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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Gegen Putin, aber für wen?

    Der Täter lauerte seinem Opfer vor dessen Haus in Litauens Hauptstadt Vilnius auf: Mit einem Hammer durchschlug er die Scheibe seines Wagens und sprühte ihm Tränengas ins Gesicht. Dann drosch er mit dem Hammer auf Leonid Wolkow ein. Wolkow war lange einer der engsten Mitstreiter von Alexej Nawalny und Vorsitzender von dessen Fonds für Korruptionsbekämpfung (FBK). Deshalb schien nach dem Attentat im März 2024 klar: Die Hintermänner sitzen im Kreml. Doch im September 2024 veröffentlichte der FBK eine Recherche, wonach der ehemalige Yukos-Manager Leonid Newslin den Überfall in Auftrag gegeben habe. Newslin bestreitet das und behauptet, der russische Geheimdienst versuche, Zwietracht in der russischen Opposition zu stiften, indem er falsche Spuren lege.

    Der nächste Akt begann im Februar 2025, als der Blogger und Nawalny-Rivale Maxim Katz in einem zweistündigen Video dem FBK unterstellte, er habe sich von kriminellen Bankern sponsern lassen und ihnen im Gegenzug geholfen, sich als Opfer des Regimes darzustellen und ihre Reputation im Westen aufzupolieren. Der FBK reagierte seinerseits mit einem anderthalbstündigen Video, in dem er die Vorwürfe abstreitet und Katz der Lüge bezichtigt.

    Alle Akteure in diesem Oppositions-Drama verbindet, dass sie eigentlich einen gemeinsamen Gegner haben: Wladimir Putin. Aber statt ihre Kräfte zu bündeln, bekriegen sie sich gegenseitig. Enttäuscht wenden sich viele ehemalige Anhänger von diesem Spektakel ab. Gleichzeitig bleiben die Aktionen der Opposition im Exil schwach und sie tut sich zunehmend schwer damit, ihre Landsleute in der Heimat zu erreichen.

     

    Wladimir Kara-Mursa, Jewgeni Tschitschwarkin, Ilja Jaschin und Julia Nawalnaya marschieren am 1. März 2025 unter der Losung „Nein zu Putin. Nein zum Krieg“ durch Berlin / Foto © Snapshot/ Imago

    Am 6. Dezember 2023 kam Maxim in Sankt Petersburg von der Arbeit nach Hause, aß zu Abend und wartete dann auf Mitternacht. Er hatte gar nicht vor, ins Bett zu gehen: Er wollte unbedingt mit eigenen Augen sehen, wie auf zwei Plakatwänden, die kürzlich von einer neuen, auf dem Markt unbekannten Firma angemietet worden waren, Banner installiert werden.

    Maxim musste ein paar Stunden in der Nähe der Plakatwand auf dem 2. Murinski Prospekt warten. Um nicht direkt im Auto einzuschlafen, trank er Kaffee und schaute eine Sendung mit Ekaterina Schulman.

    Als die Straßenwerbungsarbeiter schließlich kamen, um ein blaues Banner mit einem unauffälligen QR-Code und der Aufschrift „Frohes Neues Jahr, Russland!“ aufzuziehen, grinste Maxim.

    So wurden am Morgen des 7. Dezember – genau 100 Tage vor den russischen Präsidentschaftswahlen (Nawalny war noch am Leben) – in den Nachrichten Banner einer neuen Kampagne des Fonds für Korruptionsbekämpfung gezeigt: Die QR-Codes, die noch in der Nacht zu einer Silvesterlotterie geführt hatten, leiteten die Nutzer nun zu einer Website mit dem Aufruf, wen auch immer zu wählen, nur nicht Putin. Sogar Maxim, der damalige Koordinator der Sankt Petersburger Zentrale für Untergrundaktionen des FBK, empfand damals kaum Genugtuung.

    „Die Banner werden nicht dazu beitragen, Putin zu besiegen und den Krieg zu beenden“, erklärt der Aktivist gegenüber Meduza. Maxim ist immer noch in Russland und hilft dem FBK, aber nicht mehr in der Petersburger Zentrale. „Ich werde das Gefühl nicht los, dass wir wenig Einfluss haben. Ok, wenn das System noch wackeln würde, aber der sonnenstrahlende Wladimir Wladimirowitsch hat da was Ultra-Stabiles gebaut. Und es gibt keinerlei Anzeichen, „dass irgendetwas zusammenzubrechen droht.“

    Einige Stunden später am 7. Dezember, rissen Arbeiter unter Aufsicht der Polizei die Banner herunter. Über das Jahr, das seit dieser Aktion vergangen ist, sind Maxims Zweifel am Widerstand gegen Putin gewachsen, auch aufgrund einiger Skandale innerhalb der russischen Opposition im Ausland:

    „Ich weiß nicht, warum Maxim Katz den FBK angegriffen hat. Warum Leonid Newslin den Auftrag gab, Leonid Wolkow mit einem Hammer zusammenzuschlagen – das ist quasi die Pest aus den 1990er Jahren, nur innerhalb der Opposition von heute.“

    „Besser wäre, es gäbe sie gar nicht. Die wissen nicht mal mehr, gegen wen man wirklich kämpfen muss. Es ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, darüber zu diskutieren, wer mit wem zusammengearbeitet hat, wer zu wessen Verteidigung Briefe unterschrieben hat. Doch es ist, als hätten Chodorkowski, Katz und der FBK schon vorher beschlossen, wer von ihnen das Recht hat, sich Opposition zu nennen.“

    „Nawalny hat uns allein gelassen wie Katzenbabys. Jetzt schreibt nicht mal mehr jemand aus dem Gefängnis Briefe wie: ‚Leute, keine Sorge, ich bin bei euch!‘ Er hat nur ein Vermächtnis hinterlassen: Wenn ich mal nicht mehr da bin, dann ist es eure Aufgabe, selbst starke Katzen zu werden. Man könnte denken, genau das hat die Opposition nicht geschafft.“

     

    „Entführen. Verprügeln. Anzünden“: In diesem Video verdächtigt der FBK Leonid Newslin, den Überfall auf Leonid Wolkow in Auftrag gegeben zu haben / Quelle: youtube.com/@NavalnyRu

     

    „Die Menschen wollen damit nicht in Verbindung gebracht werden“

    Interne Konflikte haben die russische Opposition in einen Sumpf aus Trübsal, Verzagen und Ekel gestürzt, so berichten unabhängige Politiker und Aktivisten auf Anfrage von Meduza ihre Sicht auf die Ereignisse von 2024.

    Der Leiter einer Organisation, die russischen Kriegsgegnern bei der Ausreise unterstützt, „schaffte es eine Woche lang nicht aus dem Bett“, da sich vor dem Hintergrund all der Skandale seine depressiven Symptome heftig verschlimmerten.

    Viele politische Gefangene seien schlicht sauer über die Darstellung der Ereignisse auf Twitter, erzählen Freiwillige des Projekts Peredatschi Siso, das politische Häftlinge unterstützt. „Viele russische Aktivisten wollen sich lieber ganz raushalten, um nicht ihre letzten Kräfte zu verschwenden“, meint etwa Darja Serenko, eine Koordinatorin der Feministischen Antikriegsbewegung FAS. Sie lebt heute in Spanien.

    Shanna Nemzowa, die Leiterin der Boris-Nemzow-Stiftung, ist sich sicher, dass in letzter Zeit ausnahmslos alle russischen Oppositionellen „toxischer geworden sind“ und „die Menschen damit nicht in Verbindung gebracht werden wollen“.

    Im Jahr 2023 war Shanna Nemzowa selbst in den Fokus einer aufsehenerregenden Geschichte geraten, als bekannt wurde, dass ein Agent des Militärgeheimdienstes GRU in ihren engsten Kreis vorgedrungen war. Es handelte sich dabei um den spanisch-russischen Staatsbürger Pablo Gonzalez (alias Pawel Rubzow), der mehrere Jahre unter falscher Identität in Kreisen der Opposition verbracht und als Journalist und Kriegsreporter gearbeitet hatte (Gonzalez war 2022 von polnischen Behörden wegen Spionage-Verdachts festgenommen worden und wurde im August 2024 bei einem internationalen Gefangenenaustausch nach Russland überführt – dek).

    Im Herbst 2024 äußerte sich der Unternehmer und Philanthrop Boris Simin, der viele Jahre den Fonds für Korruptionsbekämpfung FBK unterstützt hatte, tief enttäuscht über die Anführer der Opposition. Simin kritisierte öffentlich die Leitung des Fonds und verurteilte die Strategie, die die Organisation in den letzten Jahren verfolgt hatte – auch die letzten Projekte des FBK, unter anderem die Newslin-Recherche und die YouTube-Serie Predateli [dt. Verräter], die die Geschichte der 1990er Jahre neu interpretiert.

    „Ich finde es bedauerlich, dass dermaßen große Anstrengungen darauf verwendet werden, um Bedeutung auf einer Plattform zu erlangen, die im Grunde sehr wenig Einfluss hat“, sagte Simin Meduza über den Konflikt des FBK mit Michail Chodorkowski und anderen „Oligarchen der 1990er Jahre“. „Zu gern würde ich die Opposition lieben, doch ihre Bedeutung heute – im Krieg, für die Stabilität des Putin-Regimes und was die Frage der Widerstandskraft der Ukraine angeht – ist sehr, sehr gering.“

    Jewgeni Tschitschwarkin, ebenfalls eine bekannte Persönlichkeit, Unternehmer und Mitglied des Antikriegskomitees Russlands, hat Ende 2024 erklärt, dass er sich ganz aus der Opposition zurückziehen wolle, bis sich deren Anführer wieder „auf den äußeren Feind konzentrieren“.  Gegenüber Meduza wollte er sich dazu nicht genauer äußern.

     

    „Wie man Milliarden stiehlt und sich dann als Oppositioneller ausgibt“: Maxim Katz greift Nawalnys FBK in einem Video an / Quelle: youtube.com/@Max_Katz

    Nur wenige, die von diesen Skandalen direkt betroffen waren, tun so, als würde sie das nicht weiter bekümmern. Michail Chodorkowski, ein enger Freund und Geschäftspartner Newslins – sagte Meduza, die Konflikte würden ihn „kein bisschen deprimieren“. Der Politiker Maxim Katz ist sich sicher, dass seine aufsehenerregende Recherche über die Bänker und den FBK „das Publikum, ganz im Gegenteil, begeistern würde: Menschen möchten lieber, dass Politiker nicht reich, dafür aber ehrlich sind.“ (Vertreter des FBK lehnten es ab, für diese Recherche mit Meduza zu sprechen.)

    Der Hauptgrund für die anhaltenden Konflikte scheint für die meisten Gesprächspartner von Meduza auf der Hand zu liegen, und sie formulieren ihn alle ähnlich: Die russische Opposition befindet sich in einer Krise und fast niemand glaubt, dass ihre Anführer in nächster Zeit in Russland an die Macht kommen können.

    „Niemand hat eine Idee, wie man Putin aus dem Kreml vertreiben oder den Krieg beenden kann“, sagt Sergej Davidis, Mitarbeiter von Memorial und Leiter des Programms Podderzhka Politsakljutschennych (dt. Unterstützung politischer Häftlinge). „Deswegen beginnen die Leute, Schuldige zu suchen.“

    Die Journalistin Alexandra Garmashapowa formuliert das so: „Es ist leichter, sich untereinander zu bekämpfen, als Putin. Die Menschen agieren einfach ihre Hilflosigkeit aus.“

     

    Du schaust dir jemanden auf YouTube an und denkst: „Alter, du bist ja mächtig weit weg von der Realität.“

    Für Politiker im Exil und ihre Anhänger, die in Russland geblieben sind, wird es immer schwieriger, einander zu verstehen. Sie leben in zwei unterschiedlichen Realitäten, jede hat ihre eigenen Probleme. Deswegen wirken Konflikte zwischen oppositionellen Gruppen im Ausland besonders unangebracht, berichten die von Meduza befragten Politiker und Aktivisten.

    Die Kluft zwischen russischen Bürgern und politischen Emigranten „ist riesig – und wird immer weiter wachsen“, ist Shanna Nemzowa überzeugt. Zwei Gesprächspartner aus der russischen Zivilgesellschaft erinnern sich in einem Gespräch mit Meduza an einen der wichtigsten Protestslogans Ende 2011: „Ihr vertretet uns gar nicht.“ Das war damals nach den Wahlen gegen die Duma-Abgeordneten gerichtet, nachdem Wahlbeobachter und Journalisten schockierende Wahlfälschungen festgestellt hatten. „Das Schlimme ist, dass dieser Slogan jetzt nicht mehr nur auf die Herrschenden zutrifft, sondern auch auf die Opposition“, sagt Grigori Swerdlin vom Kriegsdienstverweigerer-Projekt Idite Lessom [dt. Geht durch den Wald bzw. Haut ab!].

    „Diejenigen, die in Russland geblieben sind, haben darauf gehofft, dass diejenigen, die ausreisen konnten, sich treu bleiben“, sagt die Journalistin und ehemalige Duma-Abgeordnete Jekaterina Dunzowa, die bei den Präsidentschaftswahlen 2024 versucht hatte, als Anti-Kriegs-Kandidatin anzutreten und immer noch in Russland lebt. „Stattdessen gab es endlose Querelen. Klar, dass die Menschen schwer enttäuscht sind“, folgert Dunzowa.

    Maxim aus Sankt Peterburg, der den FBK bei der Banner-Aktion unterstützt hat, sieht die Verantwortung für diese Kluft auch bei den Redaktionen unabhängiger Medien, die außerhalb Russlands arbeiten: „Sowohl die Opposition, als auch sie, die Medien, verlieren die Verbindung zu den Geschehnissen in Russland – das Ausmaß, die Narrative … Ich würde mir wünschen, dass die Meinungsführer, die ausgereist sind, mehr Feedback bekämen. Denn manchmal schaust du was auf YouTube und denkst nur: Alter, du bist ja mächtig weit weg von der Realität – vielleicht sitzt du da selbst in ‘nem Bunker?“

     

     

    In einem anderthalbstündigen Video verteidigt sich der FBK gegen die Vorwürfe des Bloggers Maxim Katz / Quelle: youtube.com/@NavalnyLiveChannel

    Lew Schlossberg, einer der wenigen Oppositionspolitiker, die weiterhin in Russland leben und öffentlich tätig sind (trotz des gegen ihn eingeleiteten Strafverfahrens) erklärt, dass er nicht ein Beispiel kenne, „wo ein Politiker, der gezwungen war, Russland zu verlassen, seine lebendigen und unbefangenen Verbindungen zur Gesellschaft aufrechterhalten hätte: Keine elektronische Kommunikation kann das ersetzen, was ich ‚Gespür für das Land‘ nennen möchte. Die Temperatur eines Krankenhauses kann man nur messen, wenn man in diesem Krankenhaus ist. Alles andere sind Ersatz-Impressionen.“

    Schlossberg hat wiederholt erklärt, dass seiner Meinung nach die Aktivitäten politischer Emigranten „absolut keine Verbindung zu der Zukunft unseres Landes haben“. Im August 2024 löste ein Post von Schlossberg, in dem er Überlegungen über eine „Partei aus fremdem Blut“ anstellte, die hoffe „hinter dem Schutzschild fremder Panzer“ nach Russland zurückzukehren, eine der heftigsten Diskussionen der letzten Zeit aus.

    Es war zu erwarten, dass Schlossberg von denen angegriffen werden würde, die aus dem Land fliehen mussten. Der Wirtschaftswissenschafter Konstantin Sonin (der in Abwesenheit zu achteinhalb Jahren Freiheitsstrafe wegen Falschinformationen über die Armee verurteilt wurde) nannte die Äußerungen des Politikers „Ausbrüche von zweifelhaftem Patriotismus“. Der Journalist und Koordinator zivilgesellschaftlicher Projekte, Sergej Parchomenko (in der Russischen Föderation zum „ausländischen Agenten“ erklärt), sagte, „Schlossbergs Jammertirade“ strotze nur so vor „Heuchelei, Demagogie und Geschmacklosigkeit“.

    Auch unter den politischen Emigranten sind viele der Meinung, dass sie von niemandem vertreten werden. Und das, obwohl Anführer der Opposition sich bei europäischen und amerikanischen Politikern für ihre Belange einsetzen (etwa indem sie Vorschläge für Sanktionslisten machen, im EU-Parlament über eine Vision für das Russland der Zukunft sprechen oder für die Rechte russischer Geflüchteter in den USA eintreten). Unter den Putin-Gegnern konnte sich bislang keine Struktur etablieren, die von allen anerkannt wird, als Vertretung der russischen Diaspora fungiert und deren Rechte verteidigt.

    „Es wäre wünschenswert, wenn es eine feste Gruppe geben würde, die sich regelmäßig mit konkreten Anliegen an die europäischen Politiker wendet“, sagt ein Vertreter der Initiative InTransit, die von Berlin aus politisch Verfolgte in Russland unterstützt und ihnen hilft, das Land zu verlassen. „Das sagen wir unseren Politikern immer wieder, denn das hören wir selbst immer wieder von EU-Diplomaten und Mitarbeitern des Europäischen Parlaments. Einzelinitiativen schaden nur. Die Außenministerien beschweren sich bei uns: Mal kommt der Eine, mal ein Anderer; was sollen wir dann machen? Das, was die Einen sagen oder das, was die Anderen vorschlagen?“

    Dasselbe beobachtet auch Ilja Schumanow, Antikorruptionsexperte und ehemaliger Leiter von Transparency international Russland im Exil: „Ich höre von westlichen Diplomaten, dass es großartig wäre, eine russische Tichanowskaja zu haben, also einen Anführer oder eine Koalition, die die Russen vertritt, so wie Tichanowskaja die Belarussen.

     

    „Als Bürger der Russischen Föderation kränkt es mich, dass die Interessen der Ukrainer und unserer ausgereisten Mitbürger in den Mittelpunkt gestellt werden.“   

    In den drei Jahren seit dem 24. Februar 2022 rufen praktisch alle Fragen, die im Zusammenhang mit der Ukraine stehen, in der russischen Opposition schmerzhafte Diskussionen hervor. Doch ein Thema wird besonders kontrovers diskutiert – die Unterstützung der Ukrainischen Armee. Viele ukrainische Aktivisten fordern, dass russische Kriegsgegner Geld an die Ukrainische Armee spenden. Und viele Kriegsgegner aus Russland erwidern, dass sie nicht bereit seien, die Tötung ihrer Landsleute zu finanzieren.

    Rund um diese Frage entspann sich – was absehbar war – eine enorme Anzahl verschiedener Skandale. Im Frühling 2023 postete Anna Weduta – die ehemalige Pressesprecherin Nawalnys und heute Direktorin für strategische Partnerschaften der Free Russia Foundation im Zuge dieser Auseinandersetzung auf X ein Foto, auf dem Granaten zu sehen waren. Auf einer stand geschrieben: „Euer Feind sitzt im Kreml, nicht in der Ukraine!“ Weduta kommentierte: „Bitte sehr, hier ein Screenshot von einer Granate, gekauft mit meinem Geld, mit einem schönen Gruß von mir an unsere Jungs‘.“

    Russische Propagandisten nutzten den Post für Angriffe auf den FBK. Bis heute wird er in Diskussionen in den Sozialen Medien benutzt, um zu veranschaulichen, wie Oppositionelle angeblich den Beschuss des eigenen Landes finanzieren.

    Die Russen wollten aber „eine gesunde patriotische Haltung“, und keine „Loyalität gegenüber dem Westen oder der Ukraine“, sagt Maxim, der ehemalige Aktivist beim FBK: „Man liebäugelt wohl in diese Richtung, auch wenn die Anhänger und potenziellen Wähler hier in Russland leben. Als Bürger der Russischen Föderation kränkt es mich, dass die Interessen der Ukrainer und unserer ausgereisten Mitbürger in den Mittelpunkt gestellt werden. Und wir hier in Russland werden irgendwie ausgeschlossen. Veränderungen werden nicht vom Ausland aus losgetreten – sie beginnen hier, innerhalb des Landes.“   

    Einer der von Meduza befragten Politikwissenschaftler, der sich im Exil befindet, formuliert es so: Ein Teil der russischen Opposition hat begonnen, die Lage mit „ukrainisch-westlichen Augen“ zu sehen. Mit der Darstellung, dass alle Russen für den Krieg verantwortlich sind, „lässt es sich im Westen gut und bequem leben – aber sie bietet keinerlei Chancen auf größere Sympathie in Russland“, meint der Experte.

    Anhand folgender Geschichte lässt sich gut nachvollziehen, wie sich die politische Rhetorik verändert, sobald ein Politiker Russland verlässt. Ilja Jaschin, der 2022 für seine Antikriegsaktivität eingesperrt wurde, kam 2024 infolge eines großen Gefangenenaustauschs zwischen dem Westen und Russland frei. Er landete in Europa (obwohl er es kategorisch abgelehnt hatte, seine Heimat zu verlassen). Gleich darauf bezeichnete er die Beendigung des Krieges als Priorität seiner politischen Arbeit. Der Krieg, so erklärte er, sei in eine „blutige Sackgasse“ geraten, beide Seiten sollten sich an den Verhandlungstisch setzen. Diese Worte lösten auf ukrainischer Seite und bei den Befürwortern einer Fortsetzung des Krieges bis zu einem Sieg der Ukrainischen Armee und der Wiederherstellung der Grenzen von 1991 heftigen Unmut aus.

    Bereits am dritten Tag nach dem Austausch pflichtete der Politiker seinen Kritikern bei. In einem Video-Stream erklärte er, dass seine Schlussfolgerung letztlich „aus dem Zusammenhang gerissen“ worden sei und dass nicht ein einziges Stück der Ukraine „Putin überlassen“ werden dürfe (weil der sonst nur „aggressiver“ werde). Jaschin gab auch zu, dass ihm klar geworden worden sei, dass er „seine Worte besser hätte wählen“ sollen, wenn man berücksichtigt, wie viele Ukrainer ihre Liebsten aufgrund der Handlungen Russlands verloren hätten. Die neuen Aussagen riefen wiederum Kritik in einem anderen Teil der Öffentlichkeit hervor – bei denen, die meinen, dass Politiker im Exil in erster Linie die Interessen der Russen vertreten sollen, die sich gegen den Krieg positionieren. (Jaschin lehnte es ab, für diesen Text mit Meduza zu sprechen.)

    Die Berliner Kundgebung am 17. November, zu der Julia Nawalnaja, Ilja Jaschin und Wladimir Kara-Mursa aufgerufen hatten, war im Jahr 2024 eine der wenigen Einheit stiftenden Ereignisse für die russische Opposition – ungeachtet dessen, dass sie für veraltete Losungen kritisiert wurde. Doch auch im Zusammenhang mit dieser Veranstaltung gab es Ärger: Im Anschluss an die Demonstration kam es zu einem riesigen Skandal wegen einer russischen Flagge, die ein Teilnehmer zu dem Berliner Protestmarsch mitgebracht hatte.

     

    „Die Opposition hat sich in eine Ansammlung von Bloggern mit Starallüren und Millionen Followern verwandelt“

    Da sie keine Möglichkeit haben, real um politische Macht zu kämpfen oder zumindest innerhalb des Landes Aktionen durchzuführen (Proteste sind in Russland verboten und werden brutal unterdrückt), haben sich Oppositionelle auf mediale Instrumente fokussiert. In Bezug auf Nachrichten-Produktion konkurrieren sie mit den unabhängigen Medien und versuchen, staatliche Propaganda zu bekämpfen.

    „Die Opposition hat sich in eine Ansammlung von Bloggern mit Starallüren und Millionen von Followern verwandelt“, meint Alexandra Garmashapowa. „Man hat das Gefühl, dass sie in ihrer eigenen Welt leben. Ich erinnere mich, wie sie auf einer Versammlung des Antikriegskomitees im Frühling des Jahres 2023 anfingen, die Zahl ihrer Abonnenten auf YouTube zu vergleichen. Das wirkte wirklich jämmerlich. Wir alle sitzen in einem sinkenden Schiff, das sich in einem sehr schlechten Zustand befindet. Und jetzt sollen wir ernsthaft klären, wer wie viele Abonnenten hat?“

    „Ja, Politiker verwandeln sich in Medien“, räumt Maxim Katz ein, der immer noch häufiger als „Blogger“ denn als „Politiker“ bezeichnet wird. „Ich versuche, nicht abzuheben. Wir müssen den Russen zu verstehen geben, dass man auf Russisch immer noch Dinge sagen kann, die sich von Propaganda unterscheiden. Damit man im richtigen Moment, wenn sich eine Möglichkeit ergibt, legal in die russische Politik eingreifen kann, sollte man schnell eine politische Partei gründen.“

    Wobei politische Blogger und Medien praktisch keine eigene Agenda setzen würden, so beklagen einige Gesprächspartner von Meduza aus der Szene: „Sie sind völlig reaktiv: In Russland passiert etwas und hier wird reagiert“, sagt der Politologe Iwan Preobrashenski. Eine Ausnahme ist der FBK, der sowohl Serien wie Verräter als auch investigative Filme veröffentlich, wie sie der FBK früher produzierte. Zum Beispiel über das Gehalt von Rosneft-Chef Igor Setschin.


    „Einige Leute sind bereit, ihre Reputation zu Markte zu tragen“

    Einige Aktivisten, mit denen Meduza gesprochen hat, räumen ein, dass sie sich erst nach den Konflikten innerhalb der Opposition im Jahr 2024 zu fragen begannen, wie sich die politischen Organisationen, Menschenrechts-Projekte und Medien in der Emigration eigentlich finanzieren.

    So erfuhr die Öffentlichkeit zum Beispiel erst durch die Recherchen des FBK zum Überfall auf Leonid Wolkow davon, dass Leonid Newslin eine ganze Reihe von Medien-Projekten finanziert hatte (etwa den oppositionellen Kanal Sota, der seine Nachrichten vor allem auf Telegram und in anderen Sozialen Netzwerken veröffentlicht oder sogar den YouTube-Kanal Nawalny Live). Der Film von Maxim Katz über die Bankiers führte zu einer Diskussion darüber, ob es für politische Organisationen wie den FBK überhaupt zulässig ist, Geld von Unternehmern mit zweifelhaftem Ruf anzunehmen.

    Politische Bewegungen und Projekte zum Schutz der Menschenrechtsorganisationen existieren nicht alleine dank privater Spender. Sie bekommen auch Unterstützung aus der EU und den USA. Finanzierung aus dem Ausland ist für die meisten Empfänger in doppelter Hinsicht heikel: zum einen was ihre Sicherheit, aber auch was ihre Reputation betrifft. Deshalb dringt wenig darüber an die Öffentlichkeit, welche Organisationen über welche Strukturen finanziert werden.

    Nach Einschätzung von Personen, mit denen Meduza sprechen konnte, spielte in den vergangenen Jahren die Free Russia Foundation (FRF) eine zentrale Rolle dabei, die amerikanischen Gelder zu verteilen. Diese Nichtregierungsorganisation wurde 2014 von russischen Emigranten in den USA gegründet. Sie unterstützt politische Häftlinge und Menschen, die das Land aus politischen Gründen verlassen haben. Und sie „kämpft gegen Propaganda“. 2019 wurde die FRF vom russischen Staat zur „unerwünschten Organisation“ erklärt. 2024 stufte das Justizministerium die Stiftung als „extremistisch“ ein). „Sie haben große Summen von Stiftungen bekommen, vor allem aus Amerika. In der Folge wurden sie zu einer einflussreichen Institution, einfach nur, weil sie Geld hatten“, erklärt einer, der sich mit dem System der Verteilung dieser Gelder auskennt im Gespräch mit Meduza.

    Gleichzeitig wird die Free Russia Foundation ständig von Medien und Bloggern in die Mangel genommen, die mit Leonid Newslin in Verbindung stehen. Das Portal Agenstwo zählte in Medien, die Newslin nahestehen, mehrere Dutzende Artikel, die die FRF kritisieren.

    Im Dezember gab Natalia Arno, die Chefin der FRF, bekannt, sie sei in London Opfer eines Überfalls geworden: Ein Unbekannter sei mit einem Scooter auf sie zugefahren, habe ihr das Handy aus der Hand gerissen und gerufen: „Viele Grüße von Newslin!“ Der Zwischenfall ereignete sich wenige Minuten nach einem Treffen zwischen Arno und Michail Chodorkowski. Newslin lehnte einen Kommentar zu diesen Vorwürfen ab.

    Der Stopp der Unterstützung durch die Agentur USAID Anfang 2025 war ein schwerer Schlag für alle Organisationen, die auf finanzielle Unterstützung aus dem Ausland angewiesen sind – offenbar auch für die Free Russia Foundation. Wie groß die Mittel genau waren, die USAID für Projekte im Zusammenhang mit Russland ausgegeben hat, ist nicht bekannt. Ebenso ungewiss ist, ob es gelingt, die nun entstandenen Lücken mit europäischer Hilfe zu schließen.

    Allerdings begannen die finanziellen Probleme der russischen Opposition im Ausland bereits vor Trumps Rückkehr ins Weiße Haus. Und einer der Gründe für den sogenannten „Zweiten Krieg um die Fördertöpfe“, wie der Kampf um die Ressourcen bisweilen sarkastisch genannt wird, waren wiederum interne Konflikte.

    „Wir dachten, ihr seid Kämpfer für die Menschenrechte und grundsätzlich anders als Putin. Aber wenn ihr mit Hämmern aufeinander einschlagt, dann stellt das alle in ein schlechtes Licht“, gibt Davidis von Memorial die Reaktion eines westlichen Politikers auf die Vorwürfe gegen Newslin wieder.

    Einige Stiftungen hätten daraus den Schluss gezogen, dass sie die russischen Empfänger künftig noch sorgfältiger überprüfen sollten. So berichtete es der ehemalige Vorsitzende von Transparency International – Russland im Exil, Ilja Schumanow.

    Am stärksten würden darunter kleine Initiativen leiden, glaubt der Politikwissenschaftler Preobrashenski: „Die Bürokraten im Westen werden weiter mit denen zusammenarbeiten, die sie bereits kennen. Aber alle Graswurzel-Bewegungen stehen jetzt unter Verdacht, sie hätten solch ‚dubiose Sponsoren wie der FBK‘, und alle bisherigen Unterstützer werden ganz genau unter die Lupe genommen.“

    Private Gelder, die in die Zivilgesellschaft fließen, werden häufig nach dem Prinzip „Vitamin B“ verteilt, sagt Shanna Nemzowa. „Das führt dazu, dass die Spender häufig versuchen, sich Loyalität zu erkaufen.“ Grigori Swerdlin pflichtet ihr bei: „Es gibt Leute, die bereit sind, ihre Reputation geradezu zu Geld zu machen.“ Die russische Diaspora und viele ihrer intellektuellen Projekte seien „schlichtweg ein Netzwerk von Dienstleistern, die alle Interessen von irgendjemandem bedienen“, sagt Preobrashenski über die privaten Spender russischer Abstammung. „Es gibt sehr wenige unabhängige Leute.“

     

    „Ich kann keine Kraft mehr aufbringen. Und ich weiß auch nicht, wozu“

    Seit dem 24. Februar leben Aktivisten innerhalb und außerhalb von Russland in verschiedenen Welten. Diese Diskrepanz vertieft die große Spaltung in der russischen Zivilgesellschaft.

    Ein Mittel, um diesen Graben zu überwinden, wäre „damit auzuhören, den Menschen ständig mit Prügelstrafe zu drohen“, glaubt Sergej Dawidis von Memorial. Seiner Meinung nach könnte das auch dazu beitragen, die soziale Basis des Widerstands gegen Putin zu verbreitern und auch Russen anzuziehen, die noch unentschieden sind. Alexandra Garmashapowa stimmt dieser Ansicht zu: „Die Opposition macht einen Fehler, wenn sie diese Unentschiedenen und sogar die Kriegsbefürworter von vornherein für dumm erklärt“, sagt die Journalistin. „Wenn du die Leute, die dir nicht gefallen, einfach ignorierst, verschwinden sie deshalb nicht.“

    Die Politikwissenschaftlerin Margarita Sawadskaja weist im Gespräch mit Meduza darauf hin, dass sich die Oppositionellen, die ins Ausland geflohen sind, schwer damit tun, Themen aufzugreifen, die für die Menschen in Russland relevant sind, und gleichzeitig eine gute Zusammenarbeit mit dem Westen aufzubauen. Dies sei ein „schwieriges Unterfangen“, findet Sawadskaja: „Die Hauptaufgabe besteht gar nicht so sehr darin, die Beziehungen zueinander am Leben zu halten, sondern das Ansehen im Westen zu wahren. Man muss sehr darauf achten, eine Linie zu finden, die von den Partnern im Westen mitgetragen werden kann.“

    Derweil sind die Erwartungen der westlichen Staaten, die nach wie vor die russische Opposition unterstützen, allem Anschein nach bescheiden: Trotz aller Konflikte setzen sie nach wie vor darauf, dass die unterschiedlichen politischen Gruppierungen lernen, miteinander zu kooperieren und gemeinsame Aktionen durchzuführen, erzählt ein Gesprächspartner von Meduza.

    Iwan Preobrashenski glaubt, der Westen sähe es nicht gerne, wenn die Opposition ihre Agenda radikalisieren würde: „Zum Beispiel will niemand Geld für echte Anti-Kriegs-Aktionen geben, auch nicht für subversive. 2023 war ich auf einer Veranstaltung, an der auch europäische Politiker teilgenommen haben. Die haben von den russischen Veranstaltern verlangt, dass noch nicht einmal das Wort ‚Kampf‘ benutzt werden darf: ‚Es darf auf keinen Fall der Eindruck entstehen, dass wir direkte Aktionen in Russland unterstützen.‘“ 

    Nachdem Chodorkowski [im Juni 2023] seine Unterstützung für den Prigoshin-Aufstand bekundet hatte, hätten die US-Stiftungen ihren Geldempfängern, die mit Chodorkowski zusammenarbeiteten, klargemacht, dass sie „keine Anträge mehr zu stellen bräuchten“, so erzählt es Preobrashenski. Chodorkowski selbst bestätigte diese Aussage im Gespräch mit Meduza, ging aber nicht darauf ein, um welche Stiftungen es sich genau handelte:

    „Zum Umsturzversuch von Prigoshin hatte ich einen sehr konfrontativen Auftritt vor Russland-Experten im US-Außenministerium“, erinnert sich Chodorkowski. „Die verstehen alle sehr gut, dass erst eine Spaltung in der Elite zu einem Regimewechsel in Russland führen kann. Aber ein ausgewachsenes totalitäres Regime spaltet sich nicht in die Guten und die Bösen. Es spaltet sich in Böse und Böse. Das ist allen klar! Aber der Begriff ‚Regime Change‘ ist in Washington tabu.“

    Aktivisten und junge Politiker, die ihre Aktivitäten in den Untergrund verlegt haben, blicken skeptisch auf ihre eigenen Erfolgschancen. „Viele von uns werden die Ergebnisse ihrer Arbeit zu Lebzeiten nicht mehr erleben“, ist [die feministische Künstlerin] Darja Serenko überzeugt. „Sich damit abzufinden, ist sehr schwer. Du hast das Gefühl, du arbeitest ins Leere, im Nebel, ins Nichts.“

    Etwa jeder Dritte der Aktivisten und Politiker, mit denen Meduza für diese Recherche gesprochen hat, war der Ansicht, dass der Opposition nichts anderes übrigbleibe als abzuwarten, bis Putins autokratisches Regime von selbst zusammenbricht. Letztlich sei kein Aktivismus in der Lage, diesen Prozess zu beschleunigen. Derweil sei es fraglich, ob überhaupt irgendjemand aus den Reihen der heutigen Oppositionsführer dann einen wichtigen Posten im neuen System einnehmen könne, glaubt Shanna Nemzowa.

    Sowohl politische Beobachter als auch einige Aktivisten gehen davon aus, dass eine neue Generation politischer Anführer in Russland heranwachsen wird. „Das werden ganz neue Leute sein. Junge, die noch keine Enttäuschungen erlebt haben, die wissen, was sie wollen und in was für einem Land sie leben wollen“, ist Alexandra Garmashapowa überzeugt.

    „Alles, was die russische Opposition je getan hat, wurde am 24. Februar zunichte gemacht – das Gute wie das Schlechte“, glaubt der Politologe Iwan Preobrashenski. „Aber sie selbst beginnen erst jetzt langsam, das zu begreifen. Der heftige Aktivismus, den wir derzeit beobachten, ist nichts anderes als der Versuch, sich dem unaufhaltsamen Lauf der Geschichte entgegenzustemmen. Wenn sie nicht ihnen nicht klar wird, dass ihre Rolle jetzt ist, neue Organisationen und neue Anführer zu unterstützen und zu finanzieren, die ein besseres Gespür dafür haben, was gerade passiert, dann schreiben sie sich selbst ab.“

    Sergej Dawidis von Memorial hingegen ist angesichts der jüngsten hitzigen Auseinandersetzungen unterschiedlicher oppositioneller Gruppen „nur von einzelnen Personen enttäuscht“, aber nicht von der oppositionellen Bewegung im Ganzen. „Das ist kein Weltuntergang, es kommen neue Leute. Die Jungen, die keinen formellen Führungsstrukturen angehören, fühlen sich nicht vertreten. Aber nur vorläufig.“

    Die 21-jährige Olessja Kriwzowa ist zum Beispiel eine von denen, die sich buchstäblich „nicht vertreten“ fühlen. Sie wurde in der Oblast Belgorod geboren, noch als Teenager begann sie, die Videos von Alexej Nawalny zu schauen. Am 23. Januar 2021 nahm Kriwzowa zum ersten Mal an einer Demonstration teil, um den Gründer des Fonds für Korruptionsbekämpfung zu unterstützen [Nawalny war wenige Tage zuvor nach seiner Behandlung aus Deutschland nach Russland zurückgekehrt und noch im Flughafen festgenommen worden war – dek]. Im März 2022 nahm sie zum ersten Mal an einer Demonstration gegen den Krieg teil. Sie verteilte auch Flugblätter des Feministischen Widerstands (FAS). Am Morgen des 26. Dezember 2022 brach die Polizei die Tür zu ihrer Wohnung auf.

    Gegen Kriwzowa wurden zwei Strafverfahren wegen Anti-Kriegs-Postings eingeleitet, die Finanzaufsichtsbehörde Rosfinmonitoring trug sie ins Register der Terroristen und Extremisten ein. Im März 2023 gelang Kriwzowa mit Hilfe des Projekts Wywoshuk die Flucht aus dem Hausarrest. Sie verließ ihre Wohnung und schnitt die elektronische Fußfessel ab.

    Heute lebt Kriwzowa in Kirkenes im Norden Norwegens. Neben ihrem Fernstudium an der Universität Vilnius schreibt sie für die Zeitung The Barents Observer Artikel über Russland und den Krieg. Ihren eigenen Worten nach hat sie sich von den Kreisen der russischen Opposition „stark abgegrenzt“: „Ich habe keine Kraft dafür – und ich wüsste auch nicht, welchen Zweck das haben könnte.“

    Kaum war sie mit der Vorgänger-Generation Oppositioneller in Kontakt gekommen, war ihr auch schon die Lust vergangen, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, waren für Olessja gar nicht die Konflikte, sondern dass „eine einflussreiche Person aus der russischen Opposition“ begann, sie zu bedrängen: „Bei einem Treffen begann er plötzlich sehr viel über Sex zu reden, wobei ich darum keineswegs gebeten hatte. Ich bin einfach weggerannt. Später habe ich gehört, dass ich nicht die einzige war, der so etwas passiert ist.“

    „Ich kann gut für mich selbst sprechen“, sagt Olessja Kriwzowa. „Solange wir nicht anständig und sauber werden, kann nichts Gutes dabei herauskommen.“

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    „Das unbestrafte Böse wächst“

    Im Herbst 2022 − ein halbes Jahr nachdem Russland, teilweise über Belarus, die Ukraine mit einem brutalen Angriffskrieg überzog − zeichnete das Nobelpreiskomitee ausgerechnet Menschenrechtsaktivisten aus den am Krieg beteiligten Ländern gemeinsam mit dem Friedensnobelpreis aus: das im eigenen Land mittlerweile verbotene Memorial aus Russland, den in Belarus aus politischen Gründen inhaftierten Ales Bjaljazki und die ukrainische NGO Zentr hromadjanskych swobod (dt. Zentrum für bürgerliche Freiheiten). 

    „Die Preisträger repräsentieren die Zivilgesellschaft in ihren Ländern. Seit vielen Jahren stehen sie für das Recht, die Herrschenden zu kritisieren und die Grundrechte der Bürger zu verteidigen. Sie stecken herausragende Bemühungen in die Dokumentation von Kriegsverbrechen, Menschenrechtsverstößen und Machtmissbrauch. Gemeinsam stehen sie für die Bedeutung der Zivilgesellschaft für Frieden und Demokratie”, begründete die Jury damals ihre Entscheidung. Besonders aus der Ukraine folgte heftige Kritik an der gemeinsamen Auszeichnung, weil sich die Angriffsopfer mit den Aggressoren gleichgestellt fühlten. 

    Im Interview mit dem russischen Exil-Medium Meduza berichtet nun die Leiterin des ukrainischen Zentrums für bürgerliche Freiheiten, Olexandra Matwiitschuk, von ihrer jahrelangen und psychisch belastenden Arbeit, zu der stets auch die Kooperation mit Menschenrechtlern aus Russland gehörte.

    Foto © STR/NurPhoto/imago images
    Foto © STR/NurPhoto/imago images

    Lilija Japparowa, Meduza: Frau Matwiitschuk, Sie beobachten und dokumentieren seit mehr als neun Jahren, wie Russland in der Ukraine Kriegsverbrechen begeht. Fühlen Sie sich manchmal hilflos? 

    Olexandra Matwiitschuk: Ein Gefühl von Hilflosigkeit ist das, was Russland in uns hervorrufen möchte. Und so ein Gefühl von Hilflosigkeit liegt dem modus operandi der russischen Gesellschaft zugrunde, die den Standpunkt einnimmt: „Was können wir schon tun?“, „Das entscheidet die Regierung, die wissen das besser“, „Wir wissen ja nicht alles“, „Ich bin nur ein kleines Rädchen“. Diese Haltung ist erbärmlich. Die Menschen in Russland können die Verantwortung nicht von sich schieben. Widerstand ist das einzig Richtige. 

    Als die Invasion begann, war Putin ja nicht der Einzige, der dachte, in drei Tagen sei Kyjiw erobert – unsere internationalen Partner glaubten das auch. Keiner glaubte an uns – und der Kampf für die Freiheit war die alleinige Entscheidung der ukrainischen Bevölkerung. Wie man sieht, sind die Menschen viel stärker, als sie selbst erwartet hätten. Und so kann die Mobilisierung einer großen Zahl gewöhnlicher Leute den Lauf der Geschichte verändern.       

    In Ihrer Kolumne für Ukrajinska Prawda schrieben Sie: „In diesem Jahr ist mir plötzlich bewusst geworden, dass ich mein ganzes Leben der Arbeit für das Recht gewidmet habe, aber es funktioniert überhaupt nicht. Die Antwort ‚Gebt uns Waffen!‘ auf die Frage, wie man der Ukraine helfen könne – ist nicht das, was man von einer Menschenrechtlerin erwartet, aber es ist die Wahrheit. Weil das ganze System der UNO nicht in der Lage ist, die russischen Gräueltaten aufzuhalten.“ Haben Sie seit dem russischen Überfall Ihre Mission als Menschenrechtsaktivistin neu überdacht?

    In dieser meiner Formulierung liegt kein Widerspruch. Denn ein Land, das angegriffen wird, hat das verbriefte Recht auf Selbstverteidigung. Der Rahmen, den der Schutz der Menschenrechte vorgibt, ist Gewaltlosigkeit, und den übertrete ich nicht.  

    Letztes Jahr hat der Internationale Gerichtshof der UNO einstweilige Verfügungen erlassen und Russland verpflichtet, seine Truppen aus der Ukraine abzuziehen. Aber Russland ignoriert das internationale Recht. Ich glaube ja, dass das nur vorübergehend ist und wir − genauso wie nach dem Zweiten Weltkrieg − seine Gültigkeit wiederherstellen werden. Aber bis dahin geht es ums Überleben – und dafür braucht man Waffen. Das ukrainische Volk hat entschieden, für die Freiheit und die Menschenwürde zu kämpfen. Also gebt uns Waffen, damit wir nicht mit bloßen Händen in den Kampf ziehen müssen. 

    Wie wurden Sie überhaupt Expertin für Menschenrechte?

    Als Schülerin lernte ich den ukrainischen Philosophen und Schriftsteller Jewhen Swerstjuk kennen. Er nahm mich unter seine Fittiche, führte mich in ukrainische Dissidentenkreise ein. Diese Menschen hatten im Kampf gegen die totalitäre Sowjetmaschinerie den Mut zu sagen, was sie dachten, und so zu leben, wie sie sagten. Sie inspirierten mich dazu, Jura zu studieren, um mich ebenfalls für die Freiheit und Würde des Menschen einzusetzen.

    2007 hatten die Leiter der Helsinki-Komitees verschiedener Länder die Idee, in Kyjiw eine Organisation zu gründen, die die Rechte und Freiheiten nicht nur auf nationaler Ebene, sondern in unserer gesamten Region schützen sollte. Damals war die Ukraine in einer Reihe von Nachbarländern eine schillernde Ausnahme: Während in Russland schon damals eine repressive Gesetzgebung installiert wurde, versuchte dagegen die Regierung in der Ukraine nach der Orangenen Revolution, gewisse demokratische Entwicklungen voranzubringen. Man atmete freier, die Arbeit fiel leichter. 

    Wir witzelten, wir hätten einen durchgedrehten Kopierer

    So entstand das Zentr hromadjanskych swobod (ZHS, dt. Zentrum für bürgerliche Freiheiten). Ich wurde seine erste Leiterin – und ich muss sagen, dass sich die Initiatoren unserer Organisation verschätzt hatten: Wenige Jahre später kam Viktor Janukowitsch an die Macht. Er begann damit, eine Machtvertikale zu errichten und Andersdenkende zu unterdrücken. Es ging ganz von selbst, dass sich das ZHS mehr um Menschenrechte und Freiheiten in der Ukraine kümmerte, und nicht, wie ursprünglich geplant, auf internationaler Ebene. 

    In der Ukraine wurden damals 1:1 die Gesetze der Russischen Föderation übernommen. Russische Menschenrechtler nannten ihre Staatsduma einen durchgedrehten Drucker, und wir witzelten, wir hätten einen durchgedrehten Kopierer, weil die Gesetze, die in Russland beschlossen wurden, nach einer Weile als Gesetzesentwürfe auch bei uns auf dem Tisch lagen. 

    2014 war das ZHS die erste Menschenrechtsorganisation, die mobile Teams auf die Krim und in den Donbas schickte. Was haben Sie dort gesehen?

    Das erste Team dieser Art bildeten wir Ende Februar 2014, als auf der Krim die so genannten „grünen Männchen“ auftauchten – Russland und Putin persönlich dementierten damals, dass das russische Soldaten waren. Wir begriffen noch gar nicht, dass ein Krieg begonnen hatte: Es ging um die Revolution der Würde, wir schliefen nur drei bis vier Stunden täglich, und an unsere gerade erst entstandene Initiative Euromaidan-SOS wandten sich hunderte Menschen, die geprügelt, gefoltert und aufgrund falscher Anklagen vor Gericht gestellt worden waren. Für Reflexion hatten wir weder Zeit noch Energie. 

    Später, im April 2014, als in den Medien der Name Igor Girkin-Strelkow auftauchte, rief mich ein Kollege aus dem mittlerweile in Russland verbotenen Menschenrechtszentrum Memorial an. Ich erinnere mich noch gut an seine Worte: „Sascha, unsere Todeslegionen sind zu euch gekommen.“

    Ich wunderte mich damals sehr über diese Ausdrucksweise, die wie ein Zitat aus einem Roman klang; noch dazu aus dem Mund dieses sonst sehr beherrschten Gesprächpartners, der schon in vielen Kriegen tätig war. Erst als wir es in den von Russland okkupierten Gebieten mit Verschleppungen, Folter und extralegaler Todesstrafe zu tun bekamen, wurde mir klar, was er meinte.    

    Wir dokumentieren menschliches Leid

    Seit dem 24. Februar 2022 haben Sie zur Dokumentation von Kriegsverbrechen des russischen Militärs viele regionale Menschenrechtsorganisationen hinzugezogen. Wie funktioniert das?

    Wir haben uns mit dutzenden, vorwiegend regionalen Organisationen zur Initiative Tribunal dlja Putina (dt. Tribunal für Putin) zusammengeschlossen – und uns das ehrgeizige Ziel gesetzt, jedes einzelne Verbrechen in jedem noch so kleinen Dorf in jeder Oblast der Ukraine zu dokumentieren. 

    Das betrifft nicht mehr nur vereinzelte illegale Verhaftungen, das Verschwinden von Menschen, Folter oder Tötung von Zivilisten, was wir zuvor schon dokumentierten – jetzt sind noch größer angelegte illegale Deportationen, Erschießungen und der Einsatz verbotener Waffen an dicht besiedelten Orten hinzugekommen. Alle denkbaren Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

    In befreiten Gebieten befragen wir Zeugen und Opfer, in besetzten Gebieten richten wir ein Monitoring ein. Und wir verifizieren Daten aus öffentlichen Quellen. In unserer Datenbank haben wir jetzt über 49.000 Fälle von internationalen Verbrechen. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs.  

    Wie suchen Sie nach Zeugen?

    Da weiß ich von den mobilen Teams, die in den befreiten Oblasten Kyjiw, Charkiw und Cherson tätig waren: Es war für sie noch nie ein Problem, Opfer und Zeugen zu finden. Denn egal, in welches Dorf man kommt – überall ist etwas passiert. In jedem Dorf gibt es eine riesige Menge Schmerz. Wir dokumentieren menschliches Leid.  

    Wie steht es um die Psyche derjenigen, die das Monitoring durchführen?

    Es gibt Sachen, auf die man sich einfach nicht vorbereiten kann. Mir fehlen noch immer Worte dafür, wie man so einen vollumfänglichen Angriff miterlebt. Es ist der totale Verlust jeglicher sozialer Netze und Strukturen. Man verliert die Kontrolle über sein Leben, weil man nicht einmal die nächsten paar Stunden planen kann: Es kann jederzeit ein Luftalarm kommen. Aber du musst weiterarbeiten − in dem Wissen, dass es weder für dich noch für deine Angehörigen einen sicheren Ort gibt, um sich vor den russischen Raketen zu schützen. 

    Bestimmte Verbrechen erschüttern ganze Gemeinden

    Jeder hat seine Grenzen. Ich zum Beispiel befrage keine Kinder. Ich habe einfach das Gefühl, dass ich das nicht kann. Ich bin ein sehr empathischer Mensch, und bei Kindern … Aber viele meiner Kollegen befassen sich mit dem Schutz von Kinderrechten, und dank ihrer Arbeit habe ich von der Geschichte eines Jungen erfahren, der mit seiner Mama in Mariupol lebte. Während die russische Armee systematisch die Stadt vernichtete, versteckten sie sich in einem Keller. Der Junge wurde trotzdem verletzt, er kann nicht mehr gehen. Seine ebenfalls verletzte Mutter schaffte es mit letzten Kräften, ihren Sohn in Sicherheit zu bringen. Dann starb sie in seinen Armen. Ich weiß nicht, wie man so etwas überleben kann.    

    Wie kann man sexuelle Gewaltverbrechen dokumentieren?

    Sie werden oft „Schamverbrechen“ genannt: Oft sind Personen, die sexuelle Gewalt erlebt haben, nicht bereit, den Behörden oder Menschenrechtsaktivisten davon zu erzählen. In erster Linie muss man diesen Menschen helfen, wieder auf die Beine zu kommen – danach können sie selbst entscheiden, ob sie das Erlebte bezeugen und vor Gericht gehen wollen.

    Ich habe beispielsweise Menschen befragt, die zusammen auf besetztem Gebiet festgehalten wurden. Zeugen erzählten mir von regelmäßigen Vergewaltigungen, aber das Opfer erwähnte mit keinem Wort die sexuelle Gewalt. Obwohl die Person mir alle anderen, extrem brutalen Folterungen detailreich schilderte. 

    Ein solches Verbrechen erschüttert die ganze Gemeinde. Das Wirkprinzip ist einfach: Die betroffene Person schämt sich, ihre Angehörigen fühlen sich schuldig, weil sie sie nicht beschützen konnten, und alle anderen haben Angst, dass ihnen dasselbe widerfahren könnte. All das verringert die Chance auf einen gemeinsamen Widerstand.    

    Im März 2022 haben wir auch ein Merkblatt für Menschen erstellt, die solche Gewalt erfahren haben. Da gibt es einen Abschnitt, der die aktuellen Umstände besonders gut darstellt. Wir haben ihn zusammen mit ukrainischen Gynäkologen verfasst – es geht um konkrete Selbsthilfe nach einer Vergewaltigung, wenn man sich auf besetztem Territorium befindet und sich nicht einmal gefahrlos an einen Arzt wenden kann. 

    Was berichten Ihnen Menschen, die in russischer Kriegsgefangenschaft waren?

    Seit 2014 habe ich hunderte Menschen befragt: Ihnen wurden Nägel ausgerissen, Knie zerschmettert, mit Löffeln die Augen aus den Höhlen gepult, sie wurden in Holzkisten gepfercht, ihnen wurden Tätowierungen aus der Haut geschnitten, Gliedmaßen abgehackt, Stromkabel an den Genitalien befestigt … Alles, was dem russischen Militär und den Geheimdiensten einfiel. Das machen sie mit den Menschen einfach nur, weil sie es können. Rationale Gründe … Für Folter kann es keine rationalen Gründe geben. Aber hier gibt es nicht mal irrationale. 

    Das ist wahrscheinlich der am besten dokumentierte Krieg aller Zeiten

    Ein Mann erzählte mir, dass er immer noch überall das Geräusch von Klebeband hört, wie es von der Rolle gezogen wird. Weil dort, wo er eingesperrt war, die Menschen mit Klebeband gefesselt wurden – und dann geprügelt. Ein anderer sagte: Noch schlimmer als selbst gefoltert zu werden, sei es, andere leiden zu hören. Zu hören, wie sie darum betteln, umgebracht zu werden, um der Qual und Erniedrigung zu entkommen. Jemand erzählte, wie ein Vater und sein Sohn voreinander gefoltert wurden. Um es noch schmerzhafter zu machen. 

    Der gemeinsame Nenner ist: Die Russen machen das, weil sie es können. 

    Wie können Sie verfolgen, was mit Ukrainern passiert, die in besetzten Gebieten leben oder nach Russland gebracht wurden – in Auffanglager, Kinderheime, Gefängnisse?

    Auf Mechanismen der Rechtstaatlichkeit können wir uns nicht immer verlassen, dafür aber auf die Menschen. Es gibt überall Leute, die jemandem helfen, jemanden retten wollen – auch in den besetzten Gebieten und in der Russischen Föderation. Zudem stehen uns hochentwickelte digitale Werkzeuge zur Verfügung – das ist wahrscheinlich der am besten dokumentierte Krieg aller Zeiten. Um die Täter zu identifizieren, braucht man manchmal gar nicht vor Ort zu sein. Das wissen die Täter aber nicht.   

    Was haben Sie über die Brutalität der russischen Soldaten gelernt?

    Russland setzt Kriegsverbrechen als Methode der Kriegsführung ein, versetzt die Zivilbevölkerung absichtlich in Angst und Schrecken, um ihren Widerstand zu brechen. Das ist eine Instrumentalisierung menschlichen Leids. Und das ist, wie wir im Studium gelernt haben, normalerweise eine Methode, auf die schwache Armeen zurückgreifen, die sich ihrer Stärke nicht sicher sind.   

    Die russische Armee hat in Tschetschenien, Georgien, Mali, Syrien und Zentralafrika Kriegsverbrechen begangen – und keiner wurde je bestraft. Diese Kultur der Straflosigkeit hat meiner Meinung nach dazu geführt, dass die Russen glauben, mit den Menschen alles machen zu können, was ihnen einfällt. 

    Dokumentieren Sie auch Kriegsverbrechen der ukrainischen Streitkräfte?

    Wir dokumentieren alle Verbrechen, unabhängig davon, wer sie begangen hat. So lautet unsere Position seit 2014. Wir sind Menschenrechtler, und es wäre seltsam, wenn wir das anders handhaben würden. 

    Seit dem 24. Februar 2022 fließen alle Informationen in einer Datenbank zusammen, und so kann ich zweifellos belegen: Die von uns dokumentierten Verbrechen wurden vorwiegend vom russischen Militär begangen. Aber Menschenrechte können nicht in Prozent gemessen werden: Auch Einzelfälle sind schrecklich. 

    Krieg ist eine enorme Herausforderung für das menschliche Wertesystem, aber die ukrainische Gesellschaft kann immerhin eingreifen: Anklage erheben, an die Medien gehen, Besuche internationaler Organisationen in den Gefängnissen zulassen. Ich will nicht behaupten, dass das alles einfach ist: Wir sind ein Land im Transformationsprozess: Nach dem Fall des autoritären Regimes haben bei uns die Reformen im Strafvollzug und in der Justiz erst begonnen. Aber wir haben immerhin Optionen. Wenn wir hingegen von russischen Kriegsverbrechen sprechen, dann gibt es diese Möglichkeiten nicht.     

    Sie schrieben in derselben Kolumne, es gebe keinen einzigen internationalen Gerichtshof, der Putin für diesen Angriffskrieg zur Verantwortung ziehen könnte. Woran liegt das?

    Gute Frage! Was das Regime in Russland betrifft, ist ja alles klar. Aber die Länder der so genannten progressiven Demokratie haben ebenfalls jahrzehntelang die Augen davor verschlossen, dass in der Russischen Föderation Journalisten verfolgt, Aktivisten inhaftiert und Demonstrationen niedergeschlagen werden. Man hat Putin trotzdem die Hand geschüttelt, Business as usual gemacht, Pipelines gebaut. Doch das unbestrafte Böse wächst. 

    Warum hat zum Beispiel der Internationale Strafgerichtshof keine solche Rechtsprechung, obwohl Russland heute alle Arten von internationalen Verbrechen verübt – sowohl militärische Verbrechen als auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Genozid und diesen Angriffskrieg? Die Vertragsstaaten des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs haben eine zu enge Definition des Begriffs „Aggression“ und verbauen sich damit die Möglichkeit einzugreifen. Und das hat nicht einmal etwas mit Putin zu tun – das ist die Verantwortung der Vertragsstaaten.

    Bringt Ihnen der Nobelpreis nun etwas für Ihre Arbeit?

    Der Nobelpreis verschafft uns Aufmerksamkeit. Dem Menschenrechtsaktivismus unserer Region hat nie jemand zugehört, obwohl wir seit Jahrzehnten dasselbe sagen. Seit Jahrzehnten! Wir sagen, dass ein Land, das die Menschenrechte massenhaft verletzt, nicht nur für die eigenen Staatsbürger und die Nachbarländer gefährlich ist, sondern für die ganze Welt.

    Viele Ukrainer haben sich daran gestört, dass in der Liste der Preisträger die ukrainischen Menschenrechtler Seite an Seite mit Vertretern von Ländern stehen, die gegen die Ukraine Krieg führen.

    Wenn man in einer Schlagzeile liest „Russland, Ukraine und Belarus“, dann kommen natürlich sofort Assoziationen mit dem nach Naphthalin stinkenden Sowjetmythos der Brudervölker hoch – und der Eindruck, man wolle uns wieder in dieses Dreierzimmer stecken. Obwohl bereits klar ist, dass es in der UdSSR keine Brudervölker gab – sondern ein Volk dominierte und gab die Sprache und die Kultur vor. Den anderen wurde ein Platz auf Folklorefestivals eingeräumt. 

    Natürlich stößt das während eines Kriegs, in dem Russland und Belarus die Angreifer sind und die Ukraine sich verteidigt, auf Ablehnung. Wir haben unsererseits versucht klarzustellen, dass dieser Preis natürlich nicht an Länder geht, sondern an Menschen — an Menschen, die schon sehr lange zusammenarbeiten. Wir haben sowohl vor 2014 als auch danach eng mit russischen Menschenrechtsaktivisten kooperiert: Wir haben gemeinsame Werte, eine gemeinsame Mission. 

    Menschlichkeit können nicht einmal repressive Gesetze verbieten

    Als wir unser Monitoring auf der Krim und im Donbas begannen, konnten wir die Erfahrungen mobiler Gruppen nutzen, die schon in Tschetschenien aktiv gewesen waren. Ich erinnere mich, wie ich meine russischen Kollegen anrief und sagte: Wenn ihr irgendwelche Anleitungen habt, irgendwelche Fragebögen, schickt sie uns bitte – unsere Leute sind schon unterwegs, wir organisieren uns im Galopp.

    Auch jetzt, in diesen Minuten, sind von uns tausende Zivilisten in russischer Kriegsgefangenschaft – und da, wo wir keinen Zugang haben, agieren wir über russische Organisationen.   

    Was sollten Russen tun, die gegen den Krieg sind?

    Betroffenen helfen, ihre Unterstützung zum Ausdruck bringen, versuchen, dieses militärische Schwungrad zu stoppen – ich bin mir sicher, dass Menschen, die empört sind über das, was passiert, ihre Rolle finden. Mir ist klar, dass die Position „gegen den Krieg“ in Russland strafrechtlich verfolgt wird. Aber Menschlichkeit können nicht einmal repressive Gesetze verbieten.

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    „Domoi! Ab nach Hause!“, rufen die Menschen im Stadtzentrum von Cherson. Mit ukrainischen Flaggen laufen sie auf einen russischen Militär-LKW zu, der sich im Rückwärtsgang von der Menschenmenge entfernt. Die Bilder von den Protesten gegen die russische Besatzung der südukrainischen Stadt Cherson gingen im März 2022 um die Welt. Wenig später folgten erste Berichte über Verschleppungen: „Ich bin in Cherson auf einer friedlichen Protestaktion gewesen. Mein Vater wird seit Montag, den 21. März 2022, vermisst; er ist zu einer Kundgebung gegangen und nicht zurückgekehrt.“

    Russland hat zahlreiche ukrainische Zivilisten gefangen genommen und auf die Krim verschleppt. Auf Meduza berichten ehemalige Häftlinge, wie sie dort im Gefängnis misshandelt wurden.

    Achtung: Der Text enthält drastische Darstellungen von Folter und Gewalt.

    Am Morgen des 9. Mai 2022 hörte Alexander Tarassow, Gefangener des Untersuchungsgefängnisses SISO Nr. 1 in Simferopol, hinter der Tür seiner Zelle die Speznas-Leute des Föderalen Strafvollzugsdienstes FSIN brüllen: „Antreten! Kopf runter, rauskommen! Zackig, hab ich gesagt!“

    Die fünf Zelleninsassen senkten mit einstudierter Bewegung die Köpfe und verschränkten die Hände auf dem Rücken. Von da an sah Tarassow nur den Boden, die eigenen Füße und die Stiefel der Speznasowzy. Tief heruntergebeugt in der Stellung „Delfin“ kam er aus der Zelle und stellte sich mit dem Gesicht an die Wand. „Breiter! Die Beine breiter auseinander, hab ich gesagt!“ Einer der FSIN-Männer schlug Alexander so lange auf die Waden, bis der Häftling praktisch im Spagat stand.

    Mit der Stirn an die Wand gepresst dachte Tarassow nur an seine zu reißen drohenden Sehnen und hörte, was die Einsatzleute jetzt von ihm wollten: „Welcher Feiertag ist heute? Hm? War dein Opa im Krieg? Antworte!“

    Egal, wie die Antwort lautete – jeder Häftling bekam einen Schlag mit dem Elektroschocker: „Eure Großväter würden sich im Grabe umdrehen, ihr Faschisten!“

    Sie traktierten ihn mit dem Elektroschocker und befahlen ihm, ‚Den Pobedy‘ zu singen

    Wenige Stunden später kam die Speznas zur nächsten Kontrolle. Diesmal gingen die mit Elektroschockern bewaffneten Einsatzleute gleich in die Zelle. In der Tür stand der Hundeführer. Sein Hund zerrte an der Leine, wollte sich auf die Häftlinge stürzen und bellte heiser, erinnert sich Tarassow.

    Einen von Tarassows Zellengenossen, Sergej Derewenski, nannten die Speznasowzy „Kämpfer des Rechten Sektors“. „Sie traktierten ihn mit dem Elektroschocker und befahlen ihm, [das Sowjetlied] Den Pobedy (dt. Tag des Sieges) zu singen“, erzählt Tarassow. „Sie verpassten ihm einen Tritt direkt in die Magengrube: ‚Los, sing!‘“

    Tarassow sah nicht hoch. „Das bringen sie dir schnell bei“, erläutert er dem Korrespondenten von Meduza die Ordnung im Simferopoler Untersuchungsgefängnis Nr. 1. „Die kleinste Augenbewegung, und du hast den Elektroschocker am Schädelknochen. Also schaute ich auf meine Füße. Und hörte zu.“

    „Dieser Tag des Sieges riecht nach Schießpulver …“, begann Derewenski mit fremder, ganz anderer Stimme – zitternd, gebrochen – zu singen. Den Einsatzkräften gefiel ganz offenbar, was sie hörten, denn sie sagten immer wieder: „Weiter!“ und machten weiter mit dem Elektroschocker, wenn Sergej sich verhaspelte.

    Der Stromschlag geht durch jede einzelne Muskelfaser und explodiert dann

    „Der Stromschlag geht gefühlt durch jede einzelne Muskelfaser und explodiert dann“, beschreibt Tarassow das Gefühl der Elektroschockbehandlung. „Danach krampfen sich die Muskeln weiter zusammen … Und in diesem Zustand sang er: ‚Mit Tränen in den Augen …‘“

    Bei diesen Klängen kamen weitere Gefängniswärter dazu. Der Hundeführer sah dem Auftritt weiterhin von der Tür aus zu; sein Diensthund war jetzt ruhig. „Ich betete, dass das an mir bitte vorübergeht“, erinnert sich Tarassow. „Wir waren zu fünft in der Dreierzelle, und wir hatten alle Angst, dass wir auch singen müssen.“

    Als die Speznasowzy weg waren und die Häftlinge wieder aufschauen konnten, sah Tarassow, dass Derewenski ganz blass war. „Wir alle hatten schweigend mit ihm gelitten. Hatten ihn aber nicht beschützen können. Wir waren beschämt, dass wir nichts dagegen ausrichten konnten“, sagt Tarassow. „Du wirst gequält, musst aber deine Schutzreflexe unterdrücken. Weil jeder Widerstand es nur schlimmer macht.“

    Vor seiner Verhaftung organisierte Tarassow Demonstrationen gegen die russische Okkupation in Cherson

    Vor seiner Verhaftung im März 2022 organisierte Tarassow Demonstrationen gegen die russische Okkupation in Cherson. Seine Zellengenossen waren ukrainische Aktivisten und Freiwillige, die der ukrainischen Armee geholfen hatten und in den Gebieten festgenommen wurden, die Russland zu Beginn des Krieges erobert hatte. Den Aufsehern zu widersprechen wagte niemand mehr: Jeder in dieser Zelle hatte bis Mai 2022 bereits Folter erfahren. Nikita Tschebotar aus Hola Prystan hatten sie aus dem Luftgewehr in die Beine geschossen – und ihn dann gezwungen, sich eigenhändig die Bleikugeln aus dem Fleisch zu pulen. Alexander Geraschtschenko aus Cherson wurde mit Stromschlägen gefoltert. Sergej Zigipa aus Nowa Kachowka wurde aus dem Gefängnis ins FSB-Gebäude nach Simferopol gebracht und stranguliert.

    Tarassow selbst war nach seiner Verhaftung im Keller der Stadtverwaltung von Cherson gefoltert worden (in der sich zu dem Zeitpunkt bereits die russischen Truppen eingerichtet hatten). Man klebte ihm Elektroden an die Ohrläppchen, ließ den Strom laufen und verlangte von ihm, die Namen der anderen Organisatoren der Proteste zu nennen. Tarassow zufolge nannten die FSB-Leute diese Methode „Anruf an Selensky“.

    „Dann hielt mir der FSBler eine Pistole an die Schläfe und sagte: ‚Ich glaub, du erzählst Mist.‘ Und entsicherte die Waffe“, berichtet Tarassow. „Ich wusste echt nicht, ob er abdrückt oder nicht.“

    Dann hielt mir der FSBler eine Pistole an die Schläfe: ‚Ich glaub, du erzählst Mist.‘ Und entsicherte die Waffe

    Tarassow gibt zu, dass er bei den „Kontrollen“ im Simferopoler Untersuchungsgefängnis am liebsten aufbegehrt und zugeschlagen hätte. „Ich weiß noch, wie wir da sitzen, und einer [ein Mithäftling] nimmt einen Löffel und fängt an, ein Loch in die Wand zu kratzen. Sagt: ‚Guck mal, wir könnten echt einen Tunnel buddeln!‘ Ich sag zu ihm: ‚Und dann?‘ Da waren immer mindestens drei von der Speznas und der Typ mit seinem Hund plus zwei Wachen. Der ganze Block war vergittert. Und wir kannten nicht mal den Weg da raus.“

    Im Simferopoler Untersuchungsgefängnis Nr. 1 kann man sich leicht verirren: Es befindet sich in einer richtigen Gefängnisfestung aus dem 19. Jahrhundert. Tarassow erinnert sich: „Es ist wie ein mittelalterliches Verlies: Du wirst durch endlose verschlungene Gänge geführt, eine Gittertür nach der anderen wird aufgeschlossen … Und dazu hast du einen Sack über dem Kopf.“

    Die in der Ukraine festgenommenen zivilen Geiseln – so nennen Menschenrechtler die ukrainischen Staatsbürger, die von den Russen ohne Anklage oder Kriegsgefangenenstatus in Untersuchungshaft gehalten werden – waren in einem Sonderblock untergebracht und komplett von allen anderen Häftlingen isoliert.

    „Im SISO gingen Gerüchte um, wir wären irgendwie besonders gefährlich“, erinnert sich Tarassow. „In Wahrheit wurde das gemacht, damit keinerlei Informationen über uns nach außen drangen. Einmal gingen wir an Insassen vorbei, die Küchendienst hatten, da rief der Gefängniswärter: ‚Wegdrehen, Gesicht an die Wand!‘“

    Die Zahl der ukrainischen Staatsbürger, die von den Russen festgehalten werden, ohne offiziell als Kriegsgefangene oder als Angeklagte zu gelten, ist unbekannt.


    „Russland ist die Fackel der Zivilisation und die Rettung der Menschheit. Was macht ihr hier den Dicken?“

    Die Gefangenen im Simferopoler SISO erinnern sich gut an das Surren des Elektroschockers – und wie es nach dessen Einsatz roch.

    „Wenn denen irgendwas nicht passt – Stromschlag. Sie haben aus uns verängstigte Tiere gemacht“, sagt Alexander Tarassow. „Sie haben uns dazu gebracht, dass wir bei den routinemäßigen Kontrollen horchten, ob wir hinter der Wand den Elektroschocker hörten. Allein von dem Geräusch bekam ich Muskelkrämpfe.“

    Die Speznas-Leute wussten genau, welche Wirkung das Summen des Elektroschockers auf die Häftlinge hatte – und spazierten ausgiebig ohne echten Grund mit den eingeschalteten Geräten durch die Korridore. „Sie machten sich einen Spaß draus und ließen die Dinger im Takt surren: pam-pam-pa-pa-pam“, erinnert sich Tarassow. „Sie wussten, dass uns dieses Geräusch in die Eingeweide fährt. Dass wir Bauchkrämpfe davon bekommen und es uns gegen die Schläfen haut.“

    Sie zwingen dich in den Spagat und sagen dabei: ‚Russland ist die Fackel der Zivilisation‘

    „Sie haben uns einfach dafür gehasst, dass wir ihre Truppen [zu Beginn der Invasion] nicht mit Brot und Salz empfangen haben“, sagt Tarassow. „Sie schlagen dir gegen die Waden, zwingen dich in den Spagat und sagen dabei: ‚Russland ist die Fackel der Zivilisation und die Rettung der Menschheit. Was macht ihr hier den Dicken?‘“

    Nach Aussage von Meduzas Gesprächspartnern war der ukrainische Widerstand gegen den russischen Einmarsch ein echter Schock für das Personal des Simferopoler SISO Nr. 1. Und so versuchten sie, die Häftlinge „umzuerziehen“. Behaupteten ihnen gegenüber, dass die russischen Truppen bereits Odessa und Poltawa eingenommen hätten.

    Die Häftlinge hatten keine Verbindung zur Außenwelt. „Uns erreichten nur spärliche Informationen; manchmal konnten wir das Radio hören, das für die anderen Gefangenen angemacht wurde“, erzählt Tarassow. „Und im Mai [2022] mussten wir uns alle die Sendung Wojennaja taina [Kriegsgeheimnis] angucken, in der Russland versprach, bald das Regierungsviertel [in Kyjiw] einzunehmen. Da konnten wir dann selbst unsere Schlüsse ziehen: Wenn Selensky eine Videobotschaft auf dem Chreschtschatyk aufnimmt, was bedeutet das? Alles in Sicherheit.“


    „Sie fragten uns aus, ob wir irgendwas über den Beschuss von Wohnhäusern und dem Theater in Mariupol wissen“

    Im Oktober 2022 wurde der gesamte „ukrainische“ Spezialblock des Untersuchungsgefängnisses Nr. 1, darunter auch Alexander Tarassow, in das neu eröffnete Untersuchungsgefängnis Nr. 2 verlegt, das sich ebenfalls dort befindet. Der neue Gefängnisbau, der ausschließlich für verschleppte Ukrainer bestimmt war, wurde derart eilig in Betrieb genommen, dass nicht einmal die Bauarbeiten abgeschlossen waren, erfährt Meduza von drei ehemaligen Insassen. Dass die Inhaftierten dorthin verlegt wurden, konnte man auch aus den ukrainischen Medien erfahren.

    Die Scheiben der neuen Plastikfenster wurden vor dem Eintreffen der Ukrainer komplett zugetüncht. „Damit wir weder den Hof sehen noch die Tageszeit erkennen“, sagt Tarassow. „Wir mussten uns daran gewöhnen, nicht zu wissen, ob es Vor- oder Nachmittag ist.“

    In den Zellen des SISO Nr. 2 brennt rund um die Uhr Licht

    In den Zellen des SISO Nr. 2 brennt rund um die Uhr Licht. Aus den Lautsprechern ertönen regelmäßig die Gefängnisordnung und die russische Hymne – so laut, dass der drei Kilometer entfernt wohnende russische Anwalt Emil Kurbedinow, der den ukrainischen Geiseln zu helfen versucht, sie häufig von seinem Fenster aus hört. Von sechs Uhr morgens bis zur Nachtruhe ist es den Häftlingen verboten, auf ihren Pritschen zu sitzen oder zu liegen.

    „Damit ist es ihnen auch verboten, das Namaz [das muslimische Gebet] durchzuführen“, sagt uns Amide, die Frau des Krimtataren Ekrem Krosch, der vor kurzem in das SISO Nr. 2 überführt wurde. „Er darf nicht beten, weil er stehen muss.“

    Die Häftlinge würden maximal isoliert gehalten, damit sie weder einander noch die Gefängniswärter wiedererkennen, erklärt Tarassow. „Eine kurze Zeitlang konnten wir über die Lüftungsschächte kommunizieren“, erinnert sich ein anderer ehemaliger Häftling. „Wir hatten sogar eine Art Chat – einen Buschfunk zwischen den Zellen. Doch einer [der Häftlinge] namens Sascha, der im ‚Chat‘ die ukrainische Hymne gesungen hat, kam in den Karzer. Und Nikita, der im ‚Chat‘ zu Silvester Olivier-Salat forderte, hätten sie fast die Beine gebrochen.“

    Wir schicken dich nach Luhansk, da gibt es noch die Todesstrafe, da erschießen sie dich

    „[Die FSB-Leute] beginnen [die Verhöre] direkt mit Drohungen sexueller Art. Oder sagen: ‚Wir schicken dich nach Luhansk, da gibt es noch die Todesstrafe, da erschießen sie dich‘“, erinnert sich ein weiterer Ex-Häftling, Maxim. Er sah gleich, dass die Einsatzkräfte nicht älter waren als er, und nahm ihre Drohungen nicht ernst. „Die waren um die 25, wie ich“, sagt Maxim. „Die guckten in mein Handy und lachten mich aus, weil ich Kryptowährung zu teuer gekauft hatte. Das Fenster zum Innenhof war geöffnet, und mitten im Verhör sagten sie: ‚Wenn du aus dem Fenster schreist: ‚Schnauze, ihr Schwuchteln!‘, dann lassen wir dich frei!‘“

    Maxim wurde nicht nur vom FSB verhört, sondern auch von einem Mitarbeiter des Ermittlungskomitees. „Er erzählte, er sei [angeblich] in der Ukraine geboren, in Irpin, aber er liebe Russland“, erinnert sich der Ex-Häftling an das Gespräch. „Er sagte, seine Schwester sei [seit dem Maidan] ein Topfkopf und deswegen für die Ukraine.“

    Dann kamen Silowiki aus Moskau ins SISO und brachten einen ganzen Stapel Protokolle mit, erzählt Maxim. Sie fragten, was er über die „Verbrechen der ukrainischen Armee in Mariupol“ wisse. Ähnliche Fragen stellten sie auch Tarassow. „Sie wollten von uns Aussagen erpressen für ein Strafverfahren, dass die Ukraine gegen die Regeln der Kriegsführung verstoßen habe“, ist sich Tarassow sicher. „Sie fragten uns aus, ob wir irgendwas über den Beschuss von Wohnhäusern und dem Theater in Mariupol wissen.“

    Das erste Strafverfahren wegen „Anwendung verbotener Mittel und Methoden der Kriegsführung“ hatte das Ermittlungskomitee der Russischen Föderation schon im Mai 2014 gegen die Ukraine eröffnet – während des Kriegs im Donbass und kurz nach der Annexion der Krim. Im Frühjahr 2022 erfuhr dann die ganze Welt von der Ermordung von Zivilisten in Butscha durch die Russen. Zu dieser Zeit sprach Meduza mit einer dem Ermittlungskomitee nahestehenden Quelle: Nach den „Berichten der Chochly über Kriegsverbrechen in den Vororten [von Kyjiw]“ hätten die russischen Ermittler und Fahnder in den okkupierten Gebieten „sofort losgedonnert und die Aufklärung von Kriegsverbrechen des ‚Rechten Sektors‘ der ganzen letzten acht Jahre verlangt“. 

    „Das Ermittlungskomitee ist extrem daran interessiert, sein politisches Gewicht beizubehalten – genau deswegen seien in den okkupierten Gebieten temporäre Zweigstellen eingerichtet worden“, erfährt Meduza von einem russischen Juristen, der mit den zivilen Geiseln aus der Ukraine arbeitet. „Militärermittler aus dem ganzen Land wurden dahin abkommandiert und haben intensiv gearbeitet: an Hunderten von Fällen, Tausenden Geschichten, Bastrykin redet ständig öffentlich davon.“


    „Ein paar Stromschläge – und der Spanier kann Russisch“

    Ende März 2022 wurden Alexander Tarassow und Sergej Zigipa mitten in der Nacht von Aufsehern geweckt. Mitarbeiter des Föderalen Strafvollzugsdienstes FSIN kamen in die Zelle und stellten ihnen eine seltsame Frage: Ob einer von ihnen Spanisch könne? „Serjoga kann Portugiesisch“, erzählt Alexander. „Sie baten ihn, mitzukommen und einen Spanier zu beruhigen, der gerade aus Cherson gebracht worden war.“

    Die neue zivile Geisel war Mario García Calatayud, ein Rentner aus Spanien, der seit 2014 in der Ukraine lebt. „Sergej sagte ihm damals natürlich, dass alles in Ordnung käme“, erinnert sich Tarassow. „Aber Mario hatte einen Schock: Er begriff nicht, wo er da gelandet war und wer all diese Leute in Uniform waren, die ihn anschrien. Er sah aus wie ein gehetztes Tier.“

    Der Spanier wurde ständig mit dem Elektroschocker traktiert – weil er die Kommandos der Aufseher nicht verstand

    Mario Calatayud, der trotz mehrerer Jahre in der Ukraine weder Ukrainisch noch Russisch sprach, wurde ständig mit dem Elektroschocker traktiert – weil er die Kommandos der Aufseher nicht verstand. „Er musste alle diese Posen lernen: Antreten, zum Ausgang, Kopf runter. Ich hab aus der Zelle gehört, wie sich der Aufseher und der Speznas-Mann amüsierten: ‚Ein paar Stromschläge – und der Spanier kann Russisch‘“, erinnert sich Tarassow.

    Seinen 75. Geburtstag erlebte Mario Calatayud im SISO Nr. 2 – und nicht in bester Verfassung. Anatoli Fursow, der Rechtsvertreter des Spaniers, erklärte Meduza, dass Calatayud Probleme mit dem Herzen habe, ihm aber in der Haft die Medikamente weggenommen worden seien. „Er rief immer auf Spanisch nach einem Arzt“, erinnert sich Tarassow, der in der Nebenzelle saß. „Aber der Arzt kam manchmal erst nach einer Woche. Dann roch es im ganzen Flur nach Corvalol.“

    Irgendwann lernte Calatayud doch noch ein paar Wörter Russisch: „choroscho“ (dt. gut), „spassibo“ (dt. danke), „normalno“ (dt. etwa okay, gut). Für die seltenen Gelegenheiten zum Duschen bedankte er sich bei den Aufsehern aber immer noch auf Spanisch: „Perfecto, señor comandante!“

    Und Mario dann: No soy fascista! No faschism Mario! Das hat er immer wiederholt

    Nicht einmal für die Verhöre fanden sie für Calatayud einen Dolmetscher – und zwar weder im SISO noch in der lokalen Verwaltung des FSB, wohin die Geiseln gelegentlich gebracht wurden. „Als wir [in das Gebäude] hineingeführt wurden, sagte einer vom FSB schon in der Tür, dass Mario ein Faschist sei“, erinnert sich Maxim, der zusammen mit dem Spanier zum Ermittler gefahren wurde. „Und Mario dann: No soy fascista! No faschism Mario! Das hat er immer wiederholt.“

    In der Zelle war Calatayud der Sauberkeitsfanatiker: Er wischte die Regale und die Fenstersprossen, bevor sich da überhaupt Staub angesammelt haben konnte. Sein Zellengenosse Jewgeni Jamkowoi glaubt, dass Calatayud den Aufsehern „seine Fügsamkeit demonstrieren“ wollte: „Im SISO schlugen sie richtig zu. Ich hab seine Narben vom Dynamo [das heißt die Spuren von der Folter mit Strom] gesehen. Und einmal hat sich ein Diensthund in seinem Bein verbissen: Das Blut spritzte, und er konnte sich nicht mehr zurückhalten und schlug dem Hund mit der Faust auf den Kopf. Das zahlte ihm der Hundeführer sofort heim.“

    Bevor Calatayud in Simferopol inhaftiert wurde, hatte er sich den russischen Silowiki gegenüber ziemlich kühn verhalten. „Sogar in der Zelle [in Cherson], als er gerade erst von einer Demo weg verhaftet worden war, brachte er es fertig, ‚Slawa Ukrajini!‘ zu rufen – und seine Morgengymnastik zu machen“, erzählt seine Frau, die 39-jährige Chersonerin Tatjana Marina. „Die hiesigen Aufseher schlackerten nur so mit den Ohren, wenn Mario sie unverblümt ‚puta madre‘ nannte – was soviel heißt wie Hurensöhne.“

    Marina erklärt, dass Calatayud 2014 in die Ukraine gezogen sei, um humanitäre Hilfsgüter in Kinderheime zu liefern, die sich im Osten des Landes nahe der Front befanden. „Er nannte Putin ‚señor de la guerra‘; die Ungerechtigkeit machte ihn ganz kirre. Er hatte in der Stadtverwaltung von Valencia gearbeitet, war aber schon in Rente – und kam, um zu tun, was in seiner Macht stand“, erzählt Tatjana Marina. 

    Die Hilfsgütertransporte unter Beschuss bis direkt an die Front haben Mario waghalsiger gemacht, meint seine Frau: „Er hat immer gesagt: ‚sangre española brava‘ [spanisches Blut ist tapfer]! In den ersten Tagen der Okkupation von Cherson benahm er sich wie ein Irrer. Jedes Mal, wenn er die Kette russischer Soldaten rund um unser Verwaltungsgebäude sah, formte er mit den Fingern Pistolen – wie ein Kind – und drohte ihnen [auf Spanisch]: ‚Ich knall dich ab, Besatzer!‘ Ich bekam schweißnasse Hände vor Angst.“

    Tatjana fragt sich, wie Mario im SISO überlebt: „Er ist doch so freiheitsliebend. Wie kann man einen, der so gern frei atmet, einfangen und in einen Käfig sperren?“


    „Kriegsgefangene kann Russland sie nicht nennen“

    Die meisten Gefangenen im SISO in Simferopol haben keinerlei gesetzlichen Status (etwa als Verdächtigte); ihre Inhaftierung entbehrt somit jeglicher Rechtsgrundlage. Gegen manche Zivilgeiseln wird dann doch ein Strafverfahren eingeleitet, unter anderem wegen „internationalen Terrorismus“ oder „versuchter Terroranschläge“. Konkret wurde mindestens sieben aus der Oblast Cherson entführten Personen eine Mitgliedschaft im [krimtatarischen, in Russland als „terroristisch“ eingestuften – dek] Noman-Çelebicihan-Bataillon zur Last gelegt.

    In den Antworten auf Anwaltsanfragen zu den Haftgründen der Ukrainer erscheint auch so etwas wie „Überprüfung durch den FSB“. „Sie [die Gefangenen] müssen sich einfach einer so genannten ‚Überprüfung von Personen, die Widerstand gegen die militärische Spezialoperation ausüben‘, unterziehen. In jeder Antwort einer lokalen FSB-Zweigstelle wird diese ‚Überprüfung‘ erwähnt“, gibt ein von Meduza befragter Anwalt an.  

    Die Geiseln sind „Gefangene aufgrund von Widerstand gegen die militärische Spezialoperation“

    Russland unterscheidet bei den Gefangenen nicht zwischen Zivilisten und Militär: Für die russischen Behörden gelten sie offiziell alle als „Gefangene aufgrund von Widerstand gegen die militärische Spezialoperation“. „Unter diesem Begriff werden alle zusammengefasst“, sagt Anwalt Dimitri Sachwatow Meduza gegenüber. „Kriegsgefangene kann die Russische Föderation sie nicht nennen, weil das ja bedeuten würde, dass das ein Krieg ist.“

    Im Russischen Strafgesetzbuch gibt es allerdings keinen Paragrafen, der die Formulierung „Widerstand gegen eine Spezialoperation“ enthält. Anwälte werden zu den Geiseln schlichtweg nicht durchgelassen: Die meisten Informationen darüber, wer in diesen Haftanstalten sitzt und was dort geschieht, bekommen die Juristen von Ukrainern, denen es gelungen ist, aus diesen russischen Gefängnissen herauszukommen. Zu zivilen Geiseln aus der Ukraine erhalten auch ihre Angehörigen keinen Zugang, während Krimbewohner mit russischen Pässen, zum Beispiel Krimtataren, immerhin Besuch empfangen können. 

    Alexander Tarassow wurde am 14. Februar 2023 aus dem SISO Nr. 2 entlassen und lebt jetzt in Deutschland. Noch immer hat der Chersoner aber weder durchschaut, warum er entlassen wurde, noch mit welcher Begründung er fast ein Jahr lang ohne Anklage eingesperrt war. Bei seinen Verhören fragte er die Ermittler manchmal, warum er ohne Gerichtsbeschluss in Haft sei. „Irgendwann haben sie einen ‚Erlass des russischen Präsidenten über die Isolierung von Personen, die Widerstand gegen die militärische Spezialoperation ausüben‘ erwähnt. Und hinzugefügt: ‚Na, es ist Krieg, du weißt ja.‘ Als ich rauskam, habe ich nichts darüber im Netz gefunden.“

    Bisher gebe es keine verlässlichen Hinweise auf die Existenz einer „Geheimverfügung“, meint Roman Kisseljow, ein russischer Menschenrechtsverteidiger, der Ukrainern dabei hilft, ihre Angehörigen in der Russischen Föderation zu finden. (Auch Meduza konnte keine solchen Hinweise finden). „Doch ich nehme an, dass solche Dokumente mit der Zeit auftauchen werden“, überlegt Kisseljow. „Ursprünglich hat einfach niemand [in der Regierung] damit gerechnet, dass der Krieg so lange dauern und ein solches Problem [mit zivilen Geiseln] überhaupt entstehen wird. Aber als sie dann doch so viele Gefangene beisammen hatten, kratzten sie sich die Köpfe und überlegten, wie sie es anstellen können, den Menschen ohne Gerichtsverfahren die Freiheit zu entziehen.“ 


    „Ukrainer gibt es hier massenhaft. Einfach massenhaft“

    Ukrainische Geiseln werden nicht nur auf der Krim, sondern auch in anderen Regionen der Russischen Föderation festgehalten, wie Meduza von russischen Anwälten und Menschenrechtlern weiß. Während auf der Krim der FSB mit ihnen „befasst ist“, ist es in anderen Gegenden die dem Verteidigungsministerium unterstellte Militärpolizei GUWP. 

    Dass sich das russische Verteidigungsministerium und der FSB die Zuständigkeit für ukrainische Geiseln teilen, ist kein Widerspruch, wie Andrej Soldatow, Experte für die russischen Geheimdienste, Meduza erklärt. Ihm zufolge wird die Militärpolizei von der Spionageabwehr DWKR überwacht, die wiederum eine Unterabteilung des FSB sei. Dass für die ukrainischen Geiseln die Spionageabwehr zuständig ist, bestätigte Meduza gegenüber auch ein Gesprächspartner aus dem FSB. Ein Büro für Spionageabwehr gibt es in jeder Armeeeinheit, erklärt Soldatow, und wenn eine Truppe an die Front geschickt wird, dann müssen auch die Mitarbeiter des Nachrichtendienstes mit in die Kampfzone, wo sie „in temporäre Einsatzgruppen aufgeteilt“ werden.  

    Irina Badanowa schätzt die Zahl der zivilen Geiseln auf über 3000

    So funktionierte die Spionageabwehr in der Ukraine zu Beginn des Krieges, sagt Soldatow. „Die ‚Filtration‘ [der Ukrainer], die Bearbeitung der Einwohner, all das ist alles ihre Aufgabe“, meint der Experte. „Um die Sicherheit der russischen Truppen zu gewährleisten, müssen die Informanten der ukrainischen Streitkräfte ausfindig gemacht und drangsaliert werden. Und natürlich müssen sie ihre Agentennetze ausbauen. Das mit Filtrationslagern zu machen ist einfach und effektiv – eine in Tschetschenien erprobte Methode. Man saugt wie mit dem Staubsauger tausende junge Ukrainer ein, wirbt ein paar von ihnen an, und dann lässt man alle wieder laufen.“

    Die Arbeit mit Ukrainern, die in den besetzten Gebieten entführt und in russische Gefängnisse gesteckt wurden, ist die „natürliche Fortsetzung“ der militärischen Spionageabwehrmission, die sie an der Front verfolgen, meint Soldatow.

    Wie viele ukrainische Staatsbürger aktuell in diesen russischen Gefängnissen sitzen, ist unbekannt. Irina Badanowa von der Abteilung für die Suche und Befreiung von Kriegsgefangenen beim Generalstab der ukrainischen Streitkräfte schätzt die Zahl der zivilen Geiseln auf über 3000. Dutzende von ihnen sind, wie sie betont, unter den Haftbedingungen umgekommen.

    „Ukrainer gibt es hier massenhaft“, pflichtet Badanowa ein russischer Anwalt bei. „Einfach massenhaft.“

    Vom russischen Verteidigungsministerium, dem FSB, der FSIN, der Presseabteilung des Kreml und der prorussischen Verwaltung der Krim kamen keine Antworten auf die Fragen von Meduza. 

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  • Datenleaks: Hetzjagd auf Corona-Patienten

    Datenleaks: Hetzjagd auf Corona-Patienten

    Hetzjagd in Sozialen Medien: Durch Leaks wurden russlandweit Daten von Corona-Patienten öffentlich. Namen, Adressen und Beschimpfungen kursieren im Netz. Wie konnte das passieren? Eine Recherche von Meduza.

    Hetzjagd in Sozialen Medien – durch Datenleaks bei Polizei, Ärzten und Behörden wurden Adressen von Corona-Patienten öffentlich / Foto © Piqsels unter CC BY-SA 0
    Hetzjagd in Sozialen Medien – durch Datenleaks bei Polizei, Ärzten und Behörden wurden Adressen von Corona-Patienten öffentlich / Foto © Piqsels unter CC BY-SA 0

    Am 13. April hörte Angela Tschernobajewa Geräusche im Treppenhaus und schaute durch den Türspion: Es war das Rascheln von Einkaufstüten, die jemand ihrer Nachbarin vor die Tür stellte. Als die Nachbarin die Tüten hereinholte, hatte sie einen Mundschutz um, berichtet Angela Viktorowna beruhigt. „Und sie ist gleich wieder zurück in die Wohnung – gut so, sie hält sich an die Vorschriften. Ich mache mir nämlich sehr viel Gedanken, dass sie rausgehen könnte“, sagt Tschernobajewa gegenüber Meduza

    Dass sie ihre Nachbarn jetzt im Auge behalten soll, weiß Angela Viktorowna aus den Sozialen Netzwerken der Kleinstadt Susemka in der Oblast Brjansk: Als dort die kompletten Daten eines älteren Ehepaares, das an Corona erkrankt war, veröffentlicht wurden, erfuhr Angela Viktorowna, dass sie Tür an Tür mit deren Tochter wohnt – bei der nun auch der Verdacht einer Covid-19-Infektion besteht. „Jetzt warte ich auf ihre Testergebnisse, damit ich weiß, ob ich weiter Angst haben muss oder nicht“, teilt Angela Tschernobajewa ihre Sorge mit uns.

    Die persönlichen Daten des an Covid-19 erkrankten älteren Ehepaares waren unmittelbar nach der Diagnose ins Netz gelangt: Am 11. April tauchten auf der größten öffentlichen VKontakte-Seite der Stadt Adresse, Telefonnummern und sogar Informationen zu Kontaktpersonen auf. Insgesamt elf Personen waren von dem Datenleak betroffen – vom Partner der Tochter bis zur Ex-Schwiegertochter. „Und als die Liste mit den Namen [von der VK-Seite] verschwand, haben sich alle aufgeregt: ‚Die verbreiten hier diese Seuche, da müssen wir doch ihre Namen kennen! Was, wenn wir jetzt auch gefährdet sind?‘“, erinnert sich Angela.

    Datenleak: Liste mit Namen von Covid-19-Patienten

    Die im Netz veröffentlichte Liste sei von einem Polizeibeamten zusammengestellt worden, erklärt Alexej, der Sohn des betroffenen Ehepaares, gegenüber Meduza. „Ich wurde von einem Polizisten ausgefragt, und dann ist das offizielle Dokument im Internet aufgetaucht – wer hat das gemacht? Die Polizei, das Krankenhaus?“, empört sich unser Gesprächspartner. Die Informationen seien für den Verbraucherschutz Rospotrebnadsor des Bezirks Susemsk bestimmt, hatte es in dem Dokument geheißen. 

    Veröffentlicht wurden nicht nur die Namen, sondern auch die Adressen und Telefonnummern aller Familienmitglieder. „Zwei Tage lang hat mein Telefon keine Ruhe gegeben“, schildert Alexej die Folgen. „Man behandelt uns wie Aussätzige, als hätte ich mir die Beulenpest eingefangen.“

    Wissen Sie, dass Sie an Covid-19 erkrankt sind?

    In den vergangenen Wochen waren bereits weit größere Mengen personenbezogener Daten von Menschen mit Verdacht auf Covid-19 aus dem Innenministerium ins Netz gelangt. Im April bekam Artjom aus Orenburg einen Anruf von einer unbekannten Nummer. Die Stimme habe „merkwürdig unhöflich“ geklungen, erinnert sich Artjom, der Anrufer war „seltsam aufdringlich“, rief mehrfach mit derselben Frage an: „Wissen Sie, dass Sie an Covid-19 erkrankt sind?“

    Artjoms Privatnummer hatte der anonyme Anrufer aus folgendem Datenleak: Anfang April war im Internet eine Tabelle mit 277 Namen aufgetaucht – die Überschrift lautete: „Personen, die als potentielle Covid-19-Träger unter Bewachung stehen“. Artjom ist überzeugt, dass die Liste mit Namen, Adressen und Telefonnummern echt ist: Seine Familie sei nach einem Auslandsaufenthalt tatsächlich „unter Beobachtung“ gestellt worden, die Polizei war persönlich bei ihm zu Hause, um die Daten aufzunehmen. „Soweit wir sie überprüfen konnten, stimmen alle Angaben überein“, berichtet Artjom. „Dass die Informationen im Netz aufgetaucht sind, ist grob fahrlässig und kriminell.“

    „Angesichts der Tatsache, dass die Behörden nach einer Totalüberwachung streben, habe ich keine Zweifel, dass Informationen über Infizierte an die Gesundheitsbehörden, an die Polizei und an alle möglichen ‚operativen Stäbe‘ übermittelt werden“, sagt Damir Gainutdinow. Der Jurist der Moskauer Menschenrechtsorganisation Agora beschäftigt sich derzeit  auch mit dem Datenleak in Orenburg. „Die Polizei, aber auch das Gesundheitssystem, der Rospotrebnadsor – auf allen diesen Ebenen sind Sicherheitslücken denkbar.“

    Sanitäter postet Testergebnis im Netz

    12. April, Ortschaft Schadrinsk, östlich des Ural: Ein älterer Herr mit Mundschutz und Handschuhen betritt ein Lebensmittelgeschäft. Als die Verkäuferinnen ihn sehen, verschwinden sie in einem Nebenraum und tauchen nicht mehr auf; der Mann steht alleine im Laden. 

    „Mein Vater hat angefangen zu zittern“, erzählt Marina Makruschina, die kurz vorher positiv auf das Coronavirus getestet worden war. „Er hat nichts gekauft, ist einfach wieder gegangen.“

    In der Nacht zuvor war Marina Makruschina, die Tochter des älteren Herrn,  mit dem Notarztwagen von Schadrinsk ins Gebietskrankenhaus nach Kurgan gebracht worden: Auf der zweistündigen Fahrt gelangte das positive Testergebnis der Patientin auch an die Ohren des Sanitäters. Dieser postete am nächsten Morgen auf der VK-Seite Mitgehört in Schadrinsk, es gebe einen ersten Corona-Fall in der Stadt.

    Als in den Kommentaren zum Post Marina Makruschinas persönliche Daten inklusive Adresse und Foto auftauchten, zeigte die junge Frau den Sanitäter bei der Polizei an. Wegen der Offenlegung ihrer Daten verdächtigt sie die Ärzte. „Um der Stadt  zu demonstrieren, dass sie arbeiten, haben sie meine Daten weitergegeben“, sagt Makruschina. „Und jetzt sagen alle: ‚Marina Makruschina aus der Straße des Friedens hat das Coronavirus.‘“ (Auf Meduzas Nachfrage zu den Umständen des Datenleaks reagierte das Gesundheitsministerium nicht.)

    Hetzjagd in Sozialen Medien

    Die Hetzjagd, die nach dem ursprünglichen Post bei VKontakte begann, ging in den anderen Sozialen Netzwerken und Messengern der Stadt weiter. „In privaten Nachrichten und Gruppenchats – über die Arbeit, die Schule – werden meine Fotos geteilt, mit dem Kommentar: ‚Die hat das hier eingeschleppt‘. Man beschuldigt mich, dass ich absichtlich hergekommen sei, um meine Heimatstadt anzustecken!“, sagt Makruschina.

    Einige dieser Nachrichten sind Drohungen, die mit mehrdeutigen Grab-Emojis versehen sind. „Mein Telefon hört nicht auf zu klingeln. Auch meine Eltern bekommen ständig Anrufe. Meine Freunde warnen mich: ‚Pass auf dich auf, wenn du zurückkommst: Die warten hier auf dich.‘ In der Stadt schreiben sie, dass man mich steinigen will, dass man sie [die Infizierten] ‚verbrennen‘ und mich ‚in eine Irrenanstalt stecken‘ sollte“, erzählt Makruschina. „So einer Horde ist alles zuzutrauen.“

    Gesundheitsministerium schweigt zu den Vorwürfen

    In Selenograd [im Norden von Moskau] wurde das positive Ergebnis eines Corona-Schnelltests gleich von dem Arzt verbreitet, der die Familie des Infizierten zu Hause besucht hatte. „Als er aus dem Haus ging, sagte er zu der Frau am Empfang: ‚In Wohnung Nr. 11 gibt es ein positives Ergebnis.‘ Ab da ging es los“, erzählt Jewgenija (Nachname ist der Redaktion bekannt). „Später hat der Chefarzt angerufen und sich entschuldigt.“

    Jewgenija erstattete Anzeige bei der Staatsanwaltschaft, sowohl gegen den Arzt als auch gegen die Empfangsdame, die das Testergebnis jedem mitteilt, der das Haus betritt. „Wenn die Nachbarn nach Hause kommen, sagt sie ihnen direkt ins Gesicht: ‚In Nr. 11 gibt es Corona‘“, erzählt Jewgenija.

    Das Gesundheitsministerium wollte sich zu den Umständen der Leaks nicht äußern; unbeantwortet blieb auch Meduzas Frage, welche Maßnahmen das Ministerium ergreife, um die Patientendaten während der Coronavirus-Pandemie zu schützen.

    Streit über ärztliche Schweigepflicht

    „Uns wurde nahegelegt, die ganze Familie samt Hund zu vernichten“, erzählt Aljona aus Ust-Kut (Nachname ist der Redaktion bekannt). Von dieser Hetzjagd in der Oblast Irkutsk hatte  die Komsomolskaja Prawda am 13. April berichtet: Nur 20 Minuten, nachdem die Familie selbst von dem Verdacht auf Covid-19 erfahren hatte, hatten Unbekannte die Nachricht von einem positiven Testergebnis verbreitet. Aljona vermutet, dass die Nachbarn dahinterstecken: „Über Instagram, Whatsapp, Odnoklassniki und VKontakte – überall wurde es geteilt“, erzählt unsere Gesprächspartnerin, die im März im Ausland gewesen ist. „Verbrennen, umbringen, erschießen sollte man diese Mutter! Nicht nur, dass die selbst unbedingt dahin musste, sie hat auch noch die Kinder mitgeschleppt!“

    In den Nachrichten „über die Familie, die vor kurzem aus Thailand zurückgekommen ist“ werden die vollständigen Angaben zu den beiden Kindern, Aljonas Mann und ihrem Vater genannt. „Die ganze Familie erschießen“, heißt es in den Kommentaren bei Instagram. „Erschießen und verbrennen.“ Alle Testergebnisse, die die Familie am 15. April zurückbekommen hat, sind negativ.

    Einen Streit über die ärztliche Schweigepflicht entfachten viele Posts, die einen Link zur Karte der Infektionen in Moskau geteilt hatten. Seit Ende März veröffentlicht die Internet-Plattform Mash, die von ehemaligen Mitarbeitern des Medienkonzerns Life gegründet wurde, Informationen darüber, „wo jemand in Moskau mit einer Covid-19-Diagnose herkommt“. Woher diese Daten stammen und wie die interaktive Karte aktualisiert wird, ist unbekannt. In den Sozialen Netzwerken werden die Adresslisten rege kommentiert: Die Nutzer tauschen sich über Auslandsreisen ihrer Nachbarn in betroffene Gebiete aus, teilen Kontaktdaten der Infizierten oder vervollständigen die Adressen – zum Beispiel mit dem konkreten Hauseingang, aus dem die Menschen mit dem Krankenwagen abgeholt wurden.

    Die Leute sollen sehen, wie schnell sich die Krankheit ausbreitet

    „Ich kann nicht ausschließen, dass es auch Trolling geben wird, aber ich will hoffen, dass es nicht zu Handgreiflichkeiten kommt“, sagt Mash-Projektleiter Maxim Ixanow. „Meine Idee war hauptsächlich, dass die Leute sehen sollen, wie schnell sich die Krankheit ausbreitet, und dass sie zu Hause bleiben.“ Woher die Daten in den Karten stammen, legt Mash nicht offen. „Wir sammeln aus verschiedenen Quellen. Viele Informationen erreichen uns über unseren Telegram-Kanal“, erklärt Ixanow. Ob unter den Informanten auch Mitarbeiter der Gesundheitsbehörden oder Ärzte sind, sagt er nicht.

    Der Chef-Epidemiologe der Oblast Wologda hat bereits dazu aufgerufen, Hetzjagden zu unterlassen. „In einer Gefahrensituation unterscheidet sich unser Verhalten nicht im Geringsten von dem von Herdentieren“, sagt Denis Moskwitschenko vom Lehrstuhl für klinische Psychologie an der Moskauer Universität für Zahnmedizin. „Wir beginnen die Interessen derer zu verteidigen, die uns am nächsten stehen: unsere Familienmitglieder, die Gemeinschaft. Das ist ein Schutzinstinkt, der Versuch, eine Situation, die uns gefährlich erscheint, unter Kontrolle zu bringen.“

    Nach der Epidemie werden viele gerichtlich gegen solche Datenleaks vorgehen, ist sich Maxim Slobin, Gründer der Agentur für Imagemanagement ISN, sicher. „An uns hat sich zum Beispiel jemand gewandt, der am Coronavirus erkrankt ist und dessen private Daten in einer der Mitgehört-Gruppen veröffentlicht wurden. Die Situation erinnert an eine absurde Hetzjagd – es ging so weit, dass im Hausflur jemand an die Wand schrieb, er sei ‚ein Mörder‘, der ‚uns alle anstecken‘ würde“, erzählt Slobin. „Wenn die Geschichte mit dem Coronavirus vorbei ist, werden Menschen, nach denen sonst kein Hahn kräht, beim Googeln Dinge über sich finden wie ‚Iwan Petrow ist ansteckend und seine ganze Familie böse‘.“

    Kaum juristische Handhabe

    Ob es gelingen wird, persönliche Daten, die während der Pandemie ins Internet gedrungen sind, per Gerichtsbeschluss entfernen zu lassen, kann Meduza niemand genau beantworten. „Vor dem Coronavirus scheiterten 90 Prozent der Kläger an dem Versuch, ihre persönlichen Daten aus den Suchergebnissen entfernen zu lassen“, erklärt Slobin. 

    „Laut Artikel 152.2 des Zivilgesetzbuches können Sie zwar verlangen, dass private Informationen aus dem Internet entfernt werden. Aber grundsätzlich ist es sehr schwer, etwas aus dem Internet zu löschen. Solche Dinge werden außerdem in den meisten Fällen über die Sozialen Netzwerke geteilt. Man kann zwar einen Gerichtsbeschluss erwirken, aber die Durchsetzung ist sehr viel schwieriger“, meint auch Gainutdinow.

    An eine ordentliche Untersuchung dieser Vorfälle glaubt Gainutdinow nicht. „Als im August 2019 die gesammelten Daten der Teilnehmer an den Moskauer Protesten im Internet verbreitet wurden, leitete das Untersuchungskomitee die Beschwerden der Betroffenen an die Polizei weiter, die Polizei wiederum antwortete, es sei alles ‚okay‘, man sehe ‚keine Hinweise auf einen Straftatbestand‘“, erinnert sich der Jurist. „Auch von Roskomnadsor kam eine formelle Antwort. Deshalb bin sehr skeptisch, was die Erfolgsaussichten auf nationaler Ebene angeht – vor allem, weil der Staat offensichtlich wenig Interesse daran hat, diesen Fällen nachzugehen.“

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