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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Wie groß ist die Kriegsgefahr in Europa?

    Wie groß ist die Kriegsgefahr in Europa?

    Die Sorge um die Sicherheit in Europa wächst, angesichts des russischen Säbelrasselns an der Grenze zur Ukraine: So haben einzelne NATO-Mitgliedstaaten wie Dänemark und Spanien erklärt, die Militärpräsenz in Osteuropa zu verstärken. Demnach sollen etwa im Ostseeraum zusätzliche Schiffe und Kampfflugzeuge stationiert werden. Die USA und Großbritannien reduzieren mit Verweis auf die ungewisse Lage das Botschaftspersonal in der Ukraine, die EU und auch Deutschland dagegen belassen das Personal vor Ort. Der EU-Außenbeauftragte Borrell warnte davor, die Lage unnötig zu „dramatisieren“.

    Gefährlicher Bluff oder ernsthafte Bedrohung der europäischen Sicherheit: Wie groß ist die Gefahr, dass Russland die Ukraine angreift? Auch in Russland ist man sich darüber uneins. In unterschiedlichen Medien äußern sich dazu unter anderen der Lewada-Soziologe Denis Wolkow, Kreml-Berater Sergej Karaganow und Politikwissenschaftlerin Lilija Schewzowa. dekoder hat eine Zusammenschau der drei unterschiedlichen Stimmen zusammengestellt.

    „Die Angst vor einem bewaffneten Konflikt ist ziemlich groß“

    Im Interview mit Republic erläutert Lewada-Direktor Denis Wolkow neueste Umfrageergebnisse. Das renommierte Meinungsforschungszentrum Lewada fragte nicht nur danach, wie sehr die russische Bevölkerung die Sorge vor einem Krieg umtreibt, sondern auch, wen sie für den Konflikt verantwortlich macht.

    Original

    Im Alltag denken die Leute natürlich nicht ständig darüber nach, aber die Angst vor einem bewaffneten Konflikt ist ziemlich groß. Im vergangenen Frühjahr erreichte sie einen Maximalwert: 62 Prozent der Befragten sagten, sie hätten Angst vor einem großen Krieg. Gegen Ende des Jahres ließ diese Angst ein wenig nach, im Dezember waren es noch 56 Prozent. Das ist auch viel, aber immerhin weniger. Vermutlich, weil wenigstens Gespräche begannen – zuerst zwischen Putin und Biden, dann auf der Ebene der Außen- und Verteidigungsministerien.
    Von einem möglichen Konflikt mit den USA und der NATO spricht jetzt rund ein Viertel der Befragten, von einem Konflikt mit der Ukraine sprechen in verschiedenen Umfragen 35 bis 40 Prozent. Wobei die Verantwortung eher auf die andere Seite geschoben wird – nicht einmal auf die Ukraine, sondern auf den Westen, die USA. „Die haben ja angefangen“, was die Sache noch beängstigender macht, nach dem Motto: Wenn wir angefangen hätten, dann könnten wir ja aufhören. Aber es sind die anderen, und die machen vor nichts Halt.     

    Die Verantwortung wird eher auf die andere Seite geschoben – auf den Westen, die USA

    Auch wenn die Gesellschaft also Angst vor dem Krieg hat, ist sie wohl innerlich schon darauf vorbereitet. In den Fokusgruppen klingt das ungefähr so: „Wir werden gegen unseren Willen in einen Krieg hineingezogen.“

    „Das ganze Geschrei, wir würden Kiew einnehmen wollen – das ist heiße Luft“

    Das Massenblatt Argumenty i Fakty bringt ein Interview mit dem Politikwissenschaftler Sergej Karaganow – Dekan der Fakultät für Wirtschafts- und Außenbeziehungen der HSE sowie Vorsitzender des Rats für Außen- und Verteidigungspolitik. Der Außenpolitik-Experte bezeichnet die NATO darin als „Krebsgeschwür und mahnt, dass sie kontrolliert werden müsse, andernfalls könne sie die Ukraine zum „Hauptmotor der antirussischen Politik in Europa“ machen. Gleichzeitig betont er, dass Russland kein Interesse daran habe, die Ukraine zu besetzen. 

    Original
     
    […] Die Ukraine ist ein Puffer. Mal trennt sie uns von potentiellen westlichen Aggressoren, mal wird sie dazu benutzt, um Druck auf uns auszuüben. Aktuell geht es in der Ukraine-Frage in erster Linie darum, dass sich kein feindliches Bündnis in diese Pufferzone ausbreitet. 
    […]
     

    aiF: Selbst wenn NATO-Truppen in der Ukraine wären, wäre das denn wirklich so gefährlich? Die baltischen Staaten sind schließlich seit fast 18 Jahren in der NATO – und bisher ist die Katastrophe ausgeblieben.
     
    Als die Länder Osteuropas, also Polen und die baltischen Staaten, der NATO beigetreten sind, sagte der Westen zu uns: Keine Sorge, das wird sie besänftigen, sie werden euch friedliche, gute Nachbarn sein. Doch das Gegenteil ist eingetreten – sie wurden nur noch wilder. Allein schon die Zugehörigkeit zu einem Bündnis, das auf Konfrontation setzt, stärkt die schlimmsten Elemente in Politik und Gesellschaft. Wir sehen, was im Baltikum passiert ist, wie dreist die Polen geworden sind, weil sie jetzt an vorderster Front der NATO stehen. Eine solche Ukraine können wir überhaupt nicht gebrauchen. Dort gibt es zwar viele prorussisch denkende Menschen, die uns geistig und kulturell nahestehen. Aber es gibt auch andere, dunkle Kräfte. Wollen wir, dass dieser Bodensatz an die Oberfläche gespült wird, dass die Ukraine, genau wie das Baltikum und Polen, zur treibenden Kraft einer russlandfeindlichen Politik in Europa wird? Ganz zu schweigen von den Waffen, die dort stationiert würden.

    Ja, unsere Soldaten stehen an der ukrainischen Grenze, aber doch nur, damit von der anderen Seite niemand auf die Idee kommt, sich über den Donbass herzumachen

    Aber wir sind keineswegs darauf aus, bis zum letzten Ukrainer um die Ukraine zu kämpfen, wir wollen dort sicher keinen Krieg führen. Das ganze Geschrei, wir würden Kiew einnehmen wollen – das ist heiße Luft. Ja, unsere Soldaten stehen an der ukrainischen Grenze, aber doch nur, damit von der anderen Seite niemand auf die Idee kommt, sich über den Donbass herzumachen. Eine Besetzung der Ukraine, davon bin ich überzeugt, gehört ganz sicher nicht in unseren Militärplan. Und sei es nur deshalb, weil die Besatzung eines Landes, das wirtschaftlich, moralisch und intellektuell kastriert ist, eines Landes mit desolater Infrastruktur und verbitterter Bevölkerung, das denkbar schlechteste Szenario ist. Das Schlimmste, was uns im Moment passieren kann, ist, dass die USA uns die Ukraine in dem Zustand schenken, den sie dort selbst geschaffen  haben.

    „Wir sind an einem Punkt, an dem Russland entweder in den Abgrund springt oder den Rückzug antritt“

    Die Politikwissenschaftlerin Lilija Schewzowa sieht im Säbelrasseln Russlands eher einen Bluff, der auf die Instabilität des Systems verweist – und der aber gefährlich sei, da Russland sich damit in eine Position manövriert habe, aus der es nur schwer einen Ausweg gebe. 

    Original

    Was Putin macht, indem er den Westen in die Ecke drängt, – das zeugt davon, wie angreifbar das von ihm geschaffene System ist. Stärke zu demonstrieren, indem man einen „Feind vor den Toren“ zeichnet, gleicht einem Eingeständnis, keine anderen Ressourcen zu haben, und ist die Kehrseite einer Schwäche.

    Mit Russlands Säbelrasseln drängt es den Westen zu einer kollektiven Antwort. Länder, die noch nicht zur NATO gehören, sprechen jetzt von einem Beitritt – zum Beispiel Finnland und Schweden. Anfang 2021 dachte Biden über eine Reduktion des Atomwaffenpotenzials der USA nach. Das überlegt er sich jetzt zweimal.

    Ein Bluff wirft die Frage auf, ob der Bluffende es sich wirklich leisten kann zu bluffen

    Moskau lehrt den Westen, anhand von Ultimaten zu kommunizieren. Wir sagen zu ihnen: „Stoppt die NATO“, und sie zu uns: „Gebt die Krim zurück an die Ukraine, raus aus dem Donbass, raus aus Transnistrien, Abchasien und Südossetien; weg mit den Iskander-Raketen aus Kaliningrad.“ Es ist ein Tauziehen. Und die militärische und wirtschaftliche Überlegenheit liegt nicht auf russischer Seite.
    Ein Bluff wirft die Frage auf, ob der Bluffende es sich wirklich leisten kann zu bluffen: Wie realitätsbewusst ist er und wie wahrscheinlich ist eine unangenehme Reaktion. Trump hat mit seinen Bluffs und Erpressungen die Führungsrolle der USA untergraben.
    […]
    Jetzt, wo Amerika Russland sagt: „Nein, Stopp!“, und Moskau Kompromisse ablehnt, ist eine Pause entstanden. Der Kreml wartet auf ein Gegenangebot seitens der USA und der NATO. Aber es ist doch schon alles gesagt! Die Pause braucht eher Präsident Putin, um einen Entschluss zu fassen. Wir sind an einem Punkt, wo Russland aus Rache für die Weigerung, sein Spiel zu spielen, entweder in den Abgrund springt oder den Rückzug antritt. Aber ein Rückzug ist immer beschämend, nicht wahr?

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  • Der Biden-Putin-Tango

    Der Biden-Putin-Tango

    Das Großaufgebot russischer Truppen und schweren Kriegsgeräts an der Grenze zur Ukraine hatte „internationale Besorgnis“ ausgelöst. Was soll das russische Säbelrasseln: Nur Muskelspiele oder droht gar ein weiterer Krieg? Die USA sagten der Ukraine Unterstützung zu und forderten Moskau zur Deeskalation auf. Der ukrainische Präsident Selensky drang außerdem auf einen Aktionsplan für eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. 

    Nachdem Biden Putin angerufen hatte und einen gemeinsamen Gipfel vorschlug, verhängten die USA tags drauf neue Sanktionen gegen Russland – unter anderem wegen des SolarWinds-Cyberangriffs. Putin ging in seiner Rede zur Lage der Nation am 21. April auf die Situation an der Grenze zur Ukraine nicht ein, warnte stattdessen den Westen, gewisse „rote Linien“ nicht zu überschreiten. Verteidigungsminister Sergej Schoigu allerdings gab am 22. April den Rückzug der russischen Truppen bekannt. Danach informierte das russische Außenministerium wiederum über Pläne, eine „Liste unfreundlicher Staaten“ einzuführen, die USA soll auf dieser Liste stehen, so Außenamtssprecherin Sacharowa.

    Kriegsgefahr gebannt? Alles wieder gut? Politikwissenschaftlerin Lilija Schewzowa ist weniger optimistisch und analysiert auf Facebook den „Tango“, den Biden und Putin tanzen: „Moskau in die Schranken weisen und gleichzeitig kooperieren: Dieses Geschaukel endet jedes Mal mit einer Eskalation“, warnt sie.

    Ein Schritt vor, ein Schritt zurück – der Biden-Putin-Tango / Foto © Dimitri Asarow/Kommersant
    Ein Schritt vor, ein Schritt zurück – der Biden-Putin-Tango / Foto © Dimitri Asarow/Kommersant

    Es scheint, als sei der Krieg aufs nächste Mal verschoben. Doch die jüngste Eskalation der Spannungen entlang der Linie zwischen Russland und dem Westen verdeutlicht eine beunruhigende Dynamik.
    Erstens: Russland ist bereit, das Schachbrett der Weltordnung vom Tisch zu fegen. Als Anlass könnte bereits ausreichen, dass der Kreml sich beleidigt fühlt oder den Verdacht hegt, man könne ihn ignorieren. Allein die Drohung, das Brett vom Tisch zu werfen, wirkt, weil sie beim erpressten Objekt Verunsicherung hervorruft.
    Zweitens: Der Westen hat es versäumt, eine Antwort zu finden, wenn er von Russland herausgefordert wird. Bislang versuchen die liberalen Demokratien den Kreml mit einer zweigleisigen Taktik zu beschwichtigen. Kurz gesagt, mit einer Kombination zweier sich ausschließender Prinzipien: Eindämmung und Dialog.

    Eindämmung und Dialog

    Diese Zweigleisigkeit ist eine Reaktion auf das Phänomen, das Russland mittlerweile darstellt: Einerseits ist Russland ein Gegenspieler der liberalen Demokratien. Andererseits ist es in für den Westen lebenswichtige Prozesse eingebunden und teilweise in den Westen integriert (durch die dort verkehrenden Privatiers und die Mitgliedschaft in europäischen Institutionen).
    Besonders schwer hat es da Europa. Wie soll Brüssel einen Staat mit Sanktionen belegen, der Mitglied des Europarats ist? Wie soll es einen Handelspartner bestrafen? Also beschränkt sich die EU gezwungenermaßen darauf, „Besorgnis“ zu äußern angesichts der russischen Schachzüge, die es mittlerweile zu Hauf gibt.

    Nawalnys drohender Tod ist für Brüssel kein Anlass für Sanktionen

    Aus der Unvereinbarkeit von Eindämmung und Dialog erwachsen weitere Probleme: Die liberalen Demokratien sind zum Beispiel nicht in der Lage, einen Mechanismus zu schaffen, der den feindlichen Handlungen Moskaus zuvorkommt. Die EU hatte nie vor, wegen der russischen Eskalation an der ukrainischen Grenze Sanktionen einführen. Erst, wenn Russland die Grenze überschritten hätte, hätte Brüssel über solche Schritte nachgedacht. Wenn Nawalny nicht bis zum Ende des Monats freikommt, will der Europarat über ein Aussetzen der russischen Mitgliedschaft nachdenken. Doch sein drohender Tod ist in Brüssel kein Anlass für Sanktionen.
    Der Westen kann keine roten Linien für die Zukunft ziehen, deren Übertretung durch Russland dann eine Reaktion erfordert. Er kann kein Preisschild an etwas drankleben, das noch nicht passiert ist. Wenn der Westen die Sanktionsmaschine anwirft, dann reagiert er damit auf bereits Geschehenes. Und hofft darauf, dass Moskau den Preis für die Risiken versteht. Aber das Verständnis für die Risiken und deren Preise geht in Moskau und den westlichen Regierungen auseinander. Für den Kreml ist Risikobereitschaft vielleicht das einzige Mittel, sein Ziel zu erreichen.

    Väterlicher Klaps auf den Hintern 

    Nun haben die USA direkt die Initiative ergriffen, um auf Russlands Sünden an den USA zu reagieren, auf die Eskalation an der ukrainischen Grenze und auch auf Nawalny. Die Reaktion ist eben jene Zweigleisigkeit. Washington geht offenbar davon aus, dass seine Ankündigungen den Preis für die russische Eskalation ebenfalls eskalieren zu lassen, diesmal in Moskau Gehör finden.
    Vielleicht kündigen die Amerikaner im informellen Austausch an, notfalls harte Maßnahmen zu ergreifen. Aber die Sanktionen, die Biden öffentlich nennt, wirken eher wie ein väterlicher Klaps auf den Hintern.

    Biden will eindeutig keine Konfrontation mit Russland. Es geht ihm nicht darum, Putin in die Knie zu zwingen. Er brennt nicht darauf, die russische Wirtschaft zu zerstören oder einen Rachefeldzug gegen Putins engsten Kreis zu starten.
    Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Weiße Haus erkannt hat, dass es unmöglich ist, den Kreml zu zwingen, seine Denkweise und sein Weltbild zu ändern. Folglich muss es einen Weg finden, mit einem gefährlichen Spieler zu koexistieren, bei dem jederzeit das Weimar-Syndrom auftreten kann.
    Biden will, wie er es selbst formulierte, einen „Modus vivendi“. Man kann Washington verstehen. Den USA steht der Weg aus einer innenpolitischen Krise bevor. Die USA müssen sich aus Afghanistan zurückziehen – eine für sie dramatische Aufgabe. Sie müssen eine Antwort auf ihre größte Herausforderung finden – China. Zu diesen Kopfschmerzen kommen der Iran und Nordkorea. Deshalb ist es Biden wichtig, das Thema Russland einzufrieren.

    Sie werden sich wohl nicht gegenseitig mit Schuhen bewerfen

    Kurz gesagt, Biden hat sich für eine Beschwichtigungstaktik mit Elementen der Eindämmung entschieden (die sich im Anfangsstadium befindet). Infolgedessen beobachten wir ein surreales Szenario: Vertreter der amerikanischen Regierung kündigen an, dass es den Kreml teuer zu stehen kommt, wenn Moskau das Schachbrett weiter herumschwenkt. Gleichzeitig bereiten die Repräsentanten beider Präsidenten ein Treffen vor, bei dem sich die Staatsmänner aller Voraussicht nach nicht gegenseitig mit Schuhen bewerfen werden. Putin spricht auf einem von Biden organisierten Klimagipfel. Moskau schlägt Washington vor, den Dialog zur Abwehr von Cyberattacken wieder aufzunehmen. Fast ein Neustart!
    Der Kreml hat sein Ziel erreicht – er hat Amerika gezwungen, ihm zuzuhören und ein Angebot zu machen. Es geht nicht mal so sehr um Putins persönliche Ambitionen. Sondern darum, dass Russland von den USA abhängig ist – als Achse seiner Legitimität
    Man könnte einwenden: Stimmt gar nicht! Die USA haben ihre Führungsrolle eingebüßt, jetzt ist China für Moskau viel wichtiger. Mhm, ja klar, Russland hat seine Truppen an der ukrainischen Grenze zusammengezogen, um die Aufmerksamkeit Pekings zu erregen.

    Der Kreml hat sein Ziel erreicht – er hat Amerika gezwungen, ihm zuzuhören und ein Angebot zu machen

    Aber was bekommt Biden, wenn er Putin einen Dialog anbietet? Die schmerzlosen amerikanischen Sanktionen könnten im Kreml den Eindruck erwecken, Amerika sei unentschlossen. Und das könnte den Kreml zu neuen Manövern veranlassen. Abgesehen davon versteht Putin unter einem Status quo in der Ukraine etwas anderes als die Ukraine selbst oder die westlichen Staaten. Wie soll man unter diesen Umständen einen Modus vivendi erreichen? Fragen über Fragen …
    Währenddessen hat der Kreml sein Ziel erreicht und nimmt den Druck raus. Denn auch das ist eine Demonstration der Macht – die Kontrolle über den Zünder zu behalten. Putin hat dem Westen ja angekündigt, dass er den Verlauf der „roten Linie“ bestimmen wird. 
    Tatsächlich hat der Kreml eine weitere Möglichkeit, dem Westen zu antworten – indem er die unzufriedenen Russen niederwalzt. Wenn das mal nicht scharfsinnig ist: die russische Gesellschaft zu zwingen, für die westlichen Belehrungen zu bezahlen.

    Geschaukel endet mit Eskalation

    Und was weiter? Wir sollten bedenken: Biden ist nicht der erste US-Präsident, der versucht, eine zweigleisige Politik gegenüber Russland zu fahren – Moskau in die Schranken zu weisen und gleichzeitig zu kooperieren. Dieses Geschaukel endete jedes Mal mit einer Eskalation. Denn die Unvereinbarkeit der systemischen Prinzipien ist am Ende stärker als die gemeinsamen Interessen.
    Sollten die Möglichkeiten der Einflussnahme schwinden, wird sich der Kreml immer mehr auf die Instrumente der Gewaltausübung verlassen müssen – im Inneren wie im Äußeren. Nicht einmal aufgrund einer Lust an Gewalt, sondern in Ermangelung anderer Überzeugungsmittel. 
    Vermutlich wird der Dialog zwischen Russland und dem Westen auch diesmal mit einem kalten Regenschauer enden. Aber jeder neue Fehlschlag wird die Risiken erhöhen, indem er die Eskalation auf eine neue Stufe treibt und den Preis erhöht, den man dafür bezahlen muss.
    Genau deshalb ist die Zukunft beunruhigend. Und die kurzen Lichtblicke sollte man nicht mit einem Wetterumschwung verwechseln.

    PS: Jetzt wurde Tschechien zum Testfeld für die Effektivität der westlichen Zweigleisigkeit und vor allem der europäischen Solidarität.

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  • Wenn Allmacht zu Ohnmacht wird

    Wenn Allmacht zu Ohnmacht wird

    Nach dem Sturz von Muammar al-Gaddafi im Jahr 2011 kursierte in Russland eine Anekdote: Der langjährige Diktator, so hieß es, hatte einige Monate vor seinem gewaltsamen Tod 89 Prozent Zustimmung in Meinungsumfragen. 

    Dass Meinungsumfragen in autoritären Systemen nur unter bestimmten Vorzeichen abbilden, was eine Gesellschaft tatsächlich denkt, ist in der Wissenschaft hinlänglich bekannt. Wie stabil sind aus wissenschaftlicher Sicht aber autoritäre Regime überhaupt? An dieser Frage sind schon viele Politologen gescheitert: Weder konnten sie etwa den Zerfall der Sowjetunion voraussehen noch Anhaltspunkte für den Ausbruch des Arabischen Frühlings liefern. 

    Wie stabil ist das System Putin? Zu dieser Frage gibt es seit einigen Jahren zahlreiche journalistische und wissenschaftliche Beiträge. Laut der Politologin Lilija Schewzowa gibt es nun einen möglichen Auslöser, der das System ins Wanken bringen könnte: Es ist eine Fledermaus aus Wuhan. 

    2020 sollte für den Kreml das Jahr des Triumphs werden. Das Jahr der Legitimierung lebenslänglicher Herrschaft. Eines jeden, der sie personifiziert.

    Doch 2020 wurde für Präsident Putin ein Waterloo. Sämtliche Pläne für die persönliche Zukunft sind in den Mülleimer geflogen. Die Säulen, die den Staat stützen, sind ins Wanken gekommen. Das wie ein Schlachtschiff gebaute System, das den Feind abhalten und den Raum siegreich erobern sollte, ist erstarrt und mit einer neuen, für das System unsichtbaren Gefahr konfrontiert: Das Coronavirus, dieses Miststück, ist jener unerwartete Todbringer geworden, nicht nur für den Menschen, sondern auch für dieses Systemkonstrukt, das für eine andere Zeit geschaffen war. Die autoritäre Führung hat ihre Unfähigkeit bewiesen, mit autoritären Methoden auf die Bedrohung zu reagieren!

    Der russische Staat, der durch Militarisierung, Expansion und die atomare Faust auf Großmachtstreben aus ist, wirkt hilflos, wenn es um den Schutz menschlichen Lebens geht – sogar, wenn es das Leben der herrschenden Klasse betrifft.

    Das Coronavirus ist ein unerwarteter Todbringer geworden, nicht nur für den Menschen, sondern auch für dieses Systemkonstrukt

    In der Machtvertikale fängt es an ordentlich zu krachen, wenn von oben chaotische Anweisungen kommen. Der Leader selbst haut sie kaputt: Das Zentrum hat sich aus der Verantwortung gestohlen, und die unteren Kräfte können sie nicht übernehmen, ihnen fehlen die Mittel und der Willen. Die Weigerung des Kreml, Direktiven zu geben – das ist die Unterwanderung eines Staates, der aufgebaut ist wie eine Pyramide. 
    Derzeit ist von dieser Bedrohung nichts zu spüren, da die regionale Elite nicht mutig genug ist, um die Stimme zu erheben. Doch was geschieht, falls sie mit einem Mal die Schuld für das Versagen des Zentrums nicht auf sich nehmen will, wenn sie es mit der verzweifelten Bevölkerung zu tun kriegt?

    Autokratie setzt die Einsamkeit des Leaders voraus, der über das Volk erhaben ist. Doch ein Leader muss in vorderster Reihe präsent sein, die Nation mit Mut stabilisieren und ihr mit seiner Erscheinung Vertrauen einflößen. Der Leader verliert seine Anziehungskraft, wenn er sich hinter den Kulissen versteckt, was wie eine Flucht wirkt. Allmacht wird zu Ohnmacht.

    Der Leader verliert seine Anziehungskraft

    Das vom Kreml für den Kontakt zum Volk gewählte Format – eine Videoansprache inmitten einer Galerie brummelnder Köpfe – wirkt wie eine Karikatur. Der Kreml hat keinerlei Gespür dafür, wie er im Moment einer existentiellen Krise die Bevölkerung am besten erreicht. Ein einsamer alter Mann, der die Parade am 9. Mai im leeren Hof des Kreml abnimmt – dieses Bild kann sich nur jemand ausgedacht haben, der die Umfragewerte Putins in den Keller bringen wollte.

    Im Kampf gegen die Epidemie hat der Kreml sein Verständnis von Russland als Sozialstaat aufgegeben, der Gleichheit und Gerechtigkeit bei der Verteilung der Wirtschaftsgüter gewährleisten soll (Artikel 7 der Russischen Verfassung). Die Regierung hat den neuen Vertrag zwischen Putin und der Gesellschaft zerstört: Ich gebe euch soziale Garantien, und ihr gebt mir die lebenslange Herrschaft. Die vom Präsidenten am 11. Mai versprochenen Almosen können nichts am Offensichtlichen ändern: Die Rettung der Ertrinkenden ist die Aufgabe der Ertrinkenden.

    Die Staatsmacht braucht den Sieg

    Der Rückgang des Ölpreises war ein weiterer Schlag, der den Prozess des Niedergangs von Russland als Energiesupermacht einleitete. Zerstört wird nicht nur das imperiale Rückgrat des Landes, sondern auch die Finanzierungsquelle des Systems.

    Die Staatsmacht braucht den Sieg über das Coronavirus. Unverzüglich! Die Staatsmacht weiß, dass eine Politik nach dem Motto „keine Arbeit – kein Geld“ sowohl den Zusammenbruch als auch eine Explosion provoziert. Daher rührt die Entscheidung, die Epidemie für beendet zu erklären, noch lange bevor sie den Höhepunkt erreicht hat. Doch der Kreml muss sauber bleiben: Die Verantwortung für die Beendigung (und die Folgen!) der Epidemie werden die Regionen übernehmen. Und wenn es nicht gelingt, das Spiel siegreich zu beenden, was dann?

    Es ist völlig klar, warum sie es so eilig haben: Man muss schnellstens – während das Land gelähmt ist – die lebenslange Herrschaft durch eine Abstimmung legitimieren. Doch das ist die Falle: Auf dieses Ziel zu verzichten bedeutet politischen Selbstmord, die Fortsetzung des hilflosen Regierens kann das Ende beschleunigen …

    Und wenn es nicht gelingt, das Spiel siegreich zu beenden, was dann?

    Die weltpolitische Lage sorgt für weiteres Kopfzerbrechen. Irgendwie ist es erfreulich, dass Amerika sich in sein Schneckenhaus verkriecht. Das bedeutet aber, dass es keinen Grund mehr geben kann, über die amerikanische Hegemonie zu jammern. Doch woher einen neuen Feind nehmen, den wir unbedingt brauchen? Die Polen und Ukrainer taugen kaum für diese Rolle – das wäre zu kränkend für den Großmacht-Stolz.

    Das Vakuum provoziert die Chinesen, mit den Muskeln zu spielen. Doch China ist nicht Amerika. China spürt die Notwendigkeit, auf Jahrhunderte währende Erniedrigungen zu antworten. Die Nachbarschaft des verjüngten Drachen mit dem alternden Bären wird früher oder später die Unvereinbarkeit der beiden sichtbar werden lassen.

    Bis vor kurzem freute sich Russland noch darüber, dass die Welt dem russischen Weg gefolgt war und das Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten wertzuschätzen lernte. Doch werden die Länder weltweit ihre inneren Angelegenheiten nun auch Russland gegenüber zu schützen wissen. 

    Der russische Traum von einer multipolaren Welt, in der jeder sich wertschätzende Staat seine eigene Galaxie hat, wirkt wie dräuende Kopfschmerzen. Wie stehen unsere Chancen, ein solcher Pol zu werden, wenn man bedenkt, wie verschwindend gering unser Potenzial im Vergleich zum Westen und zu China ist? Wo ist die Garantie, dass die, die in unserer Galaxie die Kandidaten für Satelliten-Rollen sind, bereit sind, nach unserer Pfeife zu tanzen? Sie sehen doch, wie Minsk ganz aus der Reihe tanzt

    Es gibt allerdings wirklich eine Chance, ein Pol in der zweiten Garde von Staaten zu werden. Aber wie steht es dann um das Ego der Supermacht?
    Wer hätte sich vorstellen können, dass eine Fledermaus im fernen Wuhan solche Erschütterungen und Zusammenbrüche ehrgeiziger Pläne verursachen würde. Unser Kriegsschiff ist weiterhin auf Fahrt. Der Kapitän hat die Brücke verlassen. Die Mannschaft wirkt nicht gerade vertrauenserweckend. Der Kurs ist unklar. Aber es ist klar, dass es in die nicht lang zurückliegende wohlgefällige Vergangenheit kein Zurück mehr gibt.

    Ach, diese ekelhafte Fledermaus …

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  • Großmacht im Abseits

    Großmacht im Abseits

    Unerwartete Schützenhilfe für den Kreml: In einem Interview mit dem Economist hat Emmanuel Macron Anfang November 2019 die NATO für „hirntot“ erklärt. Auch mit seiner Charmeoffensive gegenüber Moskau sorgt der französische Präsident derzeit für Unmut unter vielen seiner europäischen Kollegen. So warnte der scheidende Präsident des Europäischen Rates Donald Tusk seinen „lieben Freund“ Emmanuel: „Unser harter und konsequenter Kurs gegenüber Russland war der erste klare und unmissverständliche Ausdruck unserer Souveränität. Wir müssen dies weiterverfolgen.“ 

    Es ist jedenfalls nicht nur das Interview von Macron, sondern vor allem auch Russlands Eingreifen in den Syrien-Krieg, das dem Kreml auf der internationalen Bühne derzeit wieder mehr Gewicht zu verleihen scheint. Manche russischen Analysten gehen vor diesem Hintergrund bereits so weit, Russland eine Schlüsselrolle in der globalen Sicherheitsarchitektur zuzuschreiben. Die Politikwissenschaftlerin Lilija Schewzowa nimmt all dies zum Anlass, um in The New Times zu fragen, um welche Art von Comeback es sich dabei überhaupt handelt.

    Russland hat sich erneut den Weg auf die Vorbühne der globalisierten Welt gebahnt. Hat sich mit Erdogan Syrien geteilt. Hat Kiew dazu gebracht, den Friedensbedingungen des Kreml zuzustimmen. Afrika wurde Putin frei Haus nach Sotschi geliefert. Doch das Wichtigste: Europa, repräsentiert von Macron, empfängt uns mit offenen Armen. 

    „Russland wird ein Garant für Stabilität“, so die Heerscharen aus dem Kreml

    Ist es etwa kein Grund zum Jubel, wenn die russische Regierung durch Großmachtgebahren ihre Selbstbestätigung findet?!  Andere Wege gibt es ja nicht mehr. Die begeisterte Heerschar aus dem Kreml hat laut aufgejault: „Russland wird ein fundamentaler Garant für Stabilität und Sicherheit in der Welt.“

    Doch warum hat dann der US-amerikanische Außenminister Mike Pompeo in seiner programmatischen Rede in New York (anlässlich seiner Auszeichnung mit dem Herman Kahn Award), als er von den Prioritäten in der US-amerikanischen Außenpolitik sprach, Russland kein einziges Mal erwähnt – weder als Dialogpartner noch als Gefahr? Nur über China hat Pompeo gesprochen. 
    Übrigens sieht auch der Rest der Welt nicht ganz ein, wieso es so wichtig sein soll, dass Russland wieder als Garant positiver Werte auftritt. Vielmehr wirken die russischen Erfolge wie dräuender Ärger. Sogar kremlfreundliche Beobachter geben das zu: „Russland hat einige prominente Gipfel in der internationalen Politik eingenommen und wird nun darum ringen, sie zu halten, besser gesagt: Es wird in einem Knäuel äußerst komplizierter Konstellationen versumpfen. Und es wird bereuen, sich darin verstrickt zu haben.“ 

    Russland als Verkörperung des Fremden und Gefährlichen 

    Und in der Tat: Sich im Nahen Osten – von wo die Amerikaner reißaus nehmen – in den Blutbrei einzumischen, das spricht eher für Torheit denn für strategische Kalkulation.
    Und was bedeutet bitte die Bereitschaft Selenskys, die russische Interpretation der Steinmeier-Formel anzunehmen? Die bittere Ironie besteht darin, dass Selensky zur sicheren Beute seines eigenen Maidans wird, wenn er das riskiert. Und die offenen Arme des schönen Macron? Auch nicht sehr vielversprechend: Der französische Präsident versucht, Moskau zu benutzen, um die Führungsrolle auf dem verwaisten Feld der Europapolitik einzunehmen. Womit er übrigens den Deutschen und dem restlichen Europa auf die Nerven geht. Und was bekommt Russland dafür, wenn es erstmal Sprungbrett für Macron geworden ist?
    Kann man überhaupt darauf hoffen, dass Russland den Dialog mit dem Westen wieder aufnimmt, wenn es für den Westen zu einer Verkörperung des Fremden und Gefährlichen geworden ist?
    […]  Wie kann man vor diesem Hintergrund zu dem Schluss kommen, dass Russland eine Schlüsselrolle für die globale Sicherheit und Stabilität einnimmt? 

    Inzwischen verliert die Weltgemeinschaft das Interesse an Russland

    Inzwischen verliert die Weltgemeinschaft das Interesse an Russland. Die, die über Russland schreiben, quälen sich im Bemühen, die Aufmerksamkeit an ihrem Thema zu halten. Selbst Putin regt die Phantasien nicht mehr an.
    Russlandexperten rackern sich ab, um die Bedeutung Russlands (und damit gleichzeitig ihre eigene) zu steigern. Während es früher Mode war, die Integration Russlands in die westliche Welt zu beweisen, so heißt es nun, seine Gefahr für die Welt zu begründen. Ende der Themenliste. Die ewige Leier der russischen Forderungen und das endlose russische Gejammer zum Thema „Wo bleibt denn da der Respekt!“ geht allen gehörig auf den Geist.

    Erniedrigend ist nicht, dass man uns nicht mehr respektiert und uns nicht glaubt. 
    Erniedrigend ist, dass man uns für einen hoffnungslosen Fall hält. Erniedrigend ist, dass die Welt unserer müde ist.
    Es gibt nicht mal mehr gesteigertes Interesse daran, sich mit uns auseinanderzusetzen. Eher im Gegenteil. Die westlichen Pragmatiker sagen: Die Russen kann man nicht ändern, doch es lohnt nicht, sich mit ihnen zu streiten. Wir tun einfach so, als würden sie uns interessieren, besprechen Pläne, die nie umgesetzt werden. Einfach, damit sie uns nicht ans Bein pinkeln.

    Die angewiderte Gleichgültigkeit ist das Erniedrigendste für den russischen Stolz

    Das Erniedrigendste für den russischen Stolz ist die angewiderte Gleichgültigkeit und dass man uns behandelt wie einen verdammten Anachronismus.
    Übrigens kann Russland den Westen sehr wohl beeinflussen. Wie? Indem es versucht, das eine oder andere westliche Staatsoberhaupt mit seiner Freundschaft zu beglücken. Wenn die liberale Welt Russland als genuin Böses betrachtet, ist das ein verlässliches politisches Mordinstrument. Ein erneutes Gipfeltreffen zwischen Putin und Trump könnte für Letzteren durchaus zum Anlass für ein Impeachment werden.
    Insofern: Wir können uns rächen. Rächen für die Nicht-Liebe, die Nicht-Wertschätzung, für die Gleichgültigkeit. Doch inwiefern wird diese Rache ein gerechter Preis sein für das verlorene Interesse an uns?

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  • Die antiwestliche Propaganda ist gescheitert

    Die antiwestliche Propaganda ist gescheitert

    Zufrieden zog Dimitri Medwedew Mitte Juli die WM-Bilanz: Mehr als drei Millionen ausländische Touristen haben Russland besucht, die Mehrheit von ihnen verließ das Land mit guten Eindrücken, so der Premierminister. 
    Gute Eindrücke sammelten offenbar auch die Russen selbst: Nicht nur die unabhängigen Medien, auch die staatlich-gelenkten schrieben während der WM von den freundlichen ausländischen Fans, die eine ausgezeichnete Stimmung im Land verbreiten. Viele Beobachter nahmen die WM deshalb als eine Art Verbrüderungsfest wahr. Manche konservativen Politiker warnten zwar vereinzelt vor Touristen, dies tat dem als Völkerverständigung empfundenen Fest allerdings keinen Abbruch.

    Vor diesem Hintergrund bewerten manche Analysten die neuesten Meinungsumfragen von Lewada als eine etwas andere WM-Bilanz: Die antiwestlichen Stimmungen in der Gesellschaft haben nämlich rapide abgenommen, auch die Zustimmungswerte für den Präsidenten sowie für die Regierung sanken deutlich. 
    Während das Sinken der Zustimmungswerte für den Präsidenten auch der unpopulären Rentenreform geschuldet sein könne, so sei die dem Westen gegenüber freundlichere Stimmung größtenteils auf die WM zurückzuführen, so die Erklärung. Seit Jahren kritisieren Analysten, dass staatlich-gelenkte Medien von russophoben Ausländern berichten, die die Festung Russland belagern und danach trachten, das Land in die Knie zu zwingen. Die WM, mit ihren fröhlichen und freundlichen Fans, habe dieses Bild ins Wanken gebracht.

    Alles nur eine Momentaufnahme? Dreht sich die Stimmung nach den neuesten US-Sanktionen wieder zurück? Möglich, meint Lilija Schewzowa, eine der renommiertesten Politologinnen Russlands. In einem Meinungsstück auf Rosbalt ahnt sie dennoch ein Scheitern des System Putin.

     


    Quelle: Lewada-Zentrum

    Das Lewada-Zentrum hat nachgewiesen, dass die tragende Säule des Systems in Russland wegsackt: Die Russen wollen nicht länger in einer belagerten Festung leben und gegen den Westen kämpfen. 68 Prozent sprechen sich heute für eine Annäherung an den Westen aus. Dadurch werden Putins Beliebtheitswerte stärker abfallen und die Proteststimmung wird entsprechend zunehmen. Beliebtheitswerte kann man pimpen und Proteste kann man neutralisieren, wenn das Volk bereit ist, ins Kriegslager zurückzukehren. Aber was, wenn die Mehrheit dort nicht hinwill? Wenn die Menschen des militaristischen Geheuls müde sind? Allem nach zu urteilen ist den russischen Bürgern sehr bewusst, dass die Konfrontation Russlands mit dem Westen ein Ablenkungsmanöver ist: von innenpolitischen Problemen und von der Unfähigkeit der Regierenden, diese zu lösen.

     


    Mehr dazu in der Infografik: Wie beliebt ist Putin? / Quelle: Lewada-Zentrum

    Die Autokratie verliert ihre Legitimation und die Regierung der Räuberelite wird in die Brüche gehen, da sie alles Liberale zu einer Gefahr für die Staatlichkeit Russlands gemacht hat, gegen das unbedingt Widerstand geleistet werden müsse.

    Es ist doch wirklich frappierend: Die russischen Bürger sprechen von einer Normalisierung der Beziehungen zum Westen, und das trotz der westlichen Sanktionen! Das heißt, diese Sanktionen binden das Volk nicht an den Kreml, wie das viele erwartet haben.

    Das, was wir derzeit beobachten, zerstört die übliche Logik: Der Amerikanische Kongress prüft ein neues Paket mit höllischen Sanktionen gegen Russland. Und die Einstellung russischer Bürger gegenüber den USA beginnt, wie Lewada sagt,  sich zu verbessern: Wenn im Mai 2018 noch 69 Prozent eine negative Haltung gegenüber den USA hatten („gut“ antworteten damals 20 Prozent), so ist die positive Haltung im Juli auf 42 Prozent gestiegen, die negative ist auf 40 Prozent gesunken. 
    Das heißt: Den russischen Bürgern ist klar, dass die Sanktionen nicht gegen sie gerichtet sich, sondern gegen die sie korrumpierende politische Klasse. Oder etwa nicht?

     


    Mehr dazu in der Infografik: Russlands Verhältnis zu den USA / Quelle: Lewada-Zentrum

    Die Zahlen von Lewada beschreiben das Versagen des Kreml gleich an mehreren Fronten:

    Erstens ist es ein Eingeständnis, dass die russische Außenpolititk versagt hat, die Russland vor der Welt zu einem Aussätzigen gemacht hat. Bestätigt wird das durch die abgefallenen Ratings früher sehr beliebter Minister wie Lawrow und Schoigu, auf deren Kappe der aggressiv-militaristische Kurs Russlands geht („Wenn sie uns nicht lieben und anerkennen, sollen sie wenigstens Angst vor uns haben!”). 
    Die russische Außenpolititk schafft kein Wohlergehen, sondern ist zu einer schweren Bürde geworden, die aus dem klammen Haushalt Geld für Kriege und außenpolitische Abenteuer abzieht. Das wird den Menschen langsam klar.

    Zweitens sehen wir ein ohrenbetäubendes Zusammenkrachen der Kreml-Propaganda, die schon seit Jahrzehnten dem Volk gegenüber den Westen einen Feind nennt. Kurz, im Kreml gibt es Anlass zu großer Beunruhigung. Und was, wenn eine positive Haltung der russischen Bürger dem Westen gegenüber plötzlich zu Sympathien für, Gott bewahre, liberale Werte führt?

    Das Schlimmste ist hier, das unser System nicht imstande ist, sich umzugestalten. Es kann sich nicht verabschieden vom Überleben als einziger Idee, also von der Suche nach einem äußeren Feind, der dann innere Feinde schafft. Andere Ideen hat die Autokratie nicht hervorgebracht. Und das bedeutet, dass die Jungs dort Wege suchen werden, um die Bevölkerung zurückzuführen in eine aggressive und feindliche Gesinnung gegenüber der liberalen Welt – der für die Machthaber tödlichen Alternative.

    All dies muss schnell geschehen, damit sich für die wachsende Unzufriedenheit der russischen Bürger kein anderes Objekt findet – Sie wissen schon, welches… Also wird die Regierung neue mythische „Bedrohungen” erschaffen, neue Anlässe suchen, um Hörner zu zeigen und der Welt mit einer Schreckensfratze Angst einzujagen. Sie wird neue Wege finden, sie wieder um den Kreml zu scharen. Es sei an die Putinworte erinnert: „Kommt lasst uns sterben hier bei Moskau, wie unsre Brüder einst gestorben sind! Zu sterben haben wir gelobt, den Treueeid gehalten in der Schlacht bei Borodino.” Ja, die werden wirklich warten, dass wir für sie sterben! Und die Wahrscheinlichkeit oder sogar Zwangsläufigkeit, dass sie der Gesellschaft eine neue Bedrohung bescheren werden, die macht Angst, wenn wir uns an die vormaligen, in der russischen Geschichte nicht weit zurückliegenden Momente der Mobilisierung erinnern ….

    Der Versuch der Regierung, Russland wieder zur antiwestlichen Zone zu machen, wird eine neue Herausforderung für das Volk, ein Test, wie vernunftgelenkt es ist und wie fähig, politischen Lug und Trug zu erkennen. Wir wollen das Volk nicht unterschätzen.

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