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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Presseschau № 26

    Presseschau № 26

    In Russland wird der Tag der Raumfahrt gefeiert. Derweil verteidigt Putin den Cellisten Sergej Roldugin, der als einer der Hintermänner der russischen Offshore-Verwicklungen gilt. Ein Film unterstellt dem Oppositionspolitiker Alexej Nawalny aus den USA gesteuerte Umsturzabsichten und das enteignete Eigentümerkonsortium von Yukos lässt internationales Vermögen des russischen Staates beschlagnahmen.

    Tag der Raumfahrt. Die russische Öffentlichkeit liebt Jahrestage, am meisten runde. Am Dienstag war nicht nur, wie an jedem 12. April, der Tag der Raumfahrt, sondern auch noch der 55. Jahrestag des ersten Raumflugs in der Geschichte der Menschheit – und der war schließlich eine russische Errungenschaft. Die Raumfahrtbehörde Roskosmos nahm es zum Anlass, unter dem Motto Podnimi golowu! (dt. Kopf hoch!) eine patriotisch-optimistische Flashmob-Kampagne zu starten – auch auf Youtube. Das charmante Breitband-Lächeln des sowjetischen Superhelden Juri Gagarin prangte am Dienstag als Festtags-Logo von den Titelseiten vieler Zeitungen. Bei dem Kommersant-Tochterblatt Ogonjok zierte der Kosmonaut sogar die Titelseite, allerdings nicht mit Helm, sondern als Schelm mit einem fransigen Damen-Strohhut. Der Kosmos sei für Russland schließlich symbolisches Kapital und ein Markenprodukt, schrieb Vedomosti in einem Kommentar – „einzig zum Erhalt der Marke reichen die Mittel und die Qualifikation nicht aus“, weshalb man „alte Symbol-Vorräte ausnutzen“ müsse. In der harten Realität sei für die russische Raumfahrt Anfang des Jahres eine Mittelkürzung um 30 Prozent für das nächste Jahrzehnt beschlossen worden – und das demnächst startbereite neue Kosmodrom Wostotschny mache vor allem durch Skandale und Hungerstreiks der Bauarbeiter Schlagzeilen.

    Panama Papers. Zu anderen irdischen Problemen: Und die laufen in Russland – wie momentan in vielen anderen Staaten – unter dem Etikett Panama Papers. Als mutmaßlicher Strohmann und eine Putin besonders nahestehende Schlüsselfigur der russischen Offshore-Verwicklungen wurde darin der Cellist Sergej Roldugin enthüllt. Zwei Milliarden Dollar sollen über Briefkastenfirmen unter seinem Namen geflossen sein. Putin persönlich nahm ihn auf einem Petersburger Medienforum in Schutz: Roldugin sei einfach ein Musiker, der auch im Business aktiv sei und sein sauer verdientes Geld in den Ankauf von sündteuren Musikinstrumenten zur Talentförderung stecke. Russlands staatlicher Hauptpropaganda-Kanal, die Sendung Westi nedeli von und mit Dimitri Kisseljow, brachte daraufhin ein langes Sujet über den Musiker und präsentierte ihn und dessen piccobello restauriertes Petersburger Haus der Musik als jenen Kulturhort, in den der emsige Roldugin seine Reichtümer gesteckt habe. Das alte Adelspalais beeindruckt in der Tat – doch konterte die lokale Webzeitung fontanka.ru schon tags darauf mit eigenen Recherchen: Die Sanierung des Gebäudes sei für umgerechnet circa 50 Millionen Euro seinerzeit von der Stadt Sankt Petersburg bezahlt worden. Und kein einziges der im Film präsentierten mehrere Millionen Dollar teuren antiquarischen Instrumente stünde in der Bilanz von Roldugins Haus der Musik – das im Übrigen zu 80 Prozent vom Kulturministerium finanziert werde.

    Enthüllungen über Nawalny. Von Kisseljow am Sonntag bereits als Preview präsentiert, strahlte Rossija 1 am Mittwoch einen langen Film mit Enthüllungen über den Oppositionspolitiker Alexej Nawalny aus. Die Kernaussage: Nawalny arbeite seit Jahren im Auftrag und auf Rechnung des Putin-Intimfeinds Bill Browder, der einst in Russland zu den größten Finanzinvestoren gehörte – und betreibe letztlich einen Umsturz in Russland. Mit allerlei angeblich erbeuteter oder abgehörter Kommunikation unterstellt der Film, dass auch der Haft-Tod des Browder-Anwalts Sergej Magnitzki von den beiden Putin-Gegnern initiiert wurde – und zwar über geheimnisvolle britische Agenten im russischen Strafvollzugssystem. Auch Nawalnys Enthüllung über das Geschäftsimperium der Söhne von Generalstaatsanwalt Juri Tschaika sei auf Geheiß westlicher Geheimdienste erfolgt, heißt es in dem Material.

    Nawalny kündigte eine Klage gegen den Fernsehsender wegen Rufmords an. Das einzig Wahre darin über ihn sei, dass er Nawalny heiße, erklärte er. Und in seinem Blog veröffentlichte er eine Selbstanzeige beim FSB, in dem er um eine offizielle Untersuchung der publik gemachten Vorwürfe samt Beschlagnahme des angeblichen Belastungsmaterials bittet. Originellerweise fand er damit sogar Beifall bei Chef-Propagandist Kisseljow. Über die Qualität des Belastungsmaterials lästerte die Novaya Gazeta: Das Englisch der vermeintlichen britischen Agenten sei auf dem Niveau von Google-Übersetzungen beziehungsweise Russlands Sportminister Mutko (gegenüber dem Günther Oettinger geradezu Oxford-English spricht).

    Auseinandersetzung um Yukos. Ein weiterer ewiger Schauplatz von Battaglien zwischen dem Kreml und seinen Widersachern ist und bleibt Yukos: Das enteignete Eigentümerkonsortium GMT versucht international, seine Forderungen über 50 Milliarden Dollar vom russischen Staat einzutreiben – und hat in Frankreich Zahlungen in Höhe von 700 Millionen Dollar an die russische Raumfahrtbranche beschlagnahmen lassen – ein unschönes Geschenk zum Tag der Kosmonautik. Die russischen Ermittler versuchen derweil, in der schon satte 20 Jahre zurückliegenden Privatisierung von Yukos Kriminelles zu finden – was ermöglichen könnte, diese Forderungen international anzufechten. Der Ex-Eigner im Exil, Michail Chodorkowski, rückte davon unabhängig dieser Tage wieder auf die Forbes-Liste der 200 reichsten Russen: Das Magazin taxierte sein Vermögen auf 500 Millionen Dollar (Platz 170) – zu Beginn seiner zehnjährigen Haft hatte er das Rating noch angeführt.

    Direkter Draht mit Wladimir Putin. Ab Donnerstagmittag wird die russische Medienlandschaft aber erst einmal durch die Inhalte des Direkten Drahts mit Wladimir Putin geflutet: Der Präsident antwortet auf Bürgerfragen aus dem ganzen Land – erstmals auch aus dem sozialen Netzwerk VKontakte. Was auf dem Bildschirm nach einem relativ spontanen Dialog aussieht, ist ein gut eintrainiertes Spektakel: Wie rbc.ru berichtete, ist das Saalpublikum bereits seit Dienstag in einem staatlichen Vorort-Sanatorium kaserniert, wo die Frager ausgewählt werden und ihr korrektes Verhalten einstudiert wird.

    Lothar Deeg aus St. Petersburg

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    Presseschau № 21

    Während die russischen Medien den Internationalen Frauentag mit Reportagen über die besten Geschenke für Frauen und einem Grußwort des Präsidenten feiern, erschüttert den russischen Sport ein Dopingskandal um Tennisspielerin Scharapowa. Der Urteilsspruch im Prozess um Militärpilotin Sawtschenko wird vertagt, woraufhin diese ihren Hungerstreik ausweitet und auch aufs Trinken verzichtet. Und im Nordkaukasus erfolgen Anschläge auf Menschenrechtler und Journalisten.

    Internationaler Frauentag. In Russland begann diese Woche mit einem viertägigen langen Wochenende: Der am 8. März begangene Internationale Frauentag hat schließlich den Rang eines gesetzlichen Feiertags – und ein von den ohnehin langen offiziellen Neujahrsferien abgeknapster arbeitsfreier Tag war per Regierungserlass auf den Montag geschoben worden. Vom einstigen revolutionär-feministischen Ansatz des Frauentags ist bei den Russen nicht mehr viel übrig – es handelt sich vielmehr um einen Tag der ritualisierten Beschenkung und Beglückwünschung aller Frauen durch die Männerwelt (zwei Wochen vorher, am 23. Februar, dem „Tag der Vaterlandsverteidiger“ läuft es andersrum). Auch der (geschiedene) Präsident macht da keine Ausnahme und gratuliert der Damenwelt artig per Grußwort.

    Russlands Medien widmen sich zu diesem Datum einmal ausführlich „Frauenthemen“ – etwa mit einem Ratgeber, was Mann keineswegs zum 8. März verschenken sollte (Staubsauger, Unterwäsche, Schmuck), einer psychologischen Analyse, warum russische Frauen riesige Blumensträuße mögen oder einem analytischen Bericht, was unter „orthodoxer Mode“ zu verstehen ist – und warum diese in Russland immer beliebter wird.

    Prozess um Sawtschenko.  Doch zurück in die harte russische Nachrichtenrealität, wo unabhängig vom Feiertag gegenwärtig zwei Frauen im Mittelpunkt des Medieninteresses stehen: Nadeschda Sawtschenko und Maria Scharapowa.

    Immer dramatischer entwickelt sich der Prozess gegen die ukrainische Militärpilotin Sawtschenko – deren „unverzügliche Freilassung“ inzwischen auch die Bundesregierung fordert. Moskau wies derartige Forderungen seitens der USA bereits als „Einflussnahme auf das Gericht“ zurück. Sawtschenko wird vorgeworfen, während der Kämpfe in der Ostukraine Artilleriefeuer korrigiert zu haben, was zum Tod zweier russischer TV-Journalisten führte. Sie selbst betrachtet sich als unschuldig, die russische Justiz für nicht zuständig und beteuert, nach Russland entführt worden zu sein. Eigentlich steht nur noch die Urteilsverkündung aus – und kaum jemand zweifelt daran, dass das Urteil in etwa der Forderung der Staatsanwaltschaft nach 23 Jahren Haft entsprechen wird.

    Doch als letzte Woche der Prozess vertagt wurde, bevor Sawtschenko ihr schon auf Facebook veröffentlichtes Schlusswort halten konnte, trat die kämpferische Angeklagte aus Protest gegen die Verzögerung in einen trockenen Hungerstreik und trank nichts mehr. Sechs Tage später, am Mittwoch dieser Woche, inzwischen nahm sie wieder Flüssigkeit zu sich, konnte sie ihr Schlusswort halten: Ausgezehrt stieg sie auf die Anklagebank und zeigte dem Gericht den Stinkefinger, berichtet die Novaja Gazeta. Den Text verlas dann ihr Dolmetscher: Man werde sie so oder so zurück in die Ukraine schicken, tot oder lebendig, heißt es darin. Denn Sawtschenko hungert schon seit zwei Monaten, in einer Woche will sie auch wieder auf das Trinken verzichten, doch die Urteilsverkündung ist erst für den 21. und 22. März anberaumt.

    Dopingskandal. Das Doping-Eingeständnis des russischen Tennis-Weltstars Scharapowa schockierte die russische Sportwelt – genauso wie die Tatsache, dass immer mehr Fälle der Anwendung des seit Jahresbeginn von der Welt-Anti-Doping-Agentur verbotenen Präparats Meldonium bekannt werden. Eine ganze Reihe russischer Eisschnellläufer wurde positiv getestet – und muss nun mit langen Sperren rechnen. Während Scharapowa ihren Fehltritt mit Unaufmerksamkeit beim Lesen der entsprechenden Verbote erklärte, sieht der russische Eisschnelllaufverband Saboteure und Intriganten am Werk: Konkurrenten aus dem eigenen Team müssen den Spitzensportlern das Mittel untergeschoben haben, erklärte Verbandschef Alexej Krawzow. Vorrätig hatten es wohl viele, denn laut Sportmediziner Kirill Raimujew nahmen „100 Prozent aller russischer Leistungssportler“ das Präparat ein.

    Meldonium in Form des Herzmedikaments Mildronat – erhältlich in jeder russischen Apotheke, 40 Kapseln für  250 bis 300 Rubel – gehörte in Russland in den letzten drei Jahrzehnten zur Sportler-Standardernährung und galt als absolut harmlos, schreibt auch die Sport-Webzeitung championat.ru und fleht Scharapowa geradezu an, jetzt nicht die reuige Sünderin zu spielen, sondern mit ihrer Finanz- und Medienmacht zum Wohle aller russischen Sportler für die Rehabilitierung des Mittels wie seiner Anwender zu kämpfen. „Das kann nur sie tun. Unsere Flaggenträgerin. Niemand anderes wird man mehr hören. Zu spät. Russe – das heißt Doping. … Mascha, rette uns!“

    Selbst der Wirtschaftspresse ist der Fall Titelstories wert. Schließlich war Scharapowa mit einem Jahreseinkommen von zuletzt 30 Mio. Dollar die bestbezahlte Sportlerin der Welt, berichtet rbc.ru. Zu drei Vierteln kam das Geld aus Werbeverträgen. Doch Nike, Porsche und TAG Heuer beendeten bereits die Zusammenarbeit mit Scharapowa, schreibt der Kommersant.

    Überfall auf Journalisten im Nordkaukasus. Zu den negativen Nachrichten muss der brutale Überfall auf eine Gruppe Journalisten und Menschenrechtler in Inguschetien gezählt werden. Ihr Kleinbus wurde am Mittwoch auf der Fahrt von Inguschetien nach Grosny auf freiem Feld von etwa 20 Maskierten in drei Autos angehalten. Die neun Insassen wurden zusammengeschlagen, teilweise ausgeraubt, als „Verräter“ beschimpft und der Bus der NGO Komitee zur Verhütung von Folter in Brand gesetzt. Vier Betroffene kamen ins Krankenhaus, darunter zwei Journalisten aus Norwegen und Schweden. Die Webseite Mediazona, deren Korrespondent ebenfalls zu den Opfern gehört, berichtete mit einem Newsticker über die Ereignisse – denn am gleichen Tag drangen auch unbekannte Täter in das Büro der NGO in Inguschetien ein. Die inguschetischen Behörden haben ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Die tschetschenische Führung wies Vorwürfe zurück, die anti-oppositionellen Appelle von Republikchef Ramsan Kadyrow könnten zu derartigen Gewaltauswüchsen führen.

    Ölpreis. Zu den wenigen positiven Nachrichten der Woche gehört jene, dass der Ölpreis wieder steigt. Brent kostet nun wieder über 40 Dollar, analog stieg der notorisch schwachbrüstige Rubelkurs auf den bisher höchsten Wert der Jahres. Doch die Krise ist nicht vorbei. Fundamental hat sich auf dem überfluteten Ölmarkt nichts geändert, der Preisanstieg ist eher spekulativer Natur: „Von einer Trendwende kann man noch nicht sprechen“, warnt Vedomosti in einem Kommentar.

    Tierische Liebe. Und um nochmals auf den Frauentag und zugleich einen Dauerhelden der russischen Medien zurückzukommen: Für Ziegenbock Timur, weltbekannt für seine furchtlose Zoo-Freundschaft mit dem sibirischen Tiger Amur, wurde am 8. März eine Brautschau organisiert. Doch er verschmähte alle sechs aus verschiedenen Regionen aufgebotenen Damen, darunter auch eine aus Moskau eingeflogene Ziege namens Merkel.  Freundlich begrüßte Timur nur seinen Tigerkumpel hinterm Zaun.

    Lothar Deeg aus St. Petersburg für dekoder.org

     

     

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  • Presseschau № 18

    Presseschau № 18

    Als „Jahrtausendereignis“ gefeiert wurde dieser Tage das Treffen von Patriarch Kirill und Papst Franziskus auf Kuba. In Aleppo werden derweil die Bombardements fortgesetzt und die gegenseitigen Schuldzuweisungen zwischen Russland und Europa gehen weiter. Außerdem: Innenpolitisch beginnt allmählich der Wahlkampf zu den Dumawahlen im September. Pünktlich zu dieser Gelegenheit zeigt Alexej Nawalny Putin wegen Korruption an.

    Franziskus und Kirill. Diese Woche begann für die russischen Medien mit einem wahrhaftigen Jahrtausendereignis: Erstmals in der Geschichte der Christenheit, und fast tausend Jahre nach der Spaltung in West- und Ostkirche trafen sich die Oberhäupter der katholischen und der Russisch-Orthodoxen Kirche persönlich – und kündigten gemeinsame Schritte gegen die Christenverfolgung im Nahen Osten und für die Bewahrung des Friedens in der Welt und in der Ukraine im Besonderen an. Das Treffen von Kirill und Franziskus auf Kuba wurde in der russischen Presse entsprechend mit verbalen Superlativen belegt: „Ein Ereignis von zivilisatorischem Ausmaß“ betitelte TASS eine ausführliche Zusammenfassung von Reaktionen auf die Kirchenführer-Begegnung in Havanna. Warum das Treffen gerade jetzt klappte, sah die Zeitschrift Ogonjok so: Einerseits gibt es die – vom Patriarchat in Abrede gestellte – Version, Russland wolle so wenigstens im religiösen Feld aus der Isolierung gegenüber dem Westen ausbrechen. Andererseits wolle Kirill sein Gewicht auf einer in diesem Jahr anstehenden Synode aller orthodoxen Kirchen auf Kreta steigern – denn auch dieses Event wird schon über 50 Jahre vorbereitet.

    Russland in Syrien. Russland ist Kriegspartei in Syrien, deshalb vergeht kein Tag ohne dieses Stichwort. Zuletzt hagelte es aus dem westlichen Ausland Vorwürfe, russische Bombenangriffe auf Aleppo seien schuld an einer neuen Flüchtlingswelle – und auch ganz konkret an der Zerstörung eines Krankenhauses von Ärzte ohne Grenzen. Letzteren Vorwurf dementierte der Kreml wie üblich routiniert, berief sich dabei aber auf die nicht minder fragwürdige Behauptung des syrischen Botschafters in Moskau, das Hospital sei von den Amerikanern angegriffen worden – eine Version, die auch schon eine Woche vorher hinsichtlich Aleppos seitens des russischen Militärs verbreitet wurde.

    Interessanter als die endlosen gegenseitigen propagandistischen Schuldzuweisungen ist es, wenn in der Presse über die Perspektiven des Konflikts nachgedacht wird: In einem Kommentar des Kommersant werden interessante Vergleiche zwischen den beiden „Hybridkriegen  des 21. Jahrhunderts“ in Syrien und der Ostukraine gezogen. Die These lautet, dass die Schlacht um Aleppo für die Entwicklung des Konflikts unter günstigen Umständen die gleiche Bedeutung haben könnte, wie die verbissenen Kämpfe um den Bahnknotenpunkt Debalzewo vor einem Jahr. Beides geschah vor dem Hintergrund von Friedensverhandlungen, damals in Minsk, jetzt in Genf. „Debalzewo zeigte, dass das Potential der großräumigen militärischen Auseinandersetzung erschöpft ist“, schreibt Sergej Strokan. Damit könnte, so der Kommentator, der Weg für ein Analog des Minsker Abkommens für Syrien frei werden, „sofern nach der absehbaren Zerschlagung der gegen Damaskus kämpfenden Gruppierungen oder der Androhung ihrer Zerschlagung Riad und Ankara die neuen Realitäten auf dem Schlachtfeld anerkennen“ und nicht etwa mit dem Einsatz von Bodentruppen die Initiative wieder an sich reißen.

    Möglicherweise passiert aber genau das schon jetzt: Am Donnerstag berichteten russische Medien intensiv darüber, dass hunderte gut bewaffnete Kämpfer aus der Türkei nach Syrien eingedrungen seien, um vor allem gegen die vorrückenden Kurden zu kämpfen. In gewisser Weise ist das aus russischer Sicht verständlich, so Arkadi Ostrowski, der Moskauer Büroleiter des Economist in einem Gespräch mit Echo Moskwy: „Die Türkei benimmt sich dort genauso wie Russland im Donbass. Für die Türkei ist Syrien nahes Ausland – es gehörte bis in die 1920er Jahre zum Osmanischen Reich. Das ist deren Ukraine.“

    Apropos Debalzewo: Genau ein Jahr nach der Kesselschlacht hat fontanka.ru Debalzewo besucht, um in Bild und Text den Wiederaufbau zu dokumentieren. Fazit: Es geht voran, aber zäh. Das Eisenbahnerstädtchen gehört heute zwar zur Donezker Volksrepublik, doch die Eisenbahner sind bei der ukrainischen Bahn angestellt – und bekommen ihren Lohn in Griwna auf der anderen Seite der Frontlinie. Dorthin rollen unentwegt auch Züge mit Kohle aus den Donbass-Gruben, heißt es in dem Bericht.

    Nawalny, Putin und der Wahlkampf. Zurück nach Russland, wo die Dumawahlen im September ihre Schatten vorauswerfen und die Parteien zwingen, ihre Strategien zu überdenken. Denn wieder einmal wurde das Wahlsystem geändert: Wie bereits bis 2003 wird wieder eine Hälfte der Parlamentssitze als Direktmandate vergeben. Das wird der Kreml-Partei Einiges Russland selbst bei einem sehr bescheidenen Ergebnis (2003 waren es beispielsweise 37,5 Prozent) ohne jede Schummelei beim Auszählen erlauben, in der Duma mit Hilfe der formell unabhängigen Wahlkreisabgeordneten eine solide Mehrheit zusammenzubekommen. Die Zeitung Vedomosti sieht sich dabei von dem Umstand alarmiert, dass die vier jetzt im Parlament vertretenen Parteien sich darauf geeinigt haben, sich in 40 der 225 Wahlkreise keine Konkurrenz zu machen. Damit wird die Systemopposition endgültig gekauft, so Vedomosti.

    Was die „echte“ Opposition angeht, so wird diese zunehmend zur One-Man-Show von Alexej Nawalny: Auf seinem Lieblingsfeld, der Korruptionsenthüllung, hat er jetzt Wladimir Putin persönlich ins Visier genommen – und gegen ihn frechweg Anzeige erstattet. Putin habe verfügt, dass aus einem Staatsfond dem Ölkonzern Sibur 1,75 Mrd. Dollar für ein Raffinerieprojekt zur Verfügung gestellt werden. Doch einer der Sibur-Großaktionäre ist Kirill Schalamow, der Ehemann von Jekaterina Tichonowa – und das ist Putins Tochter. Putin hätte sich aufgrund des Gesetzes über die Korruptionsverhütung in dieser Frage für befangen erklären müssen – und nichts mehr als diesen Umstand möchte sich Nawalny vom Gericht bestätigen lassen. Medien, die über Putins Töchter oder seine Ex-Frau berichten, leben im Übrigen gefährlich in Russland, stellt snob.ru fest: Kaum schreibt man etwas über die heilige Familie, gibt es einen Anpfiff von der Medienaufsichtsbehörde – formell wegen irgendwelcher anderer Verfehlungen.

    Patriarch und Pinguine. Zum Schluss noch mal zurück zum Patriarchen: Der besuchte nach seinem Treffen mit dem Papst nicht nur Südamerika – sondern einen ganzen weiteren Erdteil: Überraschend legte er nämlich einen Schlenker in die Antarktis ein. Denn in der russischen Polarstation Bellinghausen gibt es die einzige ständig mit einem Priester besetzte Kirche des Kontinents – den das Kirchenoberhaupt sogleich als Ideal der Menschheit pries: „Keine Waffen, keine Kriege, keine Grenzen, keine feindselige Konkurrenz, sondern Kooperation wie in einer Familie.“ Sprachs und stieg in bester Putin-Action-Manier mit Schwimmweste in ein Schlauchboot, um eine Pinguin-Kolonie zu besuchen.

    Lothar Deeg aus St. Petersburg für dekoder.org


     

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    Presseschau № 16

    Ramsan Kadyrow beschäftigt weiter die russische Öffentlichkeit: Er nimmt Oppositionspolitiker im wahrsten Sinne des Wortes ins Fadenkreuz und Putin lobt ihn für sein „effiziente Amtsführung“. Außenminister Lawrow liefert sich einen Schlagabtausch mit Frank-Walter Steinmeier, während die Kreml-Presse den Besuch von Bayerns Ministerpräsident Seehofer bei Putin feiert. Unterdessen bricht ein russischer Trickfilm um ein kleines Mädchen und einen Bären alle Rekorde. Unsere Presseschau in dieser Woche.

    Kadyrows Kampagne. In den russischen Medien ist Tschetscheniens Herrscher gegenwärtig omnipräsent: Ramsan Kadyrow und sein Feldzug gegen die führenden Köpfe der russischen Opposition. Mitte Januar hatte er sie pauschal als „Volksfeinde“ bezeichnet – und einen Aufschrei unter Menschenrechtlern provoziert. Nun schießt sich der starke Mann aus Grosny auf konkrete Figuren ein – im bildhaften Sinne: Auf Instagram postete er ein Video, das den Chef der Partei Parnas, Michail Kassjanow im Fadenkreuz eines Zielfernrohrs zeigte. Der Text dazu: „Kassjanow ist nach Straßburg gefahren, Geld abholen für die russische Opposition.“ Instagram löschte das Video, Kassjanow hat aber dennoch Anzeige erstattet, da er dies als Morddrohung und Aufruf zum Extremismus versteht. Schließlich wurde vor knapp einem Jahr auch sein Mitstreiter Boris Nemzow ermordet – und zwar, der jüngst fertiggestellten Anklage zufolge, von einem tschetschenischen Killerkommando. Den Auftraggeber habe man allerdings nicht ermitteln können, heißt es jedenfalls von amtlicher Seite.

    Dass allerdings jemals gegen Kadyrow ermittelt wird, ist mehr als unwahrscheinlich: Wladimir Putin lobte ihn vor kurzem ausdrücklich für seine „effiziente Amtsführung“. Dies nahm RBK zum Anlass für einen kritischen, aber ausführlichen statistischen Überblick in Form der 20 wichtigsten Fakten über Tschetschenien – von der höchsten Geburten- bis zur niedrigsten Kriminalitätsrate Russlands. Hintergrund von Kadyrows Hetzkampagne ist, so Vedomosti, dass sich dieser im Herbst erstmals in Tschetschenien zur Wahl stellen muss. Seine Amtszeit läuft aber offiziell schon im März aus, zu diesem Zeitpunkt müsste er also von Putin als Verweser seines eigenen Amtes eingesetzt werden. Deshalb will er sich als treuester Gefolgsmann des Präsidenten profilieren. Kadyrows Informationsminister versuchte im Nachhinein, die Kassjanow-Episode als Witz abzutun: Die Oppositionellen seien im Fadenkreuz eines Periskops abgebildet gewesen, behauptete er.

    Lisa und Lawrow. Im Fall von „Lisa aus Berlin“ beruhigen sich die Gemüter langsam wieder, sowohl in Deutschland wie auch in Russland. Was nun wirklich mit Lisa während ihres 30stündigen Verschwindens passiert ist, interessiert zunehmend weniger –  vor allem jene Medien, die auf russischer Seite die Empörung angefeuert hatten. Vesti, die Nachrichtensendung des  Staatssenders Rossija, übernimmt beispielsweise weiterhin nur die Darstellung von Lisas Mutter (anhand eines Interviews mit Spiegel TV). Unabhängige Medien wie Meduza bemühen sich hingegen, die Sache aufzuarbeiten – und schreiben über die Probleme des Mädchens  mit den Eltern und in der Schule wie auch über ihre Bekanntschaften mit volljährigen Männern. Gazeta.ru geht der Frage nach, inwieweit der Skandal den Ruf des russischen Außenministeriums beschädigt hat. Den Höhepunkt bildete in der vergangenen Woche ein Schlagabtausch zwischen den Außenministern beider Länder: Lawrow warf den deutschen Behörden vor, ein von Ausländern begangenes Verbrechen zu vertuschen, Steinmeier tadelte Russland daraufhin wegen einer Einmischung in innere Angelegenheiten mittels politischer Propaganda. Lawrow erwiderte wiederum pikiert, dass es sich schließlich auch der Westen ständig erlaube, mutmaßliche Verletzungen von Menschenrechten einzelner Personen in Russland an die große Glocke zu hängen.
    Die Novaja Gazeta bringt dazu ein Interview mit dem ehemaligen Moskauer Focus-Korrespondenten Boris Reitschuster. Der überzeugte Putin-Kritiker bezeichnet den „Fall Lisa“ als vom russischen Geheimdienst aufgegriffene Gelegenheit für eine Propaganda-Show. Das Ziel sei, in Russland wie auch unter den Russischsprachigen in Deutschland Stimmung gegen die massenhafte Aufnahme von Flüchtlingen und Migranten zu machen. Laut Reitschuster gibt es Hinweise auf einen russischen Plan, „Merkel zu stürzen“, denn sie sei „der Hauptgegner Moskaus“. Derartige Vorwürfe nötigten wiederum Putins Pressesprecher Dimitri Peskow zu einem Dementi: Russland schütze lediglich die Interessen seiner Staatsbürger, irgendwelche geheimen Intrigen dürfe man darin nicht suchen, erklärte er.

    Seehofer in Moskau. Mit fast den gleichen Worten wies Peskow dann auch den ebenfalls in Deutschland laut gewordenen Vorwurf zurück, es gebe angesichts des Seehofer-Besuchs in Moskau so etwas wie eine Anti-Merkel-Verschwörung auf der Achse Moskau-München. Im vom Kreml veröffentlichten Teil des Gesprächs zwischen Putin und Seehofer ist dann auch nur brav von Beziehungspflege und Wirtschaftsförderung die Rede. Das kremltreue Nachrichten-Magazin Vesti betont in seinem Bericht aber dennoch, Bayern schaffe Beziehungen zu Moskau „unter Umgehung Berlins“ – und betont, dass der Freistaat die Russland-Sanktionen der EU für „absurdes Theater“ halte.

    Mascha und der Bär. Lächerlich und vergeblich müssen all diese angestrengten Bemühungen um Meinungsmache und öffentliche Präsenz erscheinen, wenn man sie mit dem Medienerfolg von Russlands populärstem Exportprodukt vergleicht. Es heißt, nein – nicht Erdgas und auch nicht Kalaschnikow, sondern „Mascha und der Bär“. Nie gehört oder gesehen? Dann wird es höchste Zeit – eine 2012 veröffentlichte Folge unter dem  Titel „Mascha plus Kascha“ dieser Trickfilmreihe hat jetzt bei Youtube die Schallmauer von 1 Milliarde Views (!) geknackt – was bisher nur 20 Webvideos überhaupt gelang. Das war sogar dem seriösen Wirtschaftsblatt Vedomosti einen Kommentar wert: Schließlich verdient das hochprofessionelle Moskauer Trickfilmstudio Animaccord mit seinem Mascha-Klamauk (es gibt ihn hier auch auf Englisch) allein auf Youtube jeden Monat 1,5 Mio. Dollar.

     

    Lothar Deeg aus St. Petersburg für dekoder.org

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  • Presseschau № 13: der Ölpreis

    Presseschau № 13: der Ölpreis

    Diese Woche: Der Ölpreis erreicht ein Rekordtief und animiert die Wirtschaftspresse zu immer düstereren Prognosen. Der sinkende Rubelkurs lässt die Bevölkerung unter weiter steigenden Preisen ächzen. Und ein Verkehrspolizist im Südural wird bei einem Schneesturm zum Volkshelden.

    Ölpreis. Zum Jahresanfang bekam Russland den Horror in Form einer einfachen Zahl: 30. So wenige Dollar bringt gegenwärtig ein Barrel Rohöl ein – und die russische Sorte Urals noch weniger: Als es am Dienstag nur noch 27,4 Dollar waren, betitelte das wirtschaftsliberale Leitmedium Vedomosti Russlands Wirtschaftslage bereits mit „Zwischen Stress und Schock“. Schließlich liegt der Ölpreis inzwischen nochmals 20 Prozent niedriger als vor einem Monat – und somit deutlich unter jenen Werten, die vor kurzem nur in Stresstests von Ökonomen vorkamen. Inzwischen unterbieten sich Börsianer und Großbanken mit pessimistischen Prognosen, wie tief der Preis fürs Schwarze Gold noch sinken könnte: 25 Dollar, 20 Dollar, 10 Dollar…? Parallel schwindet der Wert des Rubels weiter – mit einem Dollarkurs von 77 Rubel und dem Euro knapp unter 84 Rubel wurden Kurse erreicht, die es bisher nur einmal gab: Am 16. Dezember 2014, jenem Tag, als am russischen Finanzmarkt vorübergehend totale Panik ausbrach.

    Der Preis des Dollars könnte 2016 durchaus auf 90 bis 100 Rubel steigen, so das Wirtschaftsblatt Delowoi Peterburg in seiner Ölschock-Analyse. Das ist allenfalls für Russland-Fans, die eine Reise dorthin planen, eine gute Nachricht: Von der Kaufkraft her ist der Rubel jetzt schon 69 Prozent unterbewertet, so jedenfalls die jüngste Ausgabe des berühmt-berüchtigten BicMac-Index von  The Economist. Oder, wie es RBC.ru anschaulich formuliert: Zum Preis einer Doppelstock-Bulette in den USA gibt es in Russland drei Stück.

    Nicht nur Russlands wirtschaftliches Wohlergehen, auch der Staatshaushalt ist von den Öleinnahmen abhängig. Das Budget für 2016 ist aber auf einen Durchschnittswert von 50 Dollar je Barrel ausgelegt. Als erste Konsequenz hat die Regierung für alle Ressorts eine 10-prozentige Haushaltskürzung verkündet. Wenn diese und weitere Sparmaßnahmen nicht greifen, befürchtet selbst Finanzminister Anton Siluanow eine heftige Abwertung des Rubels „wie in der Krise 1998“. Doch radikales Sparen ohne grundlegende Reformen hält das ans üppige Ölgeld gewöhnte System nicht aus. „Das ist, als wenn man einem übergewichtigen Menschen ein Bein abschneidet, anstatt ihn auf Diät zu setzen“, warnt Vedomosti.

    Inflation. Diät halten müssen zwangsweise bereits viele russische Bürger: Die Inflation war im letzten Jahr mit 15,5 Prozent doppelt so hoch wie im Vorjahr. Berücksichtigt man nur die Lebensmittelpreise, betrug die Teuerung nach amtlichen Daten sogar 20,8 Prozent. Ein kinderreicher Preis-Scout der Novaja Gazeta beteuert hingegen, dass seine Kassenbons zum Jahresende um 50 Prozent höher lagen als im Jahr zuvor – „und parallel zur Inflation gibt es Lohnkürzungen in allen Branchen“. Anders als in der Krise 2008 wachse jetzt die Armut im Lande, auch wenn der Staat verspreche, die Sozialleistungen zu garantieren, kritisiert Ex-Finanzminister Alexej Kudrin – dem viele russische Medien um den Jahreswechsel eine anstehende Rückkehr in ein Regierungsamt nachsagten. Vorerst dementiert er das.     

    Angesichts der dramatischen Entwicklung hat Russlands Staatsmacht aber schon ihre Kommunikationsstrategie geändert – und schwört nun ihr Volk auf schwere Zeiten ein. Noch in einem Anfang der Woche veröffentlichten großen Interview mit dem deutschen Blatt Bild hatte Wladimir Putin die heilsame Wirkung des Wegbrechens der Öleinnahmen betont und Optimismus verbreitet. Inzwischen hat er seine Regierung darauf eingeschworen, angesichts der abstürzenden Rohstoffmärkte und Börsen „auf jede beliebige Entwicklung vorbereitet“ zu sein. Das klingt nach erhöhter Alarmstufe. Auf der Webseite des Kreml ist das Gespräch der Springer-Leute mit dem Präsidenten übrigens nicht nur ausführlicher dokumentiert (eine deutsche Übersetzung gibt es bei russland.ru), sondern partiell auch mit weichgespülten Journalistenfragen garniert, stellte gazeta.ru bei einem Vergleich der Texte fest.

    Schneesturm. Was hilft am besten durch harte Zeiten? Aufopferung und Nächstenliebe. Prompt rührt ein Beispiel dafür die russischen Medien momentan ganz besonders: Anfang Januar tobte über dem Südural ein Schneesturm. Auf der Straße von Orenburg nach Orsk wurden 50 Autos von den Schneemassen verschluckt. Die Rettungsaktion verlief zäh und dauerte sträflich lange. Ein Mensch erfror, deshalb läuft ein Ermittlungsverfahren.  Doch unter den Helfern vor Ort war auch der Verkehrspolizist Danila Maksudow. Einem elend frierenden Mädchen gab er seine Jacke, einem jungen Mann überließ er seine Handschuhe – und ging wieder in den Sturm hinaus, Leute retten. Nun liegt er mit Erfrierungen an den Händen im Krankenhaus. Patriarch Kirill lobte den 25-Jährigen Helden als Vorbild – und forderte auf, für dessen Genesung zu beten.

    Lothar Deeg aus St. Petersburg für dekoder.org

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    Presseschau № 10

    Kleine Erfolge und größere Einschränkungen beschäftigen diese Woche die russischen Medien: LKW-Fahrer erringen einen Teilerfolg nach wochenlangen Protesten gegen die Maut. Die Luftfahrtbranche leidet dagegen unter den Beschränkungen im Flugverkehr und der immer weiter sinkende Ölpreis hemmt die wirtschaftliche Entwicklung. Außerdem: Ein erstes Urteil aufgrund des verschärften Versammlungsrechts – eine Vorausschau auf das Wahljahr 2016?

    Ölpreis drückt Rubel. Krieg in Syrien, Trouble mit der Türkei, Dauerknatsch mit der Ukraine  – und jetzt auch noch das: Der für Russlands Wohl und Wehe maßgebliche Ölpreis ist massiv in den Keller gegangen: Am Dienstag sackte der Preis für ein Barrel Brent auf  38 Dollar ab – und ist damit wieder so niedrig wie Ende 2008/Anfang 2009 während der großen Ölpreiskrise.

    Fast zwangsläufig rutschte dadurch auch der Kurs der russischen Währung ab: Der Euro kletterte über 76 Rubel, der Dollar-Kurs marschiert in Richtung seines historischen Höchststandes von knapp über 70 Rubel. Gegen den Rubel arbeiten gegenwärtig neben dem Ölpreis auch noch eine ganze Reihe von Faktoren, etwa die erwarteten Zinserhöhungen in den USA und die zum Jahresende fällig werdenden russischen Auslandsschulden, schreibt der Kommersant.

    Insofern ist es ziemlich fraglich, ob der von Wirtschaftsminister Alexej Uljukajew für 2016 prognostizierte Dollarkurs von im Schnitt 60,8 Rubel und die Rückkehr zu einem leichten Wirtschaftswachstum von circa 1 Prozent noch im Rahmen des Möglichen liegt – denn dazu bräuchte es einen Ölpreis im Bereich von 50 bis 60 Dollar.  Doch der wird noch lange bei 50 Dollar oder niedriger liegen, glaubt Ex-Finanzminister Alexej Kudrin – und findet das gar nicht schlecht: Für Russland sei das immerhin ein Stimulator für Reformen.

    2015 wird Russland – vorrangig wegen der niedrigen Ölpreise – einen Rückgang der Wirtschaft um 3,9 Prozent verbuchen müssen.  Die Realeinkünfte der Russen lagen im Oktober um 5,6 Prozent niedriger als im Vorjahr, die Gehälter sogar um 10,9 Prozent – der Kreml hält das für nicht dramatisch.  Die Inflation erreicht unterdessen 12 Prozent.

    Heftiger gebeutelt hat der Discount-Preis fürs Schwarze Gold 2015 nur Venezuela, so fontanka.ru – und da hatte der herrschende Autokrat Nicolas Maduro gerade bei Parlamentswahlen eine heftige Niederlage erlitten und seine Regierung entlassen. Apropos, auch in Russland sind im September Dumawahlen

    Haft für Demos. Erstmals ist in Russland ein Oppositionsaktivist nach dem kürzlich verschärften Demonstrationsrecht zu einer Haftstrafe verurteilt worden: Ildar Dadin muss für drei Jahre ins Gefängnis, weil er laut Gericht letztes Jahr in Moskau innerhalb von weniger als 180 Tagen vier Mal an gewaltfreien, aber nicht genehmigten Protestaktionen teilgenommen hat. Dadin gibt hingegen an, dass er in drei der vier Fälle allein demonstriert habe, was keiner Genehmigung bedürfe.
    Die Zeitung Vedomosti zitiert Experten mit den Worten, dass dieses Urteil „Furcht vor Anbruch des Wahljahres verbreiten“ soll: „Politische Protestaktionen werden gefährlich“. Das Publikum im Gerichtssaal reagierte auf das Urteil mit einem Tumult, weil die Strafe sogar um ein Jahr länger ausfiel als von der Anklage gefordert. Drei weitere Prozesse gegen andere Protest-Aktivisten laufen noch, darunter auch gegen den 75 Jahre alten Wladimir Ionow. In seinem Fall fordert die Staatsanwaltschaft drei Jahre auf Bewährung und ein Verbot, seinen Wohnort Ljuberzy im Moskauer Umland zu verlassen.

    Streit um LKW-Maut. Es ist aber auch nicht so, dass in Russland jegliche Proteste unterdrückt würden und nichts bringen: Das bewiesen die seit Wochen gegen das Mautsystem Platon demonstrierenden Spediteure und Fernfahrer: Nachdem Wladimir Putin in seiner jährlichen Programm-Ansprache vor beiden Parlamentskammern nicht auf das Thema eingegangen war, legten die in einer Sternfahrt auf Moskau angerückten Trucker ein Teilstück der Moskauer Ringautobahn lahm. Faktisch zur gleichen Zeit kassierte die Duma mit einer Änderung des Bußgeldkatalogs immerhin einen der Hauptkritikpunkte an der Lkw-Maut: Die existenzgefährdenden Strafsätze bei Mautverstößen wurden um 99 Prozent zusammengekürzt. Die Maut als solche soll aber beibehalten werden – auch wenn inzwischen 20 Verbände von Lebensmittelherstellern und –händlern unisono vor Lieferengpässen und einem zusätzlichen Inflationsschub warnen – als gäbe es, wie schon geschildert,  nicht genug Krisenfaktoren im Land.

    Luftfahrt-Krise. Starke ökonomische Turbulenzen erschüttern auch die russische Luftfahrtbranche – und 2016 kann eigentlich nur schlimmer werden, berichtet der Kommersant: Bislang war zwar das Passagiervolumen konstant, da mehr Inlandsflüge die weniger gefragten Auslandsverbindungen ersetzen. Doch Geld verdienen die Airlines nur im internationalen Verkehr. Aber seit kurzem sind fast alle Flüge in die beiden populärsten Destinationen Türkei (Sanktionen) und Ägypten (Sicherheitsbedenken) sowie in die Ukraine (gegenseitige Flugverbote) gecancelt. An den Moskauer Flughäfen machen diese Destinationen allein ein Fünftel aller Flüge aus. Und schon in den ersten neun Monaten dieses Jahres buchten die zum Sparen gezwungenen Russen über 30 Prozent weniger Auslandsurlaube.

    Umgekehrt wird natürlich auch ein Filzstiefel draus: Die Russen erholen sich mehr im eigenen Land – wobei sie sich teure Ziele wie St. Petersburg kaum leisten können. Der Chef der russischen Tourismusbehörde Oleg Safonow erklärte in einem Interview mit der Rossijskaja Gazeta gar, das Bedürfnis nach Strand und Meer, und erst recht nach All-inclusive-Ferien in der Türkei, sei ein „aufgedrängtes Stereotyp der letzten Jahre“. Früher seien ja auch selbst wohlhabende Russen nicht massenhaft ans Meer gefahren. Und selten für einen heutigen russischen Beamten: Er bezeichnete die US-Bürger als vorbildhaft, urlauben sie doch zu 80 Prozent innerhalb der eigenen Staatsgrenzen.

    Lothar Deeg aus Sankt Petersburg für dekoder.org

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    Presseschau № 9

    Putin bestraft die Türkei mit Einschränkung der Reisefreiheit und einem Importembargo für Lebensmittel. In der Folge steigen die Lebensmittelpreise. Weitere Themen, die die russische Presse in dieser Woche beschäftigten: der Blackout auf der Krim, Korruptionsvorwürfe gegen Generalstaatsanwalt Juri Tschaika und zu guter Letzt eine tierische Freundschaft im Wladiwostoker Zoo, die als Vorbild für die Beziehung zwischen Putin und Erdogan diskutiert wird.

    Russisch-türkische Spannungen: Der Abschuss der russischen Su-24 an der syrisch-türkischen Grenze hat zwei sich in ihrer Starrköpfigkeit sehr ähnliche eurasische Machtpolitiker auf Konfrontationskurs gebracht: Wladimir Putin wartete vergeblich auf eine Entschuldigung von Recep Tayyip Erdogan, verweigerte auf dem Klima-Gipfel in Paris auch das Gespräch mit ihm – obwohl Erdogan versuchte, Putin auf dem Flur abzupassen, wie der Kommersant berichtete.

    Stattdessen holte Putin einen ganz dicken Knüppel heraus. Per Ukas belegte er die Türkei mit einem umfangreichen Sanktionspaket: ein ab dem 1. Dezember geltendes Import-Embargo für Hühnerfleisch, Salz und bestimmte Obst- und Gemüsesorten, eine Auftragssperre für türkische Unternehmen, schärfere Kontrollen türkischer Schiffe und Lastwagen.

    Der Wirtschaftszeitung Vedomosti war die Bedrohung der einst so blühenden russisch-türkischen Geschäftsbeziehungen eine zweiseitige Analyse wert. Das Fazit: Der Türkei drohen 12 Mrd. Dollar Verluste – oder 1,6 Prozent des BIP. Einen hohen Preis haben aber Russlands Verbraucher zu zahlen: Die Großhandelspreise für Tomaten (auf der Sanktionsliste) und Zitronen (nicht betroffen) sind jetzt schon auf gut das Doppelte gestiegen. Begründung: Transporte aus der Türkei werden an der Grenze sehr penibel kontrolliert und auf diese Weise zurückgehalten.

    Außerdem setzt Russland zum 1. Januar 2016 den visafreien Reiseverkehr mit der Türkei aus. Außenminister Sergej Lawrow begründete dies mit einer von der Türkei ausgehenden „realen terroristischen Gefahr“. Die Türkei wird dies wohl kaum mit gleicher Münze heimzahlen, wenn sie wenigstens einen Teil ihres Tourismusgeschäfts mit den Russen retten will: 2014 machten 3,2 Mio. Russen in der Türkei Urlaub, aber nur 135.000 Türken in Russland. Doch nun hat Russland den Verkauf von Türkei-Reisen verboten und wird den Charterflugverkehr stoppen, sobald alle Urlauber zurückgekehrt sind. Der Chef der staatlichen Tourismus-Agentur Rostourism hofft jedenfalls, dass schon nächstes Jahr drei bis fünf Millionen Russen mehr Urlaub im eigenen Lande machen – neben der Türkei ist ja seit dem Anschlag auf den Airbus über dem Sinai auch Ägypten für erholungssuchende Mitbürger tabu. Russische Individualtouristen lassen sich davon aber nicht unbedingt beeindrucken: Sie buchen weiter munter Linienflüge und Hotels am Bosporus und in den Seebädern.

    Die Zeitung Vedomosti kommentiert, dass Russland durch diesen Konflikt endgültig zu einem „Land mit negativer Tagesordnung“ geworden ist: Nadelstich-Sanktionen und den einen oder anderen kleinen Handelskrieg mit Nachbarn gab es früher auch schon, doch nun scheinen alle Behörden kollektiv ihre ganze Energie nur noch darauf zu richten, möglichst viel zu verbieten – momentan eben alles Türkische. Selbst der bekannte Showman und Leiter eines nach ihm benannten A-Capella-Chores Michail Turezki denkt bereits ernsthaft darüber nach, seinen (eigentlich polnischen) Familiennamen zu ändern – schließlich klingt der genauso wie das russische Adjektiv „türkisch“.

    Isolierte Krim: Am 22. November sprengten krimtatarische und rechtsnationale Gruppen alle vier Stromleitungen, die aus der Ukraine auf die Krim führen. Seitdem leben die zwei Millionen Einwohner der von Russland vereinnahmten Halbinsel im Energienotstand. So gibt es in Sewastopol nur vier Stunden am Tag Strom aus den wenigen eigenen Kraftwerken, berichtet RBK. Die Energiekrise führte sogar zu einem heftigen Zerwürfnis zwischen Krim-Republikchef Sergej Aksjonow und dem kremltreuen TV-Sender NTW: Der hatte behauptet, die Regionalregierung habe Moskau vorgeflunkert, die Halbinsel sei für solche Situationen gewappnet und erst der kompetente Einsatz Moskauer Minister habe Ordnung ins Chaos gebracht. Aksjonow bezeichnete dies als „Lüge“ und „Blödsinn“, der eines zentralen TV-Kanals nicht würdig sei.

    Lenur Isljamow, der krimtatarische Initiator der Lebensmittel- und Stromblockade der Halbinsel, kündigte unterdessen in einem Interview mit Open Russia auch noch eine Seeblockade an. Auf der Krim gibt es, so schreibt der Kommersant in einer Blackout-Reportage, mittlerweile Versorgungsengpässe, vor allem bei Milchprodukten und anderer kühl zu haltender Ware – aber auch die Hoffnung, dass es jetzt besser wird: Seit Mittwoch liefert ein erstes Unterwasserkabel zusätzlichen Strom aus Russland. In der ukrainischen Nachbarprovinz Cherson weisen die Behörden inzwischen auf die Gefahr durch grenznahe Chemiefabriken auf der Krim hin: Dort sind Speicher mit mehreren hundert Tonnen Chlor, Ammoniak und Salzsäure die meiste Zeit ohne Stromversorgung – und könnten das Land im weiten Umkreis verseuchen.

    Korruptionsvorwürfe: Begonnen hatte die Woche mit der Veröffentlichung von geharnischten Vorwürfen gegen die Familie und Kollegen von Generalstaatsanwalt Juri Tschaika durch den oppositionellen Korruptionsjäger Alexej Nawalny. Tschaikas Sohn Artjom besitze neben einer Villa auch noch ein teures Hotel in Nordgriechenland. Teilhaberin daran sei die Ex-Frau eines Tschaika-Stellvertreters Olga Lopatina – die wiederum in Südrussland ein gemeinsames Business mit der erst 2010 nach einem brutalen Massenmord aufgeflogenen Zapok-Bande betrieben habe. Tschaika bezeichnet die Nawalny-Enthüllungen als erlogene Auftragsarbeit, auch Lopatina dementiert alles. Die meisten russischen Print-Medien fassen diese Story mit Samthandschuhen an oder ignorieren sie ganz – nur die Zeitung RBK habe sich damit auf die Titelseite getraut, so Nawalny auf Facebook.

    Amur und Timur: In solchen angespannten Zeiten ist es kein Wunder, dass die ungewöhnliche Freundschaft zweier Bewohner eines Wildparks bei Wladiwostok dieser Tage quer durch alle (sozialen) Medien die Herzen der Russen erfreut: Denn der Ziegenbock Timur war eigentlich als Lebendfutter in das Gehege des sibirischen Tigers namens Amur gesteckt worden. Das Unausweichliche blieb aber aus: Der Tiger hatte keinen Appetit auf den Bock, der seinerseits keinerlei Angst vor dem Herrscher der Taiga zeigte – worauf beide dicke Freunde wurden und nun täglich gemeinsam spazierengehen. Russlands YouTube-User diskutieren nun darüber, inwieweit dieses idyllische Beispiel nicht auch als Rollenmodell für die Menschheit – und Putin und Erdogan im Besonderen – taugen könnte.

    Lothar Deeg aus Sankt Petersburg für dekoder.org

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