Nutzer erkennbar mit dem Sender in Verbindung zu stehen.21 Dazu gehörte die Social Media-Agentur In The Now, die mit ihrer Mischung aus Politik und komisch-emotionalen Kurzvideos auf Facebook über 5,6 Millionen Follower gesammelt hat. 

    Simonjan kokettiert offen mit ihrer Rolle als Speerspitze russischer Desinformation. Zum Beginn des Superwahljahrs 2024 veröffentlichte RT ein mit KI erstelltes Video, in dem der amerikanische Präsident Joe Biden als Ded na povodke (dt. Opi an der Leine) den russischen Propagandasong Ja Russki (dt. Ich bin ein Russe) im Oval Office singt und dabei von russischen Wissenschaftlern gesteuert wird. Anmoderiert wird die Szene von Margarita Simonjan selbst. Der Clip schließt mit den Worten: „Wir haben uns eingemischt. Wir mischen uns ein. Wir werden uns einmischen.“22  

    Seit Beginn des Angriffskriegs ist RT aufgrund seiner offensiven Propaganda in zahlreichen Ländern und auf vielen Plattformen verboten. Der Sender verbreitet seine Videos und Inhalte in den sozialen Netzwerken und auf YouTube deshalb unter anderem Namen.23 Wie das funktioniert?  Margarita Simonjan erklärt’s: „Manchmal wachst du morgens auf und sie haben schon 600 unserer Kanäle geschlossen. Aber während sie noch dabei sind diese zu schließen, haben wir schon längst wieder neue aufgemacht.“24


    1. meduza.io: Margarita Simon’jan predložila vzorvat’ jadernuju bombu nad Sibir’ju ↩︎
    2. m_simonyan/x.com: Po ličnomu svoemu vyboru, potomu čto ja verju v Boga ↩︎
    3. Maša Borzunova/YouTube: God pereobuvanija Simonʹjan, Zacharova «razoblačila» pedofilʹskoe lobbi na Zapade ↩︎
    4. theins.ru: Simon’jan o chode vojny v Ukraine: „Vse idët po planu. Spasibo tem, kto terjaet svoi žizni na fronte“ ↩︎
    5. Sud’ba čeloveka s Borisom Korčevnikovym/RuTube: Margarita Simon’jan. ↩︎
    6. Financial Times: Lunch with the FT: Kremlin media star Margarita Simonyan. The Kremlin media star on the world according to Russia ↩︎
    7. novayagazeta.ru: Beslan. Rassledovat‘ večno ↩︎
    8. U.S. Embassy in Georgia: Faces of Kremlin Propaganda: Margarita Simonyan ↩︎
    9. rferl.org: RT’s top editor toasts Putin: “He used to be our president; now he is our leader” ↩︎
    10. Sud’ba čeloveka s Borisom Korčevnikovym/RuTube: Margarita Simon’jan. ↩︎
    11. vedomosti.ru: Novost’ o burgere v SŠA v čest’ Putina okazalas feijkom ↩︎
    12. svoboda.org: Interv’ju Petrova i Boširova. Kratkoe izloženie i kommentarii ↩︎
    13. Margarita Simonyan/Telegram: My s Tigranom pridumali ↩︎
    14. Aleksej Naval’nyj/YouTube: Parazity ↩︎
    15. meduza.io: FBK: Margarita Simon’jan i eë rodstvenniki polučili 46 millionov rublej za fil’m „Krymskij most“ ↩︎
    16. Aleksej Naval’nyj/YouTube: Parazity ↩︎
    17. meduza.io: RT nazval sebja samym populjarnym novostnym telekanalom na jut’jube. FBK obvinil ego v nakrutke prosmotrov i pokupke kommentariev ↩︎
    18. meduza.io: RT ostalsja liderom po ob’’ëmam gosfinansirovanija sredi SMI ↩︎
    19. kommersant.ru: „Net nikakoj ob’’ektivnosti“ ↩︎
    20. Elswah, M. & Howard, P.N. (2020). Hier S. 625. ↩︎
    21. Elswah, M. & Howard, P.N. (2020): “Anything that Causes Chaos”: The Organizational Behavior of Russia Today (RT). In: Journal of Communication, 70, 623–645. Hier S. 630. ↩︎
    22. Proekt „Ded na povodke“/RuTube: Kak RT zastavil Bajdena spet’ pesnju „Ja russkij“ ↩︎
    23. juliadavisnews/X: Head of RT Margarita Simonyan describes Russia’s covert operations ↩︎
    24. Žizn’ i sud’ba/Smotrim.ru: Margarita Simon’jan ↩︎

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    Konstantin Ernst

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    „Das Fernsehen ist jener Ort, an dem ich mehrere Leben gleichzeitig leben kann“ – diese Worte wiederholt der Generaldirektor des Perwy Kanal in Interviews gerne. Ob vor oder hinter der Kamera, ob als Regisseur, Drehbuchautor oder Produzent zahlreicher Filme und Serien – der Name Konstantin Ernst taucht in fast allen zeitgenössischen medialen Produktionen auf. Ohne Zweifel ist Ernst eine der mächtigsten und einflussreichsten Persönlichkeiten der russischen Medienwelt. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine steht er für „die Mitwirkung bei der Verbreitung von anti-ukrainischer Propaganda“ unter internationalen Sanktionen. Wie kaum ein anderer ist Ernst in der Lage, Stimmungen zu erfassen und weiterzugeben. Konstantin Ernst ist jedoch kein plumper Propagandist, sondern in erster Linie ein geschickter Medienmanager und kreativer Kopf, der das russische Staatsfernsehen reformiert und modernisiert hat.

    Konstantin Ernst ist eine der mächtigsten und einflussreichsten Persönlichkeiten in der russischen Medienwelt / Foto © Mikhail Metzel/ITAR-TASS/imago-images

    Anfänge und schneller Aufstieg 

    Seine Karriere beim Fernsehen begann in einer Zeit des Umbruchs und Neubeginns: 1988 fing Ernst beim damaligen Sender ORT an. Mit Ende 20 wurde er Regisseur, Drehbuchautor und Moderator bei Wsgljad (dt. Blick) – einem der bekanntesten Programme der Perestroika-Zeit. Ab 1991 produzierte und moderierte er fünf Jahre lang seine eigene Sendung Matador im Nachtprogramm des Senders, die beim Publikum sehr beliebt war. In essayartigen Sendungen widmete sich Ernst dort vor allem seiner großen Leidenschaft, der Kino- und Filmindustrie. Er träumte davon, einmal selbst zum Kino zu gehen, doch dann kam alles anders: Im März 1995 erschossen Unbekannte den ORT-Direktor Wladislaw Listjew. Konstantin Ernst wurde sein Nachfolger. 

    Modernisierer des Perwy Kanal

    In seiner neuen Position reformierte Ernst ORT und trug damit wesentlich zum Erfolg des Senders bei, der 2002 in Perwy Kanal umbenannt wurde. Sein Ziel war es, dem staatlichen Fernsehen wieder zu hohen Einschaltquoten zu verhelfen und Stabilität zu schaffen, was ihm unter anderem durch die vermehrte Aufnahme von Spielfilmen ins Programm sowie neue Produktionen gelang. So verantwortete er beispielsweise Russki Projekt (dt. Das Russische Projekt) – die erste sogenannte soziale Werbekampagne der russischen Regierung nach dem Ende der Sowjetunion. Mit einfachen, aber eindringlichen Bildern sollten die anderthalb bis zweiminütigen Clips die Bevölkerung an wichtige gesellschaftliche Werte erinnern. Häufig endeten sie mit einem moralisierenden Appell: „Denk an deine Liebsten“, „Glaube an dich selbst“ oder „Setzen Sie sich realistische Ziele“.1

    Ernst verstand, dass er das Publikum auf einer emotionalen Ebene erreichen muss, wenn er moralische Botschaften übermitteln will. Er entwickelte Unterhaltungsprogramme wie Proshektor Paris Hilton (dt. Paris Hilton im Rampenlicht), die Erfolgstalkshow Pust goworjat (dt. Lasst sie reden) oder die mehrteiligen Musikfilme Staryje pesni o glawnom (dt. Alte Lieder über das Wesentliche). Das Fernsehen ist außerdem jener Ort, an dem Ernst seiner großen Leidenschaft für die Filmkunst nachgehen kann. So produzierte er zahlreiche erfolgreiche Filme und Serien der letzten zwei Jahrzehnte. Dazu gehören etwa die Filme Notschnoi dosor (dt. Wächter der Nacht, 2004) und Dnewnoi dosor (dt. Wächter des Tages, 2005), die Fortsetzung des beliebten Klassikers Ironija sudby (2007) (dt. Ironie des Schicksals), ein Biopic über den Sänger Wladimir Wyssozki (2011) und der Historienfilm Wiking (2016) über Fürst Wladimir I. 

    Mediale Megaevents für das Putin-Regime 

    Seit 1999 hat Ernst nicht nur den Posten des Generaldirektors des Perwy Kanal inne, sondern er ist auch Hauptproduzent medialer Großereignisse, wie zum Beispiel des Eurovision Song Contests 2009 in Moskau, der Eröffnungs- und Schlusszeremonie der Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi, sowie der Fußballweltmeisterschaft 2018. Ernst war es auch, der die jährliche Call-in-Show Prjamaja linija s Wladimirom Putinym (dt. Direkter Draht mit Wladimir Putin) ins Leben gerufen hat. Jedes Jahr am 9. Mai produziert er die Übertragung der Siegesparade in Moskau. Der begeisterte Cineast weiß seine Leidenschaft für Hollywood-Filme in diese monotonen Ereignisse einfließen zu lassen und sie in mediale Spektakel zu verwandeln: So ließ er unter anderem Kameras in den Cockpits von Kampfflugzeugen installieren, um dem Publikum Aufnahmen wie im amerikanischen Action-Drama Top Gun zu liefern. 

    Nicht zuletzt aufgrund der Produktion medialer Megaevents gilt Ernst als „Kreativdirektor“ des Kreml und hauptverantwortlicher Gestalter des visuell-medialen Stils des Putin-Regimes. Der Kreml hat ihn dafür mit Auszeichnungen überhäuft: Er erhielt zahlreiche Urkunden, Medaillen und Orden. So verlieh Putin ihm unter anderem 2021 den höchsten Grad des Ordens für Verdienste um das Vaterland. Ernst ist außerdem mehrfacher Gewinner des wichtigsten russischen Fernsehpreises Tefi, Mitglied zahlloser Verbände und Akademien sowie Teil des Kuratoriums des Fond Kino, der wichtigsten Finanzierungseinrichtung der russischen Regierung für die russische Filmproduktionsindustrie.

    Vom Wissenschaftler zum Fernsehmogul 

    Eine Karriere in Film und Fernsehen schien dem 1961 in Moskau geborenen Konstantin Ernst zunächst nicht in die Wiege gelegt. Wie sein Vater Lew Ernst sollte er Wissenschaftler werden. Dieser war ein bekannter Biologe, Vize-Präsident der Sowjetischen Akademie für Landwirtschaftswissenschaften und Begründer der sowjetischen Schule für Genetik. Lew Ernst war somit der erste Wissenschaftler in einer Familie, die vorwiegend bei der Eisenbahn gearbeitet hatte – Konstantin Ernsts deutscher Ur-Ur-Großvater Leo Ernst kam im 19. Jahrhundert zum Bau der Eisenbahn ins Russische Kaiserreich, heiratete und blieb.

    Konstantin Ernst studierte Biologie und erhielt nach Abschluss des Doktorats im Bereich der Genetik 1986 ein prestigeträchtiges Angebot für ein zweijähriges Praktikum an der Universität Cambridge. Aber er lehnte ab und machte sich stattdessen an die Arbeit an seinem ersten Film. Zunächst produzierte er einen Videoclip für das Lied Aerobika der Rockgruppe Alisa, danach folgte der avantgardistische Dokumentarfilm Homo duplex sowie die Verfilmung eines Konzerts des populären Rock-Barden Boris Grebenschtschikow in Leningrad. Durch diese Arbeit wurde der damalige Moderator von Wsgljad, Jewgeni Dodolew, auf Ernst aufmerksam. Dodolew engagierte ihn als Regisseur und Produzenten – es war der Startschuss für Ernsts Höhenflug beim Fernsehen. 

    Ein Mensch der Gegensätze 

    Bereits an seinen Debüt-Arbeiten und seinem beruflichen Werdegang zeigt sich, dass Ernst ein Mensch der Gegensätze ist: Er wurde im analytisch-strukturierten Denken ausgebildet, aber seine Leidenschaft gilt der Filmkunst. 2021 wurde bekannt, dass ein Unternehmen, das mit Ernst in Verbindung gebracht wird, zahlreiche Kinotheater aus der Sowjetzeit in Moskau abreißen ließ. An ihrer Stelle wurden Einkaufszentren errichtet – der große Freund des Kinos ist somit zugleich sein Zerstörer.2 Der Perwy Kanal ist Ernsts Erfolgsprojekt; gleichzeitig ist er mitverantwortlich für dessen hohe Verschuldung.3 Auch unter seinen Mitarbeitern ist er umstritten. So hat beispielsweise eines der bekanntesten Gesichter des Perwy Kanal, Andrej Malachow, den Sender aufgrund von Konflikten mit Ernst verlassen.

    Seine Ausbildung und gesellschaftliche Stellung machen Ernst zu einem Vertreter der Intelligenzija. Er ist jedoch auch Hauptverantwortlicher für aggressiv-propagandistische Talkshowformate wie Wremja pokashet (dt. Die Zeit wird es zeigen). Derartige Programme zeugen von seinem Wunsch, die Menschen emotional zu lenken, sowie von seiner Sicht auf die Rolle des Fernsehens in der Gesellschaft: Wie er bereits 2004 anlässlich des Geiseldramas in Beslan und der spärlichen Berichterstattung darüber im Perwy Kanal gegenüber der Financial Times erklärte, ist es in seinen Augen die wichtigste Aufgabe des Fernsehens, das Land zu mobilisieren; erst an zweiter Stelle komme die Aufgabe, die Menschen zu informieren.4 

    Meister der Inszenierung

    In seiner Rolle als Generaldirektor eines der wichtigsten Fernsehsender Russlands sowie als Produzent zahlreicher Filme agiert Ernst im Spannungsfeld von Einschaltquoten, Vorgaben aus dem Kreml und eigenen künstlerischen Ambitionen. Tatsächlich wurde unter Ernsts Anhängern spekuliert, dass dieser für die Möglichkeit, mediale Großprojekte realisieren zu können, die Propaganda für den Kreml in Kauf nehme.5 Ernst definiert sich allerdings selbst als Vertreter eines starken Staates (gosudarstwennik) und kann daher als loyaler Anhänger des Putin-Regimes bezeichnet werden. So erklärte er einmal in einem Gespräch mit einem Journalisten des New Yorker, dass es seltsam wäre, wenn ein staatlicher Sender eine regierungsfeindliche Haltung einnehmen würde.6 Trotzdem bewahrte Ernst stets den künstlerischen Anspruch an sein Programm. Über lange Zeit hatte der Perwy Kanal bei der Propaganda nie ein gewisses Niveau unterschritten. Angesichts der Geschmacklosigkeiten in Wremja pokashet hat jedoch auch diesen Sender die politische Realität inzwischen eingeholt.
    Ernsts Aufmerksamkeit gilt heute umso mehr den Unterhaltungsprogrammen, da hier der kreative Spielraum noch am größten ist. Diese Projekte zeigen Ernsts persönlichen Ehrgeiz, sich technisch mit Hollywood zu messen und die amerikanische Filmfabrik zu übertreffen, denn inhaltlich habe diese in den letzten 15 Jahren „nur Mist“ hervorgebracht, wie er bei einem öffentlichen Auftritt abschätzend erklärte.7

    Die von Ernst produzierten Fernsehserien und Spielfilme, die oft Rekordsummen verschlingen, transportieren vor allem eines – die russische Staatsideologie. So fällt beispielsweise in der Serie Trotzki (2017) die historische Genauigkeit der Symbolik zum Opfer: Trotzki wird als Marionette ausländischer Kräfte dargestellt, Revolutionen werden als etwas Fatales präsentiert. Auch das Drama Wysow (dt. Die Herausforderung) aus dem Jahr 2023 hat in erster Linie politische Bedeutung: Der angeblich im Weltraum gedrehte Film soll den „erneuten“ Sieg über Amerika beim Wettlauf ins All demonstrieren. Die politische Dimension zeigt sich auch darin, dass Konstantin Ernst sowie die Schauspielerin Julia Peresild dafür prompt eine Auszeichnung erhielten – und zwar von Wladimir Putin persönlich. Zufrieden zurücklehnen wird sich Ernst deshalb bestimmt nicht. Er greift weiter nach den Sternen und kündigt an: Eine Fortsetzung des Blockbusters solle „auf dem Mond“ gedreht werden.8


    1. In einem dieser Videos schenkt eine Frau, deren Mann sie nach einem Streit auf der dunklen Straße ausgesetzt hat, einem jungen Liebespaar ihren Hut. Als sie in die Nacht hineinwandert, erscheint die Überschrift: „Passen Sie auf die Liebe auf“. ↩︎
    2. meduza.io: Kompanija, svjazannaja s Konstantinom Ėrnstom, snosit 39 sovetskich kinoteatrov v Moskve. Oni pravda ne nužny gorodu i ne imejut nikakoj cennosti? Otvečaet istorik architektury ↩︎
    3. meduza.io: Očen‘ plochie biznesmeny: Kak internet, propaganda i ambicii Konstantina Ėrnsta sdelali gluboko ubytočnym Pervyj kanal — i čto s nim teper‘ budet ↩︎
    4. newyorker.com: The Kremlin’s Creative Director ↩︎
    5. TV Rain/YouTube: Z-padenie Ėrnsta, Presnjakova, Gagarinoj. Kak znamenitosti okazalis‘ za vojnu? ↩︎
    6. newyorker.com: The Kremlin’s Creative Director ↩︎
    7. lenta.ru: Ėrnst nazval kino Gollivuda der’mom i sravnil so studiej Gor’kogo 72-go goda ↩︎
    8. news.ru: Ėrnst zajavil o gotovnosti snjat‘ fil’m na Lune ↩︎

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  • Russisches YouTube

    Russisches YouTube

    YouTube ist die Informationspest unserer Zeit“ – postete Jewgeni Prigoshin Mitte Januar 2023 auf seinem Telegram-Kanal. Der Chef der berüchtigten Söldnergruppe Wagner behauptete, dass 40 Prozent der Videos auf dieser Plattform gegen Russland gerichtet seien.1 Jeder, so Prigoshin, der sich gegen die Schließung von YouTube stelle, sei ein „Volks- und Landesverräter“. Derartige Drohungen einer baldigen Blockierung von YouTube in Russland sind nicht neu, wurden bisher allerdings nie wahrgemacht. Seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine ist es jedoch wahrscheinlicher geworden, dass Russland die populäre Videoplattform – analog zu westlichen sozialen Medien wie Instagram, Twitter und Facebook – blockieren könnte.

    Das Noch-Offenhalten der Plattform wird häufig mit ihrer Popularität begründet:2 Mit über 90 Millionen Nutzerinnen und Nutzern monatlich ist YouTube in Russland überaus beliebt und liegt klar auf Platz eins der Video- und Streamingplattformen.3 Im Unterschied zur Online-Filmdatenbank kino.poisk und zum Online-Fernsehkanal rus-tv.su zeichnet sich YouTube durch seine Breite aus, da es neben privatem Content auch journalistische Beiträge zulässt. Dieses Alleinstellungsmerkmal sowie die Beliebtheit sind jedoch nur zwei der zahlreichen Gründe, warum YouTube bis heute in Russland noch frei zugänglich ist. Tatsächlich spielt die Videoplattform in der russischen Medienwelt eine komplexe Rolle bei der Informationsvermittlung – auch für die russische Staatsführung selbst.

    Im gesamten Jahr 2022 hat die russische Medienaufsichtsbehörde mehr als 300 Medien blockiert und über 150 Journalistinnen und Journalisten zu „ausländischen Agenten“ erklärt.4 Mit einem Paket an Gesetzen hat die russische Regierung zudem dafür gesorgt, dass die Zensur in den staatlich kontrollierten Medien de facto verankert wurde, obwohl diese in Russland laut Verfassung verboten ist. Angesichts der Repressionen gegen die letzten unabhängigen russischen Medien kann YouTube gegenwärtig als eine der wenigen noch zugänglichen Bastionen der freien Meinungsäußerung in Russland bezeichnet werden. Sofern sie nicht aufgegeben haben, wechselten die verbliebenen liberalen und oppositionellen Medien mit ihren Formaten auf die Videoplattform und bauten ihre Kanäle zum Teil ganz neu auf. Dazu gehört der bekannte Radiosender Echo Moskwy, der seit Mitte März 2022 mit dem YouTube-Kanal Shiwoi gwosd (dt. Lebender Nagel) in reduzierter Form weiter existiert. Der Sender war zuvor über Nacht geschlossen worden.

    Spätestens seit dem Jahr 2014, in dem das Staatsfernsehen in Russland immer mehr zu einem reinen Sprachrohr der Propaganda mutiert ist, wurde YouTube zu einer alternativen Informationsressource. Der Angriffskrieg gegen die Ukraine hat diese Tendenz verstärkt. Dies gilt insbesondere für die jüngere Generation, die kaum noch Fernsehen guckt5 und die Plattform gleichermaßen zur Information und Unterhaltung nutzt. Auf YouTube findet beispielsweise der oppositionelle Online-Fernsehsender Doshd Platz, der dort bereits seit 2010 einen Kanal besitzt. Nach Beginn des Krieges hatte die Redaktion zwischenzeitlich ihre Kanäle auf allen Plattformen deaktiviert. Der Sender sah sich durch die neue Zensurgesetzgebung gezwungen, die Arbeit einzustellen. Erst seitdem die Medienschaffenden im Exil sind, streamt Doshd sein Programm wieder über YouTube. Dies geschieht unter erschwerten Bedingungen, weil sich das Team auf verschiedene Fluchtländer aufteilt und es Probleme mit der Sendelizenz gab.

    „Neues Fernsehen“

    YouTube wird in Russland bereits seit längerer Zeit als „neues Fernsehen“6 charakterisiert, da es Programme zeigt, die im Staatsfernsehen nicht mehr geduldet werden. Alexej Piwowarow, ein ehemaliger Journalist des früheren russischen Staatssenders NTW, beschrieb die Besonderheit von YouTube 2019 folgendermaßen: „Hier gibt es das, worin wir gut sind – Qualitätsjournalismus.“7

    Auf seinem YouTube-Kanal Redakzija widmet sich Piwowarow in analytischen Sendungen oder Spezialreportagen aktuellen Themen, die im Staatsfernsehen entweder verschwiegen oder falsch dargestellt werden. Neben diesen zwei Formaten gibt es auf seinem Kanal auch Dokumentarfilme, die auf YouTube allgemein ein beliebtes Genre sind. Zu den am weitesten verbreiteten und populärsten Genres zählt das Interview, für das neben Piwowarow auch zahlreiche weitere YouTuber und YouTuberinnen aus Russland bekannt sind, darunter Katerina Gordejewa (Skashi Gordejewoi), Irina Schichman (A pogoworit?), Xenia Sobtschak (Ostoroshno: Sobtschak!) und Ilya Varlamov (varlamov). Letzterer hat Russland noch 2021 verlassen – alle anderen sind nach Beginn des russischen Angriffskriegs ebenso ins Exil gegangen.

    Das bekannteste und erfolgreichste Interview-Projekt des russischen YouTube ist mit über zehn Millionen Abonnenten jedoch vDud, das der ehemalige Sportjournalist Juri Dud im Februar 2017 gestartet hat. An seinem Beispiel wird deutlich, warum YouTube auch als „Territorium der Freiheit“ bezeichnet wird: Juri Dud hält sich nicht an sprachliche Konventionen, lädt Gäste mit verschiedenen Ansichten und Einstellungen ein und spricht über „politisch brisante und gesellschaftlich tabuisierte Themen“8. Der Kanal vDud sowie die genannten anderen YouTube-Kanäle bieten somit Orte der Vielfalt und Meinungspluralität. Damit bilden sie einen krassen Gegenpol zum alles dominierenden und seit Kriegsbeginn von Propaganda überfluteten Staatsfernsehen.

    Plattform des Protests

    Obwohl YouTube bereits 2005 gegründet wurde, etablierten sich russische oppositionelle Politikerinnen und Politiker sowie Aktivistinnen und Aktivisten dort erst relativ spät. Seit den Massenprotesten 2011 bis 2013 wurde YouTube jedoch immer wichtiger für kritische Stimmen. Wie schnell pikante Informationen dort ein breites Publikum erreichen können, zeigte sich besonders deutlich im Jahr 2017 an dem 50-minütigen Dokumentarfilm On wam ne Dimon. Das Video hatte am dritten Tag nach Erscheinen bereits über 5,5 Millionen Aufrufe (46 Millionen bis heute). Als direkte Reaktion brachen in Russland landesweit Proteste gegen die Korruption der Eliten aus und die Demonstrierenden forderten unter dem Slogan „Dimon otwetit“ den Rücktritt des damaligen Ministerpräsidenten Dimitri Medwedew. In dem Film zeichneten der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny und sein Team nach, dass Medwedew der eigentliche Eigentümer verschiedener Immobilien in Milliardenhöhe sei, die auf dem Papier jedoch angeblich gemeinnützigen Stiftungen gehören.

    On wam ne Dimon war jedoch nicht das einzige Enthüllungsvideo, das Nawalnys Antikorruptionsfonds FBK über Missstände in Regierungskreisen veröffentlicht hat. Die Plattform wurde zu Nawalnys wichtigstem Kanal, um seine Botschaften an ein Millionenpublikum zu bringen. Bis zu seiner Verhaftung im Januar 2021 nutzte der inzwischen weltweit bekannte Aktivist YouTube zugleich für den öffentlichen Schlagabtausch mit Vertretern der Staatsmacht. Im Staatsfernsehen waren ihm unterdessen Auftritte verwehrt; Wladimir Putin sprach öffentlich nicht einmal seinen Namen aus.

    Ideologisches Kampfmittel

    Für staatliche Medien, linientreue Journalistinnen und Journalisten sowie staatsnahe Portale ist das Verhältnis zu YouTube ambivalent. Seit vielen Jahren sind sie auf die Plattform angewiesen, auch wenn alles Westliche in zahlreichen Statements der staatlichen Propagandamaschinerie verteufelt wird. Um sich davon abzusetzen, wurde bereits 2006 ein Videoportal in russischer Sprache ins Leben gerufen, das sogenannte RuTube. Allerdings kann die russische Plattform, die Gazprom-Media gehört, mit seinen rund 16 bis 21 Millionen monatlichen Nutzerinnen und Nutzern nicht mit seinem US-amerikanischen Pendant mithalten: YouTube hat rund fünf Mal so viele Userinnen und User pro Monat. Deshalb hatten die wichtigsten staatlichen Fernsehkanäle Russlands sowie einzelne Shows und Moderatoren lange Zeit eigene Kanäle auf YouTube. Damit konnten sie ihre Reichweite vergrößern und die Videoplattform als „ideologisches Kampfmittel“9 nutzen. Bestes Beispiel dafür ist RT, das seit 2007 auf der Plattform aktiv war und in verschiedenen Sprachen – darunter Englisch, Arabisch, Spanisch, Deutsch, Französisch, Chinesisch und Russisch – ein breites Publikum erreichte.

    Mit der großflächigen Invasion in die Ukraine vervielfachte sich die russische staatliche Propaganda und Desinformation auf YouTube. Kurz nach Kriegsbeginn, am 11. März 2022, blockierte YouTube daher europaweit vom russischen Staat finanzierte Kanäle, darunter RT, Sputnik sowie die Kanäle der Informationsagentur Rossija segodnja10. Damit reagierte das Unternehmen auf das in der EU verhängte Verbot russischer Staatsmedien. Im Mai 2022 löschte YouTube mehr als 9.000 Kanäle und 70.000 Videos, die in Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine standen, darunter auch Videos, in denen der Krieg als „Befreiungsmission“ beschönigt wurde. Außerdem entfernte YouTube die Accounts von Einpeitschern des Kreml wie jenen von Wladimir Solowjow.

    Auch wenn die russischen Propagandisten und Staatsmedien nun vermehrt auf anderen Kanälen aktiv sind und beispielsweise über Telegram ein Millionenpublikum erreichen, finden sie auf YouTube nach wie vor einen Weg, um ihre Videos zu verbreiten. So hat RT einfach sein Logo in den Videos entfernt und verteilt seinen Content nunmehr auf mehr als 100 andere Kanäle, die immer wieder wechseln.11

    Russlands breit angelegte Desinformationskampagne geht somit nach wie vor auch auf YouTube weiter. In diesem Sinne ist auch die Antwort des Ministers für Digitale Entwicklung, Maksut Schadajew, auf die eingangs zitierte Forderung des Wagner-Chefs Prigoshin nach einer Schließung von YouTube in Russland zu verstehen: Schadajew entgegnete im Januar 2023 zum wiederholten Mal, dass YouTube „ohne ernsthafte Gründe“ nicht blockiert werde, da es keine konkurrenzfähige vergleichbare Plattform gebe.12 Neben dem Fehlen einer ernsthaften Alternative wäre vermutlich der Aufschrei bei einem Verbot der Plattform groß – ist YouTube doch viel populärer und weit stärker frequentiert als beispielsweise Instagram oder Twitter. Zudem wird die westliche Videoplattform in Russland in erster Linie zur Unterhaltung genutzt.13 YouTube stellt somit kaum eine politische Gefahr für die russische Staatsmacht dar – im Gegenteil: Die russische Propaganda findet trotz Verboten und Sperren weiterhin Möglichkeiten, um die westliche Plattform erfolgreich für ihre Zwecke zu nutzen.


    1. kuban24.tv: Evgenij Prigožin zajavil, čto YouTube v Rossii budet zakryt v bližajšee vremja ↩︎
    2. thehill.com: Why Russia blocked Western social media — but not YouTube ↩︎
    3. Inklient.ru: Statistika Rutube v 2022 godu ↩︎
    4. novayagazeta.ru: Bʹet po mozgam ↩︎
    5. Litvinenko, A. (2021): YouTube as Alternative Television in Russia: Political Videos During the Presidential Election Campaign 2018, in: Social Media + Society, 1C9. Hier S. 1 ↩︎
    6. novayagazeta.ru: Jutub vs staryj «jaščik» ↩︎
    7. novayagazeta.ru: Jutub vs staryj «jaščik» ↩︎
    8. Binder, Eva (2019): Kremlnah vs. kremlkritisch: Mediendiversität trotz Lenkung in Russland, in: Holzmann, K.; Hug, T. & Pallaver, G. (Hg.): Das Ende der Vielfalt? Zur Diversität der Medien. Innsbruck, 115–129. Hier S. 125 ↩︎
    9. Fuchs, C. (2019): Öffentlichkeit im Digitalen Kapitalismus, in: Holzmann, K.; Hug, T. & Pallaver, G. (Hg.): Das Ende der Vielfalt? Zur Diversität der Medien. Innsbruck, 49–66. Hier S. 59 ↩︎
    10. euronews.com: YouTube announces an immediate block on Russian state-funded media channels globally ↩︎
    11. theguardian.com: RT videos spreading Ukraine disinformation on YouTube despite ban – report ↩︎
    12. kuban24.tv: Maksut Šadaev: pozicija Mincifry po blokirovke YouTube ne izmenilasʹ ↩︎
    13. hypeauditor.com: Top 1000 YouTube Channels in Russia ↩︎

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    Politische Talkshows

  • Politische Talkshows

    Politische Talkshows

    Wochentags, 10.30 Uhr1: Nach einer kurzen Sendung, in der es um Gesundheitsfragen, Abnehmtipps und Haarpflege geht, laufen auf den zwei wichtigsten Staatssendern Russlands, Rossija 1 und Perwy Kanal, die ersten politischen Talkshows. Gemeinsam mit den Nachrichten dominieren sie das Fernsehprogramm bis Mitternacht. Unterbrechungen durch andere Sendungen gibt es kaum, weshalb Polit-Talks gemeinsam mit den Nachrichten auf dem Perwy Kanal auf rund zwölf Stunden Sendezeit pro Tag kommen.2 In den Talkshows geht es nahezu ausschließlich um den Krieg gegen die Ukraine, der als „militärische Spezialoperation“ bezeichnet wird. 

    Wie kommt es, dass Nachrichten und Polit-Talkshows eine derart große Rolle im russischen Staatsfernsehen spielen? Und worum geht es in diesen Sendungen? Slawistin Magdalena Kaltseis blickt hinter die Kulissen und erzählt die Geschichte vom Aufstieg der TV-Talkshows zum derzeit wohl wichtigsten Fernsehgenre und Propagandainstrument Russlands. 

    Waffenlieferungen an die Ukraine werden nicht nur im deutschen Fernsehen heiß debattiert. Auch das russische Staatsfernsehen beschäftigt sich damit, jedoch auf eine spezielle Art und Weise. So fragte der Fernsehmoderator Wladimir Solowjow am 15. Juni 2022 einen seiner Gäste: „Werden sie [die NATO – dek] endlich gegen uns kämpfen?“. „Ja“, antwortet der Gast, „faktisch tun sie das schon. Wir sehen jetzt, wie die ganze Welt auf Russland scharf gemacht wird, das ist der alte Plan, den man jetzt in die Tat umzusetzen versucht. Jede NATO-Armee öffnet ihre Lager und alles, was sie an Waffen haben, schmeißen sie an die Front …“. „Dann macht es doch Sinn“, entgegnet der Moderator Solowjow, „eine zweite Front zu eröffnen und Deutschland anzugreifen, solange es absolut wehrlos ist? Damit es bei diesen Nazis keine Illusionen mehr gibt.“3

    Dieser kurze Ausschnitt aus dem Talkshow-Abend mit Wladimir Solowjow, der wochentags jeden Abend auf Rossija 1 läuft, macht deutlich, auf welcher Ebene die Debatten im Fernsehen geführt werden. Dem Westen wird in diesen Shows einerseits pausenlos gedroht, unter anderem mit Atomwaffen. Andererseits werden die USA, die EU oder die NATO lächerlich gemacht, zum Beispiel, indem US-Präsident Joe Biden in einem eingespielten Video eine schrille und kreischende Synchronstimme erhält. 

    ARENEN DER EMOTIONEN

    Talkshows sind eine Mischung aus Unterhaltung und Information und werden dem sogenannten Infotainment zugeordnet – auch in Russland.  Aber insbesondere bei russischen Talkshows geht es nicht primär um ihren Informationswert, sondern vor allem um die Emotionen, die sie hervorrufen. Skandale, Hetzrede, persönliche Beleidigungen und geschmacklose Unterhaltung stehen im Zentrum dieses heute gut etablierten Typs politischer Talkshows in den russischen Staatssendern.
    Auf diese Weise sind russische Polit-Talkshows, wie sie von staatlichen und staatsnahen TV-Sendern produziert werden, offensichtlich ein Erfolgsrezept. Aufgrund ihrer Vielfalt, der oftmals obszönen und vulgären Sprache4 sowie der geladenen Gäste sprechen sie unterschiedliche Bevölkerungsschichten und Generationen an – politische Talkshows belegen stets hohe Plätze in Sendungsrankings und erreichen häufig einen Zuschaueranteil von bis zu 25 Prozent, manchmal auch mehr. 

    Dabei wird in den Sendungen versucht, emotionale Reaktionen des Publikums durch lautes Brüllen, verbale oder physische Attacken5, Schockbilder oder Gräuelgeschichten zu erzeugen. Diese Taktiken dienen nicht nur boulevardesker Unterhaltung, sondern auch der Verstärkung von Feindbildern, die in den Talkshows transportiert werden – allen voran gegenüber der Ukraine und den USA. Oftmals werden in den Sendungen Kämpfe inszeniert: Liberal-oppositionell oder ukrainefreundlich gesinnte Diskutanten treffen auf dem Bildschirm auf patriotisch-konservative Gäste. Letztere dominieren die Shows, diffamieren ihre Kontrahenten und gehen meist als „Sieger“ hervor. Aber auch die Moderatoren der Polit-Talks werden schon einmal handgreiflich und werfen Gäste aus dem Studio: „Halt die Fresse! Verpiss dich, du faschistische Laus!“ Mit diesen Worten schrie der Moderator der Sendung Wremja pokashet (dt. Die Zeit wird es zeigen) einen der „proukrainischen“ Gäste an, der angemerkt hatte, die Rote Armee sei 1941 aus der Ukraine „schändlich abgehauen“. Im Anschluss wurde der Gast vom Security-Team aus dem Studio geworfen
     
    Heute fungieren politische Talkshows in erster Linie als emotionale Unterstützung einer weitgehend entpolitisierten und bereits vorherrschenden Stimmung, die durch die politische Führung, das System unter Putin und entsprechende Nachrichten geschaffen wurde. Gleichzeitig haben sie in den letzten Jahren zunehmend eine didaktische und meinungsmanipulative Funktion eingenommen und beeinflussen somit maßgeblich die öffentliche Meinung.6 Das war jedoch nicht immer so.

    SYMBOLE DER PERESTROIKA

    In Russland etablierten sich Talkshows erst während des Zusammenbruchs der Sowjetunion und stehen in engem Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Umbrüchen und Veränderungen dieser Zeit.7 Als Diskussions- und Gesprächsplattform stellten die Talkshow in einer Periode der angestrebten Transparenz, Offenheit und Meinungsfreiheit das geeignete Format dar, um politische oder gesellschaftliche Fragen öffentlich zu diskutieren. Neue TV-Formate wurden zunächst aus dem westlichen Fernsehen übernommen, wobei sich Talkshows aufgrund ihres hohen Massenanreizes und der relativ niedrigen Produktionskosten besonders gut für das russische Fernsehen eigneten.8 Insbesondere waren es jedoch die politischen Talkshows nach US-amerikanischem Vorbild, die übernommen wurden. Eine der ersten Ende der 1980er Jahre entstandenen Talkshows und Symbole der Perestroika war die von dem 1995 erschossenen Journalisten Wladislaw Listjew moderierte Sendung Wsgljad (dt. Blick), in der neben der Diskussion der Wochennachrichten erstmals auch zeitgenössische Popmusik aus dem Ausland und Musikclips westlicher Popstars zu hören und zu sehen waren.9 Aus dieser Zeit stammt auch der heute im Russischen gebräuchliche Terminus tok-schou, eine direkte lexikalische Entlehnung des englischen Begriffs talk show.10 

    ENTPOLITISIERUNG DES FERNSEHENS

    Bis zur Jahrtausendwende entwickelte sich eine eigenständige Form der russischen Polit-Talkshows, zu deren Gründungsvätern neben Listjew auch Wladimir Posner zählte, der noch bis zur Invasion in die Ukraine im Februar 2022 als Moderator tätig war und als TV-Patriarch gilt. Während einige Polit-Talkshows, die sich anfangs vor allem mit dem Wechsel der politischen Elite beschäftigten, zu „Instrumenten innerer Informationskriege“11 wurden, hatten andere Sendungen eine wichtige investigative Funktion. So thematisierte beispielsweise die Talkshow Nesawissimoje rassledowanije (dt. Unabhängige Untersuchung) auf NTW die Rolle des FSB bei der Serie von Bombenanschlägen in Moskau und anderen russischen Städten im August und September 1999.12

    NTW nahm ab Beginn der 2000er Jahre eine führende Rolle bei der Produktion politischer Talkshows ein,13 beispielsweise wurde auf diesem Sender die von Jewgeni Kisseljow moderierte Talkshow Glas naroda (dt. Stimme des Volkes) ausgestrahlt. Allerdings ging in den Jahren unmittelbar nach dem Amtsantritt Wladimir Putins die Anzahl politischer Talkshows zunächst zurück, was mit der allgemeinen Entpolitisierung des russischen Fernsehens in den 2000er Jahren einherging.14 

    DER Krieg gegen die Ukraine UND DIE NEUE FORM DER POLIT-TALKSHOW

    Das Jahr 2014, die Annexion der Krim und der Krieg im Donbass stellten einen Wendepunkt für Polit-Talks dar, da im Herbst 2014 nicht nur die Anzahl politischer Talkshowreihen im russischen Fernsehen stark zugenommen hat, sondern seitdem auch ein neuer Stil in diesen Shows beobachtet werden kann.15 So kam zu dieser Zeit Wremja pokashet neu bei Perwy kanal ins Programm. Diese Show war eine Neuheit im russischen Fernsehen, da mit ihr erstmals eine Polit-Talkshow nachmittags ausgestrahlt wurde und sie daher von der bekannten Fernsehkritikerin Irina Petrowskaja als „Politik für Hausfrauen“ bezeichnet wurde16. Seit dem 24. Februar 2022 und der Ausweitung des Krieges auf die gesamte Ukraine produziert diese Show bis zu sechs Stunden Sendezeit täglich und konzentriert sich meist auf ein einziges Thema: die Ukraine. 

    Auf anderen Fernsehkanälen wie Rossija 1, NTW und TWZ drehen sich die politischen Talkshows ebenfalls fast ausschließlich um die Ukraine, und auch hier wurden politische Talkshowreihen neu ins Programm aufgenommen. 
    Im September 2016 startete auf Rossija 1 die Polit-Talkshow 60 minut, die mittlerweile zwei Mal täglich – vormittags und abends – gesendet wird. Kennzeichnend für diese Sendung sind neben persönlichen Beleidigungen und Anfeindungen der Gäste vor allem Diffamierungen des ukrainischen Staates, weshalb sie von kritischen Stimmen auch „60 Minuten des Ukrainehasses“ genannt wird.17 Die beiden Moderatoren – Olga Skabejewa und Jewgeni Popow – werden im Gegensatz zu vielen anderen im Studio weder handgreiflich noch verwenden sie obszöne Lexik. Sie benutzen hingegen andere Methoden, um die Ukraine zu diffamieren. So schenkte das Moderatorenpaar dem inzwischen verstorbenen rechtspopulistischen Politiker Wladimir Shirinowski zu seinem 73. Geburtstag im Jahr 2019 eine Torte in Form der Ukraine, welche er mit einem Messer in zwei Hälften teilte. Anlässlich des Todestages des Politikers am 6. April 2022 wurde dieses Video in der Sendung noch einmal gezeigt und der sichtlich aggressive Akt der Zerteilung der Ukraine von der Moderatorin, Olga Skabejewa, süffisant als „Vorhersehung“ gedeutet.
     



    Teilungsphantasie im Jahr 2019: Wladimir Shirinowski zerschneidet vor laufender Kamera eine Torte, die die Form der Ukraine hat, und kommentiert, welcher Teil des Landes seiner Vorstellung nach besser zu Russland gehören sollte.

    Neben der Abwertung der Ukraine sind die russische Außenpolitik, die historische Glorifizierung Russlands sowie der Konkurrenzkampf mit dem Westen beliebte Themen in den Talkshows. Oftmals werden auch unterschiedliche und widersprüchliche Deutungen bestimmter Ereignisse geliefert: etwa über den Abschuss des Flugs MH 17 oder die Kriegsverbrechen in Butscha. Ziel ist es, das Publikum zu verwirren und Fakten zu verwischen.
    Seit dem Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine sah sich auch das Publikum in Russland über Soziale Netzwerke mit einer Flut von Fotos und Videos konfrontiert, welche die zerstörten ukrainische Städte und Kriegsverbrechen zeigten, mutmaßlich begangen durch die russische Armee. Binnen weniger Tage verabschiedet die Staatsduma daraufhin ein Gesetz, wonach die Verbreitung von „Fake News“ über die russische Armee – respektive Informationen, die nicht unmittelbar von russischen offiziellen Stellen stammen, – mit bis zu 15 Jahren Haft bestraft werden können. Kurz darauf kündigte der Perwy Kanal eine neue Sendung unter dem Titel AntiFejk (dt. Anti-Fake) an: „Videos und Fotos dürfen nicht als Beweise oder Informationsquellen gelten, egal woher sie stammen“, so der Werbespot der Show.18 Diese neue Show soll dem Zuschauer, wie verkündet wird, dabei helfen, die „Lüge von der Wahrheit“ zu unterscheiden und demonstrieren, dass alles, was die ukrainische Seite oder der Westen berichten, falsch bzw. Fake ist. Damit schafft sie vor allem eines: Desinformation. Die Show versucht, Zweifel an den Gräueltaten der russischen Armee in der Ukraine zu streuen und dadurch beim Zuschauer Gleichgültigkeit zu fördern. Das geschieht auch dadurch, dass sie „dem kollektiven Westen eine beispiellose Emotionalisierung“ vorwirft, die auf Fakes beruhe – das Mitgefühl mit den Opfern in der Ukraine wird dadurch zu einem „feindlichen, westlichen Gefühl“.19 

    ZENTRALE INSTANZ – DER MODERATOR 

    Zu den zentralen Charakteristika von Talkshows zählt neben der vermeintlichen Leichtigkeit des Gesprächs und der Anwesenheit eines Publikums (was jedoch während der Coronapandemie aufgegeben und nur teilweise wieder aufgenommen wurde) die Wortgewandtheit des Moderators.20 Letzterer ist gleichzeitig Marke und Aushängeschild der Talkshow, sein Familienname figuriert oftmals als Teil des Talkshownamens. Bemerkenswert ist, dass Polit-Talkshows seit 2014 auch immer wieder von Politikern der Putin-Partei Einiges Russland moderiert werden, darunter Pjotr Tolstoi und Wjatscheslaw Nikonow.21 

    Einer der derzeit wohl bekanntesten Moderatoren ist Wladimir Solowjow. Er ist einer der wichtigsten Propagandisten des russischen Staatsfernsehens, und im Zusammenhang mit dem Krieg wurden gegen ihn persönlich Sanktionen verhängt. Beleidigung und Diffamierungen sind bei Solowjow an der Tagesordnung, insbesondere gegen Oppositionelle und unabhängige Medien. So bezeichnete er in seiner Sendung die Novaya Gazeta und ihre Mitarbeiter als „widerliche, dumme Drecksäcke“ und den Chefredakteur des (inzwischen geschlossenen) Radiosenders Echo Moskwy als „Faulzahn“. Adolf Hitler dagegen nannte der Moderator einen „mutigen Mann“, weshalb er von Alla Gerber, der Präsidentin der Holocaust Stiftung, als „Schande für den Journalismus, die Nation und Russland“ kritisiert wurde.22 

    Solowjow ist jedoch nicht der Einzige, der polarisiert und stark diffamierende sowie expressive Lexik verwendet. Ein weiteres grelles Beispiel dafür ist Artjom Scheinin, der seit 2016 durch seine Moderation von Wremja pokashet einem breiteren Publikum bekannt geworden ist. Er zeichnet sich durch seine platte und politisch inkorrekte Ausdrucksweise sowie die Verwendung von Mat aus.23 Scheinin provoziert bewusst in seinen Talkshows – sei es mit der Verharmlosung der Tötung von Menschen24 oder mit einem Eimer Fäkalien: So sollte in einer Sendung ein ukrainischer Experte vor laufenden Kameras quasi bekennen, dass die Krim schon immer russisch gewesen sei. Als er sich weigerte, stellte Scheinin dem völlig verdutzten Gast einen vorbereiteten Eimer mit Fäkalien vor die Füße; das Studiopublikum klatschte begeistert.



    Moderator Artjom Scheinin stellt einem verdutzten Gast einen Eimer Fäkalien vor die Füße, weil der sich weigert, die Krim als russisch anzuerkennen.

    WIEDERKEHRENDE GESICHTER UND MEINUNGEN

    Obwohl die teilweise unzensierte Sprache der Moderatoren den Anschein von Spontanität und Live-Übertragungen vermittelt, sind die meisten Sendungen inszeniert und folgen einem vorgefertigten Drehbuch.25 Speziell in russischen Talkshows werden immer wieder dieselben Gäste und sogenannte Experten eingeladen, damit sie eine bestimmte Position – Freund oder Feind Russlands – vertreten. So mimt beispielsweise der gebürtige Amerikaner Michael Bohm regelmäßig den westlichen Feind Russlands, tingelt durch die verschiedenen Sendungen und Fernsehkanäle und wird dafür sehr gut bezahlt.26 Darin besteht auch der Unterschied zu den Polit-Talkshows der 1990er Jahre: Waren damals die Talkshows und Moderatoren noch um einen gewissen Meinungspluralismus bemüht, sind heute diejenigen erfolgreich, die am lautesten schreien, geschmacklose Witze vorbringen, raufen, den Gegner verbal niedermachen und mit allen Mitteln polarisieren. 

    Seit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine lässt sich zudem eine weitere Tendenz in den Polit-Talks ausmachen – die wiederholte Prophezeiung eines nuklearen Kriegs beziehungsweise Dritten Weltkriegs. Ob dies im Auftrag des Kreml geschieht oder ob es dabei um Stimmungsmache oder das „Testen“ bestimmter Szenarien geht, bleibt offen. Es wird jedoch ernsthaft über die Möglichkeit einer Ausweitung des Krieges gesprochen: Wie die Chefredakteurin von RT, Margarita Simonjan, in Solowjows Sendung im April 2022 verkündet, scheine ihr das Unmögliche, dass alles in einem Atomkrieg ende, immer wahrscheinlicher. Solowjow zitiert daraufhin wortwörtlich eine Äußerung Putins, mit welcher er bereits 2018 auf dem Waldai-Forum provoziert hatte: „Aber wir kommen ins Paradies und sie [der Westen und die Ukraine – dek] werden einfach verrecken.“ 


    1. vgl. ein angekündigtes Fernsehprogramm: yaom.ru: Programma peredač Rossija 1 na 9 marta 2022 goda ↩︎
    2. vgl. Kaltseis (2022): Russia’s invasion of Ukraine: The first day of the war in Russian TV talk shows ↩︎
    3. smotrim.ru: Ukraina, Zapad i političeskie kidaly. Ėfir ot 15.06.2022 ↩︎
    4. vgl. Novaja Gazeta: Govorit i pokazyvaet podvorotnja ↩︎
    5. Lenta.ru: Veduščij Pervogo kanala nabrosilsja na gostja programmy ↩︎
    6. vgl. The Washington Post: Russia’s TV talk shows smooth Putin’s way from crisis to crisis ↩︎
    7. vgl. Kozlova/Bondarev (2011): Nacional’nye osobennosti razvitija žanra obščestvenno-političeskogo tok-šou na rossijskom televidenii, in: Vestnik VolGU, 8 /10, S.119f. ↩︎
    8. vgl. Hutchings/Rulyova (2009): Television and culture in Putin’s Russia. Remote control, London/New York, S. 90 ↩︎
    9. vgl. Lenta.ru: «Ėto norma»: Kak Pervyj kanal zadaval ton otečestvennomu TV ↩︎
    10. vgl. Kozlova/Bondarev (2011), S.120 ↩︎
    11. vgl. Dolgova (2017): Social’naja i političeskaja tematika v obščestvenno-političeskich tok-šou 2014-2015 gg, in: Tichonova: Social’nye aspekty sovremennogo veščanija v Rossii, Vypusk II, Moskva, S. 17 ↩︎
    12. vgl. Youtube: Popytka vzryva doma FSB ili učenija? Nezavisimoe rassledovanie ↩︎
    13. vgl. Novikova (2008): Sovremennye televizionnye zrelišča: istoki, formy i metody vozdejstvija, Sankt Peterburg, S. 195 ↩︎
    14. vgl. Dunn (2009): Where did it all go wrong? Explaining Russian television in the Putin era, in: Beumers/Hutchings/Rulyova (eds.): The Post-Soviet Russian Media – Conflicting Signals, New York, S. 44 ↩︎
    15. vgl. Dolgova (2015): Fenomen populjarnosti obščestvenno-političeskich tok-šou na rossijskom TV osen’ju 2014 goda – vesnoj 2015 goda, in: Vestnik MGU serija 10, Žurnalistika 6, S. 163 ↩︎
    16. echo.msk.ru: Čelovek iz televizora (20.09.2014) ↩︎
    17. vgl. currenttime.tv: V Latvii zapretili telekanal ‘Rossija‘ za razžiganie nenavisti k ukraincam ↩︎
    18. Perwy kanal: O projekte. AntiFejk ↩︎
    19. Geschichtedergegenwart.de: Der „forensische“ Blick ↩︎
    20. vgl. Kuznecov (2004): Tak rabotajut žurnalisty TV: 2-e izdanie, pererabotannoe, Moskva, S. 29-31 ↩︎
    21. vgl. Kozlova/Bondarev (2011), S.121 ↩︎
    22. vgl. Youtube: Alla Gerber žëstko otvetila Solov’ëvu: Ja ne ošiblas’! ↩︎
    23. vgl. Interfax.ru: Televeduščego Šejnina nakažut za mat v ėfire ↩︎
    24. Moskovskij Komsomolez: «Ja ubival»: Veduščij «Pervogo kanala» sdelal priznanie v efire ↩︎
    25. vgl. Timberg et al. (2002): Television Talk: A History of the TV Talk Show, Austin, S. 5f. ↩︎
    26. vgl. The Insider: Ispoved’ propagandista ↩︎

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  • Ilya Varlamov

    Ilya Varlamov

    Am 26. April 2017 schreibt der bekannte Blogger Ilya Varlamov auf seinem Twitteraccount: „Hallo, Stawropol) Danke @aeroflot für einen tollen Flug. Das Wetter ist großartig.“ Einige Minuten später spritzen ihm Unbekannte Seljonka ins Gesicht, einen organischen Farbstoff aus der Gruppe der Triphenylmethane, der in der russischen Hausmedizin als antiseptisches Wunderheilmittel gilt. Darauf folgten Torten und Schläge, denen der mit Säure angegriffene Blogger nichts mehr entgegensetzen konnte.

    Jod, Torten und Seljonka sind die üblichen Kampfmittel der Aktivisten, von denen oppositionelle Politiker wie Alexej Nawalny oder Michail Kassjanow mehrmals angegriffen wurden. Nawalny verlor bei einem dieser Angriffe fast das Sehvermögen und musste operiert werden. Varlamov hatte allerdings Glück: Er trägt eine Brille. Schon eine Stunde später postete er den Tweet: „Mit mir ist alles ok 🙂 Schade um mein Lieblings-T-Shirt und die Technik. Ich gehe mich jetzt waschen und dann fotografiere ich die Stadt.“ Dies war der eigentliche Anlass seiner Reise nach Stawropol.

    Varlamov befindet sich immer inmitten der Ereignisse, schreibt und berichtet über alles, worauf er trifft und was mit ihm geschieht. Foto © varlamov.ru

    Auch wenn sich dieser Vorfall schon wenige Stunden später in einem anderen Stadtteil wiederholte, war Varlamov nicht abzuschrecken. Im Gegenteil: Er dokumentierte den Angriff und veröffentlichte die Fotos der Täter (die schließlich eine Geldstrafe in Höhe von 8 Euro bezahlen mussten1) auf seinem Blog und in den Sozialen Netzwerken. Denn die minutiöse Dokumentation von alldem, was mit ihm und um ihn herum geschieht – seien es oppositionelle Demonstrationen auf dem Bolotnaja-Platz, nationalistische Ausschreitungen auf dem Manegenplatz, die Proteste auf Maidan oder Auseinandersetzungen mit der Polizei in Hamburg während des G20-Gipfels – ist sein Hobby und Beruf.

    Blogger und Fotograf

    Dem breiten Publikum ist er vor allem durch seinen Blog varlamov.ru bekannt, den er unter dem Nickname Zyalt2 am 5. August 2006 auf der LiveJournal-Plattform startete. Mit dem Slogan „Make Russia warm again“ schaffte er ein äußerst erfolgreiches Autorenmedium (awtorskoje SMI), das seit 2015 auf einer eigenen Domain läuft, aber immer noch bei LiveJournal integriert ist. Der Erfolg von varlamov.ru kann sich sehen lassen: Laut dem LiveJournal-Nutzer-Rating 2017 rangiert die Seite mit zwei Millionen Abonnenten auf dem ersten Platz dieser Liste und mit einigen Millionen Klicks im Monat konkurriert sie mit großen Online-Medien.

    Viele Ereignisse in der jüngsten Geschichte Russlands sind den Internet-Nutzern durch seine Fotos und Videos bekannt. Varlamov gilt als Chronist der oppositionellen Demonstrationen und Kundgebungen: Der Marsch nesoglasnych (Marsch der Nichteinverstandenen), die Strategie 31, Bolotnaja, Sacharowa – zu allen diesen Ereignissen lieferte er hautnahe und anschauliche Foto-Reportagen. Varlamov befindet sich immer inmitten der Ereignisse, schreibt und berichtet über alles, worauf er trifft und was mit ihm geschieht – er kennt keine Scheu. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, warum er als Profilbild seines Blogs den als ausgelassen und rebellisch bekannten Bart Simpson ausgewählt hat, dessen Gesicht von einer Afro-Perücke – als Anspielung auf Varlamovs eigenen Wuschelkopf – mit den Farben der russischen Nationalflagge umrahmt ist.

    Varlamovs Autorenmedium ist nicht nur hinsichtlich der Klickzahlen und Bekanntheit erfolgreich, sondern stellt auch ein gelungenes kommerzielles Projekt dar. Zu den Hauptthemen seines Blogs zählen neben der Beschäftigung mit den jüngsten politischen Ereignissen in Russland und anderen Ländern auch die aktuelle Lebenssituation und die Probleme des russischen Großstadtlebens.

    Wegen der Betonung solcher Probleme wurde Varlamov bereits mehrmals zur Zielscheibe von Kritik. So bezichtigte ihn 2017 der Duma-Abgeordnete Wladimir Burmatow der „Auftragsschreiberei” (rus. sakasucha): Der Blogger habe für seinen niederschmetternden Bericht über einen Spielplatz in Tscheljabinsk Geld angenommen, so der Politiker. Stichhaltige Beweise blieben aus, wie auch bei den häufigen Unterstellungen seitens russischer Oppositioneller. Diese halten Varlamov manchmal vor, Auftragsschreiberei für den Kreml und ein doppeltes Spiel zu treiben. Der Journalist Oleg Kaschin, der 2012 Varlamov ebenfalls ein Doppelspiel vorgeworfen hatte,3 kürte ihn vier Jahre später zum Journalisten des Jahres 2016. Kaschin betonte jedoch dabei, dass Varlamovs Blog nur deshalb zu einem wichtigen Medium wurde, weil die mediale Landschaft drumherum zerstört oder verdorben sei.4

    Kampf für schönere und lebenswerte Städte

    Ausgestattet mit einer Handkamera oder einfach nur mit seinem Handy wandert Ilya Varlamov (geb. 1984) durch die Städte, filmt und kommentiert dabei nicht nur aktuelle Ereignisse, sondern auch die Beschaffenheit von Straßen, Gehsteigen und Gebäuden. Offensichtlich findet er dabei Gehör, weil er mit Humor und einfachen, klaren Worten auf Missstände und Nachlässigkeiten hinweist, bei denen andere wegsehen. Und er weiß offensichtlich, wovon er spricht: Der geborene Moskauer ist während der Perestroika und der 1990er Jahre aufgewachsen und absolvierte das Moskauer Architekturinstitut. Bereits während seines Studiums gründete er zusammen mit Artjom Gorbatschow das Studio für 3D-Visualisierung iCube, das sich nach über 10 Jahren Existenz in Moskau als erfolgreiches Unternehmen im Bereich der Stadtplanung und Architekturgrafik etabliert hat und sowohl mit großen Privatfirmen als auch mit staatlichen Behörden und der Moskauer Regierung zusammenarbeitet.

    Varlamov arbeitet außerdem für die von ihm und Maxim Katz gegründete Stiftung Gorodskie projekty (dt. Stadtprojekte) – eine gemeinnützige Organisation, die sich für ein besseres und angenehmeres Leben in der Stadt einsetzt und die Miteinbeziehung der BürgerInnen für die Lösung städtischer Probleme fordert. Unterstützt von Freiwilligen, führt die Stiftung jeweils vor Beginn eines Stadtprojekts Feldstudien durch und hat dadurch beispielsweise schon ein Parkverbot auf den Gehsteigen der Twerskaja Uliza durchgesetzt. Die Stiftung arbeitet eng mit iCube R&D Group, die inzwischen von Varlamovs Frau Ljubow Varlamova geleitet wird, und der gleichnamigen Agentur Gorodskie projekty zusammen.

    Gläserne Schraube

    Varlamov setzt sich in erster Linie für die Verbesserung der Lebensqualität in russischen Städten ein. Als Menschenrechtsaktivist und Mitorganisator des Projekts Strana bez glupostej (dt. Land ohne Dummheiten) kämpft er gegen Verletzungen der bürgerlichen Freiheit und gegen Verwaltungsverstöße. Mithilfe von Youtube-Videos, wie beispielsweise in seinem neuen Videoprojekt Kak nam obustroit Rossiju (dt. Wie wir Russland ausbauen können), thematisiert und diskutiert er Ideen, Neuigkeiten und Projekte russischer Stadtentwicklung und Stadtplanung. Dabei tritt er in Interaktion mit seinen Followern: Ganz im Sinne der Bürgernähe sollen seine AnhängerInnen auf Probleme und Nachlässigkeiten sowie auf positive Entwicklungen in ihren Städten hinweisen, ihm Fotos schicken und neue Themen vorschlagen.

    Parkplatz, nominiert für den Preis Gläserne Schraube. Foto © varlamov.ru

    Varlamov kämpft allerdings nicht nur mithilfe von Aufklärung und Bewusstseinsschaffung in Form von Fotos, Videos oder Blogeinträgen für lebenswertere Städte und gegen Verwaltungsverstöße, sondern auch mit Witz: So hat er die Antiprämie Stekljanny bolt (dt. Gläserne Schraube) ins Leben gerufen – ein Preis, bei dem Fotos mit den schlimmsten Fehlern, Ungenauigkeiten und Pannen russischer Stadtgestaltung prämiert werden.5

    Russland verändern

    Ilya Varlamov will mithilfe seiner Fotos, Kommentare und Videos etwas in Russland verändern, indem er Lösungen aus anderen Ländern für ein angenehmes Stadtklima sammelt, auf Anregungen und Beobachtungen russischer BürgerInnen eingeht und diese mit seinem Fachwissen kommentiert. Mehrmals versuchte er sich auch in der Rolle des Politikers. So ist er 2012 Mitgründer der sogenannten Liga Isbiratelei (dt. Liga der Wähler) geworden, er kandidierte auch für den Posten des Bürgermeisters der Stadt Omsk und scheiterte bei der Unterschriftensammlung; im April 2018 kündigte er an, auch an den Moskauer Gouverneurswahlen teilnehmen zu wollen.

    Jedoch treffen sein Engagement und insbesondere das Aufzeigen von Korruption und Schlamperei im russischen Baugewerbe nicht bei allen auf Zustimmung. Er kritisiert die Gouverneure und Bürgermeister, Bauherren und Investoren. Seine Fotoreportagen aus der russischen Provinz werfen ein Schlaglicht auf die Realitäten, die die breite Öffentlichkeit sonst nicht auf dem Schirm hat. Damit löst er oft auch Mediendebatten aus. Den Vorfall in Stawropol bringt er mit kommerziellen Interessen einer Immobilienfirma JugStrojInvest in Verbindung – er wollte ein von ihr gebautes Wohngebiet fotografieren.


    1. Mk.ru: Napavšije na Varlamova s zeljenkoj ottelalis´ štrafom v 500 rublej ↩︎
    2. Varlamov schrieb in einem seiner Posts, dass dieser Nickname keine Bedeutung hat und wird als Sjalt ausgesprochen: Varlamov.ru: Čto značit “zyalt”? ↩︎
    3. Kommersant.ru: Velikij murzilka ↩︎
    4. Kashin.guru: Žurnalist goda 2016 – Ilja Varlamov ↩︎
    5. Varlamov.ru: Stekljannyj bolt ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Wladimir Solowjow

    Wladimir Solowjow

    „ … die wichtigste Aufgabe, für die wir auf dieser Erde existieren und für die allein wir leben können, ist der Kampf für die Gerechtigkeit, für das, was richtig ist. Und richtig ist, wenn du keinen bettelarmen Nachbarn hast, […] weil du ihm zu essen gegeben hast.“1 Dieser moralische Appell kommt von einem der bekanntesten und zugleich kontroversesten Fernsehmoderatoren Russlands: Wladimir Solowjow. In seinen Sendungen verurteilt der Entertainer immer wieder ausdrücklich die Korruption2, in einem seiner Bücher nennt er Russland gar ein Reich der Korruption.3 Dennoch bezeichnete er russische BürgerInnen, die dem Protest-Aufruf des Oppositionspolitikers Nawalny am 12. Juli 2017 in Moskau gefolgt waren, als „eine Menge von Assis“, „protzige Arschlöcher“ und „ewige zwei Prozent Scheiße“.4

    Durch seine Arbeit als Talkmaster beim staatlichen Fernsehsender Rossija-1 ist Solowjow es gewohnt zu provozieren, als Schiedsrichter aufzutreten und die journalistische Objektivität anderer, vorrangig westlicher Journalisten, anzuzweifeln.

    Bekannt für seinen durchdringenden Blick und seinen eigentümlichen Kleidungsstil – Moderator Wladimir Solowjow / Foto © kremlin.ru/wikimedia unter CC BY-SA 4.0
    Bekannt für seinen durchdringenden Blick und seinen eigentümlichen Kleidungsstil – Moderator Wladimir Solowjow / Foto © kremlin.ru/wikimedia unter CC BY-SA 4.0

    Zunächst wies nichts auf eine journalistische Karriere Solowjows hin: 1963 in Moskau geboren, wollte Wladimir Solowjow zuerst an der Moskauer Ingenieur- und Physikhochschule studieren, wo er nach eigenen Angaben aufgrund seiner jüdischen Abstammung nicht aufgenommen wurde.5 Schließlich absolvierte er sein Studium zum Hütteningenieur am Moskauer Institut für Stahl und Legierungen mit Auszeichnung. Im Anschluss daran promovierte er am Institut für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen an der sowjetischen Akademie der Wissenschaften in Moskau.

    Anfang der 1990er Jahre zog er in die USA und unterrichtete ein Semester lang Ökonomie an der Universität in Alabama. Dort engagierte er sich auch politisch, indem er Geld und Unterschriften für George Bush senior sammelte.6 Nach seinem zweijährigen Aufenthalt in den USA kehrte er nach Russland zurück, wurde als Unternehmer tätig und betrieb beispielsweise eine Firma, die Lichttechnik für Diskotheken herstellte.7

    Vom Unternehmer zum TV-Moderator

    Seine Medienkarriere begann Solowjow – mittlerweile Vater von acht Kindern – 1997, und zwar beim Radio. Von Beginn an spezialisierte er sich vor allem auf Interviews sowie auf politische Talkshows. So moderierte er bereits ab 1999 zusammen mit Alexander Gordon die Talkshow Prozess auf ORT. Gleichzeitig war er Moderator der Sendung Strasti po Solowjowu (dt. Die Solowjow-Passion) auf TNT, in der er Politiker und Kulturschaffende interviewte. 
    Es folgten weitere Talkshows auf den Sendern TV-6 und NTW. Für seine Interviews, unter anderem mit George W. Bush, wurde er 2005 mit dem wichtigsten russischen TV-Preis TEFI als bester Interviewer ausgezeichnet. Für seine Sendungen jedoch erntete Solowjow teilweise Kritik, da darin immer wieder dieselben Personen auftraten.

    Auch er selbst war nicht unumstritten. Im Winter 2008/2009 schadeten Werbekampagnen seinem Image: Unter anderem warb er im Internet für die „Kabbalaschule von Wladimir Solowjow“ und für „Magenballons“, mithilfe derer er abgenommen haben soll.8

    2017 geriet Solowjow, nachdem er die Demonstrierenden am 12. Juni 2017 unter anderem als „Kinder von Korrumpierten“ bezeichnet hatte, selbst in einen Korruptionsskandal: Ihm wurde vorgeworfen, Aufträge über einige hundert Millionen Rubel von der Sberbank für „Beratertätigkeiten“ angenommen zu haben. Diese sollen nicht dokumentiert und mutmaßlich mit Hilfe des Ehemanns seiner Tochter beschlossen worden sein.9 Zudem wurde ihm seine Leidenschaft für Immobilien zum Verhängnis: Er besitzt mehrere Häuser und Wohnungen im Wert von über 40 Millionen Dollar – was angesichts seiner relativ niedrigen Einkünfte als ein Hinweis auf Korruption gedeutet wurde.10

    Talkmaster und Manipulator

    Seit 2010 moderiert Solowjow die Sendung Polni kontakt (dt. Vollkontakt) beim Radiosender Vesti-FM und arbeitet beim staatlichen Fernsehsender Rossija-1. Als Moderator einiger Sendungen, vor allem der quotenstarken Talkshow (Woskresni) Wetscher s Wladimirom Solowjowym (dt. (Sonntag-)Abend mit Wladimir Solowjow) ist er im russischen Fernsehen sehr präsent.

    In seinen Sendungen agiert er wie ein Schiedsrichter und betont gerne, dass er selbst bestimmt, worüber die Gäste reden. Diese Rolle spiegelt sich auch in den Namen seiner Sendungen wider: Neben Vollkontakt moderiert er seit 2002 die politische Talkshow Pojedinok (dt. Duell) – ein Fernsehduell nach dem Beispiel von Wahlkampfdebatten.11

    Solowjow hat einen eigentümlichen Kleidungsstil: Meistens trägt er ein schwarzes oder sehr dunkles Hemd oder einen sogenannten Frentsch, bis zum Hals zugeknöpft, und weite schwarze Hosen. Seine schwarz-grauen Haare sind stets kurz geschoren, und sein durchdringender Blick in die Kamera wird von vielen als streng und bedeutungsschwer empfunden.

    In seinen Talkshows, in denen der Fokus auf den aktuellsten Themen der vergangenen Woche liegt, zeigen sich die Eloquenz, die Ironie und der Zynismus des Moderators. Solowjow versteht es, die jeweiligen KontrahentInnen in seinen Sendungen zu provozieren, mit Hilfe von Wortspielen liberal gesinnte Teilnehmer geschickt zu diffamieren, und er liebt es zu polarisieren.12 In seinen Büchern und Sendungen tritt er als Vertreter traditionell-konservativer und patriotischer Werte auf.13 Wenn nötig, legt er seinen Gästen auch Sätze in den Mund, die sie gar nicht gesagt haben und manipuliert damit gekonnt das Bewusstsein des Publikums.14

    Solowjows Feindbilder

    Zielscheibe in seinen Sendungen sind die Liberalen und der Westen. Darüber hinaus werden in seinem Buch Wragi Rossii (dt. Feinde Russlands), das 2011 erschien, weitere Feindbilder deutlich: Oppositionspolitiker wie der ermordete Boris Nemzow, Eduard Limonow oder Garri Kasparow stehen in einer Reihe mit Oligarchen, korrupten Beamten, Nationalisten und Pädophilen.15

    Solowjow ist einer der Journalisten, die die Politik des Kreml stets unterstützen. So erhielt er bereits einige Auszeichnungen, unter anderem 2014 den Alexander-NewskiOrden für „hohe Professionalität und Objektivität in der Berichterstattung über die Republik Krim“.16
    Auch seine Einstellung zum Ukraine-Krieg stimmt mit dem offiziellen Tenor überein. Er vertritt die Meinung, dass „in Noworossija Antifaschisten gegen Faschisten kämpfen“.17 Wegen dieser Haltung steht er seit 2014 auf der Sanktionsliste der Ukraine.

    Höhepunkt in der Karriere von Wladimir Solowjow waren zwei Exklusiv-Interviews mit dem russischen Präsidenten, die er 2015 führte. Eines davon wurde Teil des propagandistischen Dokumentarfilms Präsident.18 In diesem Film behauptet Solowjow zweieinhalb Stunden lang mit donnerndem Pathos, dass Russland unter Putins langjähriger Präsidentschaft wieder zu einer Großmacht geworden sei.

    Multitalent und Verwandlungskünstler

    Gelegentlich tritt Solowjow auch als Film- und Theaterschauspieler sowie als Sänger auf – er gab bereits zwei Soloalben heraus.19 Außerdem ist er Autor mehrerer Bücher zu gesellschaftlichen und politischen Themen, wie beispielsweise dem 2009 erschienenen Buch My – Russkije! S nami Bog! (dt. Wir sind Russen! Gott ist mit uns!). Neben seinen künstlerischen Aktivitäten ist Solowjow auch sportlich umtriebig: Er spielt in der Fußballmannschaft der russischen Regierung, hat den schwarzen Gürtel in Karate und interessiert sich für Bodybuilding und Autos.20

    Mittlerweile zählt Solowjow neben Dimitri Kisseljow zu den effektivsten und einflussreichsten Akteuren der russischen Medienwelt. Dabei wird er sehr kontrovers beurteilt: Einerseits tut er sich durch scharfe Polarisierungen und Provokationen hervor, er diffamiert öffentlich gerne sogenannte „Feinde“. Andererseits appelliert er oft an die Gerechtigkeit und das Gewissen und traut sich, auch dem Präsidenten unbequeme Fragen zu stellen.21 Zudem gibt er sich zwar antinationalistisch, bezeichnet sich aber zugleich als „russischen Patrioten“. Wegen dieser Anpassungsfähigkeit und Vielseitigkeit sprechen viele von Solowjow als einem „Chamäleon“.22


    1. Vsoloviev.ru: My russkie! S nami Bog ↩︎
    2. vgl. Vsoloviev.ru: Kniga: Imperija korrupcii ↩︎
    3. Solov’ev, Vladimir (2012): Imperija korrupcii: Territorija russkoj nacional’noj igry, Moskau ↩︎
    4. Radiovesti.ru: Bunt mažoro ↩︎
    5. Lenta.ru: Solov’ev, Vladimir ↩︎
    6. Ebenda ↩︎
    7. vgl. 24smi.org: Vladimir Solov’ev ↩︎
    8. vgl. Lenta.ru: Solov’ev, Vladimir ↩︎
    9. vgl. Noodleremover.news: Veduščij Vladimir Solov’ev, reklamno-kollektorskoe agentstvo Sberbanka ↩︎
    10. Moscow-post.ru: O sravnitel’no čestnych sposobach zarabatyvanija deneg V. Solov’evym ↩︎
    11. In den ersten zwei Jahren lief die Show auf TVS, 2003 bis 2009 wurde sie unter dem Namen K bareru! (dt. Zur Barriere! – eine Anspielung auf die Barriere beim Schießen) auf NTW ausgestrahlt. Seit 2010 läuft die Talkshow wieder unter dem Titel Poedinok (dt. Duell) auf Rossija-1. ↩︎
    12. So charakterisierte Solov’ev beispielsweise am Ende der Sendung Poedinok vom 04.04.2014 die Kluft zwischen den westlichen und russischen Werten folgendermaßen: „Im Westen sind die Werte oftmals Geilheit und Lust, und in Russland sind die Werte die Abstammung und der Staat.“ ↩︎
    13. vgl. Vsoloviev.ru: Istorija v real´nom vremeni ↩︎
    14. vgl. Čerepova (2015): Rol´ televisionnych političeskich tok-šou v propagande novoj rossijskoj ideologii, in: Žurnalistskij ežegodnik, S. 56 ↩︎
    15. Krupaspb.ru: Tjomnye sily nas zlobno gnetut … ↩︎
    16. vgl. Vedomosti.ru: Za vzjatie Kryma ↩︎
    17. vgl. Argumenty i fakty: Logika zverja ↩︎
    18. vgl. Radiovesti.ru: Interv’ju s Prezidentom – Olimpiada dlja žurnalista ↩︎
    19. Solov’inye treli (dt. Nachtigallenschlager, eine Anspielung auf seinen Nachnamen Solov’jev, abgeleitet von Nachtigall) und Volšebnik (dt. Der Zauberer) ↩︎
    20. Jourdoum.ru: On Chameleon ↩︎
    21. vgl. Youtube: Solov’ev zadal neudobnyj vopros Putinu ↩︎
    22. vgl. zum Beispiel Youtube: On chameleon ↩︎

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