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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Editorial: Fragen meiner Generation

    Editorial: Fragen meiner Generation
    Pjotr Lawrentjew, Republik Kalmückien (Ende 1930er–Anfang 1940er Jahre), Foto – © privat
    Pjotr Lawrentjew, Republik Kalmückien (Ende 1930er–Anfang 1940er Jahre), Foto – © privat

    Mein Urgroßvater starb, als ich vier Jahre alt war. Ich habe ihn nur ein paarmal gesehen. Wenn ich ihn treffen wollte, dann wurde mir oft gesagt, er sei sehr krank. Wie ich erst später erfuhr, war er in der Tat schwerkrank. Er war Alkoholiker. Er trank die letzten vier oder fünf Jahrzehnte seines Lebens fast jeden Tag.

    In einer Arbeiterfamilie in der Provinz des Russischen Reiches 1906 geboren, machte Pjotr Lawrentjew in den 1920er und 1930er Jahren eine steile Karriere, die der Oktoberrevolution zu verdanken ist. Er fängt an, in einer Fabrik zu arbeiten, tritt bald der kommunistischen Partei bei und studiert am sogenannten Institut der Roten Professur, einer Moskauer Hochschule für die Ausbildung der höchsten ideologischen Parteikräfte. Die soziale Mobilität, die in der Zeit des Großen Terrors eher einer schrecklichen sozialen Turbulenz ähnelte, katapultiert ihn in die Höhe, weit nach oben. Nach den Stalinschen Säuberungen 1937–38 wurde er zum Delegierten auf dem 18. Parteitag (1939) und Mitglied der Zentralen Revisionskommission, letztlich zum Ersten Parteisekretär in der Republik Kalmückien, einer Region im Süden Russland. Seine Position entsprach in etwa der eines Gouverneurs.

    Seine rasche Karriere war schon beeindruckend. Sehr lang dauerte sie allerdings nicht. Während des Großen Vaterländischen Kriegs gab es zu viele Opfer in der Bevölkerung Kalmückiens, was anscheinend unter anderem mit einer schlecht organisierten Evakuierung zu tun hatte. Außerdem fand in der Republik ein antibolschewistischer Aufstand statt. 1943 wurde er entlassen und …

    Ja, alle dachten, es kommt noch ein „und …“ und er selbst hat das ganze weitere Leben auf dieses „und“ gewartet. Er hatte erwartet, dass er verhaftet und erschossen wird, wie es mit einem großen Teil seiner Professoren, Mitstudenten, Kollegen, Vorgänger beim Parteitag und in der Revisionskommission geschah. Er wurde aber einfach auf einen niedrigen Posten versetzt, leitete seit 1944 einige Jahre eine Hochschule in der zentralrussischen Provinz. Die Hochschule, an der später meine Mutter, mein Vater und für jeweils ein Jahr auch mein Bruder und ich studierten. Ich erinnere mich noch an den Stolz, als ich am ersten Studientag in die Universität kam und das Foto meines Urgroßvaters an der Wand sah.

    Und jetzt, 2018, sehe ich mir auch ein altes Fotos von ihm an: Er sitzt in einem Zimmer, das Licht dringt durch das Fenster, so dass eine Schulter beleuchtet und die zweite im Dunkel bleibt. Er trägt, wie Trotzki, eine runde Brille, die er immer aufhatte, und den sogenannten stalinschen Frentsch – ein Symbol der damaligen Nomenklaturmode. Ich sehe nun sein Foto an und weiß nicht, wer er eigentlich war. War er ein Funktionär, der von der Stalinschen Säuberungen profitierte? Hat er beigetragen zum schrecklichen Verbrechen, zur Zwangsdeportation des ganzen kalmückischen Volkes, die seiner Amtszeit unmittelbar folgte? Oder kann man ihn mit seinem jahrzehntelangen Alkoholismus als ein Opfer der Stalinzeit bezeichnen?

    Wenn man heutige Medienberichte in Russland genau anschaut, fällt sofort auf, dass die Stalinzeit plötzlich ins Zentrum der öffentlichen Diskussion rückt. Das Aus für The Death of Stalin, das Errichten neuer Stalin-Denkmäler, die strafrechtliche Verfolgung eines Aktivisten oder auch die Versuche von Denis Karagodin, ein Gerichtsverfahren gegen Stalin zu eröffnen: Das alles zeigt, dass diese traumatisierte Epoche wieder aktuell wird, neu aufgerollt und thematisiert wird. Und die Mediendebatten werden meistens emotional so heftig geführt, als ob die Stalinschen Säuberungen nicht vor 80 Jahren, sondern gestern stattfanden.

    Wir bei dekoder haben entschieden, dass wir über das ganze Jahr 2018 diese Debatten in einem neuen Dossier beobachten, abbilden und kontextualisieren. Wie werden die Stalinschen Säuberungen im heutigen Russland wahrgenommen? Was verbindet man mit Stalin und warum spricht man nun über eine schleichende Stalinisierung? Wie verlief der Prozess der Ent-Stalinisierung nach Stalins Tod? Hängt eine Re-Stalinisierung mit einer misslungenen Ent-Stalinisierung zusammen? Damit beschäftigen wir uns in dem Dossier Stalin: Zwischen Kult und Aufarbeitung, das wir mit freundlicher Unterstützung der Stiftung für Aufarbeitung der SED-Diktatur durchführen.

    Viele Russen meiner Generation stellen sich diese Fragen. Das ist eine Generation, die nicht nur die offizielle Geschichte der Lehrbücher kennt, sondern auch die Zusammenhänge verstehen und erfahren möchte, welche Rolle ihre Vorfahren dabei gespielt haben.

    Wir haben viel zu tun.

    Euer Leonid
    Gnosenredakteur

    Diese Veröffentlichung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Die Brüder Henkin

    Die Brüder Henkin

    St. Petersburg, 1990er Jahre. Eine alte Dame stirbt und hinterlässt eine Wohnung mit allerlei Krimskrams. Neben anderem Gerümpel finden die Nachkommen zufällig einige Kästchen mit alten aufgerollten Negativstreifen. Einfache Familienfotos, die eh in alten verstaubten Fotoalben zu finden sind, mutmaßen die Erben zunächst und beachten die Rollen nicht weiter. Außerdem sind die Filme so alt, dass sie beim ersten Antasten zu Staub zu zerfallen drohen. Aus reiner Neugier entscheiden sich die Erben fast zwanzig Jahre später, die Filme doch zu scannen.

    Wenn man die Folien in den Händen wärmt, dann lassen sie sich langsam entrollen – in jeder der in Papier gewickelten Rollen sind einige Filmschnipsel – vier, acht, fünfzehn Aufnahmen, selten alle 36. Der erste Schnipsel ist gescannt und alles wie erwartet: Es sind Fotos des Großvaters, Leningrad, 1920-30er Jahre, Familie, Bekannte, Verwandte … Ab dem zweiten wird es aber spannend – dieselbe Zeit, aber plötzlich: Berlin. Aufnahme für Aufnahme entsteht auf dem Bildschirm eine ganze Geschichte zweier Städte und zweier Leben, erzählt von zwei Brüdern: Jewgeni und Jakow Henkin.

    dekoder veröffentlicht einen Bruchteil dieses Fotonachlasses, einige Aufnahmen zum ersten Mal.

    Leningrad, Foto – Jakow Henkin / © Olga Maslova Walther
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin / © Olga Maslova Walther

    Die alte Dame, die die Negative aufbewahrte, war Sofia Henkin (1910-1994), die jüngere Schwester von Jewgeni (1900–1938) und Jakow Henkin (1903–1941). Die drei Geschwister stammen aus Rostow am Don, wo sie in einer wohlhabenden jüdischen Familie aufgewachsen sind. Die Erbin Olga Maslova Walther erzählt: „Sofia erinnerte sich an lustige Geschichten, Gedichte, Liedchen und sprach nie darüber, wie dieses glückliches Leben jäh abbrach, wie die Eltern verstarben und welche Ereignisse genau sie zwangen, Rostow am Don zu verlassen.” Sicher ist nur, Ende der 1920er Jahre leben Jakow mit seiner Familie und sie in Leningrad; Jewgeni ist spätestens seit 1926 in Berlin.

    Geschichte einer untergegangenen Welt

    Aufnahme für Aufnahme entsteht auf dem Bildschirm eine untergegangene Welt wieder neu, eine äußerst tragische Geschichte, in der vieles noch unklar bleibt und die grundsätzlich aufgearbeitet werden muss. Zwei Städte, Berlin und Leningrad, die beide einst Hauptstädte großer europäischer Reiche waren, die beide im Ersten Weltkrieg auf verschiedene Weise bittere Niederlagen erlebten, entwickeln sich schrittweise zu Metropolen zweier totalitärer Regime. In die Bilder dringt oft unauffällig diese Realität ein, die beiden Brüdern zum Verhängnis wird und beide Länder in einen weiteren Krieg führt.

    Das alles wissen weder die Fotografen noch die Menschen, die fotografiert werden. Die dargestellte Welt ist von einer besonderen Atmosphäre, von scheinbarer Leichtigkeit des Daseins, von Sinnlichkeit und Freude gekennzeichnet, wie sie die hunderte, meist anonymen Gesichter auf den Fotos widerspiegeln.

    Beide Brüder waren keine hauptberuflichen Fotografen. Jakow war Wirtschaftsingenieur, Jewgeni studierte Schiffsmaschinenbau an der Technischen Universität Berlin und arbeitete danach als Musiker. Trotzdem zeugen die über 7000 Fotografien aus dem Nachlass der Brüder von ihrer großen Begeisterung für dieses Medium sowie von ihrer außergewöhnlichen fotografischen Begabung, die weit über die Grenzen der Amateurfotografie hinausgeht. Beide fotografierten hauptsächlich privat, bekamen aber immer wieder Aufträge, vor allem was die Dokumentation von Sport- und Massenereignissen anbelangte.

    Stummfilm ohne Untertitel

    Hunderte und tausende Gesichter machen den gesamten Fotobestand zu einem Gruppenportrait vor dem Hintergrund eines Zeitalters. Manche – zufällige Passanten, Bauarbeiter, Marktverkäufer – erscheinen nur einmal, um dann in Vergessenheit zu geraten. Einige tauchen mehrfach auf und erzählen kleine Geschichten – von einem Pionierlager bei Leningrad, vom Berliner Zoo, von Autorennen, Demonstrationen, Restaurants oder von einem Brand. Wenige Gesichter nur kommen immer wieder vor, werden zu lebendigen Protagonisten mit persönlichen Eigenschaften und schaffen ganze Sujetlinien.

    Wenn man die Folien in den Händen wärmt, dann lassen sie sich langsam entrollen. Foto – Olga Maslova Walther
    Wenn man die Folien in den Händen wärmt, dann lassen sie sich langsam entrollen. Foto – Olga Maslova Walther

    Zu diesen Menschen zählen nicht nur Familienmitglieder wie Sofia Henkin oder Jakows Ehefrau Frida, die namentlich bekannt sind. Da sind auch Freunde und Kollegen, wie zum Beispiel die Mitarbeiter des Heinrich-Hertz-Institutes in Berlin, mit denen Jewgeni zusammen einen Thereminvox baut, oder die Musiker, mit denen Jewgeni auf verschiedenen Bühnen auftrat, wie etwa im Konzerthaus Clou in Berlin-Friedrichstadt. Oder auch Lebensgefährten, wie eine schöne Berlinerin, mit der Jewgeni Ruderboot fährt, im Wald spazieren geht, verschiedene Veranstaltungen oder Freunde besucht.

    Wenn man sich lange mit diesen Fotos beschäftigt, bekommt man das seltsame Gefühl, dass all diese Leute alte und gute Bekannten seien, die aber keine Stimme und keine Namen haben. Wie ein Stummfilm ohne Untertitel.

    Bemerkenswert sind die vielen Gemeinsamkeiten und Parallelen in den Bildern der beiden Brüder, obwohl die Aufnahmen völlig unabhängig voneinander entstanden sind. Beide scheinen sich für ähnliche Themen zu interessieren und verwenden vergleichbare Kompositionsprinzipien, so dass es nicht immer einfach zu sagen ist, wer genau welche Fotos aufgenommen hat, und manchmal weiß man auf den ersten Blick auch nicht wo: Ist das Berlin oder Leningrad?

    Hauptthemen sind Portraits von Frauen und Kindern, Freunden und Bekannten, Straßenszenen, Massen- und Sportveranstaltungen, Tiere, Autos und Landschaften. Viele davon wurden nicht einfach spontan aufgenommen, sondern häufig unter Rückgriff auf ikonographische Traditionen, etwa das Motiv Mutter mit Kind, sorgfältig ins Bild gesetzt.

    „Es lebe der große Stalin“

    An dem von ihnen fotografierten, brodelnden Leben nehmen beide Fotografen aktiv teil (manchmal lassen sie sich auch von anderen fotografieren, so dass sie auf einem Filmabschnitt sowohl Fotografen als auch Fotografierte sind), die Entwicklung zweier totalitärer Regime betrachten sie etwas aus der Ferne. Scheinbar auch ohne große Angst, eher mit Neugier. Jewgeni geht mit Freunden durch Berlin spazieren und stolpert plötzlich über eine Anzeige auf der Litfaßsäule mit dem Aufruf „Die Juden aller Welt wollen Deutschland vernichten! Kauf nicht beim Juden!”. Er holt seine Kamera, macht ein Foto und geht weiter. Ein anderes Mal nimmt er die NS-Militärparade entlang der Straße Unter den Linden auf oder das Wahl-Transparent „Für den deutschen Sozialismus“ auf der Pariser Straße. Aber das alles geschieht nur unter anderem, nebenbei.

    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin (1933)
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin (1933)

    Auf den Fotos von Jakow sind die Stalin- und Lenin-Portraits in einem Stadion zu sehen, manchmal auch nur an der Seite des Fotos, die riesige Aufschrift „Es lebe der große Stalin“ oder eben die Parade bewaffneter Sportler. Ob er den sozialistischen Optimismus der Stalinzeit teilte, ist nicht bekannt. Aber selbst wenn, war es spätestens 1937 damit vorbei.

    Erstaunlicher als die Gemeinsamkeiten in den Bildmotiven sind die Parallelen im tragischen Schicksal der Brüder. Jakow Henkin, der das ganze Leben in Russland verbrachte, fiel 1941 unter deutschen Kugeln an der Leningrader Front. Sein Bruder Jewgeni, dessen Leben über viele Jahre hindurch eng mit Deutschland verbunden war, musste als Jude 1936 das Land verlassen, wurde aber im Dezember 1937, zur Zeit des Großen Terrors, in Leningrad als deutscher Spion vom NKWD verhaftet und nach wenigen Wochen erschossen. Sein Status als „Volksfeind“ löschte seinen Namen aus der Familiengeschichte. Sofia Henkin wusste von seiner Verhaftung, doch es gelang ihr nicht, Einzelheiten in Erfahrung zu bringen. Später vermied sie es, darüber zu sprechen.

    Beispiel reiner Fotokunst

    Entdeckt wurde der Fotobestand erst 2012, als keiner mehr gefragt werden konnte. Sofias Erbin Olga Maslova Walther gründete 2016 die NGO Henkin Brothers Archiv mit Sitz in Lausanne und konnte die Staatliche Eremitage in St. Petersburg begeistern, diese Fotos in einer Sonderausstellung zu zeigen. Die Schau, die es im Sommer 2017 in die Bloombergs Liste der zehn besten Ausstellungen weltweit geschafft hat, verwurzelte die Fotos nicht nur im historischen, sondern auch im künstlerischen Kontext. Der Fotograf Dmitry Konradt, der den Fotobestand 2012 entdeckte, sieht die Fotos nicht nur als historische Quelle, sondern als „ein Beispiel reiner Fotokunst. Und geboren ist sie nicht aus dem Bestreben, Kunst zu machen, sondern ausschließlich dank der Begabung der Fotografen“.

    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin
    Leningrad, Foto – Jewgeni oder Jakow Henkin (1936–37)
    Leningrad, Foto – Jewgeni oder Jakow Henkin (1936–37)
    In einem Vorort von Leningrad, Foto – Jewgeni oder Jakow Henkin (1936–37)
    In einem Vorort von Leningrad, Foto – Jewgeni oder Jakow Henkin (1936–37)
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin (1930er Jahre)
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin (1930er Jahre)
    In einem Vorort von Leningrad, Foto – Jewgeni Henkin (1936–37)
    In einem Vorort von Leningrad, Foto – Jewgeni Henkin (1936–37)
    In einem Vorort von Leningrad, Foto – Jewgeni Henkin (1936–37). Von links nach rechts – Frida, Jakow und Sofia Henkin
    In einem Vorort von Leningrad, Foto – Jewgeni Henkin (1936–37). Von links nach rechts – Frida, Jakow und Sofia Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Berlin, Foto - Jewgeni Henkin (Erste Hälfte der 1930er Jahre)
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin (Erste Hälfte der 1930er Jahre)
    Leningrad, Foto - Jakow Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Berlin, Foto - Jewgeni Henkin
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin (1933)
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin (1933)
    Berlin. Jewgeni Henkin (rechts) im Heinrich-Hertz-Institut
    Berlin. Jewgeni Henkin (rechts) im Heinrich-Hertz-Institut
    Leningrad. Jakow Henkin mit seiner Frau Frida und Tochter Galina
    Leningrad. Jakow Henkin mit seiner Frau Frida und Tochter Galina

    Text: Leonid A. Klimov
    Fotos © Olga Maslova Walther /  Henkin Brothers Archive


    Veröffentlicht am 08.02.2018

    Diese Veröffentlichung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Alte und neue Zeitrechnung

    Alte und neue Zeitrechnung

    Im Jahr 1840 verließ der deutsche Astronom Johann Heinrich Mädler die Berliner Sternwarte, und machte sich auf den Weg ins Russische Reich. In dem Land, wo viele deutsche Wissenschaftler tätig waren, übernahm er die Leitung der Sternwarte Dorpat (heute Tartu in Estland). Er hatte große wissenschaftliche Pläne. Ihn erwartete in Russland nicht nur moderne Technik, sondern auch ein altertümlicher Kalender.

    Während in den meisten europäischen Ländern zu der Zeit der gregorianische Kalender galt, lebte Russland noch mit dem alten julianischen. Und der Unterschied war groß: Zwölf Tage, und seit 1900 sogar 13. Da Russland aber nicht nur Handel, sondern auch viele politische und wissenschaftliche Beziehungen mit Europa pflegte und in den Städten außerdem viele Europäer lebten, musste man oft beide Daten im Blick behalten. In einem Aufsatz schrieb Mädler: „Unser heutiger Kalender ähnelt einer Uhr, die nicht nur ständig nachgeht, sondern auch falsch funktioniert“.1 Er unterbreitete den Vorschlag zu einer innovativen Kalenderreform, die dem „chronologischen Doppeldenken“ ein Ende setzen und auch die Fehler im gregorianischen Kalender korrigieren sollte. Russland hat jedoch erst nach dem Oktoberumsturz die fehlenden Tage nachgeholt. Mit dem Doppeldenken aber ging es weiter – noch heute sind seine Spuren sichtbar.

     

    Der Vorschlag, den in Russland geltenden julianischen Kalender dem europäischen anzupassen, wurde auch schon vor Mädler gemacht. So regte die St. Petersburger Akademie der Wissenschaften bereits 1830 an, eine solche Reform durchzusetzen. Der damalige Bildungsminister Karl von Liven warnte diesbezüglich Zar Nikolaus I., dass die Reform zu „unerwünschten Unruhen“ führen könne.2 Solch radikale Veränderungen könnten von der orthodox geprägten Bevölkerung negativ aufgefasst werden. Selbst den Übergang zum julianischen Kalender, der 1700 im Zuge der Reformen von Peter dem Großen geschah, bezeichnete man oft als antichristlich.

    Kalender als russische Mission

    Das Entscheidende für das Ablehnen aller Vorschläge jedoch war die Position der Russisch-Orthodoxen Kirche. Diese war vor allem wegen der Bestimmung der Ostertage dagegen. Nach dem gregorianischen Kalender fiel Ostern – wenn auch sehr selten – mit dem alttestamentarischen Pessach-Fest zusammen, was der orthodoxen Kirche nicht annehmbar schien.

    Die kompromisslose Position der Kirche besiegelte zunächst auch das Schicksal von Mädlers Vorschlag – der erst nach dessen Tod in der neu geschaffenen Kommission zur Kalenderreform 1899 ernsthaft diskutiert wurde. Auch wenn renommierte Wissenschaftler wie Dimitri Mendelejew für die Reform plädierten, konnte man sie zunächst nicht durchsetzen. „Die kulturelle Mission Russlands besteht in dieser Frage darin, den julianischen Kalender noch einige Jahrhunderte am Leben zu halten und damit den westlichen Völkern die Rückkehr zu erleichtern, weg von der gregorianischer Reform, die keiner braucht, zum unverdorbenen alten Stil“,3 so argumentierte der Vertreter der Synode Wassili Bolotow bei einer Kommissionssitzung.

    Die Tatsache, dass von der Regierung eine Kommission und damit auch ein Diskussionsraum geschaffen worden war, war bereits ein Zeichen, dass das Problem als solches erkannt wurde. Meteorologische Dienste und auch viele Behörden, vor allem die, die mit Außenbeziehungen und Handel zu tun hatten, waren bereits im 19. Jahrhundert zum gregorianischen Kalender übergegangen. In Zeitungen und Zeitschriften schrieb man beide Daten. Auch wenn das alltägliche und vor allem religiöse orthodoxe Leben im Land nach der alten Zeitrechnung verlief, war der sogenannte „neue Stil“ in der Öffentlichkeit durchaus präsent.

    Symbolischer Bruch mit dem Zaren

    Am 18. April 1917 schrieb der bereits entmachtete Nikolaus II. in seinem Tagebuch: „Im Ausland ist heute 1. Mai, deswegen haben unsere Tölpel entschieden, diesen Tag mit Umzügen, Chormusik und roten Fahnen zu feiern.“4 Das war nicht nur die erste legitime Feier des Tags der Arbeit in Russland, sondern auch das erste Mal, dass der „neue Stil“ dem alten vorgezogen wurde. Die Datierungen der revolutionären Ereignisse waren aber nicht konsequent. So fanden nach gregorianischem Kalender die Februarrevolution erst im März (23. Februar/8. März) und der Oktoberumsturz (25. Oktober/7. November) erst im November statt.  

    Der erste Mai als revolutionäre Zeitenwende / Foto © Michail Woronin/St. Petersburg
    Der erste Mai als revolutionäre Zeitenwende / Foto © Michail Woronin/St. Petersburg

    Die Kalender-Reform wurde schließlich erst nach dem Oktoberputsch von den Bolschewiki per Dekret durchgeführt. Diesmal ohne große Diskussionen oder gar Rücksprache mit der Kirche. „Als erster Tag nach dem 31. Januar gilt nicht der 1. Februar, sondern der 14. Februar“, hieß es im Dekret vom 26. Januar (8. Februar) 1918. Die Bolschewiki hatten wohl die proletarische Weltrevolution im Kopf, die „im Gleichschritt“ stattfinden musste – auch in kalendarischer Hinsicht. Sie hatten aber auch noch ein weiteres Ziel. Mit diesem Dekret, so der Osteuropahistoriker Karl Schlögel, war auch „symbolisch auf der Ebene der Zeitrechnung der Bruch mit dem Zarenregime vollzogen“.4

    Doppelherrschaft der Zeitregime

    Der Kalender listet nicht nur die Reihenfolge der Tage und Monate, er beinhaltet auch die Feiertage, die das gesellschaftliche Leben organisieren und strukturieren. Während vor der Revolution hauptsächlich kirchliche Feiertage begangen wurden, begann im Jahr 1917 „die Arbeit an einem neuen Zeitregime, einer neuen Zeitordnung, die sich vor allem gegen die von der Russisch-Orthodoxen Kirche geprägten Feiertage richtete“.5 1930, als alle kirchlichen Feiertage aus dem Kalender gestrichen wurden, schien diese Aufgabe offiziell erledigt zu sein.

    Die Russisch-Orthodoxe Kirche blieb allerdings bei der alten Zeitrechnung und legte dies schon beim Allrussischen Landeskonzil der Kirche 1918 fest. „Die Einführung des neuen Stils im zivilen Leben der russischen Bevölkerung darf den kirchlichen Menschen nicht daran hindern, seine kirchliche Lebensweise beizubehalten und sein religiöses Leben nach altem Stil fortzusetzen“6, hieß es in der Begründung. Da die Bevölkerung Russlands jedoch stark orthodox geprägt war und sich an der alten Kultur der Festtage orientierte, entstand ein komisches Phänomen: die gleichzeitige Existenz von zwei Zeitordnungen, der „julianisch-orthodoxen“ und der „gregorianisch-bolschewistischen“, die Schlögel als „Doppelherrschaft der Zeitregime“ bezeichnet.7 Man feierte also die staatlich-revolutionären und die kirchlichen Feiertage parallel. Auch wenn letztere verboten wurden.

    Betroffen von diesem Verbot waren unter anderem Weihnachten und das Neujahrsfest. Nach neuer Zeitrechnung wurden die Daten der alten Feiertage umgerechnet, Weihnachten entsprechend am 7. Januar und Neujahr am 14. Januar nach neuem Stil gefeiert. Teilweise ziehen es orthodoxe Gläubige noch heute vor, Neujahr erst am 14. Januar zu begehen. Denn in der orthodoxen Tradition geht Weihnachten eine Fastenzeit voraus, die das Feiern ausschließt. Für den 14. Januar entstand in Anspielung auf den „alten Stil“ der Begriff Altes neues Jahr.

    2016 hatte laut einer Umfrage des Lewada-Zentrums fast die Hälfte der Russen vor, Neujahr zwei Mal zu feiern.8 Am 14. Januar allerdings viel bescheidener als am 31. Dezember, weil man am nächsten Morgen meist früh zur Arbeit muss.


     

     

     

     

    1. zit. nach: Klimišyn, Ivan (1985): Zametki o našem kalendare ↩︎
    2. zit. nach: Ibid ↩︎
    3. zit. nach: Chulan, Wladimir (2016): „Kalendarnyj vopros“: sobornyje diskussii v istorii i sovremennosti in: Gosudarstvo, religija, cerkov´ v Rossii i za rubežom, Nr. 1 (34), S. 193 ↩︎
    4. Schlögel, Karl (2017): Das Sowjetische Jahrhundert: Archäologie einer untergegangenen Welt, München, S. 581 ↩︎
    5. Ibid. S. 582 ↩︎
    6. Swjaščennyj Sobor Pravoslavnoj Rossijskoj Cerkvi. Dejanija. Kniga VI: Dejanija LXVI-LXXVII, Moskva, 1918 ↩︎
    7. Schlögel, S. 582. Der Begriff „Doppelherrschaft der Zeitregime“ ist eine Anspielung auf die Doppelherrschaft der Provisorischen Regierung und der Räte, die zwischen Februar- und Oktoberrevolution in Russland existierte. ↩︎
    8. interfax.ru: Meneje poloviny rossijan sobralis´ otmečat´ Staryj Novyj God ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Xenia Sobtschak

    Xenia Sobtschak

    „Guten Tag, ich bin Xenia Sobtschak, und ich habe etwas zu verlieren“, so begann die damals wohl bekannteste TV-Moderatorin Russlands ihre Rede im Dezember 2011. Sie stand vor einer Menschenmenge, die auf den Moskauer Straßen gegen Wahlfälschungen protestierte. Das It-Girl, das damals auf so gut wie allen staatlichen und privaten TV-Sendern omnipräsent war, sagte, sie sei auf die Demonstration gekommen, weil ihr Vater, Anatoli Sobtschak, die russische Verfassung mitgeschrieben hat. In Anspielung auf die Machtrochade, die der damalige Präsident Medwedew und Premierminister Putin im September 2011 unternommen hatten, sprach sie darüber, dass die Macht kein Federball sei, den man zwischen zwei Spielern hin und her schlägt. Sie sprach über die Zivilgesellschaft, die einen Einfluss auf die Macht ausüben solle und darüber, dass im Zuge der Proteste auch eine neue oppositionelle Partei entstehen solle. Die Demonstranten, die  diese Ideen mehrheitlich teilten, pfiffen und riefen: „Geh weg, Schlampe!“

    Xenia Sobtschak hatte damals in der Tat etwas zu verlieren: Wegen der Teilnahme an der Protestbewegung und im Koordinationsrat der Opposition wurde sie von allen vom Staat kontrollierten Fernsehsendern gefeuert. Arbeitslos wurde Sobtschak allerdings nicht: Sie wechselte zum damals gegründeten unabhängigen Fernsehsender Doshd. Mit ihrem Interview-Format Sobtschak shiwjom (dt. Sobtschak live) und weiteren Sendungen wurde sie zum bedeutenden Teil der oppositionellen Medienwelt. Die Opposition nahm Sobtschak jedoch nie ganz als „eine von uns“ wahr. Das wurde besonders deutlich an den Medienreaktionen, als sie am 18. Oktober 2017 ihre Kandidatur für die Präsidentschaftswahl 2018 verkündete.

    Putin als Taufpate und Patenkind

    Xenia wuchs als Tochter von Anatoli Sobtschak auf – des Politikers, dessen Namen das St. Petersburger Museum der Entstehung der Demokratie im modernen Russland trägt. Anatoli Sobtschak, habilitierter Jurist und Professor der Leningrader Universität, war zwischen 1991 und 1996 Bürgermeister St. Petersburgs, aus seinem Kreis stammen viele später hochrangige Politiker und Topmanager. Während spekuliert wird, ob Wladimir Putin Xenias Taufpate ist (Sobtschak selbst dementiert dies), bezeichnet man ihren Vater selbst oft als Godfather von Wladimir Putin und Dimitri Medwedew: Putin arbeitete in Sobtschaks Apparat als Leiter des Komitees für Außenbeziehungen, Medwedew promovierte bei ihm.

    Dieser familiäre Hintergrund prägt Sobtschaks mediale Wirkung und löst allgemeines Misstrauen ihr gegenüber aus. Im Zuge der Bolotnaja-Proteste bat die oppositionelle Zeitschrift The New Times Xenia Sobtschak zu präzisieren, was sie eigentlich zu verlieren habe. Sie antwortete: „Meine Familie ist mit Putin und mit vielen Menschen im Staatsapparat verbunden. Und innerlich war das ein großer Schritt für mich.“1 Zu Putin, der als treuer Mensch gegenüber vielen ehemaligen Kollegen und insbesondere gegenüber seinem ehemaligen Vorgesetzten Sobtschak gilt, hat Xenia einen direkten Draht. 2011 wollte sie sich mit ihm persönlich treffen, um ihren oppositionellen Auftritt anzukündigen, 2017 legte sie offen, dass sie mit ihm über ihre Kandidatur im Voraus sprach. Allein deswegen werfen ihr zahlreiche Kritiker Abhängigkeit von Putin vor und bezeichnen ihre Kandidatur als „Kremlprojekt“. 

    In einer Umfrage von 2015 erzielte Sobtschak einen Bekanntheitsgrad von 95 Prozent in der Bevölkerung.2 Eine Mehrheit davon jedoch zeigte eine ablehnende Haltung ihr gegenüber, ungeachtet ihrer Beziehung zu Putin. Das liegt vor allem an ihrem Image als „russische Paris Hilton“, das sich hartnäckig hält – obwohl sie in den vergangenen Jahren als seriöse Moderatorin auftritt.


    Sobtschak aus Dom 2

    2004 schloss Sobtschak ihr Masterstudium am renommierten Moskauer Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO) ab. In ihrer Masterarbeit verglich sie die Präsidentschaftssysteme in Russland und Frankreich. Auch wenn ihre Abstammung, ihr Studium und ihre Vernetzung eine hervorragende Karriere im Staatsdienst versprachen, entschied sie sich fürs Showbusiness und übernahm die Moderation einer der meistdiskutierten boulevardesken Reality-Show im russischen Fernsehen: Dom 2 (dt. Haus 2). Die Sendung, die seit 2004 als Pendant des europäischen Big Brother vom Fernsehsender TNT ausgestrahlt wird, brachte ihr nicht nur allgemeine Bekanntheit, sondern auch fast flächendeckende Kritik. Die Show, in der die Teilnehmenden ein Haus bauen und währenddessen einen geeigneten Partner finden müssen, wird oft für ihren pornographischen Charakter kritisiert.3 Dom 2 wurde zum Zweitnamen Sobtschaks: „Sobtschak aus Dom 2“ – so lernten die zahlreichen Zuschauer sie kennen. Und so wird sie heute noch vorgestellt.4

    Dazu kommt außerdem ihr exzentrischer Lebensstil in Russlands High Society. Sobtschak, It-Girl und Promi, trägt teure Sachen, gilt als Stilikone und Verkörperung des russischen Glamours. Sie ist energisch, laut und scharfzüngig, reagiert schnell auf Kritik und hat den Ruf, ihre Gesprächspartner häufig aus der Fassung zu bringen.5 So geriet sie immer wieder in Skandale, die in der Boulevardpresse ständig und ausführlich diskutiert werden. Mal handelt es sich um einen öffentlichen Streit bei einer Preisverleihung, mal um einen beleidigenden verbalen Schlagabtausch im Fernsehen oder im Radio. Seit 2012 gab es immer wieder gezielte Diskreditierungskampagnen gegen Sobtschak. Im Zuge der Bolotnaja-Proteste, bei denen sie aktiv dabei war, wurde zum Beispiel ihre Wohnung durchsucht. Die Ermittler fanden eine Million Euro und eine halbe Million US-Dollar in bar. Viele Medien diskutierten die Untersuchung, Fotos davon wurden sowohl im Fernsehen als auch in Printmedien veröffentlicht.6 Ihr schlechtes Image vervollständigen auch zahlreiche Fake-Geschichten und Internet-Meme, die zum größten Teil darauf ausgerichtet sind, sie als unzüchtige und dumme Blonde mit einem „Pferdekiefer“ darzustellen.

    Was aber auch ihre schärfsten Kritiker zugeben: Sobtschak ist außergewöhnlich umtriebig. Seit 2004 moderierte sie außer Dom 2 und Sobtschak live auch die Reality-Shows Blondine in Schokolade und Der letzte Held, die Entertainment-Show Mädels, die politischen Talk-Shows Gosdep 1, 2, 3 (dt. State Department) und viele andere. Außerdem moderiert sie Rundfunksendungen auf Serebrjani Doshd (dt. Silberner Regen), ist Chefredakteurin bei den Mode-Magazinen L´Officiel und SNC, leitet spezielle Projekte des Medienportals Snob, schreibt Bücher zu Mode und Lifestyle, spielte in Kinofilmen und drehte einige Musik-Videos. Sie ist eine der am häufigsten angefragten und teuersten Veranstaltungsmoderatorinnen, und laut Forbes Russia mit 1,2 bis 2,3 Millionen US-Dollar Einkommen im Jahr seit 2007 in der Top-Ten-Liste der russischen Celebrities präsent.7

    Kandidatin „gegen alle“

    Am 31. August 2017 veröffentlichte das Wirtschaftsblatt Vedomosti einen Artikel, in dem behauptet wird, dass der Kreml nach einem weiblichen Sparringspartner für Wladimir Putin für die Präsidentschaftswahl 2018 suche. Unter vielen Frauen stand da auch Xenia Sobtschak, als „ideale Variante“. Sie sei klug, glamourös, interessant, aber entspreche nicht einer typisch russischen Frau. „Die Frage ist, ob sie sich traut.“8 Nach langen Diskussionen in den Medien, in denen sie mehrmals als Kreml-Kandidatin angegriffen wurde, verkündete sie ihre Kandidatur am 18. Oktober. Sie wolle eine Kandidatin „gegen alle“ sein, so Sobtschak. Sie wolle wieder einen Zugang zum Staatsfernsehen bekommen, ihre Moderations-Honorare erhöhen, eine landesweite PR-Aktion starten, den Vorschlag Putins nicht ablehnen, sagen dagegen ihre Kritiker.9 Für den Kreml sei sie dagegen die ideale Kandidatin, da sie die Wahlbeteiligung erhöhen, die Stimmen von anderen ernstzunehmenden oppositionellen Kandidaten abziehen und die für Putin sogar in die Höhe treiben könnte.

    Was ihr aber am meisten vorgeworfen wird: Sie habe kein vernünftiges Programm, als liberale Kandidatin spiele sie nach Kreml-Regeln, noch dazu kündigte sie ihre Entscheidung an, als Oppositonspolitiker Nawalny, der ebenfalls 2018 kandidieren wollte, im Gefängnis war. Ob sie tatsächlich eine Kandidatin des Kreml ist, ist nicht unumstritten, einen Zugang zum Staatsfernsehen hat sie aber schon: Nach einigen Jahren TV-Sperre sendete der Erste Kanal einen Teil ihres Wahlvideos, in dem sie sich nun nicht nur an das Internetpublikum, sondern an die breite Zuschauerschaft wendet: „Ich bin Xenia Sobtschak, ich bin 36 Jahre alt.“


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    1. The New Times: „Mne Putin kak čelovek očen simpatičen, no mne on ne simpatičen kak politik“ ↩︎
    2. RBC.ru: WCIOM rasskazal o negativnom otnošenii bol´šinstva rossijan k Sobčak ↩︎
    3. vgl.: Rossiskaja Gaseta: Rašid Nurgalijev ne isklučajet zakrytija skandalnogo realiti-šou „Dom-2“ ↩︎
    4. Komsomolskaja Prawda: Sobčak iz Dom 2 idet v presidenty ↩︎
    5. Nach dem skandalösen Interview mit Sobčak musste z. B. die Journalistin Katja Gordon den Radiosender Majak verlassen: Wsgljad: Katja Gordon uvolena ↩︎
    6. Life: Life.ru publikujet foto obyska v kvartire Sobčak. Die Durchsuchung wurde im Rahmen der sogenannten Bolotnaja-Prozesse durchgeführt, bei dem Xenia Sobtschak als Zeugin aussagte. Die Ermittler sprachen von mehreren Umschlägen mit Bargeld. Sie wollten feststellen, ob es sich dabei um Schwarzgeld und eventuell sogar um die sogenannte „schwarze Kasse der Opposition“ handelte. Die Fotos aus Sobtschaks Wohnung wurden noch am Tag der Durchsuchung veröffentlicht. Dies war nicht rechtmäßig. Anfang Juli 2012 tauchte ein Werbespot auf YouTube auf, der angeblich von der Steuerbehörde war: In dem Video sortiert eine Frau, die Sobtschak sehr ähnlich sieht, Geld in Briefumschläge. Auch wenn die Steuerbehörde sich von dem Video distanzierte, sorgte es ein erneutes Aufkommen der Diskussion über Sobtschaks Millionen. ↩︎
    7. Forbes Russia: Ksenija Sobčak ↩︎
    8. Vedomosti: Kandidatom v presidenty Rossii možet stat´ ženšina ↩︎
    9. vgl.: Navalnyj live/YouTube: Sobčak i vybory, vosstanije migrantov… ↩︎

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  • Editorial: Musik der Revolution

    Editorial: Musik der Revolution

    MUSIK DER REVOLUTION,

    liebe Leserinnen und Leser, hörte der Dichter Alexander Blok in den Ereignissen rund um das Jahr 1917. Und er forderte, dieser Musik zuzuhören, um die Revolution mit allen Sinnen zu erfassen. Als das Medium, das nach Russland hineinhört, lauschen wir hier in der dekoder-Redaktion das ganze Jahr, welche Töne in den russischen Medien angesichts des Revolutions-Jubiläums angeschlagen werden. Diese Materialien bündeln wir in unserem, mit Unterstützung der ZEIT-Stiftung zusammengestellten, Dossier 1917//2017.

    Und wir stellen fest: Das Revolutions-Jubiläum geht scheinbar an Russland vorbei, und im Lande herrscht Schweigen. Vergleichsweise, natürlich.

    Ganz unerwartet kommt das nicht, in den Medien fragte man bereits im Januar: Was feiern wir? Wie sollen wir gedenken? Die Revolution, über die kein Konsens herrscht, sollte man lieber einfach vergessen. Warum ist das so? In seinem aktuellen Text gibt Sergej Schelin auf Republic eine mögliche Antwort auf diese Frage: Mit dieser Vergangenheit tun sich alle schwer, die Revolution ist ein Erbe ohne Erben

    In dieser Stille werden die einzelnen Stimmen, die sich zum Thema äußern, umso lauter: wie etwa Boris Kolonizki, ein angesehener Historiker und Experte der russischen Revolution, der an der Europäischen Universität in St. Petersburg lehrt. Kolonizki gab das ganze Jahr über diverse Interviews, von denen wir eins übersetzten. Darin blickt er sowohl auf die Atmosphäre (Teil I) als auch auf die führenden Köpfe des Jahres 1917 (Teil II) zurück. Die Mosaiksteinchen der Ereignisse fügen sich so zu einem bunten Bild zusammen. Genauso bunt und vielfältig, wie die Wahrnehmung des Oktoberaufstandes im Spiegel der Presse aus dem Jahr 1917.

    Dieses Bild wollten wir mit unseren Gnosen nach und nach rekonstruieren: Carmen Scheide wirft einen Blick auf die Lage der Frauen, die mit einer Demonstration den Auftakt für die Februarrevolution gegeben haben, Matthias Stadelmann zeichnet ein Portrait des letzten russischen Zaren Nikolaus II und Frithjof Benjamin Schenk beschreibt die Februarrevolution.

    Auch mit einigen Mythen wird in unserem Revolutions-Dossier aufgeräumt: Frithjof Benjamin Schenk erzählt von Lenins Weg in die russische Revolution im Zug, der eben nicht plombiert war. Oksana Bulgakowa beschreibt, wie ikonographische Bilder der Revolution tatsächlich erst Jahre nach 1917 entstanden sind – etwa in Eisensteins Film Oktober. Robert Kindler macht deutlich, dass die Bolschewiki eine Splittergruppe waren, die erstmal keine große politische Bedeutung hatte. 

    Und was machte Lenin eigentlich zwischen Februar- und Oktoberrevolution? Davon berichtet Benno Ennker. Robert Kindler erklärt außerdem, warum der Erste Weltkrieg für Russland 1917 so fatal war und zeigt anhand zweier Beispiele, wie es zu der Zeit an der Peripherie des Russischen Reiches aussah. 

    Ohne Bilder wäre das Bild jedoch unvollständig. Zusammen mit Monica Rüthers bieten wir daher auch etwas fürs Auge: Revolutionäre Grüße aus dem Jahr 1917.

    Doch die Revolution ist noch nicht vorbei – das Dossier wächst weiter bis zum Ende des Jahres.

    Und hört unbedingt noch rein in die Musik der Revolution!

    Euer

    Leonid A. Klimov
    Wissenschaftsredakteur

     

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  • Kino #1: Ironija Sudby

    Kino #1: Ironija Sudby

    „Es gibt eine Tradition: Jedes Jahr am 31. Dezember gehe ich mit Freunden in die Banja … und wir baden da“ – so fängt Shenja Lukaschin, Protagonist des Filmes Ironija sudby (dt. Ironie des Schicksals), immer wieder an, seine unglaubliche, aber doch wahre Geschichte zu erklären, die – wie es in einem einführenden Untertitel gleich zu Beginn heißt  – so „nur und ausschließlich in der Neujahrsnacht passieren konnte“. Mit Silvester und dem Neujahrsfest ist Ironie des Schicksals auf das Engste verflochten: Nicht nur spielt diese klassische sowjetische Verwechslungskomödie am 31. Dezember, der Film läuft auch traditionell am letzten Tag jedes Jahres im Fernsehen und wurde am Neujahrstag 1976 zum ersten Mal in der UdSSR ausgestrahlt.

    Von der Banja, einem russischen Dampfbad, fahren vier Freunde zum Flughafen, weil einer von ihnen zum Silvesterfest nach Leningrad fliegen muss – sie haben schon einiges intus. Während Shenja und Pawlik im Restaurant des Moskauer Flughafens selig vor sich hin dösen, versuchen die zwei anderen sich zu erinnern, wer eigentlich der Reisende sein sollte. „Wir dürfen das nicht dem Zufall überlassen. Wir werden einfach und logisch vorgehen“, sagt einer von ihnen. Die alkoholisierte Logik aber versagt, und es steigt der Falsche in den Flieger.

    Weihnachtserzählung

    Das Filmsujet erinnert an die Tradition der sogenannten Swjatotschnye rasskasy (zu übersetzen ungefähr als Weihnachtserzählungen), in denen sich der alltägliche Lauf des Lebens durch ein übernatürliches Ereignis um Weihnachten plötzlich und grundlegend ändert (bzw. um den Neujahrstag herum, der in Sowjetrussland viele Attribute von Weihnachten übernommen hat)1. Die moderne, realistische Kunst nutzt anstelle des Wunders entweder die Kraft des Traums oder die des Alkohols. Letzterer sorgt in Ironija Sudby denn auch dafür, dass es letztlich der weggetretene Shenja Lukaschin ist, der am 31. Dezember in Leningrad landet und nicht Pawlik, der eigentlich den Flug hätte antreten sollen.

    Auf dem Flughafen rätseln die Männer, wer von ihnen los muss. Der Satz dazu fällt heutzutage gern, wenn unter mehreren Leuten unklar ist, wer etwas zu tun oder vorhat.
    Auf dem Flughafen rätseln die Männer, wer von ihnen los muss. Der Satz dazu fällt heutzutage gern, wenn unter mehreren Leuten unklar ist, wer etwas zu tun oder vorhat.

    Wenn man sagt, die Menschen in Russland schauen diesen Film traditionell am Silvesterabend, so stimmt das nur teils: Während der umfangreichen Neujahrsvorbereitungen schaffen nur wenige, den Blick vom Herd oder vom Schneidebrett auf den Fernseher zu richten. Dies ist aber auch nicht notwendig, denn den Text kennt eh jeder auswendig. Bereits die Erstausstrahlung sahen etwa 100 Millionen Menschen – damals nahezu zwei Fünftel der gesamten sowjetischen Bevölkerung. Die Zuschauer waren so begeistert, dass der Film bereits Anfang Februar wiederholt werden musste. Längst sind zahlreiche Zitate zu geflügelten Worten geworden.

    Und auch heute noch drücken die Menschen beim Zubereiten von Salaten wie Vinaigrette und Hering im Pelzmantel oder beim Schmücken des Tannenbaums hektisch auf der Fernbedienung herum, um den Sender zu finden, auf dem der Film gerade läuft. Wenn man Glück hat, landet man wenigstens noch in der ersten Hälfte der dreistündigen Verwechslungskomödie. Etwa da, wo der immer noch betrunkene Shenja im Leningrader Flughafen das Taxi nimmt, dem Fahrer das Ziel der Fahrt mitteilt – und dabei seine Moskauer Adresse nennt.

    Wiegen nach der Banja - Anlass zur Verbrüderung. Bis heute gern mit beliebigen Verben angewandtes Filmzitat, wenn es ums Anstoßen geht.
    Wiegen nach der Banja – Anlass zur Verbrüderung. Bis heute gern mit beliebigen Verben angewandtes Filmzitat, wenn es ums Anstoßen geht.

    Uniforme Landschaft und Toponymie

    Treibende Kraft der Handlung ist die uniforme Landschaft der sowjetischen Randbezirke und ihre stets gleichen Straßennamen. So gibt es im Leningrad des Films, wie auch in Moskau, eine 3. Uliza Stroitelei (dt. 3. Bauarbeiterstraße), einen identischen Plattenbau Nr. 25, und ebenso eine Wohnung mit der Nr. 12 und ähnlicher Möblierung. Und, Wink des Schicksals: Sogar der Schlüssel passt. Der Protagonist kommt in die fremde Wohnung und stürzt sich todmüde ins Bett. Dort findet ihn Nadja Schewelewa – die eigentliche Bewohnerin dieser Leningrader Wohnung – als sie ihr eigenes Neujahrsfest vorbereiten will und auf ihren Verehrer wartet. So balanciert der Film zwischen Satire auf die monotone Wohnarchitektur und zarter zwischenmenschlicher Lyrik: Er macht sich einerseits über die Eintönigkeit des Planbaus lustig, andererseits entsteht gerade aus ihr das Private, Intime und Menschliche, eine Beziehung zwischen Shenja und Nadja.

    Wer daheim viel Betrieb hat, ein Kommen und Gehen, zitiert gern diesen Satz.
    Wer daheim viel Betrieb hat, ein Kommen und Gehen, zitiert gern diesen Satz.

    Rituelle Funktionen

    Für viele trägt dieser Film jedes Jahr zu einer festlichen Stimmung bei. Die Handlungen der Protagonisten spiegeln diejenigen der Zuschauer: Beide schmücken den Baum, bereiten das Essen zu, Geschenke werden ausgetauscht. Und zwischendurch geschieht das Wunder, in seiner modernen Form: Die Liebe zweier Fremder, die alles auf den Kopf stellt, die gewohnten Strukturen auflöst – und Raum für eine solche Intimität bietet, die so im Spätsozialismus kaum vorstellbar wäre. Der Zuschauer, in einem ganz ähnlichen Plattenbau, in einer fast identischen Wohnung sitzend, erkennt sich im Filmgeschehen wieder. Kann nun auch diesseits des Bildschirms ein Wunder geschehen?

    Sowjetische Menschlichkeit

    Dieser Effekt des Wiedererkennens gelingt dank Eldar Rjasanows Filmsprache der sowjetischen Menschlichkeit. Im Gegensatz zu den typischen Situationskomödien der 1930er bis 1950er Jahre, in denen keinerlei Lebensähnlichkeit zu spüren war, betont Rjasanow in seinen Filmen das Lebendige und Realistische, mit dem Menschen im Zentrum.2 Zahlreiche vertraute Alltagsdetails verdeutlichen darüber hinaus, dass es sich um einen privaten Raum handelt, einen Raum des Rückzugs, zum Beispiel wenn Gedichte halb verbotener Schriftsteller rezitiert werden (wie Marina Zwetajewa oder Boris Pasternak).

    Wie auch viele andere sowjetische Filme, für die es ähnliche Betrachtungsriten gibt3, schafft Ironie des Schicksals eine gemeinsame visuelle Erfahrung über die Generationen hinweg. Während der Film für jüngere Menschen einen unterhaltsamen Charakter hat und etwas über den kuriosen Alltag der Sowjetmenschen erzählt, wird die ältere Generation beim Zuschauen von nostalgischen Gefühlen ergriffen.

    Inzwischen geflügelte Worte bei warmem Wasser – auf Russisch sofort als Zitat erkennbar.
    Inzwischen geflügelte Worte bei warmem Wasser – auf Russisch sofort als Zitat erkennbar.

    Dabei schöpft Rjasanows Film seine künstlerische Kraft weniger aus der abgebildeten Realität als aus den zahlreichen Details, Symbolen und Anspielungen. Die poetische Doppelbödigkeit offenbart sich schon im verlängerten Filmtitel … ili s legkim parom (auf Deutsch in etwa: … oder: Wünsche, schön geschwitzt zu haben). Mit dem Leitmotiv der Banja wird immer wieder auf unterschiedliche Weise gespielt: Sie ist der Auslöser des großen Missgeschicks, das sich dann als Chance zu einem Neuanfang entpuppt. Sie eröffnet dem Hauptprotagonisten als Motiv der körperlichen und seelischen Reinigung den Weg zu seinem Glück4 – und vielleicht, auf einer Metaebene, auch dem Zuschauer. Und hinter dem Banja-Wunsch s legkim parom verbirgt sich auch der Neujahrswunsch, immer gleich, doch immer wieder verheißungsvoll: S nowym stschastjemMöge es Glück bringen!

    Text: Leonid Klimov
    Veröffentlicht am 30.12.2016


    „Ironija Sudby“ gibt es hier vom Filmstudio Mosfilm mit englischen Untertiteln

    Teil 1

     

    Teil 2


    1.Mehr über die Verbindung zwischen dem Film Ironie des Schicksals und der Tradition der Weihnachtserzählungen siehe Lesskis, Irina (2005): Film „Ironija Sudby…“: ot ritualov solidarnosti k poėtike izmenennogo soznanija, in: Novoje literaturnoje obozrenije, Nr. 76
    2.Daškova, T. (2008): Granicy privatnogo v sovetskich kinofil’mach do i posle 1956 goda, S. 160-161
    3.Es gibt eine Art Film-Kanon für Feiertage. Am Tag des Sieges sind das zum Beispiel A sori sdes tichije oder Letjat Shurawli, am Internationalen Tag der Frau (8. März) ist es zum Beispiel Slushebny roman.
    4.Für mehr Informationen siehe Kaspe, Irina (2010): GRANICY SOVETSKOJ ŽIZNI: predstavlenija o „častnom“ v izoljacionistskom obščestve, in: Novoje literaturnoje obozrenije, Nr. 101
     

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    Editorial: Wenn es kompliziert wird

    Sei es die europäische Flüchtlingskrise, sei es der Ukraine-Konflikt: Wenn fundamental gegensätzliche Narrative das Gespräch erschweren oder gar unmöglich machen – was ist da die Rolle der Medien? Um Fragen wie diese ging es auf der n-ost Medienkonferenz On the Tightrope. Journalism in a polarized Europe, zu der an diesem Wochenende in Moskau mehr als 100 Teilnehmer zusammenkamen. Wir von dekoder waren als Medienpartner dabei und haben in unserem Workshop Curate, Translate, Contextualize intensiv darüber diskutiert, inwiefern ein Nationalgrenzen überschreitender Journalismus eine Antwort auf die Herausforderungen für einen Dialog sein kann. 

    Vor allem aber haben wir viele spannende Menschen kennengelernt – darunter nicht wenige, die wir auch schon auf dekoder übersetzt haben: Etwa Irina Prochorowa, die neulich im Meduza-Interview eine neue politische Sprache forderte. In ihrem Diskussionsbeitrag betonte sie, dass totalitäre Ideen derzeit in Ost wie West attraktiv und populär werden, und rief zu einer gemeinsamen Anstrengung auf, um sie zu überwinden: „Russland und Europa“, sagte sie, „sitzen im selben Boot.“

    Alexey Kovalev, der Nudelentferner, berichtete über die Anfänge seines Projekts InoSMI.ru, das ausländische Medienartikel ins Russische übersetzt und inzwischen – ohne ihn – Teil der staatlichen Medienagentur Rossija Sewodnja ist. Von Dmitry Okrest konnten wir uns nochmal ausführlich schildern lassen, was Besucher im militärpatriotischen Park Patriot erwartet. Und daheim bei Olga Beshlej (die mit dem riesigen rosa … und der hassgeliebten Studienkameradin aus Lettland) haben wir – ganz nach sowjetischer Tradition – bis spät in die Nacht philosophisch-politische кухонные разговоры, Küchengespräche, geführt. 

    Die großen Probleme konnten in diesen drei Tagen nicht geklärt werden. Viele der Panel-Diskussionen schienen die Kommunikationsschwierigkeiten eher zu veranschaulichen als zu lösen. Und dennoch ist es gut zu wissen, dass es so viele Menschen gibt, die sich auch in einer derart polarisierten Welt und allen oft ernüchternden Resultaten zum Trotz immer wieder zusammensetzen, um nach einer gemeinsamen Sprache zu suchen – Menschen, denen gerade aufgrund der bestehenden Deutungs- und Meinungsunterschiede an einem tieferen Verständnis der Lage gelegen ist.

    „Russland und Europa sitzen im selben Boot.“ (Irina Prochorowa)
    „Russland und Europa sitzen im selben Boot.“ (Irina Prochorowa)

    Das nehmen wir dankbar mit, um auch weiterhin mit unseren Artikelübersetzungen, Gnosen und Presseschauen einen Beitrag zu leisten dafür, dass Ost und West füreinander lesbar werden. Mehr und mehr bemühen wir uns, dabei neben den Text auch das Bild zu stellen: Mit unseren Infografiken haben wir im vergangenen Monat ein neues Format eingeführt, um Informationen unmittelbar visuell darzustellen. 

    Die Grafiken zeigen etwa, wie sich Putins Umfragewerte über die letzten Jahre entwickelt haben, wie sich die neu gewählte und in dieser Woche konstituierende Duma zusammensetzt oder welche statistischen Anomalien der Physiker Sergej Schpilkin bei der Dumawahl festgestellt hat. Bei fast allen Darstellungen lässt sich dabei allerlei klicken, auseinander- und zusammenschieben oder auswählen – es war uns wichtig, dass die Grafiken viele interaktive Möglichkeiten bieten, was technisch gesehen mitunter unerwartet kompliziert war. Aber so ist es eben mit der Interaktion: Es ist nicht immer einfach, sie in Gang zu bringen. Doch wenn sie einmal funktioniert, dann lohnt sie sich.

    Es grüßen aus Moskau

    Social-Media-Redakteur Daniel Marcus und Gnosen-Redakteur Leonid Klimov

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    Editorial: dekoder-Gnosmos

    Bei unserer Gnosen-Umfrage, liebe Leser, konntet Ihr zwischen drei Themen auswählen: Ella Pamfilowa, Sowjetmensch und Russische Rockmusik. Die meisten Likes haben entschieden – und hier ist sie nun, die Gnose zu einem zentralen Phänomen der politischen Kultur der UdSSR: dem Sowjetmenschen.

    Normalerweise wählen wir  unsere Gnosen-Themen so aus: Wir scannen den journalistischen Artikel, den wir übersetzen, auf Begriffe und Formeln, die einer Entschlüsselung bedürfen. Für manche davon reicht eine lexikalische Notiz: die nennen wir Blurb, das ist ein kleines Textfenster, das aufspringt, wenn Ihr mit der Maus drauf geht. Weiterführende Begriffe dagegen, die wir zu Knotenpunkten unseres dekoder-Wissensnetzes machen wollen, lassen wir „vergnosen“. Konkret heißt das: Wir beauftragen Experten, einen Artikel darüber zu schreiben. Und tragen so das Wissen aus den Forschungszimmern der Institute in den öffentlichen Raum des Internets.

    Der Weg, den wir nun mit der Umfrage eingeschlagen haben, ging nun nicht vom Artikel zur Gnose, sondern andersherum: Ihr habt einen dieser Knotenpunkte ausgewählt, und wir fragten als Autor für die Gnose über den Sowjetmenschen Benno Ennker (geb. 1944) an – einen Osteuropahistoriker mit Lehraufträgen in St. Gallen und Tübingen, der schon seine Doktorarbeit zum Thema Leninkult geschrieben hat. Wir konnten uns sicher sein, dass der Wissenschaftler das Thema sowohl mit Leidenschaft als auch mit nötiger Distanz beleuchten wird. Außerdem haben wir zur Gnose einen Artikel gefunden – den wir Euch morgen präsentieren werden. 

    Dekodieren, das hieß in diesem Fall: In Zusammenarbeit mit dem Autoren zerlegten wir die so vielfältige Chiffre des Sowjetmenschen in ihre Einzelteile, übersetzten ihren Kontext und fügten alles zu einer systematischen, gut verständlichen Analyse zusammen.

    Der Sowjetmensch ist einer der zentralen Bezugspunkte, mit denen wir Russland entschlüsseln können. So eröffnet die Gnose viele neue Blickwinkel innerhalb unseres „Gnosmos“: etwa zum Begriff des Liberalen, der im Russischen schon seit Sowjetzeiten eine negative Bedeutung hat. Auch der Anpassungsdruck der Kommunalka – einer Lebensform der Sowjetmenschen im Kleinen – lässt sich besser verstehen, wenn man den Anpassungsdruck auf den Sowjetmenschen im Großen kennt.

    Schon bald werden wir außerdem zeigen, wie die Kraft der Rockmusik daran mitwirkte, den Mythos über diesen Idealmenschen ins Wanken zu bringen. Wir werden uns auf den Sowjetmenschen beziehen, wenn wir Euch bald den großen Unterschied zwischen Russen und Russländern präsentieren. Deshalb möchten wir Euch für Eure Auswahl danken!

    Wenn Ihr Euch durch den dekoder „Gnosmos“ klickt, werdet Ihr außerdem viele weitere solcher Bezüge, Querverweise und Ergänzungen entdecken.

    Wir wünschen Euch viel Freude beim Lesen,

    Eure dekoder Gnosenredakteure
    Anton Himmelspach und Leonid A. Klimov

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  • Manegenplatz

    Manegenplatz

    Der Manegenplatz, kurz auch Maneshka genannt, liegt im Zentrum Moskaus gleich westlich der Kremlmauern. Benannt nach der am Südrand gelegenen Manege, entstand der Platz erst in den 1930er Jahren.

    Die wechselvolle Geschichte der Stadt verdichtet sich hier zu kulturellen und historischen Knotenpunkten: Traditionsreiche Namen wie Ochotny Rjad und Mochowaja uliza erinnern an vergangene Zeiten, als hier der Handel blühte. Von den Vaterländischen Kriegen gegen Napoleon und Hitler, die für das (offizielle) kulturelle Gedächtnis Russlands noch immer zentral sind, zeugen die Manege und das Denkmal für Marschall Shukow.

    Nicht weniger wichtig aber ist der Manegenplatz als Ort und Symbol für Zusammenstöße von offiziellen und oppositionellen Strömungen: Hier fanden in den frühen 1990ern Demonstrationen statt, die maßgeblich zum Zerfall der UdSSR beitrugen, später wüteten hier mehrmals nationalistische Hooligans. Die Verkleinerungsform Maneshka steht seither weniger für den Platz selbst als für die Krawalle im Jahr 2010.

    Der Manegenplatz in Moskau: Wer es schafft, hier den Ton anzugeben, der kann sich auch landesweit Gehör verschaffen / Foto © Ilya Varlamov/varlamov.ru

    Steht man unweit des Kreml vor dem Four-Seasons-Hotel – dem ehemaligen Hotel Moskwa – am nordöstlichen Ende des Manegenplatzes, sieht man vor sich den Eingang zum unterirdischen Einkaufszentrum Ochotny Rjad. Es wurde erst Ende der 1990er Jahre fertiggestellt, doch sein Name (dt. etwa Jagd-Markt) erinnert an längst vergangene Zeiten, als gleich rechts von hier mit Wild, Vieh und Jagdwaffen gehandelt wurde.1

    Auch geradeaus, wo heute Spaziergänger auf dem Manegenplatz an akkurat gestutztem Rasen und pompösen Springbrunnen vorbeiflanieren, herrschte lange Zeit geschäftiges Treiben.
    Eine Karte von 1852 zeigt an dieser Stelle ein ganzes Viertel aus Gassen und Gebäuden, wo sich noch bis zur Revolution das organisierte Chaos russischer Märkte abspielte. Als man in den 1930er Jahren das Hotel Moskwa errichtete, wurde das Quartier vollständig abgerissen – es entstand der Manegenplatz.

    Exerzierhalle, Garage und Galerie

    Im Westen liegt die Mochowaja-Straße2, an der entlang sich auch die Manege erstreckt. Dieser lange, von Säulen umstandene Bau schließt den Platz nach Süden ab. Errichtet wurde die Manege zum fünfjährigen Jubiläum des Sieges über Napoleon im Vaterländischen Krieg 1812. Sie diente im Lauf der Jahrhunderte bereits als Exerzierhalle, Garage des Kreml-Fuhrparks und Ausstellungsraum. Und auch der andere, der Große Vaterländische Krieg, ist auf dem Manegenplatz präsent – in Gestalt des 1995 eingeweihten Denkmals für Marschall Shukow.

    Auch in der Sowjetzeit sollte auf dem Platz an vergangene Großtaten erinnert werden. Seit dem umfangreichen Abriss in den 1930ern hatte der Manegenplatz zwar zunächst nur geringe Bedeutung: Von Autoverkehr umgeben, war er kaum mehr als ein asphaltiertes Vorzimmer des Roten Platzes. Diese bauliche Lücke sollte 1967 jedoch mit einem Monument zum 50-jährigen Jubiläum der Oktoberrevolution gefüllt werden.

     
    In den frühen 1990er Jahren fanden auf dem Manegenplatz Demonstrationen statt, die maßgeblich zum Zerfall der UdSSR beitrugen – Foto © Ilya Varlamov

    Doch kam das Denkmal, das die Errungenschaften der Revolution und damit die Sowjetunion feiern sollte, nie zustande, stattdessen entwickelte sich der Platz zum Zentrum des Zerfalls ebendieses Staates. Am 20. Januar 1991 wandten sich Zigtausende gegen einen Einsatz der Roten Armee im abtrünnigen Litauen, im Februar forderte man lautstark den Rücktritt Michail Gorbatschows und skandierte „Jelzin! Jelzin!“.

    Im Zuge der Umbauten ab 1993 ist die Asphaltfläche einem mehrstufigen Arrangement aus Zierbrunnen, Bänken und Geländern gewichen und eignet sich so nur noch bedingt für große Ansammlungen. Doch von seiner politischen Bedeutung hat der Platz nichts eingebüßt. Vor allem zwei Ereignisse haben sich ins Gedächtnis der Moskauer eingegraben.

    Krawalle im Dezember 2010

    Als während der Fußball-Weltmeisterschaft 2002 auf dem Manegenplatz das Spiel Russland gegen Japan gezeigt wurde, kam es zu bis dahin beispiellosen Ausschreitungen: Nationalistische Parolen grölend zerschlugen Hooligans Scheiben und steckten Autos in Brand – die vollkommen unvorbereitete Polizei sah zu.

    Am 11. Dezember 2010 wüteten hier erneut radikale Fußballfans. Wenige Tage zuvor war ein Fan des Teams Spartak Moskau bei einem Kampf mit kaukasischstämmigen jungen Männern getötet worden. Nationalisten vermuteten, dass das Verbrechen von der Polizei verheimlicht würde. Aus Protest marschierten am 11. Dezember einige tausend Menschen auf dem Manegenplatz auf.3
    Die unangemeldete Versammlung entwickelte sich zu einer regelrechten Schlacht zwischen der Polizei und randalierenden Hooligans, die unter Demonstration des Hitlergrußes rechtsextreme Parolen riefen. Ein Passant usbekischer Herkunft wurde mit Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert, nachdem ihn sechs Demonstranten attackiert hatten.4

    Auch in den nachfolgenden Tagen wurden immer wieder Überfälle von Ultranationalisten auf fremdländisch aussehende Menschen registriert.

    Das in der Umgangssprache verbreitete Wort Maneshka steht heute weniger für den Manegenplatz selbst als für diese Krawalle vom Dezember 2010 – der Begriff wird inzwischen sogar auch vom Kontext losgelöst als Gattungsname für nationalistische Ausschreitungen verwendet.

    Symbolträchtige Aktionen im Schatten der Kremltürme

    Auf dem Platz an den Mauern des russischen Machtzentrums (auch bis zur Duma ist es nicht weit) finden auch weiterhin symbolträchtige Aktionen statt:  Während der Proteste 2011/12 gab es hier immer wieder Festnahmen und kleinere Kundgebungen: Der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny rief 2014 zu einem spontanen Marsch über die Twerskaja-Straße bis zum Manegenplatz auf. Und auch die Staatsmacht nutzt den Platz im Schatten der Kremltürme: Während der Proteste von 2011/12 fanden hier mehrere Gegenkundgebungen zur Unterstützung Wladimir Putins und der Regierungspartei statt, hier trat Putin auch nach seiner Wiederwahl im März 2012 auf – mit der berühmten Freudenträne im Augenwinkel.5

    Am Eingang zum Roten Platz an der nordöstlichen Ecke des Manegenplatzes steht ein roter, im altrussischen Stil gefertigter Prachtbau: Er beherbergt das wichtigste historische Museum des Landes. All die Umwälzungen und Verwerfungen, die sich auf diesem Platz abspielen, landen irgendwann hier in den Vitrinen. Wer weiß, wie die nächsten Exponate aussehen werden? Die Geschichte, die sich in den vergangenen Jahrzehnten auf dem Manegenplatz entfaltete, hat jedenfalls gezeigt: Wer es schafft, hier den Ton anzugeben, der kann sich auch landesweit Gehör verschaffen.


    1. yodnews.ru: Polnaja istorija Manežnoj ploščadi ↩︎
    2. Auch dieser Name (dt. Moosstraße) erinnert an den Handel, mit dem dieser Ort untrennbar verbunden ist: Hier wurde früher Moos verkauft, das zur Isolierung von Holzhäusern diente. ↩︎
    3. Der Fernsehsender Rossija-24 zählte gar 50.000 Demonstranten: lenta.ru: GUVD Moskvy ocenilo čislennost‘ mitingovavšich na Manežnoj v 5 tysjač čelovek ↩︎
    4. lenta.ru: Šest‘ čelovek zaderžany za napadenie na uzbeka v moskovskom metro ↩︎
    5. YouTube: Putin plačet vo vremja vystuplenija na Manežkoj ploščadi ↩︎

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  • Presseschau № 29: Tag des Sieges

    Presseschau № 29: Tag des Sieges

    Der Tag des Sieges am 9. Mai erinnert an den Sieg der Sowjetunion über Hitlerdeutschland und gilt als wichtigster Nationalfeiertag im russischen Kalender. Der Große Vaterländische Krieg, wie der Krieg zwischen 1941 und 1945 auch heute noch in Russland überwiegend genannt wird, hat kaum ein Familienschicksal unberührt gelassen. Die Erinnerung daran sitzt tief im kollektiven Bewusstsein. Daher ist der Tag des Sieges für viele Menschen in Russland ein Tag großer Emotionen – sowohl bei denen, die sich in der offiziellen Form des Gedenkens wiederfinden, als auch bei denen, die sich genau daran reiben.

    Insbesondere die Einführung neuer Gedenktraditionen, wie das Tragen von Georgsbändchen oder das sogenannte bessmertny polk (dt. Unsterbliches Regiment), und der Krieg im Osten der Ukraine befördern in der Mediendiskussion ganz grundlegende Fragen: Was ist es eigentlich, was hier gefeiert werden soll? Und ebenso: Wie soll es gefeiert werden?

     

    RBC: SÄULE NATIONALER IDENTITÄT

    Olga Malinowa, Professorin für Politikwissenschaften an der Higher School of Economics, sieht im Sieg von 1945 das wichtigste identitätsstiftende Ereignis nach dem Zerfall der Sowjetunion, wie sie auf dem unabhängigen Wirtschaftsportal RBC schreibt:

    [bilingbox]Der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg wurde in den 2000er Jahren zu einer zentralen Identitäts-Säule des „Wir“, das hinter dem modernen russischen Staat steht. […]

    Dass ausgerechnet der Große Sieg die Hauptstütze einer Erinnerungspolitik wurde, die auf die Bildung einer neuen russischen Identität zielt, ist nur logisch. Es ist fast das einzige Ereignis der russischen Geschichte, welches alle Kriterien der „politischen Tauglichkeit“ erfüllt: Es ist im kollektiven Bewusstsein fest verankert, insofern es auf einer soliden Erinnerungs-Infrastruktur fußt, die hauptsächlich in den 70er und 80er Jahren geschaffen wurde, sowie auf den lebendigen Erinnerungen der älteren Generation; es deckt ein breites Spektrum symbolischer Bedeutungen für die Charakterisierung des „Wir“ ab (und zwar positive) und ist nicht Gegenstand konträrer Bewertungen, die in einem Nullsummenspiel konkurrieren.

    Gleichzeitig wurde angesichts knapper „aktualisierter“ symbolischer Ressourcen der Mythos des Großen Siegs in den letzten 15 Jahren buchstäblich unser aller; er gewann eine Vielzahl neuer Bedeutungen und symbolisiert beinahe alle Aspekte der modernen russischen Identität.~~~Победа в Великой Отечественной войне превратилась в 2000-х годах в центральный столп идентичности „нас“, стоящих за современным российским государством. […]

    То, что именно великая Победа стала главной опорой политики памяти, нацеленной на формирование новой российской идентичности, вполне закономерно. Это чуть ли не единственное событие российской истории, которое отвечает всем критериям „политической пригодности“: оно актуализировано в массовом сознании, поскольку опирается на солидную инфраструктуру памяти, созданную главным образом в 1970–1980-х годах, и пока еще живую память старшего поколения; имеет широкий спектр символических значений для характеристики „нас“ (причем позитивной) и не является предметом противоположных оценок, конкуренция которых воспринимается по принципу игры с нулевой суммой. Вместе с тем в силу скудости „актуализированных“ символических ресурсов миф о великой Победе за последние 15 лет стал буквально нашим всем; он приобрел множество новых смысловых значений и символизирует чуть ли не все аспекты современной российской идентичности.[/bilingbox]

    RUS2WEB: 1945 – PUTINS SIEG

    Einen Schritt weiter geht der Journalist und Blogger Oleg Kaschin auf dem unabhängigen Online-Portal Rus2Web: Er sieht in der offiziellen Erinnerungspolitik eine Art Vereinnahmung des Sieges durch den Kreml.

    [bilingbox]Die Mythologie des Großen Vaterländischen Krieges, die in den 2000er Jahren entstand, ist eine neue Mythologie. In ihr ist Raum sowohl für imperialistischen Revanchismus („Wir können das wiederholen“) als auch für den Chanson-Pathos als auch für die liberal-intellektuelle Empörung – alles hat seinen Ort und alle sind zufrieden.

    Der Witz, dass Putins größte Errungenschaft in den 16 Jahren seiner Herrschaft der Sieg von 1945 sei, ist tatsächlich gar nicht nur ein Witz. Der Sieg ist für den putinschen Staat wirklich von allergrößter Bedeutung – wichtiger geht nicht. […]

    Putin hat den 9. Mai tatsächlich völlig mit sich selbst verknüpft: Wenn du gegen Putin bist, bist du – ob du willst oder nicht – naturgemäß auch gegen die Georgsbändchen, dann gegen die Parade und gegen das Unsterbliche Regiment und überhaupt gegen die Großväter, die gekämpft haben.~~~Мифология Великой отечественной войны, сложившаяся в нулевые, — это новая мифология. В ней есть место и имперскому реваншизму („Можем повторить“), и шансонному надрыву, и либерально-интеллигентскому возмущению — все на месте и все довольны. Шутка о том, что главным достижением Владимира Путина за 16 лет пребывания у власти оказалась победа 1945 года, на самом деле не такая уж и шутка. Победа действительно имеет для путинского государства самое важное — важнее нет — значение. […]

    Путин действительно привязал 9 мая к себе до такой степени, что, если ты против Путина, ты естественным образом, даже сам того не желая, становишься сначала против георгиевской ленточки, потом против парада, и против „бессмертного полка“, и против воевавших дедов вообще.[/bilingbox]

    SPEKTR: AGGRESSIONS-SYMBOLIK

    Zu den alljährlichen Stimmen der Empörung, von denen Kaschin spricht, zählt auch die scharfe Kritik des russischen Journalisten und Autors Arkadi Babtschenko. Sein aktueller Text, der in dem in Lettland erscheinenden Medium spektr sowie auf seinem Blog auf Echo Moskwy veröffentlicht wurde, stieß insbesondere in den sozialen Medien auf große Resonanz.

    Der Tag des Sieges, so Babtschenko, trage inzwischen eine neue Bedeutung, die der ursprünglichen diametral entgegengesetzt sei: Ging es anfangs bei der Militärparade noch um Verteidigung und nicht um Angriff, sei das Fest für ihn – vor dem Hintergrund der Kriege in Georgien und der Ukraine – mittlerweile ein Ausdruck von Aggression und Okkupation.

    Auf drastische Weise äußert er, der als Kriegsberichterstatter in Tschetschenien und Südossetien größtes Unheil hautnah miterlebt hat, sein Unbehagen über den kritiklosen Militarismus:

    [bilingbox]„Nun sehen Sie, wie die Mehrfach-Raketenwerfer vom Typ Uragan über den Roten Platz rollen. Sie kamen in Tschetschenien und Georgien erfolgreich zum Einsatz.“ Diesen Satz schnappte ich auf, als ich auf die Live-Übertragung der Parade im Fernsehen stieß. Eine junge Moderatorin sagte den Satz, mit freudig erhobenem Tonfall.

    Mein Gott, Mädchen, was erzählst du da? Hast du mal gesehen, was diese Uragans mit Tschetschenien gemacht haben? Hast du je gesehen, in was sie die Dörfer verwandeln? Hast du das tschetschenische Dorf Zony gesehen, in dem nicht ein einziges Haus heil geblieben ist, sondern nur Schornsteinschlote aus Aschebergen ragen?

    Ein ganzes Dorf nur mit Schornsteinschloten – eins zu eins wie in den Kriegsfilmen. Nur haben das hier nicht die deutsch-faschistischen Okkupanten angerichtet, sondern diese deine Mehrfach-Raketenwerfer.~~~„Сейчас вы видите, как по Красной площади идут системы залпового огня Ураган. Они успешно применялись в Чечне и Грузии“, — эту фразу я услышал как-то, когда наткнулся по телевизору на трансляцию парада. Произносила её девочка-телеведущая, с приподнято-радостной интонацией. Бог мой, девочка, что ты несешь? Ты вообще видела, что эти Ураганы с Чечней сделали? Ты видела, во что они превращают села? Видела чеченское село Зоны, в котором не осталось ни одного целого дома, а только лишь печные трубы посреди пепелищ? Целое село печных труб — один в один как в кино про войну, только наделали все это уже не немецко-фашистские оккупанты, а вот эти вот твои системы залпового огня.[/bilingbox]

    KOMMERSANT: DAS UNSTERBLICHE REGIMENT UND DIE ERSTKLÄSSLER

    Zu den umstrittensten Elementen des offiziellen Gedenkens zählt die 2012 initiierte und seitdem regelmäßig durchgeführte Aktion vom Unsterblichen Regiment, in die auch die jüngsten Mitglieder der Gesellschaft einbezogen werden. Im Kommersant berichtet Mascha Traub von den WhatsApp-Gesprächen irritierter Eltern, deren Kinder in der 1. Klasse zur Vorbereitung auf den 9. Mai eine besondere Hausaufgabe bekommen hatten:

    [bilingbox]Den Erstklässlern wurde aufgetragen, Portraitfotos [ihrer Vorfahren, die im Krieg gekämpft hatten – dek.] für das Unsterbliche Regiment mitzubringen. Da die Kinder das mit dem Regiment nicht verstanden und auch die Eltern nicht, entbrannte ein wildes Hin-und-her-Geschreibe:
    – Es müssen Portraits im A4-Format mitgebracht werden, eingerahmt und mit einem Stab zum Hochhalten. Von Großvätern, die im Krieg waren.
    – Gehen auch Großmütter?
    – Nein, wohl nur Großväter.
    – Und wenn wir keinen solchen Großvater haben?
    – Dann findet einen.
    – Bei uns waren weder Großvater noch Großmutter im Krieg, sie sind in Rente.
    – Dann Urgroßväter!!!
    – Ja, man soll drunterschreiben, wo der Großvater gekämpft hat und welchen Rang er hatte. Möglichst in Paradeuniform und mit Orden. Und er sollte … na, ihr wisst schon … er sollte passen … Die Kinder sollen mündlich vortragen, wo der Urgroßvater gekämpft hat, wo er gefallen ist oder nicht gefallen ist und so weiter.~~~Детям-первоклашкам велели принести портреты для „Бессмертного полка“. Поскольку дети про полк ничего не поняли, родители тоже, началась бурная переписка.
    – Нужно принести портреты формата А4 в рамке и на палке. Дедушек, которые воевали.
    – А можно бабушек?
    – Нет, вроде бы нужны только дедушки.
    – А если у нас нет такого дедушки?
    – Найдите.
    – А у нас ни дедушки, ни бабушки не воевали, они на пенсии.
    – Прадедушки!!!
    – Да, нужно подписать, где дедушка воевал, в каком звании. Желательно, чтобы в парадном мундире и с орденами. И чтобы… ну вы понимаете… чтобы подходил… Ребенок должен устно рассказать, где воевал прадед, как погиб или не погиб и прочее.[/bilingbox]

    SLON: AUCH STALIN WAR AGGRESSOR

    In der Debatte um den Tag des Sieges geht es immer auch um eine allgemeine Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte beziehungsweise um die Vergegenwärtigung von Geschichte. Im Interview mit dem unabhängigen Nachrichtenportal Slon bemängelt der Historiker und Publizist Boris Sokolow, dass gewisse Aspekte im offiziellen Gedenken ausgeblendet oder zumindest nachrangig behandelt werden:

    [bilingbox]Die Sowjetunion trat als Aggressor in den Krieg ein. Entsprechende Akte der Aggression waren die Besetzung des Baltikums, Bessarabiens, der nördlichen Bukowina sowie der Angriff auf Finnland. Und nur weil Hitler am 22. Juni 1941 Stalin angegriffen hat, heißt das nicht, dass die UdSSR kein Aggressor mehr war.

    Wenn es nämlich umgekehrt gewesen wäre und Stalin hätte es geschafft, Hitler zuerst anzugreifen (und solche Pläne hatte er sowohl 1940 als auch 1941, es gab sogar eine ursprüngliche Angriffsfrist bis zum 12. Juni 1941, festgehalten in den Strategieplänen der Roten Armee vom 11. März desselben Jahres), dann wäre Deutschland in den Augen der Anti-Hitler-Koalition immer noch der Aggressor.

    Warum sollten wir die Sowjetunion hier anders behandeln? Nur weil sie unter den Siegern war?~~~Советский Союз вступил в войну как агрессор. Точно такими же актами агрессии были оккупация Прибалтики, Бессарабии, Северной Буковины и нападение на Финляндию. И от того, что 22 июня 1941 года Гитлер напал на Сталина, СССР не перестал быть агрессором. Ведь если бы было наоборот и Сталин успел бы первым напасть на Гитлера (а такие планы у него были и в 1940-м, и в 1941 году, и был даже установлен первоначальный срок нападения на 12 июня 1941 года, зафиксированный в плане развертывания РККА от 11 марта того же года), то Германия после этого все равно не перестала бы быть агрессором в глазах стран антигитлеровской коалиции. Почему же к Советскому Союзу у нас должен быть иной подход? Только потому, что он оказался среди победителей?[/bilingbox]

    IZVESTIA: SIEG ÜBER DEN FASCHISMUS

    Immer wieder werden Bezüge zu aktuellen weltpolitischen Geschehnissen und insbesondere zum Ukrainekonflikt hergestellt. Entsprechend dem offiziellen Narrativ von der Kontinuität im Kampf gegen den Faschismus schreibt die Schriftstellerin Diana Kadi in der staatsnahen Tageszeitung Izvestia über die Bedeutung des 9. Mai für die Krim:

    [bilingbox][…] Der 9. Mai ist heute für die Bewohner der Krim nicht nur der Tag des Sieges über Deutschland. Mit Blick auf die gegenwärtige Ukraine, als Teil derer die Krim all die Jahre ihr Dasein gefristet hat, haben die Menschen auf der Halbinsel begonnen, den friedlichen Himmel über ihren Köpfen wertzuschätzen.

    Das, was als gegeben galt. Das, wofür unser Urgroßväter ihr Leben gaben. Wir haben das vergessen, erst jetzt erinnern wir uns wieder. Tragische Ereignisse in einst heimatlichen Randgebieten haben uns dazu verholfen, die Erinnerung aufzufrischen und die Bedeutung des Sieges über die Faschisten. Dort, wo Mitglieder der OUN und der UPA […] nicht nur rehabilitiert, sondern als Unabhängigkeitskämpfer gefeiert werden.~~~[…] 9 мая для крымчан сегодня — не только день победы над Германией. Глядя на нынешнюю Украину, в составе которой Крым влачил существование все эти годы, жители полуострова стали ценить мирное небо над головой.

    То, что воспринималось как данность. То, ради чего наши прадеды отдали свои жизни. Мы забыли об этом, а вспомнили только сейчас. Освежить память и значение победы над фашистами нам помогли трагические события, произошедшие в некогда родной окраине. Там, где члены ОУН и УПА […] не только реабилитированы, но и признаны борцами за независимость.[/bilingbox]

    ROSSIJSKAJA GASETA: POSTSOWJETISCHE ZENTRIFUGALKRÄFTE

    In der von der russischen Regierung herausgegebenen Rossijskaja Gaseta beklagt die stellvertretende Chefredakteurin Jadwiga Juferowa, dass durch die individuellen Gedenkformen in der Ukraine und anderen postsowjetischen Ländern das verbindende Element des Sieges vernachlässigt werde. Abgrenzungstendenzen vom sowjetischen Erbe und von Russland würden die gemeinsame Erinnerung gefährden:

    [bilingbox]Warum kamen in vielen postsowjetischen Republiken derartige Zentrifugalkräfte zum Tragen? Jedes Volk möchte eine eigene Geschichte haben und ehren. Wir haben sie zum wiederholten Mal zerstört. Im Jahr 1991 genau wie im Jahr 1917 … Bis auf die Grundfesten. Unter dem gemeinsamen Fundament lag Dynamit von solcher Sprengkraft, dass ihm mit Müh und Not einzig der Große Sieg standhielt (mit all seiner Wucht!).

    Alle begannen ihre eigene großartige Geschichte zu schreiben, „sowjetlos“. Die Historiker schafften es nicht, diese im Leben mehrerer Generationen so wichtige Periode gedanklich zu erfassen, nachdem sie ebenfalls zu Revolutionären geworden waren.~~~Почему многие постсоветские республики взяли такой центробежный разбег? Каждый народ хочет иметь и уважать свою историю. А мы в очередной раз ее уничтожили. В 1991-м так же, как в 1917-м… До основания. Под общий фундамент был заложен такой силы динамит, что с трудом устояла лишь одна Победа (с ее-то мощью!). Каждый начал писать свою великую историю "без совка". Историки не справились с осмыслением этого очень важного периода в жизни нескольких поколений, став тоже революционерами.[/bilingbox]

    NOVAYA GAZETA: LEBEND VERSCHOLLEN

    Die Journalisten der unabhängigen Novaya Gazeta haben anlässlich des 9. Mai die Geschichten ihrer eigenen Vorfahren nachrecherchiert und aufgeschrieben, um einen individuellen Blick auf Kriegsschicksale zu geben, die im allgemeinen Gedenken oft untergehen. So schreibt etwa Dmitri Muratow, Chefredakteur und einer der Gründer der Zeitung, über die Probleme seines Großvaters, als einstiger Feldarzt nach dem Krieg in das zivile Leben zurückzufinden:

    [bilingbox]Bis zu seinem Tod litt er aufgrund seiner schweren Kriegsverletzungen unter Kopfschmerzen und dämpfte sie mit Wodka. Vor nicht allzulanger Zeit begegnete ich Daniil Granin. Er sagte, dass sie, die Frontsoldaten, nach ihrer Heimkehr nicht wussten, was sie mit dem Sieg anfangen sollten. Mein Großvater wusste es wahrscheinlich auch nicht.

    Granin: „Ohne Krieg war alles vorbei, ja, es war ein Glück, dass man noch lebte, ein kurzes Glück, das bald endete. Was würde nun folgen?“

    Mein Großvater hat sich nie als Arzt im zivilen Leben wiedergefunden. Er blieb lebend verschollen.~~~До самой смерти его мучили головные боли от тяжелого ранения и контузии, он глушил их водкой. Я совсем недавно видел Гранина, он заметил, что они, фронтовики, вернувшись, не знали, что им делать с победой. Мой дед, наверное, тоже не знал.

    Гранин: „Без войны все оборвалось, да, есть счастье, что остался жив, короткое счастье, что кончается. И что дальше?“

    Дед не нашел себя на гражданской службе санитарным врачом. Не мог быть без вести живым.[/bilingbox]

    Daniel Marcus, Leonid A. Klimov

     

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