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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Wenn du jenseits der Politik lebst, kommt sie von allein zu dir”

    „Wenn du jenseits der Politik lebst, kommt sie von allein zu dir”

    In Belarus wurden die neu gewonnenen Freiheiten im Zuge der Unabhängigkeit im Jahr 1991 auch von vielen Musikern, Literaten, Künstlern oder anderen Kulturschaffenden begrüßt. Es entstand eine Bohème, die den neu gewonnenen Raum zu nutzen wusste, beispielsweise mit experimentellen Musikprojekten. Andere wiederum erlebten den Beginn der 1990er Jahre als eine Zeit der wirtschaftlichen und politischen Krisen, woraus schließlich die Abkehr vom eingeschlagenen demokratischen Weg und die Wahl Alexander Lukaschenkos resultierte. 

    Lavon Volski, eine Legende der belarussischen Alternativ- und Rockmusik, beschreibt diese wilde Zeit des Aufbruchs und des autoritären Rückfalls in seiner Kolumne für das Online-Portal Budzma

    Für manche Leute waren die 1990er Jahre eine Katastrophe, ein Kollaps, ein schmerzhafter, manchmal unerträglicher Bruch mit den bisherigen Lebensgewohnheiten. Da ich keine über viele sowjetische Jahre antrainierten Gewohnheiten hatte, nahm ich diese Zeit auch anders wahr – als Beginn von etwas vollkommen Neuem. Eine neue Welt, ein neuer Himmel, ein neues Leben. Ein neues, normales, nicht von der sowjetischen Hydra umfangenes Land, in dem neue Möglichkeiten und neue Perspektiven wachsen.  

    Lavon Volski (mittig) mit der Band Novae Neba nach einem Konzert Mitte der 1990er Jahre / Foto © Archiv Lavon Volski
    Lavon Volski (mittig) mit der Band Novae Neba nach einem Konzert Mitte der 1990er Jahre / Foto © Archiv Lavon Volski

    Neues Leben, neue kreative Projekte 

    Mit Begeisterung stürzte ich mich in viele kreative Projekte – den neuen Radiosender Belarus Maladsjoshnaja (dt. Jugendliches Belarus) beim staatlichen Rundfunk (der eigentlich nur eine Adaption des alten Senders an die neue Zeit war), mit scharfer Analytik, Interviews, provokativen Rubriken und Hitparaden. Jede Woche produzierte ich ein einstündiges Hörspiel, für das ich Krimis, Fantasy-Geschichten und andere Werke aus dem, wie man damals sagte, Bereich Action adaptierte, sogar Thriller und Horrorgeschichten. Ich war für das gesamte Tondesign von Belarus Maladsjoshnaja zuständig, nahm Pausenzeichen, Jingles und Titelmelodien auf. Darüber hinaus kreierte und moderierte ich die Mystery-Sendung Kvadrakola und nahm parallel Reklamesongs für alle möglichen Werbekunden auf. Es gab unzählige – vom klassischen Jeansmodehersteller bis hin zu großen Firmen, die Gas- und Elektroherde produzierten.  

    Im großen Studio des staatlichen Rundfunks nahmen wir auch das, wie es uns damals schien, epochale Album der Band Novae Neba (dt. Neuer Himmel) auf: Son u tramwai (dt. Traum in der Tram). Das Album war vielschichtig (intellektueller Rock!), mit elektronischen und akustischen Instrumenten, wechselnden Tempi und Dynamiken. Ich spielte Keyboard und um die notwendigen Effekte zu erzeugen, mussten wir uns immer neue Synthesizer für die Aufnahmen ausleihen. Manchmal nahm ich ein Taxi, lud das benötigte Keyboard ein (die waren ziemlich schwer!), brachte sie zum Sender, wo ich sie in die oberste Etage zum großen Konzertaufnahmestudio schleppte.  

    Die heisere Stimme als Alarmsignal 

    In den 1990er Jahren wurden im Radio (und wenn ich mich nicht irre, auch im Fernsehen) die Sitzungen des belarussischen Parlaments übertragen. Uns interessierte kaum, was bei diesen Abgeordneten in ihrem Sowjet (der nicht mal in Rada umbenannt worden war!) vor sich ging. Einzig eine grelle, heisere Stimme zog die Aufmerksamkeit auf sich, wenn sie in höherer Tonlage etwas verdeutlichte, jemanden beschuldigte oder angriff. Wir gingen andauernd durch die Einlasskontrolle im alten Stalingebäude des Senders, rein und raus, und dort lief immer grad die Live-Übertragung der Sitzungen, und jedes Mal gellte diese hohe Stimme in den Ohren. Wie ein Alarmsignal, ehrlich. Oder gar Fliegeralarm? 

    „Wer schreit da so?“, fragte ich meine Journalistenkollegen. 

    „Achte gar nicht drauf“, antworteten sie, „nur so ein Populist. Macht einen auf Kämpfer gegen die Korruption.“ 

    „Man hört ihn ziemlich oft.“ 

    „Ach, weil er sich ständig ans Mikro drängelt, ist nicht davon wegzukriegen. Zu jedem Thema hat er seine ganz persönliche Meinung.“ 

    Bohème-Leben jenseits der Politik 

    Falls es bis hierhin nicht ohnehin schon klargeworden ist, sage ich es jetzt: Wir lebten damals jenseits der Politik. Ja, Sie haben sich nicht verhört! Wir dachten, wir hätten fertig gekämpft, geschossen und gewonnen, dass wir unser zwar mittelmäßiges, aber unabhängiges Land mit dem Pahonja-Wappen und der weiß-rot-weißen Flagge haben und sich nun die Politiker mit Politik beschäftigen sollen – und wir mit dem, wofür wir geschaffen waren – mit Kreativem und Kunst. Zudem schienen die Sterne günstig dafür zu stehen – überall eröffneten Galerien, Ausstellungsräume, unabhängige Theater, Clubs, Festivals, Literaturvereinigungen – die bekanntesten von ihnen waren die Vereinigung der freien Schriftsteller und Bum-Bam-Lit (ich war Mitglied in beiden), – also eine Unzahl von Möglichkeiten, sich anzuschließen und sich völlig zu öffnen! Es war eine Zeit des großen kreativen Auftriebs, verschiedenster Unternehmungen und spannender, ernstzunehmender Ideen.  

    Und gleichzeitig war es eine Zeit des Bohème-Lebens. Fast täglich gab es Bankette mit kaltem Büffet, feierliche Eröffnungen, Präsentationen und Partys.  

    Ich wollte rufen, doch die Stimme brach ein

    Ich erinnerte mich, wie ich pro forma vor den Wahlen die Auftritte der Kandidaten anschaute. Darunter war auch der stimmstarke Korruptionsbekämpfer. Nachdem ich seinen Auftritt gesehen hatte, war ich absolut davon überzeugt, dass eine solch archaische Person in unserer neuen demokratischen Gesellschaft keinerlei Chancen hat. Und beschäftigte mich weiter mit meinem Kram. Dann ging es weiter wie in einem schlechten Film, in dem die Protagonisten gerade noch tanzen, trinken und lachen, aber plötzlich – Szenenwechsel! – alles ins Gegenteil verkehrt ist – Stille, Halbdunkel, Trübsinn und Trauer. Genauso ist es uns passiert – wir fahren gerade mit dem Taxi zum Sender, um das nächste Keyboard aufzunehmen (das Instrument liegt quer auf unseren Knien, weil es nicht in den Kofferraum passte), lachen und scherzen, weil wir gestern mal wieder auf einer Party waren und die aufgedreht-idiotische Stimmung anhält. Im Taxi läuft das Radio, wir schreiben das Jahr 1994 … Plötzlich hören wir die geschliffenen Worte des Sprechers: „Den ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl der Republik Belarus gewann mit großem Abstand …“ 

    „Das kann nicht sein“, sagte ich. 

    „Kann es!“, drehte sich der Taxifahrer um. „Jetzt wird der Sascha es diesen bourgeoisen Unternehmern aber geben! Ganz schnell bringt er die auf Linie!“ 

    Stumme Szene. „Ich wollte rufen, doch die Stimme brach ein“

    In diesem Augenblick begriff ich mit Schrecken, dass eine neue Zeit anbricht – trist, behäbig, schädlich für Leben und Kunst. Außerdem begriff ich, dass wir diese Zeit nicht hatten kommen sehen, weil wir so mit uns selbst beschäftigt waren. Dass wir zu Opfern des klassischen Schemas geworden waren: Wenn du jenseits der Politik stehst, kommt die Politik von ganz allein zu dir. Da war sie nun.  

    Die Redaktion des populären Jugendradiosenders 101.2 protestiert gegen die Schließung des Programms im Jahr 1996 / Foto © Archiv Lavon Volski
    Die Redaktion des populären Jugendradiosenders 101.2 protestiert gegen die Schließung des Programms im Jahr 1996 / Foto © Archiv Lavon Volski

    Was sich in 30 Jahren vor allem verändert hat 

    Seitdem sind schon dreißig Jahre vergangen! Alles gab es in dieser Zeit: Verbote, Tauwetter, Repressionen, demokratisch-liberale Gespenster, Einfrieren und Auftauen, Staatsterror … Und ich begreife, dass ich zu alldem schon bereit gewesen war, nachdem ich einmal den Auftritt unseres Volksherren gehört und ihm in die Augen geschaut hatte … 

    Zu einem solchen Jubiläum beglückwünschen wir einander also, liebe Landsleute! Zu einem traurigen und unerfreulichen Jubiläum. In dreißig Jahren verändert sich in jeder Gesellschaft etwas. Aber das Wichtigste ist, dass sich seitdem – und sogar radikal – die Einstellung der Mehrheit zum (scheinbar) unveränderlichen Führer verändert hat. Aus diesem frohen Anlass (und um euch ein wenig Hoffnung zu geben) gebe ich zu bedenken, dass mit jedem Jubiläum, wie schon der Held in dem satirischen sowjetischen Roman Die zwölf Stühle sagte. „Die Chancen steigen“. Und mit jedem Tag nähern wir uns den neuen Zeiten. 

    Den Sekt haben wir alle innerlich längst kaltgestellt. 

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  • „Das Jahr 2020 öffnete vielen die Augen“

    „Das Jahr 2020 öffnete vielen die Augen“

    „Eine gewisse Angst hat mich ohne Zweifel von Beginn an begleitet.“ Das sagt der belarussische Rockmusiker Lavon Volski im ersten Teil des Gesprächs mit dem Online-Medium Kyky. In diesem spricht er über den langjährigen kreativen Widerstand, den er und andere Musiker und Bands gegen Machthaber Alexander Lukaschenko leisteten, über Auftrittsverbote und über die Wandlungen in der Politik der Machthaber gegenüber Kultur und Musik. 

    Im zweiten Teil des Interviews lässt Volski die 2000er Jahre Revue passieren, dann geht es hinein in die Gegenwart und in die Zeit der Ereignisse nach dem 9. August 2020, die das ganze Land,  und so auch die Kulturszene, in eine tiefe Krise gestürzt haben. 

    Marija Meljochina: Welches Fazit ziehen Sie aus den 2000er Jahren?

    Lavon Volski: Für mich war es eine sehr erfüllte Zeit. Einerseits gab es von 2004 bis 2008 durchgehend Verbote, vorher konnten wir aber noch Krambambula gründen und damit das Territorium der ironischen Popmusik entern. Das brachte uns noch größere Bekanntheit und erweiterte unser Publikum. Der Song Hoszi gefiel völlig unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen, auch Funktionären. Außerdem begann in den 2000er Jahren die Zeit der Konzerte für Firmen, die es vorher bei uns nicht gegeben hatte. Danach, den Verboten sei Dank, reisten wir ins Ausland. Wir tourten durch ganz Polen, waren in Deutschland und Schweden, ich war einige Male zu Auftritten in den USA. Verbote erhöhen das Interesse.

    2010 kam es dann zu den Demonstrationen nach der Präsidentschaftswahl (ploschtscha) und deren Niederschlagung – danach versank das Land für zehn Jahre förmlich in einer Unzeit. Erzählen Sie uns von dieser Phase.

    Damals war klar, dass das Tauwetter vorbei war. Die dunklen Zeiten begannen wieder. Ich habe N.R.M. damals nicht verlassen, es war ein bisschen anders. Wir hatten einfach eine Pause, es gab keine Konzerte. Die Band traf sich zum Proben ohne mich und ohne mir Bescheid zu geben. Ich erfuhr erst aus der Presse, dass N.R.M. beim Rok-karanazyja-Festival ohne mich auftreten würden. Das war ein ziemlicher Schock, vor allem vor dem Hintergrund der Situation im Land. Ich sagte den Auftritt online ab, aber das hielt die Band nicht davon ab. Kurz; es war, wie es war. Für mich war das alles unerwartet und stressig, es hat noch lange gedauert, das zu verarbeiten. 

    Es gab die Information, dass die Band nach dem Treffen mit Praljaskouski Angebote bekam, bei staatlichen Festivals zu spielen, Sie das aber ablehnten. Das war die Ursache für den Konflikt, und N.R.M. entschied, ohne Sie zu spielen.

    Das ist eine verkehrte Darstellung – es gab keinen Konflikt in dieser Hinsicht. Nach dem Treffen in der Präsidialadministration wurde fast direkt im Anschluss ein staatliches Festival mit dem idiotischen Titel Bela Music initiiert. Dort sollten alle bekannten Rockmusiker auftreten. Und als ich die Anfrage erhielt, lehnte ich ab. Nicht genug, dass wir zu diesem Treffen gegangen waren, jetzt wollten sie uns auch noch dieses staatliche Festival anheften, um zu zeigen, dass in Belarus mit der Rockmusik jetzt alles super läuft. Ich habe die Teilnahme am Festival aus ideologischen Gründen abgesagt, aber niemand verstand das, ehrlich gesagt. Nach dieser Praljaskouski-Sache hatte ich eine so harte Zeit, dass ich 2009 bei N.R.M. eine Pause einlegte. Ich bat alle darum, für eine gewisse Zeit nicht aufzutreten, weil ich das Gefühl hatte, dass wir etwas verraten hatten. Den Musikern gefiel diese Pause natürlich nicht.

    Sie sagten, 2017 gab es eine Entspannung, als die Schwarzen Listen abgeschafft wurden.

    Ja, 2017 begann sich die Situation langsam wieder in Richtung eines leichten Tauwetters zu entwickeln, aber es erreichte nicht das Freiheitsniveau wie in den Jahren 2008/2009. Man konnte in der Prime Hall spielen, aber nicht im Stadtzentrum von Minsk, beim Schwedischen Tag zum Beispiel. 2018 wandte sich die schwedische Botschaft sogar an die Stadtverwaltung mit der Bitte, dass Krambambula auftreten dürfe, erhielt aber eine Absage.

    Wie kam es zu diesem Tauwetter? Was war 2017 passiert?

    Ich denke, da wurden wieder irgendwelche demokratischen Kräfte aktiviert. Einige Leute glaubten, dass es möglich sei, in den Machtstrukturen jemanden zu überzeugen. Damals entstand auch der Minsker Technologiepark und Ähnliches …

    „We are not afraid to dance“: Promotion-Video der Band Krambambula aus dem Jahr 2011

    War dieses Jahrzehnt – 2010  bis 2019 – in Ihren Augen eine Zeit des Stillstands, eine Unzeit für das Land, die Kultur und die Musik?

    Das würde ich nicht sagen. Es passierte immer was, nur wussten nicht viele davon, weil es sich parallel zur Machtstruktur abspielte. Es erschienen neue Alben, neue Musikpreise, es gab die Portale Tuzin Hitou und Experty.by. Zudem gab es auch noch die Musikkritik, zwar sehr begrenzt, aber es gab sie. Das war ziemlich spannend – du hast ein Album rausgebracht, zum Beispiel Drabadzi-drabada, und konntest eine Rezensionen dazu lesen, wenn du Lust hattest. Aber mit dem Album in deinem Land aufzutreten war in diesen Jahren schon nicht mehr möglich. Wir haben alle Alben in Vilnius präsentiert.

    Danach, 2017, kam das Tauwetter, man konnte auftreten, sogar bei großen Konzerten, aber es blieb der Eindruck, dass das nur temporär ist. Und so war es. Die Erfahrung zeigt, dass jedes neue Verbot strikter daherkommt als das vorangegangene. Daher werden die aktuellen Verbote meiner Ansicht nach erst dann verschwinden, wenn dieses Regime weg ist.

    Wie wurde 2020 möglich?

    Indem die Pandemie kam und die Machthaber zeigten, wie weit sie vom Volk entfernt sind. Früher wurde immer gepredigt, dass der einfache Mensch der wichtigste Wert sei. Doch hier zeigte sich nun, dass die Machthaber sich wie Aristokraten gerierten, wie ein Adel neuer Art mit Krönchen. Was, eine Pandemie? Nehmt den Traktor und Schnaps, ha-ha, wie lustig. Aber in den Familien spielten sich Tragödien ab: Hier erkrankte ein Bekannter, dort ein Verwandter. Da begann im ganzen Land die Selbstorganisation, die Freiwilligenbewegung – die totale Mobilisierung der Bevölkerung zum Kampf gegen die Pandemie, die die Regierung nicht ernst nahm. Deshalb ging das Volk  schon selbstorganisiert in diese Wahlen. 

    Nach den Wahlen kam dann ein völlig unerwartetes Ausmaß der Gewalt. Das Volk hatte in den letzten 15 Jahren gelernt, parallel zur Regierung zu existieren, ohne jegliche Berührungspunkte. Man meinte, dass sie uns nicht anrühren, und wir sie nicht anrühren – und gut. Alle bauen sich Wohnungen, Häuser am Stadtrand, erhöhen ihren Wohlstand. Wenn ein Bekannter ohne Grund in einer ominösen Angelegenheit verhaftet wurde, war das blöd, aber was soll’s. Dann wurde noch jemand verhaftet, aber der hatte sich dann womöglich in die Politik eingemischt, was wir natürlich nicht machen, also alles gut. 

    Ich habe noch nie solche Massenveranstaltungen gesehen

    Das Jahr 2020 öffnete vielen die Augen. Viele verstanden, wie es wirklich stand. Einerseits bin ich froh, dass es so gekommen ist, andererseits ist es sehr schade für diese Leute, weil sie jahrzehntelang gelebt haben, ohne zu sehen, was um sie herum geschieht.

    Sie wollten nicht sehen und nicht hören und sagten nur: „Ach hör doch auf damit.“ Aber nun kamen sie praktisch in jedes Haus.

    Das Einzige, was ich absolut nicht erwartet hätte, ist diese Menge an weiß-rot-weißen Fahnen und „Lang lebe Belarus!“. Ich dachte, das sei für immer eine Sache von ein paar Tausend Leuten, die immer die Flagge, das Wappen und das Motto verwenden. Aber plötzlich zeigten hunderttausende Belarussen die Flagge und damit auch, was Sache ist.

    Haben Sie damals im August an den Erfolg der Revolution geglaubt? Oder hatten Sie eine Ahnung, wie alles enden wird?

    Euphorie gab es zweifellos – ich habe noch nie solche Massenveranstaltungen gesehen. Danach waren Pascha Arakeljan und ich mit einer Initiative unterwegs, um die Leute in den Menschenketten zu unterstützen. Wir kamen mit Gitarre und Saxophon, spielten kurze Konzerte, aber es war klar, dass man nur mit Konzerten nicht siegen kann. Man sagt ja nicht einfach „Hau ab“ – und dann packen die ein und hauen ab …

    Ist die Revolution verloren?

    Was soll ich sagen, das ist eine recht komplexe Frage, aber ich würde das nicht so formulieren. Erstens war es kein Spiel, bei dem es ums Gewinnen und Verlieren geht. Es gibt eine Volksmasse, die mit dem gegenwärtigen System unzufrieden ist und eine Minderheit, die alles beim Alten belassen möchte – was aber nicht möglich ist.

    Das war ein Aufbegehren des Volkes 

    Sehen Sie sich als Sänger der Revolution?

    Ich betrachte mein Schaffen in einem weiteren Sinn, aber alle Musiker, die zu dieser Zeit in den Höfen gespielt haben, waren Sänger der Revolution. Aber gibt es Revolutionen ohne Waffen? Das war einfach ein Aufbegehren des Volkes. 

    Sind Sie für radikalere Handlungen?

    Nein, ich bin für friedlichen Protest – das Volk war in keiner Weise für den bewaffneten Widerstand vorbereitet. Das ist eine sehr ernste Sache, ich wünsche mir kein solches Szenario, es wäre sehr tragisch. So etwas muss auch reifen, die Bolschewiki haben sich jahrelang vorbereitet, einige Untergrundnetzwerke aufgebaut und so weiter. Es ist eine Sache von Jahrzehnten, eine wirkliche Revolution vorzubereiten, mit Anwendung von … Das ist nicht unsere Variante, scheint mir. 

    Haben Sie Belarus für immer oder nur temporär verlassen?

    Temporär. Ich bin im Sommer 2021 ausgereist und habe nichts mitgenommen. Nach den Konzerten in Polen kehre ich wahrscheinlich zurück. Aber unter dieser Regierung wird es keine normalen Auftritte in Belarus mehr geben.

    Wie wird sich die Situation in Belarus entwickeln? Müssen wir auf die Generation der Davongekommenen warten, damit sich etwas ändert, oder tritt der Wandel schon früher ein?

    Meine Intuition hat mir immer gesagt – nach den Wahlen 2001, 2006 und 2010 – dass es nicht mehr lange so weitergehen wird. Aber es ist noch über zehn Jahre weitergegangen. Deshalb würde ich meiner Intuition nicht sonderlich trauen. Im Moment denke ich, dass man ein Land nicht über viele Jahre in einem solchen Spannungszustand halten kann. Zum einen, weil es sehr teuer ist. Zum anderen, weil die Menschen den psychologischen Druck nicht aushalten – auch die, die diesen Druck ausüben.

    Lassen Sie uns fantasieren – wann kommt das neue Belarus? Wie stellen Sie sich dieses Land vor?

    Das kann tatsächlich jederzeit passieren – schon morgen. Zuerst einmal müssen in diesem Land absolut alle Grobiane aus allen Machtebenen entfernt werden, die ganze Regelreiterei in allen Bereichen, begonnen mit der Schule. Damit es nicht nur darum geht, einfach ein Häkchen zu setzen, wie man sagt, wenn überall bloß Formulare ausgefüllt werden. Ob das ein Arzt, ein Lehrer, ein Polizist oder ein Ermittlungsbeamter ist – du musst eine ungeheure Menge an Zetteln ausfüllen, aber das Eigentliche wird nicht gemacht, es geht nur um Papierkram. Das muss geändert werden. Alle Behörden müssen durchleuchtet werden, alle Mitarbeiter müssen überprüft werden. All diese Fälschungen, Manipulationen der Statistik, dieser totale Unfug, die übergebührliche Brutalität und Gewalt bei den Festnahmen – das gab es in der gesamten Zeit dieser Regierung. Doch erst jetzt haben die Menschen es gesehen, hat die große Masse es gesehen. Deshalb muss alles grundlegend reformiert werden.

    Telegram-Konzertankündigung zu einem Auftritt von Lavon Volski bei einem der „Hinterhofkonzerte” im November 2020 am Platz der Sieger in Minsk. Nach den Konzerten gab es häufig Torten und andere Süßigkeiten für die Musiker / Foto © privat
    Telegram-Konzertankündigung zu einem Auftritt von Lavon Volski bei einem der „Hinterhofkonzerte” im November 2020 am Platz der Sieger in Minsk. Nach den Konzerten gab es häufig Torten und andere Süßigkeiten für die Musiker / Foto © privat

    Und zum Schluss: Was möchten Sie den Belarussen noch sagen oder wünschen?

    Zunächst einmal bin ich den Belarussen und meiner Stadt sehr dankbar für das, was ich 2020 erleben durfte – ich hätte nicht geglaubt, das noch einmal sehen zu dürfen. Mein Verhältnis zu Minsk war sehr abgekühlt. Mir schien, die Menschen sitzen nur und schauen zu, wie die Regierung das aufbaut, was einfach nur furchtbar mit anzusehen war. Aber als die Stadt erwachte, fand ich meine Liebe zu Minsk wieder. Ich fand den Glauben an das Volk wieder. Und ich bin sicher, dass man dieses Blatt nicht mehr wird wenden können. Man muss nur ein bisschen warten, wollte ich immer sagen – aber man muss nicht warten, jeder muss einfach das tun, was von ihm abhängt.

    „Warte nicht, es gibt keine Überraschungen“

    Tatsächlich eine widersprüchliche Aussage – für mich war 2020 die Zeit der großen Überraschungen. Ein Musikreporter schrieb mir damals: Wir würden gern euer Konzert aufzeichnen, lasst uns noch die Wahlen abwarten, danach werden die Leute wie immer ein paar Tage in Depressionen sinken, und dann machen wir den Termin. Ich antwortete: „Okay, dann machen wir es wie immer.“ Aber dann kam alles ganz anders: Eine Überraschung folgte der anderen.

    Ich hoffe, uns erwartet in naher Zukunft eine große Überraschung. 

    Höchste Zeit! So viele Menschen denken dasselbe! Vielleicht erfüllt ja der Weihnachtsmann unseren größten Wunsch? In den letzten 27 Jahren hatten die Überraschungen ja immer eher negativen Charakter.

    [Das Interview wurde im November 2021 geführt – dek]

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  • „Es war klar, dass wir Widerstand betreiben – im kreativen Sinn!“

    „Es war klar, dass wir Widerstand betreiben – im kreativen Sinn!“

    Lavon Volski gehört zu den bekanntesten und wandlungsfähigsten Rockmusikern in Belarus. Viele seiner Lieder sind zu unterschiedlichen Zeiten zu Hymnen einer Protestkultur geworden, die sich den Machthabern um Alexander Lukaschenko widersetzt. Wie viele andere hat auch er sein Land im vergangenen Jahr wegen der massiven Repressionen nach den Protesten infolge des 9. August 2020 verlassen; aktuell wohnt er in Polen.
    Das belarussische Online-Medium KYKY hat mit Volski ein langes Gespräch geführt, in dem er die Rolle der Rockmusik im unabhängigen Belarus reflektiert, die Auftrittsverbote in den vergangenen 20 Jahren, Lukaschenkos Ideologie und eigene Fehltritte. dekoder veröffentlicht das Interview in zwei Teilen.

    Teil 1

    Marija Meljochina: Lukaschenka ist seit 27 Jahren an der Macht, und Sie haben seinen Werdegang miterlebt. Ich würde gerne gemeinsam mit Ihnen den Weg von der relativen Freiheit der 1990er hin zur heutigen Militärdiktatur beleuchten. Beginnen wir 1994, als Belarus seine Staatlichkeit etablierte. Gab es damals Freiheit?

    Lavon Volski: Zu Beginn der 1990er Jahre entstand Freiheit gerade erst, Rockmusik war nicht mehr verboten, alles war erlaubt. Diese Politik währte von 1991 bis 1994, die Zeit der sogenannten Beinahe-Demokratie. Nach Lukaschenkas Machtantritt behielten die Bürokraten die Entscheidungsmuster vom Ende der 1980er Jahre noch eine Weile bei: Musik durfte nicht verboten werden, denn sie war „Arbeit mit der Jugend“: Besser, sie flippen mal bei einem Konzert aus, als dass sie Klebstoff schnüffeln. Aber einige Lokalzaren und -chefs, zum Beispiel im Exekutivkomitee von Mahiljou, führten doch Verbote ein, das war aber eher eine Ausnahme von der Regel. Sicher gab es auch mal Stunk, wenn jemandem etwas gar nicht gefiel. Aber es hatte nicht das Ausmaß, das dann in den 2000er Jahren begann. 

    In einem Interview sagten Sie, dass in den 1980ern niemand an die sowjetische Ideologie geglaubt hat. Letztlich hat sich Lukaschenka aber genau diese Ideologie zu eigen gemacht, und die Menschen glaubten ihm. Wie ist dieses Paradox zu erklären?

    Er hat anfangs mit dem Nostalgiefaktor gespielt. Das war ein sehr riskanter Schachzug, aber er war erfolgreich. Zu Beginn bewies er als Politiker durchaus Talent. Es war natürlich absolut unmöglich, in einem einzelnen Mitgliedstaat die Sowjetunion zu bewahren. Der Großteil der Bevölkerung wollte aber meiner Ansicht nach auf keinen Fall wieder neue Führer vom Typ Kebitsch, die ununterbrochen stehlen. Als die Stimmen also zwischen diesen beiden Kandidaten verteilt wurden, bekam Lukaschenka die Mehrheit, weil die Menschen nach dem Prinzip entschieden: „Ganz egal, Hauptsache nicht das, was vorher war.“ 

    Lukaschenka setzte auf die Vermehrung des Wohlstandes

    Ich würde auch nicht sagen, dass seine Ideologie sowjetisch war. Seine Rhetorik war, was man „für das einfache Volk“ nennt: „Esst euer Stück Wurst, trinkt eure 150 Gramm Schnaps, geht wählen und stimmt für mich.“ Das war nicht „Sawok“, sondern vielmehr ein Spiel mit einfachen Gefühlen. Die Sowjetideologie war anders: Alle sind Brüder und Schwestern, alle verdienen gleich. Natürlich wurde das nur postuliert und fand in der Realität nicht statt. Lukaschenka dagegen postulierte: Ihr werdet viel verdienen, ihr werdet eine Wohnung haben, ein Auto, eine Datscha – er setzte auf die Vermehrung des Wohlstandes. Darüber sprach man zu Sowjetzeiten üblicherweise nicht, das war schlechter Ton.

    Lukaschenkas Versprechen „500 für alle“ stammt also schon aus dieser Zeit?

    (lacht) Es gab dieses Versprechen, das Beste aus der Sowjetzeit zurückzubringen. Aber ich denke, dass die Menschen eher an regulären Renten und hohen Einkommen interessiert waren, an einem Anstieg des Lebensniveaus. Sie wollten diese Banditen und kriminellen Businesstypen überall loswerden. Deshalb gefiel ihnen, dass da einer kam und „Ordnung schafft“, einer, der alle das Fürchten lehrt.  

    Was ist Ihnen aus den ersten Amtsjahren Lukaschenkas in Bezug auf den Kulturbereich in Erinnerung?

    Für mich, und auch für viele andere Künstler, war das eine Katastrophe. Es war sofort klar, was für ein Mensch er ist. Und wie das bei uns so läuft, wurden sein Geschmack und seine Ansichten sofort auf das gesamte Land projiziert. Das war eine riesige Tragödie für die Kultur, aber alle hofften, dass es nicht lange dauern würde.

    Wurden die Schrauben sofort angezogen?

    Nein, es gab alles: verschiedenste Künstlervereinigungen, ausländische Galerien, Ausstellungen und Buchläden. Aktuelle Kunst. Es gab Theatervereine, viele ausländische Gäste, auch selbst konnte man zu Festivals ins Ausland fahren. Wen gab es damals? Krama, Ulis, Novae Neba, Mroja, Mjaszowy Tschas aus Nawapolazk. Es gab auch Bands aus Mahiljou und Hrodna, zum Beispiel Deviation oder Kaljan, aus denen später irgendwelche modernen Anarchopunkfolk-Formationen hervorgingen. Informelle Literaturvereinigungen entstanden, gaben Bücher heraus. Es gab alles, ohne Verbote.

    „Radio Svaboda“: der legendäre Song der Band Ulis aus dem Jahr 1990, der den belarussischsprachigen Dienst von Radio Liberty besingt.

    In der Bilanz, wie würden Sie Ihre 1990er Jahre kurz zusammenfassen?

    Da muss man trennen: Bis 1994 und nach 1994 – das waren schon zwei völlig verschiedene Zeiten mit komplett unterschiedlichen Werten. Bevor die Epoche des Autoritarismus und der Diktatur begann, gab es in den ersten drei Jahren seit 1991 meiner Ansicht nach eine nicht vollständig ausgeprägte Demokratie. In dieser Zeit arbeitete ich beim Jugendradiosender 101,2, wo auch viele Parteikader unterwegs waren. Sie waren empört über das, was wir machten. Sie hätten alles gern halbwegs neutral gehabt, aber wir sprachen schwierige Themen an, und dann auch noch in der „orthodoxen“ belarussischen Sprache, der Taraschkewiza. Deshalb wurde unser Chef oft irgendwohin einbestellt, und man schrieb uns Briefe, dass der Sender geschlossen werden müsse.

    In den 1990ern saßen auf den Schlüsselpositionen absolute Sowjetmenschen: einheitsgraue Jacketts, „was auch passiert“, „Hauptsache der Plan wird erfüllt“. Damals dachte man, dass sie langsam verschwinden würden. Aber es kam anders. Anrüchige und geistlose Menschen mit nicht mal sowjetischen, sondern stalinschen Ansichten krochen auf die zentralen Positionen.

    1994 begann dann eine neue Zeit, in der zum Beispiel plötzlich seltsame Staatsleute im alten Büro des Schriftstellerverbandes in der Frunse Straße 5 auftauchten, um mitzuteilen, dass sich dieses Gebäude im Besitz der Präsidialverwaltung befindet und man also entweder Miete zahlen oder „den Ort räumen“ müsse. Auch die zu Beginn der 1990er Jahre entstandenen privatwirtschaftlichen Strukturen wurden verfolgt – wer sich nicht schnell neu aufstellte, machte sich zum Feind.

    Das war eine sehr aufwühlende Zeit unter dem Vorzeichen der Katastrophe. Andererseits hat für mich wahrscheinlich gerade um 1994 eine sehr produktive künstlerische Reaktion auf all diese Ereignisse eingesetzt – ich schrieb viele wehmütige Songs, lyrische und Prosatexte. Bis dahin hatte ich – wie in einer verkehrten Welt – irgendwie stillgestanden.

    N.R.M.: Lavon Volski, Juras Ljaukou, Aleh Dsemidowitsch, Pit Paulau / Foto © N.R.M.
    N.R.M.: Lavon Volski, Juras Ljaukou, Aleh Dsemidowitsch, Pit Paulau / Foto © N.R.M.

    Kommen wir nun zur Epoche der 2000er Jahre, in denen Sie schon im ganzen Land Berühmtheit erlangen und Ihr Album Try tscharapachi (dt. Drei Schildkröten) erscheint.

    Die Epoche der Nullerjahre war vollkommen anders. Seit etwa 1995 oder 1996 waren wir in einer kleinen Minsker Szene bekannt. Ab und zu fuhren wir auch nach Hrodna oder Wizebsk – dort lief es in einem kleinen Kreis auch gut. Als Anfang der 2000er das Album Try tscharapachi erschien, wurden wir sehr bekannt. Das Album war in einem professionellen Studio aufgenommen worden und nicht mehr in der Garage. Darüber hinaus wurde es landesweit vermarktet – in jedem Kiosk konnte man eine Kassette oder CD von N.R.M. kaufen. Die vorangegangenen Alben waren nur im Minsker Laden Kowtschog in der Philharmonie verkauft worden. Wir gingen dann auch zum ersten Mal auf Tour. Deshalb änderte sich in den 2000er Jahren die Situation komplett.

    Die alten Fans haben uns nicht verziehen, dass wir nun für die Massen spielten. Sie schrieben uns im Internet, dass wir früher echten Rock gespielt hätten und jetzt verpoppt seien. Kurz gesagt, es war eine hektische Zeit: ständig Auftritte, Videodrehs, Interviews – ich musste mich förmlich zerteilen.

    Ab wann wuchs der Druck auf die Andersdenkenden? Können Sie sich an den Moment erinnern, als plötzlich Konzerte abgesagt wurden?

    Die ersten Anzeichen gab es schon 1995 – gemeinsam mit anderen Rockbands waren wir zum Festival für geistliche Musik Mahutny Bosha nach Mahiljou eingeladen. Der Vorsitzende des städtischen Exekutivkomitees, Sumarau, war gegen unseren Auftritt. Wir standen praktisch schon auf der Bühne, als er auf den Platz rannte und mitteilte, alles sei abgesagt.

    Ein Songschreiber darf sich nicht abwenden und gesellschaftliche und politische Themen meiden

    Das zweite Mal war im Sommer 2004 nach dem Auftritt einer Reihe von Bands im Hundepark am Bangalore-Platz. Das Konzert war dem zehnjährigen Jubiläum des Regimes gewidmet. Wir spielten alle – und danach ging es los, wohl auf Weisung von ganz oben, es tauchten die Schwarzen Listen auf und eine ganze Reihe von Bands wurde verboten. Damit war mit einem Mal alles vorbei: keine Interviews mehr in staatlichen Medien – in all diesen Teenie-Magazinen und Talkshows. Es blieben nur die unabhängigen Massenmedien, von denen es zu diesem Zeitpunkt noch viele gab. Später kam es dann vor, dass in Maladetschna 200 Leute aus dem Zug stiegen und direkt zum lokalen Klub liefen, wo N.R.M. einen Underground-Gig spielten.

    Hatten Sie Angst, dass Sie für solche Konzerte ins Gefängnis kommen, dass man Sie abholen kommt?

    Eine gewisse Angst hat mich ohne Zweifel von Beginn an begleitet. Es war klar, dass wir Widerstand betreiben – im kreativen Sinn. Wir gingen auch zu Kundgebungen, aber das war ja kein bewaffneter Kampf. Ich habe auf alles reagiert, weil ich glaube, dass ein Songschreiber sich nicht abwenden und gesellschaftliche und politische Themen meiden darf. Um für ein Underground-Konzert in den Knast zu kommen, war der Grad der Absurdität damals noch nicht hoch genug. 

    Obwohl ihr auf der Schwarzen Liste standet, habt ihr euch 2007 mit dem stellvertretenden Leiter der Präsidialverwaltung getroffen. Warum?  Zu welchen Erkenntnissen seid ihr nach diesem Treffen gelangt?

    Das war ein total blöder Schritt – das Treffen hätte gut ohne mich stattfinden können. Ich ging nur hin, um einen Blick auf diesen „Hort des Bösen“ zu werfen. Tatsächlich hätten sie mich nicht eingeladen, wenn ihrerseits nicht irgendeine Notwendigkeit bestanden hätte. Damals gab es Prozesse in Richtung einer leichten Demokratisierung, um das Verhältnis zum Westen zu verbessern. Deshalb begannen sie mit dem Einfachsten: die verbotene Musik zurückzuholen.

    Damals kam ein findiger Mitarbeiter auf mich zu, den ich schon mehrfach getroffen hatte. Er arbeitete beim Staatsfernsehen, ein ganz normaler junger Typ. Er rief an und fragte: „Wie würden Sie reagieren, wenn die Verwaltung Ihnen ein Treffen anbietet?“ Ich antwortete, ich sei nicht sicher, aber vielleicht würde ich hingehen. Heute weiß ich, dass ich nicht hätte gehen dürfen. Sie versprachen uns, dass es keine schwarzen Listen mehr geben würde, weil das unzivilisiert sei. Falls wir mit Verboten konfrontiert würden, könnten wir in der Verwaltung anrufen und sie würden das klären.

    Das war 2007, im Jahr 2009 wurde dann Pawel Latuschka Kulturminister. Er setzte sich aktiv gegen die schwarzen Listen ein. Aber wenn ich es recht verstehe, sind die Listen nie verschwunden? Oder gab es doch ein Tauwetter?

    2009, als Latuschka Minister war, gab es diese Listen nicht. Im Prinzip gab es sie aber immer, die Programmdirektoren der staatlichen Radio- und Fernsehsender hatten sie einfach auswendig gelernt. Damit hatten sie richtig gelegen, denn 2010 tauchte die Liste wieder auf, zudem um das Fünffache länger. Ab diesem Moment konnte man nicht einmal mehr Underground-Konzerte geben. Es wurde Druck auf die Leitung und die Besitzer der Einrichtungen ausgeübt, die Konzerte erlaubt hatten. Sie wurden angerufen, erpresst, bedroht, mit Hygienekontrollen überzogen und mit üblen Strafzahlungen belegt. Diese Maßnahmen gab es bis 2017.

    Wenn Lukaschenka Sie heute zu einem persönlichen Treffen einladen würde, würden Sie hingehen?

    Natürlich nicht – man muss sich mit keinem von denen treffen, nie. Wozu auch? Ich habe den Fehler einmal gemacht. Wie ein Kind bin ich in die Präsidialverwaltung gegangen, um etwas Interessantes zu erleben. Aber sie brauchten mich nur, um ein Häkchen zu setzen, um dem Westen zu zeigen, dass alles gut wird.

    Die Fortsetzung des Interviews veröffentlicht dekoder am 11. Januar 2022.

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