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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Schläge als Privatsache?

    Schläge als Privatsache?

    „Wenn er dich schlägt, liebt er dich.“ So könnte man ein viel zitiertes russisches Sprichwort übersetzen. Jetzt soll eine Gesetzesnovelle dafür sorgen, dass häusliche Gewalt weniger hart bestraft wird. Demnach sollen gemeldete Erstfälle als Ordnungswidrigkeit geahndet werden, wenn das Opfer keine ernsthaften gesundheitlichen Schäden erlitten hat. Nur, wer innerhalb eines Jahres zum zweiten Mal gewalttätig wird, dem drohen strafrechtliche Konsequenzen. Geplant ist dann etwa eine Höchststrafe von bis zu drei Monaten Haft. Derzeit liegt sie bei zwei Jahren.

    In erster Lesung hat die Duma das Gesetz bereits durchgewunken, am 25. Januar folgt die zweite. Kritiker bemerkten ironisch, jetzt sei es nach Logik der Abgeordneten in Ordnung, seine Frau ein Mal im Jahr zu schlagen, nur zwei Mal ginge nicht.

    Ljubow Borussjak, Soziologin an der Moskauer Higher School of Economics, beschreibt auf Republic die Hintergründe der Gesetzesänderung und fragt danach, was die Befürworter bewegt. Mit der Verteidigung „traditioneller Werte“ allein ist der Zuspruch ihrer Meinung nach nicht zu erklären. Man müsse stattdessen auch danach fragen, wie Gewalt allgemein assoziiert werde – und inwiefern die Angst vor einem willkürlichen Staat den Gesetzesbefürwortern in die Hände spiele. 


    Update: Anfang Februar unterzeichnete Präsident Wladimir Putin das Gesetz, nachdem die Duma die Novelle am 27. Januar 2017 in dritter und letzter Lesung angenommen hatte. 380 Abgeordnete stimmten dafür, drei dagegen.

    Nur hin und wieder rückt das Problem der familiären, häuslichen, ehelichen Gewalt ins Blickfeld der Öffentlichkeit. Dann flacht das Interesse wieder ab bis zum nächsten Anlass für eine Berichterstattung. Diese Anlässe sind für gewöhnlich irgendwelche krassen Fälle. Im vergangenen Sommer haben sich zehntausende Frauen in Russland und anderswo am Internet-Flashmob #ЯнеБоюсьСказать [dt. #IchhabkeineAngsteszusagen] beteiligt und markerschütternde Geschichten von Gewalt erzählt, die ihnen widerfahren ist.

    Im November sorgte der Fall einer jungen Frau aus dem Gebiet Orjol für Entrüstung. Sie hatte die Polizei gerufen, weil ihr Partner sie bedrohte. Die Antwort, die sie am Telefon bekam, war schockierend: „Wenn man Sie umbringt, kommen wir natürlich und nehmen Ihre Leiche zu Protokoll, keine Sorge!“ Die junge Frau wurde tatsächlich getötet.

    Geschichten wie diese passieren dutzend-, wenn nicht hundertfach. Jetzt redet man über das Thema, weil ein Gesetzentwurf – vorerst in erster Lesung – angenommen wurde, der Gewalt in der Familie entkriminalisieren soll.

    Eine offizielle Statistik gibt es nicht

    Dass häusliche Gewalt in Russland enorm weit verbreitet ist, da sind sich viele sicher. Jedoch existiert keine offizielle Statistik. Und zwar aus dem einfachen Grund, dass es im Strafgesetzbuch keine Paragraphen gibt, die explizit häusliche Gewalt unter Strafe stellen. Und selbst wenn es sie gäbe, würden sie nichts über das Ausmaß sagen: Kinder erzählen so gut wie nie, dass sie von ihren Eltern geschlagen werden, Frauen zeigen ihre Männer äußerst selten bei der Polizei an, und wenn sie es tun, ziehen sie die Anzeige häufig wieder zurück.

    Aufgrund fehlender offizieller Daten berufen wir uns auf die stichprobenartige Untersuchung Gewalt gegen Frauen in Russland: Demnach hat jede fünfte Frau körperliche Gewalt durch den Ehemann oder Liebhaber erlebt, jede zwanzigste wurde gewaltsam zu sexuellem Kontakt gezwungen. Drei Viertel der betroffenen Frauen haben jemandem von der Gewalt, die sie durchgemacht haben, erzählt (fast alle nur Verwandten und Freunden), zur Polizei gingen nur zehn Prozent. Ein Viertel der Frauen hat es für sich behalten.

    Stark ist der, vor dem man Angst hat

    Es ist nicht auszuschließen, dass selbst diese Zahlen untertrieben sind, denn Frauen, denen Gewalt widerfährt, empfinden Scham. Sehr oft, manchmal sogar im Todesfall, wird das Opfer nach der Tat öffentlich diffamiert: „Hat ihn bestimmt gereizt, bis ihm der Kragen geplatzt ist.“

    So seltsam es klingt, aber ganz abgesehen davon existiert bis heute die Vorstellung, Gewalt sei – solange sie nicht lebensbedrohlich ist – zwar unschön, aber normal. Für einen erheblichen Teil der Gesellschaft stellen Stärke und das Recht, sie anzuwenden, einen grundlegenden Wert dar. Das zeigen deutlich die Ergebnisse einer unlängst (im Dezember 2016) von der Stiftung Öffentliche Meinung durchgeführten Umfrage. Demnach beurteilen 86 Prozent der Russen ihr Land als frei und wohlhabend, sie schreiben ihm eine Vormachtstellung zu, vor der sich die Welt fürchtet. Dass man vor Russland Angst hat, wird als entschieden positiv empfunden. Ganz offenbar ist das eine Projektion auch der Verhältnisse innerhalb der Familie. Angst bedeutet Respekt; stark ist der, vor dem man Angst hat. Viele derjenigen, die gegen Gewalt in der Familie kämpfen und für die Schwachen einstehen, fallen heutzutage unter das Agentengesetz, verlieren ihre Finanzierung oder müssen gar ihre Arbeit einstellen, was als völlig gesetzmäßig erscheint. Das betrifft so etablierte NGOs wie das Frauen- und Kinderhilfszentrum Anna, das Hilfszentrum für Opfer sexueller Gewalt Sjostry [dt. Schwestern], das sich mit Crowdfunding über Wasser zu halten versucht, aber auch viele andere.

    Gayropa setzen wir unsere reinen, traditionellen Werte entgegen

    Obwohl die „Erziehung“ von Frauen mit Hilfe von Schlägen eine weit verbreitete Praxis ist, wird sie von der Gesellschaft doch verurteilt. Allerdings erfreut sich das Recht auf körperliche Bestrafung innerhalb der Kindererziehung vieler Befürworter. Leichte Schläge (ohne Gefahr für Leben und Gesundheit, versteht sich) gelten als traditionell, üblich und bewährtes Mittel der Disziplinierung. Einerseits sind wir ein europäisches Land und befinden uns mehr und mehr auf dem Weg zur Humanisierung der zwischenmenschlichen Beziehungen, einschließlich der familiären. Andererseits ist die außenpolitische Rhetorik Russlands seit einigen Jahren auf eine Konfrontation mit dem Westen gerichtet, und damit gegen viele der Werte, die diesem zugeschrieben werden. Dem in seinen Sünden versinkenden Gayropa setzen wir unsere reinen, traditionellen Werte entgegen. Mit diesen Werten wird die „normale“ Familie proklamiert, „normale“ Beziehungen zwischen Eltern und Kind, in die sich niemand einzumischen hat.

    Im Konzeptentwurf zur staatlichen Familienpolitik der Russischen Föderation bis zum Jahr 2025 wird „Eltern in Bezug auf die Erfüllung ihrer elterlichen Pflichten Gewissenhaftigkeit unterstellt“. Was im Klartext heißen soll, dass Eltern immer zum Wohle des Kindes handeln. Das ist einerseits gut, denn gesunde soziale Institutionen bedürfen keiner Einmischung von Außen. Andererseits sind damit die schwachen Familienmitglieder den stärkeren schutzlos ausgeliefert.

    Auf dem Recht des Stärkeren beharren auch Vertreter der Russisch-Orthodoxen Kirche und verschiedener anderer Organisationen, die sich als orthodox ansehen. So äußerte die Patriarchenkommission zu Fragen der Familie und des Schutzes von Mutterschaft und Kindheit im vergangenen Sommer ihre „tiefe Besorgnis“ über die Verabschiedung einer Neufassung des Artikels 116 („Schläge“). Nach Ansicht des Patriarchats könnte die Änderung dazu führen, dass nun gewissenhafte Eltern strafrechtlich verfolgt würden, die ihre Kinder „in Maßen und sinnvoll“ bestrafen. Die Russisch-Orthodoxe Kirche vertritt die Auffassung, dass körperliche Bestrafung von Kindern ein „traditioneller Wert“ der russischen Gesellschaft sei, der erwähnte Artikel wiederum „entbehrt moralischer und juristischer Grundlagen, richtet sich in seinem Inhalt gegen die Familie und das innerhalb der russischen Gesellschaft etablierte Verständnis von Elternrechten, ist diskriminierend, widerspricht den Grundprinzipien einer gesunden staatlichen Familienpolitik und lässt die traditionellen familiären und moralischen Werte der russischen Gesellschaft außer Acht“.

    Klapse und leichte Schläge auf den Hinterkopf halten 51 Prozent der Befragten für „normal“

    Wie „maß- und sinnvoll“ eine körperliche Strafe ist, wird dem Ermessen der Eltern selbst überlassen. Darüber, dass Eltern das Recht  zugesprochen werden soll, ihre Kinder physisch zu maßregeln, liest man viel auf der Homepage des Allrussischen Elternwiderstandes, deren Mitwirkende sich aktiv für traditionelle, orthodox begründete Werte einsetzen. Das Recht der Eltern auf Gewaltanwendung wird hier damit erklärt, dass dies die Norm für die heutige russische Gesellschaft sei: „Das Zentrum AKSIO hat eine umfassende Meinungsumfrage durchgeführt, befragt wurden 43.687 Menschen aus allen Regionen der Russischen Föderation. Das Hauptziel der Umfrage war die Messung der öffentlichen Meinung zu den (…) Änderungen im russischen Familiengesetz. Die Bestrafung von Kindern mit Klapsen und leichten Schlägen auf den Hinterkopf halten 51 Prozent der Befragten für normal.“

    Weil es normal ist, darf man sich also nicht in die Erziehung innerhalb der Familie einmischen. Schon erstaunlich, aber sogar einige Organisationen, die sich dem Schutz der Familie verschrieben haben, setzen sich gegen eine gesetzliche Einschränkung elterlicher Schläge ein und gegen das Recht von Kindern und Jugendlichen, sich zu verteidigen. So bezeichnet beispielsweise Tatjana Borowikowa, Leiterin der Organisation Viele Kinderchen – das ist gut!, Aushänge mit Seelsorgerufnummern für Jugendliche in den Schulen als „Einmischung in familiäre Angelegenheiten“. Solche Beispiele gibt es zur Genüge. Der Allrussische Elternwiderstand teilt mit, für die Entkriminalisierung von Schlägen seien 213.000 Unterschriften gesammelt worden, und notfalls werde die Hälfte aller russischen Eltern vor Gericht ziehen.

    Angst vor Willkür

    Was diese Leute antreibt, ist nicht die Angst vor Massenverhaftungen, sondern die Angst vor Willkür der Rechtsschutz- und Vormundschaftsorgane, die häufig nur formal die Rechte von Kindern schützen. Sie fürchten nicht den aus dem Westen kommenden Kinder- und Jugendschutz, von dem sie reden, sondern unseren eigenen Staat. Erst vor Kurzem entsetzte ein Vorfall die Öffentlichkeit, bei dem Vormundschaftsorgane und Polizei ohne jegliche Untersuchung zehn Kinder aus einer wohlsituierten Pflegefamilie genommen hatten, nachdem den Eltern Gewaltanwendung vorgeworfen worden war.

    Dieser Vorfall bestätigte nur die allgemein herrschende Vorstellung, jedes Gesetz könnte so ausgelegt werden, dass die Unschuldigen mehr leiden als die, die schuldig sind. Wer aber schuldig ist und wer nicht, in welchem Rahmen sich häusliche Gewalt bewegen darf, das versteht so gut wie niemand. Aber allen ist klar, dass noch die schlechteste Familie, in der das Kind nicht nur hin und wieder einen Klaps bekommt, sondern ständig Prügel, in den allermeisten Fällen immer noch besser ist, als ein Kinderheim, das heißt die Vormundschaft durch den Staat.

    Kinder werden nicht gehört – mit oder ohne Gesetz

    Die Gesellschaft hat Angst vor weiterer Einmischung ins Privatleben. Weil sie nicht daran glaubt, dass das dem allgemeinen Wohl dienen wird, sondern weil sie berechtigter Weise annimmt, dass man nach dieser Einmischung Hilfe braucht, die man nirgendwo bekommt.

    Organisationen, die trotz allem versuchen, Familien in der Not beizustehen, solche wie Anna und Sjostry, sind mittlerweile selbst auf Hilfe und Schutz angewiesen.

    Das Gesetz über die Entkriminalisierung von Gewalt in der Familie wird vermutlich kaum etwas zum Besseren oder Schlechteren verändern. Weil Kinder in ihrer Mehrheit stumm bleiben, hilft ihnen dieses Gesetz jedenfalls nicht. Die Mehrheit der Frauen wendet sich ohnehin nicht an die Polizei. Aber wenn Gewalt in der Familie als Ordnungswidrigkeit behandelt wird, rückt die Polizei bald nicht einmal mehr bei seltenen Anrufen aus – warum auch solch kleinen Vergehen Beachtung schenken?

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  • Fernseher gegen Kühlschrank

    Fernseher gegen Kühlschrank

    Quo vadis, Russland? Die wirtschaftliche Lage ist angespannt, der Ölpreis im Keller, die westlichen Sanktionen gehen weiter. Ökonomische Schwäche durch vermeintliche außenpolitische Erfolge zu kaschieren – das könne auf Dauer nicht gut gehen, warnen zwei renommierte Experten: Alexej Lewinson vom Lewada-Zentrum und Ljubow Borussjak von der Moskauer Higher School of Economics. Für Slon skizzieren sie die unterschiedlichen politischen Perspektiven und Hoffnungen innerhalb der russischen Gesellschaft für das kommende Jahr.

    Denkt man darüber nach, was das neue Jahr wohl bringen mag, stellt sich auf die eine oder andere Weise die Frage nach möglichen Veränderungen: Die einen träumen von einer Wende zum Besseren, die anderen fürchten den Wandel zum Schlechteren. Die meisten jedoch setzen auf die Erhaltung des Status Quo, also darauf, jede Veränderung zu vermeiden.

    Immer häufiger jedoch begegnet einem der Gedanke, dass sich der gegenwärtige Zustand unmöglich aufrechterhalten lässt. Wenn es zurzeit überhaupt ein Gleichgewicht gibt, dann funktioniert es so: Wirtschaftliche Schwächen werden durch außenpolitische Erfolge ausgeglichen – und seien es nur eingebildete. Dabei ist vielen klar: Die wirtschaftliche Lage verschlechtert sich weiter. Und bedeutende militärische und politische Erfolge sind nicht zu erwarten.

    In dem bekannten Halbscherz von der Schlacht „Fernseher gegen Kühlschrank“ wird angedeutet, dass der leere Kühlschrank bald gewinnen wird. Danach, so darf man annehmen, kommt es zu Hungerrevolten. Und was folgt dann? Eine Revolution nach dem Muster der Februar- oder der Oktoberrevolution? Die Wenigsten sind in der Lage, sich den nächsten Schritt vorzustellen, bzw. bereit, die möglichen Szenarien zu durchdenken. Bei der einen Perspektive – dem möglichen Untergang Russlands – wäre das Höchste der Gefühle an Reaktion ein heftiges Erschrecken: Es wäre das Ende – über das, was danach kommt, möchte niemand nachdenken.

    Wir sind weder Anhänger des Schlachtszenarios zwischen Kühlschrank und Fernseher noch erwarten wir Revolution und Untergang, aber dass das derzeitige Gleichgewicht durch ein anderes ersetzt werden muss, steht außer Frage. Wissen wir, wie es aussehen wird? Nein. Was wir aber kennen, sind einzelne Utopien. Und die versuchen wir im Folgenden zu beschreiben.

    Die Utopie des Krieges

    Eine weitere Perspektive ist die Rückkehr zu der Situation, wie sie sich direkt nach der Angliederung der Krim, aber vor den Sanktionen und der Wirtschaftskrise darstellte: Russland auf dem Gipfel des Ruhms, „wir sind stark, aber friedlich“ und das wird der Westen bald anerkennen. Dies wünschen sich die Mehrheit der Bevölkerung und die Eliten am meisten. Doch es ist klar, dass dieser Zustand in den nächsten Jahren (ja, überhaupt) unerreichbar ist.

    Umfragen zufolge hat sich seit dem Krim-Anschluss in der russischen Gesellschaft das Bewusstsein durchgesetzt, nicht in „alltäglichen“, sondern in „Ausnahme-Zeiten“ zu leben. Ein solches Ausnahme-Bewusstsein denkt in den Kategorien der Heldentat. Es geht deshalb davon aus, dass weder Opfer noch Mühen gescheut werden sollten, dass der Sieg keinen Preis kennt und dass die Siegesfreude ausnahmslos alle ergreifen und vereinen wird.

    Das Alltagsbewusstsein beruht auf entgegengesetzten Prinzipien: Es muss das normale Leben in der Gesellschaft gestalten. Im Alltag muss man zwangsläufig rechnen, wie teuer gewisse Dinge sind, und Wünsche danach prüfen, ob sie überhaupt zu erfüllen sind.

    Natürlich erlaubt es das epische, von Heldentaten geprägte Bewusstsein, in einem wunderbaren Zustand zu verweilen, während das Alltagsbewusstsein mit düsteren Gedanken über die Lage und die dafür Verantwortlichen beschäftigt ist. Das derzeit Fatale ist, dass mithilfe der Medien versucht wird, die Ausnahmesituation (und das entsprechende Bewusstsein) nicht nur als Normalität, sondern auch als Norm zu verankern und das Alltagsbewusstsein als subversiv zu denunzieren. Die Gesellschaft im Ausnahmezustand zu halten und den alltäglichen Zustand verbieten zu wollen, ist jedoch utopisch und deshalb nicht machbar.

    Repräsentative Befragung der russischen Bevölkerung (1601 Personen ab 18 Jahren), durchgeführt vom 18.–21. Dezember 2015

    Diese Unerreichbarkeit treibt Politiker und Normalbürger zu abenteuerlichen Entscheidungen – zur Suche nach Lösungen mittels militärischer Erfolge. Die Schwelle, die uns vom realen Krieg als dem schlimmsten Übel abhält, ist in letzter Zeit dramatisch gesunken. So viele haben mit dem Begriff „Dritter Weltkrieg“ herumgespielt, dass es an der Zeit ist zu fragen, weshalb die Staatsanwaltschaft noch kein einziges Verfahren nach Artikel 354 des Strafgesetzbuches eingeleitet hat. Alle, die politisches Kapital aus Überlegungen schlagen wollen, wie sehr ein Krieg das gesellschaftliche Wohlergehen befördern könnte, seien daran erinnert, dass im Strafgesetzbuch ein Gesetz zu dieser Frage existiert: „Öffentliche Aufrufe zur Entfesselung eines Angriffskriegs … unter Nutzung der Medien durch Personen, die ein öffentliches Amt der Russischen Föderation oder eines ihrer Bestandteile innehaben, werden mit einer Geldstrafe … oder einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren belegt.“

    Eine weitere Utopie der heutigen Zeit ist allerdings die Perspektive, die internen Probleme des Landes ausgerechnet durch solche extremen außenpolitischen Mittel zu lösen. Doch so werden diese Probleme nicht gelöst. Die Annahme, dass Russland sich auf militärischem Weg eine neue, vorteilhaftere Position in der Welt erringen könnte, ist nicht haltbar. Nicht haltbar deswegen, weil sie auf der primitiven Logik beruht, dass Frieden ein Ergebnis von Krieg ist. Die Stellung eines Landes in der modernen Weltordnung wird jedoch nicht mehr durch die Faktoren bestimmt, die in der Geopolitik relevant waren – einer Disziplin des vergangenen Jahrhunderts.

    Was ist also zu tun? Die Gelder, die im Staatshaushalt für die Verteidigung vorgesehen sind, verteilen sich letztlich auf Millionen von Beschäftigten in der Rüstungsindustrie und bei den Streitkräften. Auch wenn wir der Auffassung sind, dass es für das Wohl der Gesellschaft besser wäre, diese Mittel in andere Wirtschaftsbereiche zu lenken, darf man das nicht vergessen. Die Hauptsache ist also, dass die mit diesen Geldern hergestellten Kugeln nicht abgefeuert werden. Das Land durch militärische Erfolge zu retten, ist eine Utopie. Es ins Unglück zu stürzen, ist hingegen leider eine sehr realistische Perspektive.

    Die Atrophie des gesellschaftlichen Denkens

    Es wäre wunderbar, anstelle dieser beiden dargelegten Perspektiven, die wir zu Utopien erklärt haben, eine dritte vorzuschlagen: Nennen wir sie „freies, demokratisches Russland“. Die über 80 Prozent der Bevölkerung, die heute ihre Zustimmung zu Putin bekunden, haben schließlich früher einmal ihre Zustimmung zu Gorbatschow und dann zu Jelzin zum Ausdruck gebracht und damit deutlich gemacht, dass sie die Perspektive einer demokratischen Entwicklung im Land unterstützen. Die Verteidigung dieser Ideale ist bekanntlich schwächer und schwächer geworden, heute scheint sie aus der politischen Realität Russlands völlig verschwunden zu sein. In der Tat gibt es zurzeit keine soziale Schicht, die eine solche Agenda verfolgen würde. Und auch von einer ernstzunehmenden politischen Kraft, die sie öffentlich vertreten würde, fehlt jede Spur.

    Aber darin liegt unserer Ansicht nach gar nicht das größte Problem. Denn die Ideen von Menschenrechten, von demokratischen Freiheiten und von einer demokratischen Gesellschaft sind im öffentlichen Bewusstsein als solche präsent, wenn auch zurzeit in verdeckter Form. Die Ereignisse auf dem Bolotnaja-Platz haben gezeigt, dass diese Ideen in jedem Moment an die Oberfläche gelangen und große Menschenmengen inspirieren können. Das Problem ist, dass sie nach wie vor fast in demselben Gewand daherkommen, wie sie die Glasnost-Ära hervorgebracht hat – das heißt so, wie sie von den russischen Demokraten der Sacharow-Generation formuliert wurden. Die Aufgaben, die das moderne Russland stellt, lassen sich jedoch nur mit einer Neufassung dieser Ideen bewältigen, die die zeitlosen Werte von Gerechtigkeit und Freiheit zeitgemäß auslegt.

    Repräsentative Befragung der russischen Bevölkerung (1601 Personen ab 18 Jahren), durchgeführt vom 18.–21. Dezember 2015

    Angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen sind nicht die edlen, zeitlosen Werte der Demokratie gefragt, sondern edle und moderne demokratische Konzepte. Wie soll sich ein anständiger Mensch verhalten inmitten des Kulturkonflikts, der über Europa hereingebrochen ist und über Russland hereinzubrechen droht? Wie soll sich ein anständiger Mensch verhalten in einer Gesellschaft, in der die Toleranz gegenüber sexuellen Minderheiten einhellig abgelehnt wird? Wie kann sich die Gesellschaft aus der moralisch-rechtlichen Verstrickung lösen, die sich unter anderem aus dem Konflikt zwischen dem Recht der Nationen auf Selbstbestimmung und dem Verbot der Revision von Grenzen ergibt?

    Und vor allem: Wie lässt sich der friedliche Übergang bewerkstelligen, weg vom augenblicklichen – als Putinismus, Autoritarismus, Totalitarismus und so weiter bezeichneten – Zustand, hin zu diesem freien und demokratischen Russland? Uns scheint, die russische Gesellschaft hat aufgehört, über diese Frage nachzudenken. Vielleicht ist es eine Utopie, sie zu stellen? Hoffen wir, dass das neue Jahr eine Antwort auf diese Frage bringt. Oder ist auch das – eine Utopie?

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