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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Sergej Kirijenko

    Sergej Kirijenko

    Etwa 500 Schüler und Studenten aus ganz Russland sitzen auf bunten Sitzkissen im Halbkreis. Sie sind Teilnehmer des exklusiven Coaching-Programms Neue Horizonte, mit dem sich die staatsnahe Stiftung Snanije (dt. Wissen) an die russische Elite von morgen wendet. Der Mann in der Mitte, dem alle gebannt zuhören, erzählt von den 10 Prinzipien einer effektiven Führungskraft.1  

    Dass es dabei dem Namen nach nicht um einen effektiven Manager geht, ist wahrscheinlich kein Zufall – denn dieser Begriff ist im russischen Politjargon sehr mehrdeutig: Manche verbinden ihn (galgenhumorig) mit Stalin oder Berija, andere assoziieren damit den Vortragenden selbst, Sergej Kirijenko. Der Erste stellvertretende Leiter der Präsidialadministration hat zudem noch ganz andere Spitznamen: Kinderüberraschung etwa, oder Vizekönig von Donbass.

    © TASS PUBLICATION/ Imago

    Unumstritten sind diese Zuschreibungen nicht. Der Vortrag verdeutlicht aber, dass Kirijenko ein sehr guter Redner ist: Er spricht zielgruppengerecht, interagiert mit dem Publikum und holt es immer wieder mit aktuellen Beispielen aus dem Donbas ab. Es ist ein Heimspiel für Kirijenko, denn er ist der zivile Statthalter der 2022 annektierten ukrainischen Gebiete. Zudem ist Kirijenko neben Alexej Gromow für die (Des-)Informationsagenda sowie die Medien- beziehungsweise Propagandapolitik Russlands zuständig. In seiner Eigenschaft als Erster stellvertretender Leiter der Präsidialadministration steuert er die Innenpolitik Russlands. Mit dem Aufbau von Kaderschmieden, Initiativen und gelenkter Zivilgesellschaft richtet sich seine Politik vor allem an die jüngeren Menschen. Die Grundzüge patriotischer Erziehung, die Kirijenko in sein Management-Coaching einflicht, wirken anders als die aggressive Kriegspropaganda in den Staatsmedien. Ruhig und heiter vermittelt er seine Inhalte: Hart in der Sache, sanft im Ton. Hier formt er mit Begeisterung die nächste Generation der Verwaltungselite. Womöglich erweckt dies in ihm Erinnerungen an den Komsomol, die Jugendorganisation der kommunistischen Partei, wo auch seine Karriere einst begann.     

    Der Komsomolze

    1962 in Suchumi geboren, wuchs Sergej Kirijenko in Sotschi auf. Anschließend ging er zum Studium nach Nishni Nowgorod. Dort leitete sein Vater an der Technischen Universität für Wassertransport den Lehrstuhl für wissenschaftlichen Kommunismus – und war so direkt für die Indoktrination der Studierenden zuständig.2 1984 absolvierte Kirijenko das Institut als Schiffbauingenieur, trat in den Komsomol ein und beendete anschließend seinen Militärdienst in der ukrainischen Stadt Mykolajiw (Nikolajew).3 1986 nach Nishni Nowgorod zurückgekehrt, leitete Kirijenko als Meister eine Arbeiterbrigade in den traditionsreichen Schiffsbauwerken Krasnoje Sormowo. Dort beteiligte er sich an der Fertigung von Atom-U-Booten.

    Sein Aufstieg ist auch Thema des besagten Vortrags: Immer wieder betont Kirijenko die Wichtigkeit des effizienten Lernens. In einer sich stetig wandelnden Welt sei die Fähigkeit, sich schnell umzuorientieren, für den Wettbewerbsvorteil entscheidend. Er erzählt von seiner Ingenieursarbeit in Krasnoje Sormowo, bei der er seine Parteikarriere verfolgte und sich schnell als Komsomol-Sekretär etablierte – zunächst nur für die Schiffsbauwerke, dann für das ganze Stadtgebiet Gorki.

    Der Komsomol bot während der Perestroika ambitionierten jungen Menschen nicht nur Aufstiegschancen in der Parteihierarchie und Verwaltung. Er war zugleich eine Art Schule des Unternehmertums, wo die späteren Oligarchen, wie etwa Michail Chodorkowski, ihre ersten Gehversuche in der Marktwirtschaft machten.4 Auch Kirijenko eröffnete Ende der 1980er Jahre zusammen mit anderen Komsomolzen eine Import-Export-Firma mit dem klangvollen Namen Aktienkonzern der Jugend (AMK – akzionerny molodeshny konzern). Auch in dieser Position mauserte er sich schnell zum Generaldirektor. Gleichzeitig startete er seine politische Karriere: Mutmaßlich mit Hilfe seines Vaters, der nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zwei PR-Agenturen in Nishni Nowgorod eröffnet hatte, wurde er 1990 als Abgeordneter in den Landtag von Gorki gewählt. Parallel dazu ließ er sich an der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Öffentlichen Dienst (RANCHiGS) zum Finanzwirt ausbilden. 1993 wurde er Vorstand der Bank Garantija: Die größte Bank der Stadt führte unter anderem die Rentenkonten der Regionalverwaltung. Faktisch stand ihr damals Boris Nemzow vor, jüngster Gouverneur Russlands. Für Kirijenko erwies sich diese Bekanntschaft fortan als größter Karriereantrieb.  

    Der Premierminister

    Nemzow genoss überregionale Popularität als charismatischer liberaler Reformer und potentieller Nachfolger für das Präsidialamt. Noch bevor er 1997 von Boris Jelzin in die Zentralregierung auf den Posten des Ersten Vize-Ministerpräsidenten mit Schwerpunkt Energiewirtschaft berufen wurde, ernannte Nemzow seinen Vertrauten Kirijenko zum Direktor des staatlichen Energiekonzerns Norsi-Oil in Nishni Nowgorod. Schon bald folgte Kirijenko Nemzow nach Moskau; zuerst als sein Stellvertreter, wenige Monate später als Energieminister. Doch viel Zeit, sich in seine neue Rolle einzugewöhnen, hatte er nicht. Innerhalb eines Jahres überflügelte Kirijenko seinen Förderer, als Jelzin ihn im März 1998 zum Premierminister ernannte. Mit 35 Jahren war er der jüngste Regierungschef in der russischen Geschichte. Seitdem haftet ihm der Spitzname „Kinderüberraschung“ an. Er blieb nur fünf Monate im Amt.

    War Kirijenko ein Bauernopfer, das den Default abfedern sollte? Die Geschichte scheint dafür zu sprechen: Die Währungskrise in Asien 1997 hatte auch in Russland eine Kapitalflucht ausgelöst. Internationale Anleger entschieden sich dazu, ihr Geld lieber in stabilere Ökonomien zu investieren. Der russische Staat war gezwungen, die Zinsen für Staatsanleihen zu erhöhen, um die so entstandenen Löcher im Haushalt zu stopfen. Dadurch verschlechterten sich die Bedingungen für Umschuldung. Gleichzeitig verringerte ein Preiseinbruch auf den internationalen Rohstoffmärkten, insbesondere bei Öl und Gas, die Staatseinnahmen. Hinzu kam, dass der Rubel überbewertet und sein Wechselkurs fest war, was wirtschaftliche Akteure zum Verkauf der russischen Währung animierte. Trotz massiven Einsatzes von Währungsreserven zur Stützung des Rubels konnte die Situation nicht unter Kontrolle gebracht werden. Am 17. August 1998 war Kirijenko gezwungen, den Staatsbankrott zu erklären, den Rubel freizugeben und damit seine Abwertung einzuleiten.

    In der Folge verloren viele Sparer ihr Geld, Präsident Jelzin entzog dem jungen Premierminister das Vertrauen. Viele Menschen in Russland verbinden den Default als existenzbedrohende Erfahrung seither mit Kirijenkos Namen. Heute gilt der Staatsbankrott als eine von „Liberalen“ verschuldete Katastrophe der wilden 1990er Jahre.     

    Der Technokrat

    Kirijenkos Amtszeit als Ministerpräsident war zwar kurz, aber bewegt. Besonders eine Personalentscheidung Jelzins, deren Verkündung Kirijenko oblag, sollte sich als besonders folgenreich erweisen: Rund ein Monat, bevor er den Hut nehmen musste, verkündete er, dass Jelzin seinen Ersten stellvertretenden Leiter der Präsidialadministration, Wladimir Putin, nun zum Direktor des Inlandsgeheimdienstes FSB ernannt hat. Knapp ein Jahr später, im August 1999, war Putin bereits Premierminister. In dieser Eigenschaft traf er im Dezember 1999 erneut mit Sergej Kirijenko zusammen, der bei Putin nun für die von ihm mitbegründete Union der rechten Kräfte (SPS) werben wollte. Heute kann man dieses Treffen als Geburtsstunde der sogenannten Systemopposition im postsowjetischen Russland betrachten: Gemeint sind Parteien, die vom Kreml geschaffen wurden, um zum Schein die Rolle der Opposition zu spielen. Offizielles Ziel der SPS war eine Neuaufstellung der liberalen Kräfte in der russischen Politik. Kirijenko stand persönlich für einen dezidiert pro-europäischen Kurs der SPS. Bei den Wahlen zur Staatsduma 1999 erreichte die SPS fast neun Prozent der Stimmen und zog ins Parlament ein. Kirijenko wurde Fraktionsvorsitzender. Bei den gleichzeitig stattfindenden Bürgermeisterwahlen in Moskau unterlag er jedoch mit 11,3 Prozent deutlich dem Amtsinhaber Juri Lushkow. 

    Kurz nachdem Putin zum Jahreswechsel 2000 das Präsidentenamt übernommen hatte, holte er Kirijenko in die Präsidialadministration. Die Arbeit am Abbau der Gewaltenteilung begann, Putin rezentralisierte Russland und beschnitt die Kompetenzen der Föderationssubjekte. Schon im Mai führte er per Dekret damals sieben Föderationskreise ein. Kirijenko wurde zu Putins bevollmächtigtem Vertreter für den Föderationskreis Wolga. Damit beendete er seine politische Karriere und begann eine neue als hochgestellter Beamter der Präsidialverwaltung.

    An seiner alten Wirkungsstätte Nishni Nowgorod konnte Kirijenko auf ein dichtes Netz an Bekanntschaften zurückgreifen, die ihm eine effektive Steuerung der Regionalpolitik im Sinne des Kreml ermöglichten. Besonders beeindruckend für Putin erwies sich dabei wohl der beharrliche Ansatz Kirijenkos im Umgang mit den eigenwilligen Regionaleliten von Tatarstan und Baschkirien, die er trotz Widerstände in die Machtvertikale integrieren konnte.5

    Mit solchen Erfolgen empfahl sich Kirijenko für einen höheren Posten im Staatsapparat. Im November 2005 wurde er schließlich zum Leiter der Föderalen Agentur für Atomenergie. Er gestaltete die Behörde in die Staatsholding Rosatom um und verwandelte sie innerhalb von knapp elf Jahren zu einem globalen Player im Aufbau von Energieinfrastruktur. In dieser Zeit knüpfte Kirijenko auch enge Beziehungen zu dem Bankier Juri Kowaltschuk, der als „Putins Brieftasche“ bekannt ist.     

    Der Polittechnologe

    Doch nach knapp elf Jahren an der Spitze von Rosatom war Kirijenko den Beobachtern eine weitere Überraschung schuldig. 2016 ernannte Putin ihn zum Еrsten stellvertretenden Leiter der Präsidialadministration mit dem Aufgabenschwerpunkt Innenpolitik.6 Laut Einschätzung des Journalisten Andrej Perzew haben Kirijenkos Vorgänger auf diesem Posten, Wladislaw Surkow und Wjatscheslaw Wolodin, immerhin mit dem russischen Elektorat zusammengearbeitet, um die Unterstützung für den Regierungskurs und Putin persönlich zu mobilisieren – wenn auch in höchst manipulativer Manier. Kirijenko hingegen ging direkt zur Inszenierung (zivil)gesellschaftlicher Unterstützung über, zur Herstellung von Akklamation, die exklusiv die Erwartungshaltung Putins bedienen sollte.7 

    Die unmittelbar anstehende Parlamentswahl 2016 wurde zur Bewährungsprobe für Kirijenko. Dabei musste zum ersten Mal auch die annektierte Halbinsel Krim in die Wahl der Staatsduma „integriert“ werden. Im Endergebnis sicherte Kirijenko mit 54,2 Prozent ein überragendes Ergebnis für Einiges Russland, indem er unter anderem Beschäftigte aus dem öffentlichen Dienst zu Propagandaveranstaltungen delegierte und ihnen durch engmaschige Kontrolle die richtige Wahlentscheidung diktierte.8 Die auf diese Weise entwickelten Instrumente der Masseninszenierung, die letztlich auf Zwangswahlen hinausliefen, verfeinerte Kirijenko anschließend bei der Präsidentschaftswahl 2018 und bei der Abstimmung zur Verfassungsänderung 2020. Das eine sicherte Putins Wiederwahl mit 76,69 Prozent, das andere bescherte ihm die Aussicht auf weitere 16 Jahre an der Macht. 

    Inszenierungen, Manipulation der öffentlichen Meinung und Einsatz der sogenannten Adminressource gelten als übliche Technologien von Spin Dictatorships.9 Für diese Instrumente des Machterhalts sind im Kreml vor allem zwei Bürokraten zuständig: Kirijenko und sein gleichrangiger Kollege Alexej Gromow. Gromow verantwortet unter anderem die Überwachung und Propaganda in analogen Medien, Kirijenko entwirft und lenkt als oberster Polittechnologe und Eventmanager die Imitationen zivilgesellschaftlicher Institutionen, treibt die Professionalisierung der Verwaltungsabläufe voran und steuert die russische Internet-Politik. Zusammen entscheiden die beiden über die sogenannten metoditschki – Leitfäden, die die mediale Berichterstattung vorgeben.

    Dieses polittechnologische Handwerkszeug nutzt und entwickelt Kirijenko schon so lang wie auch seine Verbindungen zu den Methodologen. Um dieses Netzwerk der bereits in sowjetischer Zeit entstandenen Schule um Georgi Schtschedrowitski, in deren Umfeld die für Putins aggressiven Expansionskurs grundlegende Ideologie der „Russischen Welt“ entstanden ist, macht er kein Geheimnis.10 Die Netzwerke der Methodologen umspannen immer noch den engsten Kreis der Putin-Vertrauten.11

    Der Okkupant

    Anders als die sowjetischen Dissidenten setzten die Methodologen darauf, den Parteiapparat und vor allem seine Jugendorganisation Komsomol zu infiltrieren, um die sowjetische Verwaltung und Marktwirtschaft zu reformieren. Die spielerische Aufmachung von Management-Coachings galt als eines der effektivsten Ansätze der Methodologen, auch Kirijenko soll die Methoden weiterentwickelt haben. Vor allem die Steuerung der Bewegung der Ehrenamtlichen und Trainings für die Verwaltungselite erwiesen sich wohl als nützlich, als Kirijenko die Aufgabe zufiel, die besetzten ostukrainischen Gebiete in die Russische Föderation zu „integrieren“.12

    Für den Einsatz in der Ostukraine bereitet Kirijenko im Mai 2022 auch seine Zuhörer vor. In Allgegenwart des zu einem Z stilisierten Logos der Stiftung Wissen (russ. Znanie), spricht er über die sogenannte militärische Spezialoperation: Kirijenko interagiert zielgruppengerecht, schaut in die Gesichter der zukünftigen Verwaltungselite, die er aufgebaut hat und auf die er sich schon morgen stützen kann – es ist sein persönlicher Komsomol.  

    Kirijenko betont immer wieder: Der Donbass erhält materielle Hilfe von russischen Regionen. Aber die russischen Regionen erhalten auch etwas vom Donbass: Die Region lehrt Patriotismus, Willen zur Selbstbestimmung und Glauben. 

    Glaube – das ist die Krönung seiner 10 Prinzipien des effektiven Managements. Er beendet seine Ausführungen mit einem anschaulichen Beispiel: Wenn man Mäuse in einen halb gefüllten Wassereimer hineinwirft, dann halten sie sich etwa 15 Minuten über Wasser, bevor sie erschöpfen und ertrinken. Wenn man sie kurz vor dem sicheren Tod aus dem Wasser herausnimmt, sie etwas zu sich kommen lässt und später erneut hineinwirft, halten sie 60 Stunden durch – weil sie hoffen und glauben. „Nun stellt euch vor, was die Kraft des Glaubens mit Menschen ausrichten kann“, sagt Kirijenko und schaut die jungen Menschen auf den bunten Sitzkissen an. Schon bald werden auch sie in den Krieg hineingeworfen.

    Stand: 05.12.2024


    1. Rossijskoe obščestvo Znanie: Kak stat‘ ėffektivnym upravlencem. ↩︎
    2. Die Wolga-Metropole Nishni Nowgorod, während der Sowjetzeit in Gorki umbenannt, hatte wegen hoher Konzentration von Rüstungsbetrieben den Status einer „geschlossenen Stadt“. Sie durfte von Ausländern nicht besucht werden und unterlag einer sehr strengen Kontrolle durch die Geheimdienste. Seit 1980, während der Studienzeit Kirijenkos, war die Stadt darüber hinaus als Verbannungsort des bekanntesten sowjetischen Dissidenten, Nobelpreisträgers und Menschenrechtlers, Andrej Sacharow, bekannt. ↩︎
    3. kremlin.ru: Kirienko, Sergej Vladilenovič. ↩︎
    4. Kaminskij, Konstantin (2017): Another Life of the Soviet Intelligentsia and the Subconscious of Neo-Russian Liberalism. In: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte 21,2 (2017), S. 13-40. ↩︎
    5. meduza.io: Nemnogo strašnovato za buduščee. ↩︎
    6. carnegie.ru: Goskorporacija UVP: čto privelo Kirienko v Kreml‘, a Volodina v Dumu. ↩︎
    7. meduza.io: Isčerpyvajuščij putevoditel‘ po kar’ere Sergeja Kirienko. ↩︎
    8. rbc.ru: Činovniki podključilis‘ k mobilizacii graždan na prajmeriz «Edinoj Rossii». ↩︎
    9. Guriev, Sergei/Treisman, Daniel (2022): Spin Dictators: The Changing Face of Tyranny in the 21. Century, Princeton. ↩︎
    10. meduza.io: Stancuem val’s bol’šoj vojny. ↩︎
    11. proekt.media: Zvezda Putina. ↩︎
    12. meduza.io: Vice-korol‘ Donbassa. ↩︎

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  • Alexej Gromow

    Alexej Gromow

    Dramatische Musik, effektvolle Übergänge, Fadenkreuze, die über das Bild huschen: Die Berichterstattung über die neuesten Kriegsentwicklungen auf dem Propagandasender RT sehen aus wie Trailer zu einem Videospiel. Zu sehen sind vermeintliche Heldentaten russischer Soldaten, die bei der „Spezialoperation“ Russland gegen den Westen „verteidigen“. 

    Fernsehen genießt laut Umfragen1 das größte Medienvertrauen in Russland, es ist auch bei weitem die zahlenmäßig wichtigste Informationsquelle der Menschen im Land … beziehungsweise Desinformationsquelle – denn alle Kanäle obliegen der direkten staatlichen Regie. Die Fäden laufen bei einem Mann zusammen: Alexej Gromow, Erster stellvertretender Leiter der Präsidialadministration, dem die volle Kontrolle über alle analogen Medien in Russland nachgesagt wird. Er gilt außerdem als der Herr über die sogenannten metoditschki: Leitfäden, die den Fokus der Berichterstattung festlegen.

    Alexej Gromow (links) wird die volle Kontrolle über alle analogen Medien in Russland nachgesagt / Foto © Mikhail Metzel/ITAR-Tass/imago images

    Die modernen Autokratien legitimieren sich zumeist über eine Mischung von personalisierten und meritokratischen Elementen: Im Vordergrund stehen dabei also Arbeit am Charisma und an besonderen Verdiensten des Herrschers. Mit dem Boom des Populismus im 21. Jahrhundert geht diese Legitimierungsarbeit an professionelle Polittechnologen, Ghostwriter und Spin-Doktoren über.2 Ihre Konzepte zum Machterhalt bezeichnen manche Forscher als Smart Authoritarianism. Jüngst schlug der oppositionelle russische Ökonom Sergej Gurijew auch den Begriff Spin Dictatorship vor.3

    Das Konzept der Spin Dictators postuliert, dass populistische Diktaturen des 21. Jahrhunderts weniger auf Unterdrückung und Massenmobilisierung setzen, sondern auf eine Imitation demokratischer Strukturen und Prozesse, die den Logiken der Popindustrie folgt.4 Das erfordert einen gut vernetzten, effektiven, lernfähigen und vor allem loyalen bürokratischen Machtsicherungsapparat. In Russland erfüllt diese Funktion die Präsidialadministration (PA). Seinerzeit von Wladislaw Surkow maßgeblich geprägt, bildet die PA einen zentralen Grundpfeiler der sogenannten Machtvertikale. Eine Schlüsselrolle für die Sicherung des Informationsmonopols nimmt der Erste stellvertretende Leiter der Präsidialadministration Alexej Gromow ein – Putins persönlicher Spin-Doktor und oberster Imagemaker.

    Der Dienstälteste

    Nach seinem Studium an der historischen Fakultät der Moskauer Staatlichen Universität (MGU) begann Gromows diplomatische Karriere in der Tschechoslowakei. Als Attaché der sowjetischen Botschaft in Prag lernte er Ende der 1980er Jahre Wladimir Putin kennen. 1996 übernahm Gromow die Leitung der Pressestelle des Präsidenten Boris Jelzin. Zwei Jahre später folgte seine Ernennung zum Leiter der Presseabteilung der Präsidialadministration. Viele kamen und gingen, nach einem Vierteljahrhundert blieb einer: Unter den bekannteren Gesichtern gilt Gromow heute als der dienstälteste Mitarbeiter der Behörde.

    Mit dem Rücktritt Boris Jelzins stieg Gromow zum persönlichen Pressesprecher des neuen Präsidenten auf. Seit seiner Ablösung durch Dimitri Peskow 2012 begleitet der Kommunikationsstratege Wladimir Putin weiterhin als Erster stellvertretender Stabsschef der Präsidialverwaltung. Er gilt als einer von Putins engsten Vertrauten.

    Vereinheitlichung der Medienlandschaft 

    Am Anfang stand NTW. Die Zerschlagung des Fernsehsenders gilt heute für viele rückblickend als ein Startschuss der Gleichschaltung, für Gromow war sie die erste Bewährungsprobe auf dem neuen Posten. NTW war um die Jahrtausendwende der einflussreichste Fernsehsender des Landes und gehörte zum Medienimperium Media-Most des Oligarchen Wladimir Gussinski. Dieser gab sich Putin-kritisch und zeigte politische Ambitionen. Mit NTW hatte er ein Sprachrohr, das nicht selten als das anspruchsvollste und innovativste Medium des Landes bezeichnet wurde.  

    Rückblickend erscheint es kaum verwunderlich: Als die Sondereinheiten der Polizei und des FSB nur wenige Tage nach der ersten Inauguration Putins die Räumlichkeiten von Media-Most durchsuchten, war aber noch nicht klar, dass Putin tatsächlich den autoritären Kurs einschlägt, vor dem Gussinski zuvor gewarnt hatte. Kurz danach kam er in Haft und musste seinen Medienkonzern an die Holding Gazprom-Media verkaufen.5 Bald darauf ereilte das Schicksal auch den größten Konkurrenz-Fernsehsender ORT, der zum Medienimperium von Boris Beresowski gehörte. Beresowski wurde damals genauso wie Gussinski zu Oligarchen im eigentlichen Sinne gezählt: Beide sollen immensen Einfluss auf Boris Jelzin ausgeübt haben. Untereinander führten sie jedoch zeitweise einen erbitterten Konkurrenzkampf. Beresowski hatte Putin auf dem Weg zur Macht zunächst unterstützt, hatte sich im Konkurrenzkampf mit Gussinski aber verspekuliert. Auch seine politischen Ambitionen haben wohl dazu geführt, dass er seinen Anteil an ORT 2001 an Roman Abramowitsch abtreten musste – ein Putin-loyaler Oligarch. Dieser verkaufte seine Anteile später als Perwy Kanal unter anderem an die Nationale Mediengruppe. Gesteuert von Juri Kowaltschuk – den Korruptionsermittler als eine von Putins Brieftaschen bezeichnen – soll die Mediengruppe laut Hinweisen eigentlich Putin gehören.6 Propaganda ist in der russischen Kleptokratie demnach nicht nur Legitimierungsinstrument, sondern auch Business. 

    Aufstieg zum Propagandaminister

    Alexej Gromow spielte bei der de facto Verstaatlichung (resp. Privatisierung) dieser zwei einflussreichen Fernsehsender den Unterhändler. Er steuerte die komplexen Umstrukturierungsprozesse und brachte die Medien auf Linie. Dazu engagierte er unter anderem renommierte Medienmacher und ernannte seinen Studienfreund Oleg Dobrodejew – ein Gründungsmitglied von Media-Most und NTW – zum Leiter des staatlichen Medienunternehmens WGTRK, dessen Flaggschiffsender Rossija-1 ist. Auf diese Weise hat Alexej Gromow in kürzester Zeit die größten Akteure auf dem Medienmarkt unter seine Kontrolle gebracht. Mit der vorangeschrittenen Monopolisierung der Medienlandschaft konnte er 2004 auch die anstehenden Präsidentschaftswahlen bestimmen, bei denen Putin schließlich erneut als Sieger hervorging.  

    Seitdem dirigiert Gromow eigenhändig die analoge (Des-)Informationsagenda sowie die Medien- bzw. Propagandapolitik Russlands. Das Digitale soll entsprechend sein Kollege Sergej Kirijenko verantworten. Zum Handwerkszeug gehören regelmäßige Treffen mit Medienmachern, Akkreditierung der zum Presse-Pool des Kreml zugelassenen Journalisten und das „Kuratieren“ der Pressestellen von staatlichen Behörden. Erstellung der Leitfäden für die Propagandaorgane gehört zum Stellenprofil, genauso wie Medientraining und Kommunikationsbegleitung von Gouverneuren, Manipulation von Umfrageergebnissen sowie direkte Interventionen bei unerwünschter Berichterstattung. Diese Instrumente tragen schon seit 2000 die Signatur des Mannes, dessen Departement galgenhumorig als Propagandaministerium bezeichnet wird.7

    © TASS PUBLICATION/ Imago

    Image Making und Business

    Mit der Kontrolle über das (Des-)Informationsmonopol ist Gromow ein zentraler Akteur des russischen Medienmarkts. Dass er auch ein Teil der Kleptokratie ist, zeigt das Beispiel RT: 2005 aus Gromows Feder entsprungen, hat sich der international agierende Fernsehsender schnell zu einer Propagandamaschine entwickelt, die staatliche Fördergelder durch ein obskures Netzwerk von Subunternehmen und kurzlebigen Projekten an Privatpersonen verteilt. Dazu gehören auch die beiden Söhne von Alexej Gromow.8 Der Ältere leitet die Internetplattform Kub – ein Ableger von RT. Schon mit 24 trat er als „Geschäftspartner“ der Putin-nahen Oligarchen Oleg Deripaska und Roman Abramowitsch in Erscheinung.9 

    Für das unabhängige Medium Projekt ist Gromow der „Herr der Puppen“. In der Tat kann man ihn heute wohl als den wichtigsten Puppenspieler Russlands bezeichnen, ähnlich wie seinerzeit auch seinen Vorvorgänger Wladislaw Surkow. Gromow hält die Propaganda-Fäden in der Hand, sichert das Informationsmonopol des Kreml und lenkt Geldflüsse auf dem Medienmarkt in ein weitverzweigtes kleptokratisches Netzwerk um Putin. Als einer der engsten Vertrauten des Präsidenten entscheidet Gromow, welche Informationen Putin bekommt – und wie. Als oberster Spin-Doktor ist er für Putins Imagepflege zuständig. Dies kreiert möglicherweise eine eigentümliche Tautologie: Gromow schafft mit Desinformation und Propaganda eine fiktive Realität, formt mit Versatzstücken daraus das Weltbild von Wladimir Putin, das wiederum die Grundlage seines Handelns in der wirklichen Welt bildet.    

    Stand: 05.12.2024 


    1. levada.ru: Osnovnye istočniki informacii i populjarnye žurnalisty ↩︎
    2. Koschorke, Albrecht/Kaminskij, Konstantin (2017): Tyrants Writing Poetry, S. 11 ↩︎
    3. Guriev, Sergei/Treisman, Daniel (2022): Spin Dictators: The Changing Face of Tyranny in the 21. Century, Princeton ↩︎
    4. In einem Interview vom Juli 2023 sagte Sergej Guriev, dass Putins Regime sich in jüngster Zeit zunehmend in Richtung Repressionen bewege und damit mehr auf Angst stütze. ↩︎
    5. proekt.media: Serijnyj oligarch. Rasskaz o tom, kak Vladimir Gusinskij pomirilsja s Vladimirom Putinym ↩︎
    6. proekt.media: Železnye maski: Zaključitelʹnyj sezon ↩︎
    7. proekt.media: Povelitelʹ kukol: Portret Alekseja Gromova, rukovoditelja rossijskoj gosudarstvennoj propagandy ↩︎
    8. mbk-news.appspot.com: «Parazity»: Rassledovanie FBK o Margarite Simonʹjan i ee muže — korotko ↩︎
    9. proekt.media: RT sozdal prokremlevskij analog «Meduzy» pod rukovodstvom syna Alekseja Gromova — glavnogo kuratora SMI ↩︎

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  • Klub der zornigen Patrioten

    Klub der zornigen Patrioten

    „Viele haben uns nicht zugehört, manche sogar ausgelacht. […] Das Machtsystem Russlands hat es nicht geschafft, einen sich anbahnenden Militärputsch abzuwenden, obwohl der Konflikt zwischen Söldnern und Militärführung offensichtlich ist.“1 Nach dem abgebrochenen „Marsch der Gerechtigkeit“ des Wagner-Chefs Jewgeni Prigoshin vom 23. Juli 2023 erscheint dieser Text auf dem Telegram-Kanal des „Klubs der zornigen Patrioten“. Hinter dieser Vereinigung steckt Igor Strelkow, ehemaliger Geheimdienstler und Anführer der Separatisten in der Ostukraine. 

    Einen ersten Versuch, die stark fragmentierte rechte Opposition in Russland zu konsolidieren, unternahm Strelkow schon 2016. Dazu gründete er damals die Dachorganisation „Komitee des 25. Januar“. Strelkow, dessen Bekanntheit auch durch seine Beteiligung am Abschuss des Malaysia-Airlines-Fluges 17 (MH17) zunahm, galt bereits damals als glaubwürdige Figur in der rechten Gegenöffentlichkeit Russlands. Im Vorfeld der Präsidentschaftswahl 2017 fand eine bemerkenswerte Debatte zwischen Strelkow und Nawalny statt, bei der es Nawalny unter anderem auch darum ging, bei rechten Wählern für seine Kandidatur zu werben.2 Strelkow hingegen war bestrebt, sich überhaupt öffentlich zu profilieren, seine Sichtbarkeit zu erhöhen und seinen Handlungsspielraum in dem Bereich der Antikorruptions-Agenda zu testen.

    Strelkows Kritik richtet sich seit Beginn der russischen Invasion in die Ukraine am 24. Februar 2022 wieder vermehrt gegen die russische Militärführung. Auf Telegram erreicht er so über 880.000 Leser. Strelkows Analysen zur Lage an der ukrainischen Front finden zudem regelmäßig Eingang in die Situationsanalysen westlicher Thinktanks. In seinen Klagen gegen den Generalstab und die Korruption in der Armee widerspricht er nicht nur den beschönigenden Berichten der Staatspropaganda. Er setzt sich auch von der Kommunikationsstrategie der Privatarmee „Wagner” um Jewgeni Prigoshin ab. So gelingt es ihm, sich konsequent als vermeintlich „unbestechlicher“ Soldatentribun in Szene zu setzen. 

    Zivilgesellschaftliche Selbstorganisation

    Auf Nachfragen, ob er selbst ein politisches Amt anstreben wolle, antwortete Strelkow lange ausweichend. Er kritisierte das korrupte politische System in Russland, das die Parteigründung jenseits informeller Absprachen mit der Präsidialadministration verhinderte. Stattdessen setzt Strelkow darauf, die öffentliche Meinung mithilfe zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation zu formen. Diese soll den Krieg und die Armee unterstützen. Hierfür nutzt er seit dem Winter 2022/23 verstärkt die Bezeichnung „Klub der zornigen Patrioten“. Dieser Begriff zirkuliert seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine verstärkt in den russischen Medien. Er soll auf einen Vortrag Konstantin Kostins zurückgehen, der dem regierungsnahen Thinktank Fonds zur Entwicklung der Zivilgesellschaft vorsteht. Zuvor arbeitete er in der Präsidialadministration. Die „zornigen Patrioten“ unterscheiden sich durch ihre offene Ablehnung der Regierung von anderen patriotischen Gruppierungen in Russland. Der russische Politikwissenschaftler Sergej Markow unterscheidet sie dahingehend von „einfachen Patrioten“, „Turboloyalisten“ und „radikalen Patrioten“, die entweder stumm blieben, ideologisch unzuverlässig seien oder die herrschende Regierung grundsätzlich ablehnen würden3

    Von Linksnationalismus bis Ultramonarchismus

    Mit der Gründung des KRP im März 2023 und der Öffentlichmachung am 1. April 2023 wollen Strelkow und seine Mitstreiter die rechte Opposition ideologisch und organisatorisch konsolidieren. Die Zielgruppe umfasst ein breites Spektrum: Von linksnationalistischen bis ultramonarchistischen Gruppen sollen alle die Möglichkeit zur sozialen Mobilisierung und (proto-)politischen Repräsentation erhalten. Im KRP-Manifest heißt es: „Wir verstehen, dass es jetzt nicht an der Zeit ist, die Streitigkeiten zwischen Roten und Weißen von vor 100 Jahren fortzuführen. […] Wir sind bereit zur Zusammenarbeit mit allen gesunden Kräften der Gesellschaft, mit allen, die keine Niederlage Russlands wünschen”.4

    Um die Mobilisierung zu erhöhen, gründete der KRP schnell regionale Niederlassungen und leistet seitdem rege Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Ende April 2023 veröffentlichte die Gruppierung „39 Fragen an die Regierung“, der Beitrag hat auf Telegram vom KRP über 700.000 Views (und über eine halbe Million auf Strelkows Kanal).5

    Die Ablehnung des Verteidigungsministeriums und des Kreml sind ein Kernmerkmal der Rhetorik Strelkows, auch in den „39 Fragen“ wird es deutlich. Doch auch die Idee, dass es sich bei der sogenannten „Spezialoperation“ tatsächlich um einen Krieg gegen die NATO handele, bei dem die Staatlichkeit Russlands auf dem Spiel stehe, greift der KRP immer wieder auf. In diesem Zusammenhang malen Strelkow und seine Mitstreiter konsequent das historisch aufgeladene Szenario der „Smuta“ an die Wand – eines Zerfalls der russischen Föderation als Folge des verlorenen Krieges und des Machtkampfs zwischen verfeindeten Oligarchengruppen und regionalen Machteliten. So versteht sich der KRP als eine Vereinigung zur Abwendung der Smuta, die von seinen Mitgliedern jedoch im gleichen Atemzug heraufbeschworen wird – zunächst vor dem Hintergrund der im Mai 2023 zugenommenen Spannungen zwischen dem Verteidigungsminister Schoigu und Wagner-Chef Prigoshin und insbesondere nach seinem sogenannten „Marsch der Gerechtigkeit“. 

    „Aufrichtig und authentisch“

    Der amerikanische Thinktank Institute for the Study of War hat in seinem Tagesbericht vom 8. April 2023 die Gründung von KRP als Anzeichen für zunehmende Spannungen im Umfeld des Kreml interpretiert. Hinter Strelkow stünden möglicherweise Kräfte innerhalb der russischen Machtelite, vor allem im FSB, die so die Aufmerksamkeit Putins und Einfluss auf seine Politik gewinnen wollten. 

    Vor diesem Hintergrund bleibt unklar, wieso Strelkow am 21. Juli 2023 in Moskau festgenommen wurde. Er soll zu extremistischen Aktivitäten aufgerufen haben, ihm drohen bis zu fünf Jahre Haft. Ist es denn nun ein Teil des Spiels, oder ist Putin in Strelkow wirklich ein gefährlicher Gegner erwachsen?  

    Als professioneller Desinformationsspezialist des GRU, der in den 1990er Jahren in Tschetschenien, Bosnien und Transnistrien gearbeitet hat, ist und bleibt Strelkow ein undurchschaubarer Akteur, dessen Bedeutung künftig trotz Verhaftung noch zunehmen könnte. Dies gilt umso mehr, weil das staatliche Gewalltmonopol Russlands nach Prigoshins Meuterei zu erodieren scheint. 

    Strelkow ist ausgebildeter Historiker und hat literarische Ambitionen. Er beherrscht die Kommunikationsstrategien moderner Medien und der sozialen Mobilisierung. Ob die Gründung des KRP eher der Konsolidierung einer rechten Fundamentalopposition gegen den Kreml dient, oder ob man es lieber als polittechnologisches Projekt des Kreml zur Machtsicherung betrachten sollte, kann man trotz Strelkows Verhaftung nicht mit Sicherheit sagen. Strelkow hat durch seine Teilnahme am Krieg gegen die Ukraine und seine Kritik an der politischen und militärischen Führung jedenfalls eine „authentische“ Marke als unbestechlicher Gegner des Establishments aufgebaut. Mit seinem Unbestechlichkeits-Nimbus schafft er es, dass sich rechte Gruppierungen in Russland mit ihm identifizieren. Ob er es aber schafft, seine Verhaftung in einen Nelson Mandela-Nimbus umzumünzen, bleibt fraglich. Sicher ist jedoch, dass die Gründung des KRP zu einem perfekten Zeitpunkt geschah. Die zivilgesellschaftliche Organisation arbeitet energisch daran, ihren verhafteten Anführer als einen Gewissensgefangenen zu stilisieren und Strelkows Sichtbarkeit durch eine ganze Flut von dramatischen Social Media Kampagnen zu steigern.    

    aktualisiert am 02.08.2023


    1. Klub rasseržennych patriotov: Oficial’noe zajavlenie kluba rasseržennych patriotov. ↩︎
    2. Navalny live: Debaty Live. Naval’nyj vs. Strelkov. ↩︎
    3. ura.ru: Politolog vydelil pjat‘ grupp patriotov, živuščich v Rossii. ↩︎
    4. Klub rasseržennych patriotov: Manifest kluba rasseržennych patriotov. ↩︎
    5. Klub rasseržennych patriotov: 39 voprosov rasseržennych patriotov k vlasti i ochraniteljam. ↩︎

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  • Sachar Prilepin

    Sachar Prilepin

    Großgewachsen, durchtrainiert, mit einem konzentrierten Gesichtsausdruck und traurigen, aufmerksamen Augen. Ein Veteran des Tschetschenienkriegs, der als solcher anerkannt und geschätzt wird – keiner der nur labert, sondern zupackt. Einer, der nachdenklich am Steuer eines Transporters durch die zerbombten Straßen des Donbass humanitäre Hilfe zu den Separatisten bringt, die ihn als einen der ihren willkommen heißen. So präsentiert sich Sachar Prilepin, einer der populärsten und meistgelesenen Autoren Russlands, in seinem Dokumentarprojekt Ne tschushaja Smuta: Odin Den – odin God (dt. „Keine fremden Wirren: Ein Tag – ein Jahr“).

    Sachar Prilepin – Schriftsteller und Veteran des Tschetschenienkrieges – führt nun ein Bataillon im Donbass / Foto © Screenshot der Sendung „60 Minut“ („Erster Kanal“) vom 14.02.2017
    Sachar Prilepin – Schriftsteller und Veteran des Tschetschenienkrieges – führt nun ein Bataillon im Donbass / Foto © Screenshot der Sendung „60 Minut“ („Erster Kanal“) vom 14.02.2017

    März 2017: Zurück in Moskau, casual look, Prilepin stellt sein neuestes Buch vor, die Essaysammlung Wswod (dt. „Trupp“) über die Militärdienstzeit klassischer Autoren der russischen Literatur – von Dershawin bis Puschkin, non Fiction. Prilepin (re-)konstruiert damit eine literarische Tradition des martialisch-expansionistischen Kosakentums, als deren jüngster Repräsentant er sich versteht. Der Autor stellt sich in die europäische Tradition der romantischen Paramilitärs, der poeti condottieri (Dichterkrieger), die vor allem die europäischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts für sich einnahmen.1

    Bereitschaftspolizei und Literatur

    Militärdienst und Literatur sind aber kein neues Thema in seinem Werk. In der Biographie Prilepins sind diese auf das Engste verflochten: Der 1975 in einem Dorf in der Rjasaner Oblast geborene Prilepin absolvierte parallel zum literaturwissenschaftlichen Studium in Nishni Nowgorod die Ausbildung bei der Bereitschaftspolizei OMON, einer Sondereinheit der russischen Polizei, die damals unmittelbar dem Innenministerium unterstand. Zwischen 1996 und 1999 nahm Prilepin an Einsätzen im Ersten Tschetschenienkrieg und im Dagestankrieg teil. Im Jahr 1999 kehrte er ins zivile Leben zurück, quittierte den Polizeidienst, schloss sein Studium ab und widmete sich der journalistischen Arbeit.
     
    Die Kriegs- und Militärerfahrung ist schließlich auch der Gegenstand seiner Literatur und polarisiert die Leser bereits seit seinem Debüt Patologii (dt. „Pathologie“, 2005). In dem Roman setzt sich Prilepin in dichter Prosa mit seinen Erfahrungen aus dem Ersten Tschetschenienkrieg auseinander. Die nüchterne und zugleich verklärende Schilderung des Kriegsalltags sowie die meisterhafte Beschreibung von Schlachtszenen brachten dem Debütanten auch breite Anerkennung ein. An diese konnte er 2006 mit seinem ebenso umstrittenen Roman Sankya2anknüpfen. Während Patologii einen Insider-Blick in die soziale Organisation der Bereitschaftspolizei im Kriegseinsatz darstellt, bietet Sankya eine feinfühlige und dynamisch erzählte Innenansicht in das Milieu der Nationalbolschewistischen Partei (NBP)3Eduard Limonows, der Prilepin seit 1996 angehörte.4

    Eine Rebellion ohne Ziel

    Prilepin, der als Heranwachsender den Zusammenbruch der Sowjetunion erlebt hat, zeichnet in Sankya das literarische Abbild einer desorientierten, regimekritischen Generation, die von einem großen Revolutionsereignis träumt und von Polizeitruppen in Kleinkämpfen aufgerieben wird. Eine Rebellion ohne Programm und ohne Ziel, angerührt aus einem kruden rot-braunen Ideenbrei und berechtigter Empörung – so ließe sich das in dem Roman verarbeitete Lebensgefühl der Limonow-Anhänger und ihrer aktionistischen Provokationen beschreiben. Spätestens seit der Angliederung der Krim im März 2014 gehören viele von Limonows einst radikalen Ideen, die auch Prilepin teilte, allerdings zum Mainstream in der russischen Politik und den russischen Medien.

     Versöhnung mit der Macht

    Limonows politischer Ziehsohn Prilepin hat seit seinem Romandebüt 2005 eine steile Karriere gemacht. Heute gehört er nicht nur zu den meistgelesenen Autoren Russlands, sondern auch zu den bekanntesten Mediengestalten. So ist er seit November 2017 einmal wöchentlich in der Sendung Sachar Prilepin. Russischstunde auf NTW zu sehen, in der er aktuelle Themen kommentiert. Mit dem in Russland mehrfach ausgezeichnetem Lagerroman Obitel (dt. „Kloster“) fand Prilepin 2014 auch breite Zustimmung im staatlich-patriotischen Literaturbetrieb. Gleichzeitig verkündete er seine „persönliche Versöhnung mit der Macht“5und engagierte sich aktiv im Ukraine-Konflikt auf Seiten der prorussischen Separatisten. Für die sammelte er medienwirksam Geld und Hilfsgüter und stellte als Kriegsberichterstatter ihre Sicht der Ereignisse dar. Offiziell war er zunächst als Berater des Separatistenführers der sogenannten Donezker Volksrepublik (DNR) tätig, dann gründete er laut Komsomolskaja Prawda ein eigenes Freiwilligenbataillon, dem er als Major vorstand.6Er selbst sieht sich dabei in der Tradition russischer Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, allen voran Puschkins, der sich, so Prilepin, mit Sicherheit seinem Bataillon im Donbass angeschlossen hätte.7
     
    Bei der Buchpräsentation von Wswod nach seinem Engagement im Donbass gefragt, antwortet Prilepin: „Ich vertrete die Prinzipien der liberalen Demokratie: Wenn sich ein überwältigender Teil der Bevölkerung im Donbass und auf der Krim der Russischen Welt zugehörig fühlt […] wer ist dann berechtigt, ihnen diese Rechte zu nehmen? Sprache ist mehr als nur ein Kommunikationsmittel, das ist Physiologie, das ist alles, was wir sind.“8
     
    Im Juli 2018, einen Monat vor dem Tod des ehemaligen Regierungschefs der selbsternannte Volksrepublik, Alexander Sachartschenko, verließ Prilepin allerdings die DNR. Einer der Anführer der ostukrainischen Separatisten, Igor Strelkow, ließ unlängst verlauten, Prilepin habe dort überhaupt nicht an Kampfhandlungen teilgenommen, sondern PR für Sachartschenko betrieben und an einem Buch über diesen gearbeitet, von dem nicht klar sei, ob es „mehr versteckten Spott über den Chef oder mehr Arschkriecherei“ enthielte. Prilepin wies diese Vorwürfe scharf zurück. Seine Zeit im Donbass sei allerdings vorbei: „Ich will nicht weiter für die Interessen des großen Business kämpfen. Ich will nicht für den Kapitalismus kämpfen.“9

    Konservativ-patriotisches Theater

    Insofern trifft es sich gut, dass Prilepin Anfang Dezember 2018 eine neue Stelle in Moskau antreten konnte. Unter der Führung des Produzenten und Regisseurs Eduard Bojakow wird er künftig stellvertretender Leiter und Verantwortlicher für den Bereich Literatur am Gorki-Künstlertheater Moskau (MChAT) sein. Dritter im Bunde ist der Schauspieler und Regisseur Sergej Puskepalis, der die künstlerische Arbeit am Theater koordinieren wird. Alle drei sind dem Spektrum konservativ-patriotischer Kunstschaffender zuzuordnen, die sich nach der Angliederung der Krim zur Politik der russischen Führung bekannten. Verkündet wurde diese Personalie von niemand geringerem als Wladimir Medinski, dem russischen Kulturminister. Das MChAT ist eines der traditionsreichsten Theater Russlands, in den letzten Jahren machte es aber kaum noch von sich reden, der Kritik galt es als altmodisch. Medinski bezeichnet es lieber als „patriotisch“ und verspricht der neuen Führung eine Aufstockung der Mittel.10Prilepin verkündet derweil, man plane keine Revolutionen, wolle das Theater aber noch konservativer machen.11Auf weitere Überraschungen Prilepins, der erfolgreich zwischen der Rolle des authentischen Rebellen und des loyalen Nationalisten hin und her pendelt, darf man gespannt sein.


    1. Insbesondere in Italien bestand eine lebhafte Tradition der Dichterkrieger (poeti condottieri), etwa Mussolinis großes Vorbild, der italienische Schriftsteller Gabriele D’Annunzio, der 1919 mit einem Trupp Freischärler die kroatische Stadt Rijeka besetzte (vgl. Gumbrecht, Hans Ulrich et al. (Hrsg.) (1996): Der Dichter als Kommandant: D’Annunzio erobert Fiume, München). Zur kulturhistorischen Ausprägung der Allianz zwischen Sprachkunst und Gewalt siehe: Koschorke, Albrecht / Kaminskij, Konstantin (2011): Despoten dichten: Sprachkunst und Gewalt, Konstanz ↩︎
    2. Sankya ist bislang Prilepins einziger Roman, der in deutscher Übersetzung erschienen ist (Matthes & Seitz, Berlin, 2012). ↩︎
    3. Die NBP wurde 1993 von Eduard Limonov gegründet, scheiterte allerdings mehrfach an der offiziellen Registrierung als Partei, sodass sie bis zu ihrem Verbot 2007 formal keine Partei, sondern eine politisch-gesellschaftliche Organisation war. Ihre Ideologie umfasste nationalistische wie sozialistische Elemente. Liberalismus, Demokratie und Kapitalismus dagegen wurden abgelehnt. Bekannt wurden die National-Bolschewiken durch spektakuläre, medienwirksame Aktionen, die als radikale ästhetisch-politische Opposition zur existierenden Ordnung gedacht waren. In ihrem Parteiprogramm von 1994 forderte die NBP ein Imperium von Wladiwostok bis Gibraltar, dem die russische Zivilisation zugrunde liegen sollte. Zwar wurde 2004 ein neues Parteiprogramm beschlossen, das alte jedoch nicht offiziell annulliert. Als Hauptziel der NBP benannte das neue Programm die Wiedererlangung des Großmachtstatus für Russland. Nach dem Verbot setzten viele NBP-Mitglieder ihre Aktivitäten fort. ↩︎
    4. Limonow selbst inszeniert sich in seinem umfangreichen literarischen Werk ebenso wie in seinen Auftritten als postmoderner Revolutionär und Kriegsvolontär. Zu Limonow siehe die Romanbiografie Limonow von Emmanuel Carrère (Berlin 2012) ↩︎
    5. zaharprilepin.ru: Zachar Prilepin: «V Rossii proischodit to, o čem ja mečtaju s 90-ch» ↩︎
    6. lenta.ru: Zachar Prilepin sformiroval v Donbasse sobstvennyj batalon und Meduza: Zachar Prilepin stal politrukom batalona v DNR ↩︎
    7. Komsomolskaja Prawda: Zachar Prilepin: Puškin i Lermontov segodnja byli by opolčencami i voevali rjadom s nami ↩︎
    8. mk.ru: Zachar Prilepin, vernuvšis iz DNR, vspomnil sudbu Givi i Motoroly ↩︎
    9. nsm.fm: Prilepin otvetil na obvinenija Strelkowa ↩︎
    10. Meduza: Boevye tovarišči c donbassikimi kornjami MChAT imeni Gor’kogo vozglavili Borjakov, Prilepin i Puskepalis. Пускепалис. Čto vse ėto značit? ↩︎
    11. mskagency.ru: Z. Prilepin: Nikakich «Revoljucij» v Mchate im. M. Gor’kogo ne planiruetsja ↩︎

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  • Wladislaw Surkow

    Wladislaw Surkow

    Wladislaw Surkow, den man zuweilen auch als „Putins Rasputin“, „Graue Eminenz im Kreml“ oder „Chefideologen des Landes“ bezeichnet1, war von 1999 bis mindestens 2013 maßgeblich an den Public-Relations-Strategien des Kreml und der Organisation von Putins Wahlkampagnen beteiligt. Er war stellvertretender Leiter der Präsidialadministration, stellvertretender Regierungschef Russlands und persönlicher Berater des Präsidenten. Darüber hinaus fungierte Surkow für Lobbygruppen als wichtiger Ansprechpartner in der Regierung. Nachdem Putin am 15. Januar 2020 überraschend eine Reihe von Verfassungsänderungen angekündigt hatte, gab es im russischen Machtapparat gravierende Umstrukturierungen. Surkow gab bekannt, den Staatsdienst zu quittieren und kündigte an, sich zunächst einmal „der Meditation“ hinzugeben. Viele Beobachter zweifeln allerdings, dass Surkow tatsächlich von der politischen Bühne abgetreten ist.

    1964 in Tschetschenien geboren, schrieb sich Surkow 1981 in Moskau für ein Studium der Metallurgie an der wichtigsten Technischen Hochschule des Landes (Moskauer Staatliches Institut für Stahl und Legierungen, heute: MISiS) ein. Nach zwei Jahren brach er das Studium ab und absolvierte von 1983 bis 1985 den Militärdienst in einer in Ungarn stationierten Artillerie-Einheit. Zurück in Moskau schrieb sich Surkow 1986 für Regie-Kurse am Moskauer Institut für Kultur und Kunst (heute: MGIK) ein, wurde allerdings ein Jahr später exmatrikuliert.

    Im Jahr 1987 lernte er in einem Karateklub den jungen Unternehmer Michail Chodorkowski kennen, der ihn zunächst als Bodyguard einstellte und ihm bereits kurze Zeit später die Leitung der Werbeabteilung übertrug, in der Surkow eine rasante Karriere machte.

    1996 wechselte Surkow infolge von internen Streitigkeiten mit Chodorkowskis Partner Leonid Newslin zur konkurrierenden Alpha-Bank des Oligarchen Michail Fridman. Zwei Jahre später übernahm Surkow den Posten des stellvertretenden Direktors und Leiters der PR-Abteilung im russischen Fernsehsender ORT, wo er unter anderem Boris Beresowski und Alexander Woloschin kennenlernte. Als dieser 1999 die Leitung der Präsidialadministration übernommen hatte, folgte ihm Surkow als sein Stellvertreter. Danach bekleidete Surkow hohe Positionen in der Regierung. Unter anderem war er dafür zuständig, die Partei Einiges Russland in ihrer Gründungsphase zu konsolidieren.2

    Beim 5. Kongress der Naschi 2010 - Foto © Gemeinfrei
    Beim 5. Kongress der Naschi 2010 – Foto © Gemeinfrei

    Auf Surkows Betreiben wurden die kremltreuen Jugendorganisationen Iduschtschije wmeste (dt. Die zusammen Gehenden, 2000) und Naschi (dt. Die Unsrigen, 2005) ins Leben gerufen. Darüber hinaus gilt Surkow als Autor der Konzeption der Souveränen Demokratie.3 Der Name Surkows tauchte auch wiederholt im Zusammenhang mit dem Krieg im Osten der Ukraine auf. So war er an den Verhandlungen im Rahmen des Minsker Friedensprozesses im Jahr 2015 beteiligt und erzwang in der Folge den Rücktritt des Verteidigungsministers der selbstproklamierten Donezker Volksrepublik (DNR), Igor Strelkow.4

    Schon damals hatte Wladislaw Surkow sein Image als „Graue Eminenz“ und Drahtzieher im Hintergrund eingebüßt. Nicht etwa, weil sein Einfluss auf die informations- und polittechnologischen Kampagnen des Kreml geschwunden wäre, sondern weil er wie kaum ein anderer der hohen Regierungsbeamten im Rampenlicht der Medien stand und in gewisser Weise den Regierungsstil der russischen Machteliten personifizierte.5

    Und darüber ist er sich durchaus im Klaren. 2009 publizierte er unter dem Pseudonym Natan Dubowitski den Roman Okolonolja (Nahe Null), der bereits zwei Jahre später in einer extravagenten Theaterinszenierung von Kirill Serebrennikow einem ausgewählten Publikum dargeboten wurde.6 Es bleibt unklar, ob dieser „Gangsta Fiction“-Roman einem diffusen Bekenntnisdrang oder einer Selffashioning-Strategie des Kreml-Ideologen geschuldet ist. In jedem Fall traf er als eine Art „Manifest der zynischen Vernunft“ den Nerv der Zeit.7 Erzählt wird die befremdliche Geschichte eines professionellen Lobbyisten, der als Ghostwriter und Imagemaker die politischen und kriminellen Eliten bedient und darüber hinaus als Moderator bei Interessenkonflikten auftritt. Hinter diesem Maskenspiel wird das Selbstbild Surkows erkennbar – hinter der Maske des Polittechnologen taucht die eines echten Künstlers auf, die ihrerseits unzählige weitere Masken verdeckt – politische Mythen, Halbwahrheiten, Intrigen und Gerüchte, die den Autor Wladislaw Surkow und sein öffentliches Image umgeben. Mit seinem extravaganten Sendungsbewusstsein verkörpert Surkow eine subtile Mischung aus Machtgier, Korruption, Glamour, künstlerischen Ambitionen und ruchlosem Zynismus, die als Quintessenz des politischen Stilbewusstseins im heutigen Russland gelten kann.

    aktualisiert am 19.02.2020


     

    1. Pomeranzew, Peter (2011): Putin’s Rasputin, in: London Review of Books ↩︎
    2. Šegulev, Ilja / Romanova, Ljudmila (2012): Operacija „Edinaja Rossija“: Neizwestnaja istorija partii vlasti, Moskau, S. 23 ↩︎
    3. Surkov, Vladislav (2007): Russkaja političeskaja kulʼtura: Wsgljad iz utopii: Materialy obsuždenija v „Nezavisimoj gazete“,Moskau ↩︎
    4. The Insider: Vladislav Surkov – „Zakljatyj drug“ Ukrainy ↩︎
    5. The Atlantic: The Hidden Author of Putinism ↩︎
    6. Pomeranzew, Peter (2011): Putin’s Rasputin, in: London Review of Books ↩︎
    7. Lipovetsky, Mark (2011): Charms of the Cynical Reason: The Trickster’s Transformations in Soviet and Post-Soviet Culture, Boston, S. 271 ↩︎

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  • Michail Chodorkowski

    Michail Chodorkowski

    Einst einer der reichsten Männer Russlands, wurde Michail Chodorkowski 2003 verhaftet und in Folge eines – nach Ansicht vieler Experten – politisch motivierten Prozesses de facto enteignet. Während seiner zehnjährigen Haftstrafe etablierte sich Chodorkowski als einer der im Westen sichtbarsten Vertreter der Opposition in Russland.

    1963 in Moskau geboren, absolvierte Chodorkowski 1986 sein Chemiestudium am angesehenen Mendelejew-Institut im Moskau, wo er sich in der Jugendorganisation der Partei (Komsomol) engagierte. Diese Komsomol-Verbindungen waren sehr hilfreich, als Chodorkowski ein Jahr später die Gründung eines der sogenannten Zentren für wissenschaftlich-technische Jugendprojekte (NTTM) initiierte.1 Unter den neuen NTTMs war Chodorkowskis Zentrum das erfolgreichste und erwirtschaftete allein 1988 in etwa 20 Millionen Dollar.2 Der Erfolg gründete sich vor allem darauf, dass Chodorkowski einen Weg gefunden hatte, die planwirtschaftlichen Subventionsprogramme für Staatsunternehmen zu kapitalisieren und in Devisen umzuwandeln. Kurze Zeit später ging Chodorkowskis Unternehmen in der Bank MENATEP-Invest auf und wurde dank den Verbindungen zu Partei- und Regierungseliten 1990 als eine der ersten privaten Banken in Russland registriert.

    In den frühen 1990er Jahren baute Chodorkowski MENATEP zu einer der größten Banken des Landes aus und übernahm verschiedene Posten in der Regierung. 1995 erwarb MENATEP im Zuge der Privatisierungskampagne das Aktienkontrollpaket des Mineralölunternehmens YUKOS, dessen Führung Chodorkowski 1996 übernahm. Gleichzeitig finanzierte Chodorkowski mit anderen russischen Oligarchen die Wiederwahl Boris Jelzins, dessen Position angesichts der anhaltenden ökonomischen Stagnation und der Erfolge der Kommunisten erschüttert worden war. Die zweite Amtszeit Jelzins, die auch weiterhin auf die Unterstützung seitens der Oligarchen angewiesen war, wird in Russland als Semibankirschtschina bezeichnet. Der Begriff meint den immensen politischen Einfluss von sieben Großunternehmern (darunter auch Chodorkowski) und die faktisch vollzogene Umstellung des gesamten politischen Systems in Richtung einer Oligarchie. Im Gegenzug waren die Oligarchen informell verpflichtet, den Staatshaushalt durch Aufkauf von Anleihen zu sanieren.

    Infolge der für die russische Wirtschaft verheerenden Finanzkrise 1998 war Chodorkowski gezwungen, MENATEP aufzugeben, um das Ölunternehmen YUKOS zu konsolidieren. In dieser Zeit fand bei ihm nach eigener Darstellung ein tiefgreifender Sinneswandel statt, der mit dem Entschluss einherging, mit YUKOS ein transparentes internationales Unternehmen aufzubauen und dadurch die marktwirtschaftliche und zivilgesellschaftliche Entwicklung in Russland zu stärken.3 In diesem Sinne finanzierte Chodorkowski oppositionelle politische Parteien, aber auch die Regierungspartei Einiges Russland, sponserte regionale Bildungs- und Pressestrukturen und gründete 2001 die Stiftung Offenes Russland (Open Russia Foundation), die sich der Förderung und Koordination zivilgesellschaftlicher Initiativen und insbesondere dem Kampf gegen die Korruption verschrieb.

    Euromaidan in Kiew - Foto © WO Swoboda unter CC BY 3.0
    Euromaidan in Kiew – Foto © WO Swoboda unter CC BY 3.0

    Sowohl die Regierung als auch konkurrierende Oligarchen und Interessengruppen beobachteten diese Bemühungen Chodorkowskis mit Skepsis und zunehmender Beunruhigung. Am 26. Mai 2003 erschien ein vom regierungsnahen Think-Tank Rat für Nationale Strategie ausgearbeitetes Positionspapier Der Staat und die Oligarchie, in dem behauptet wurde, Chodorkowski arbeite darauf hin, das präsidentielle Regierungssystem Russlands durch ein parlamentarisches zu ersetzen, und den Posten des Premierministers anzustreben.4 Im Oktober 2003 wurden Chodorkowski und sein langjähriger Geschäftspartner Platon Lebedew wegen Verdachts auf Steuerhinterziehung, schweren Betrug und Urkundenfälschung verhaftet und vor Gericht gestellt. Viele Beobachter sahen im Verlauf der Gerichtsverhandlungen und in der Verurteilung Chodorkowskis zu neun Jahren Haft deutliche politische Motive.5

    Während seiner Gefängnisstrafe und laufender Berufungsverfahren entwickelte Chodorkowski eine rege publizistische Tätigkeit und erhielt mehrere Menschenrechtspreise. Dies festigte seinen Status als Kreml-Kritiker und als Russlands bedeutendster oppositioneller Politiker.6

    Zehn Jahre nach seiner Verhaftung wurde Chodorkowski im Vorfeld der Olympischen Winterspiele 2014 überraschend begnadigt und in einer Nacht- und Nebelaktion nach Europa ausgeflogen. In der Schweiz bekamen er sowie seine Familie eine Niederlassungserlaubnis, sein neuer Wohnsitz soll allerdings London sein. Nach seiner Freilassung äußerte sich Chodorkowski wiederholt kritisch über die Politik der russischen Regierung und insbesondere über die russische Intervention in der Ukraine. Im Herbst 2014 kündigte er seine Bereitschaft an, russischer Präsident zu werden. Sein Ziel sei eine Verfassungsreform, die die Stellung des Präsidenten schwächt und Mechanismen der Gewaltenteilung etabliert.   
    Zur selben Zeit reaktivierte Chodorkowski sein Projekt Offenes Russland. Innerhalb weniger Jahre entwickelte es sich zu einem Online-Medium und einer oppositionellen Bewegung, die unter anderem Politiker bei Wahlen unterstützt sowie eigene Protestveranstaltungen durchführt. Seit 2017 gehört Offenes Russland zu den sogenannten unerwünschten Organisationen, die Websites werden in Russland geblockt. Seit Ende 2015 wird Chodorkowski beschuldigt, einen Mord in Auftrag gegeben zu haben: Russische Strafverfolgungsbehörden haben ihn zur internationalen Fahndung ausgeschrieben, Interpol lehnte das Gesuch jedoch ab. 

    aktualisiert: 20.02.2019


    1. Hoffman, David (2002): The Oligarchs. Wealth and Power in the New Russia. Oxford, S. 104 ↩︎
    2. Chodorkowski, Michail (2012): Mein Weg. Ein politisches Bekenntnis. München, S. 124 ↩︎
    3. Chodorkowski, Michail (2012): Mein Weg. Ein politisches Bekenntnis. München, S. 439 ↩︎
    4. Belkowski, Stanislaw (2013): Gosudarstwo i oligarchija: 10 let spustja, in: Slon.ru, 04.06.2013 ↩︎
    5. Pleines, Heiko (2004): Die Jukos-Affäre geht weiter, in: Russland-Analysen 2004 (76), S. 9-11 ↩︎
    6. Der deutsche Dokumentarfilm Der Fall Chodorkowski aus dem Jahr 2011 bietet eine Zusammenfassung des Falls ↩︎

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  • Neostalinismus

    Neostalinismus

    Der Terminus Neostalinismus wurde bereits Ende der 1940er Jahre geprägt und in den 1950er und 1960er Jahren dazu verwendet, die Politik sowjetischer, chinesischer und osteuropäischer Parteidiktaturen zu beschreiben.

    Im allgemeinen Sprachgebrauch umschreibt der Begriff Neostalinismus die Rehabilitierung Stalins in der Erinnerungskultur des heutigen Russland. Stalin wird dabei nicht als gewalttätiger Diktator eines autoritären Regimes gesehen, sondern vielmehr als effektiver Verwalter, fürsorglicher Vater und insbesondere Sieger über den Hitler-Faschismus. Eine besonders prägnante Definition des Neostalinismus lieferte in einer am 20.12.2009 ausgestrahlten Fernsehsendung Wladimir Kwatschkow1, Oberst a. D. des militärischen Nachrichtendienstes (GRU – Glawnoe Raswediwatelnoe Uprawlenie): „Stalinismus heute – das ist russisch-orthodoxer Sozialismus!“2

    Im weitesten Sinne handelt es sich beim Neostalinismus um eine hybride Ideologie, die rationale und irrationale Komponenten der Stalin-Verehrung umfasst und sowohl von Regierungskritikern (roter und brauner Couleur) als auch von den Kultur- und Medieneliten, die dem Kreml nahe stehen, instrumentalisiert wird.

    Nach 1990 wurden neostalinistische Standpunkte vor allem von rechts- und linksradikalen politischen Splittergruppen artikuliert und damit ein ideologisches Gegenkonzept zur (aus ihrer Sicht) gescheiterten liberal-demokratischen Entwicklung Russlands entworfen. Bemerkenswerterweise sind vergleichbare neostalinistische Geschichts- und Kulturmodelle erst während der Präsidentschaft Dimitri Medwedews (2008 – 2012) in der breiten Öffentlichkeit und in staatseigenen Medien salonfähig geworden. Dieser Rückgriff auf die totalitaristische Vergangenheit  erfüllte in gesellschaftlicher Hinsicht gleich mehrere wichtige Funktionen. Zum einen erhielt der Personen- bzw. Führerkult als Idee „charismatischer Herrschaft“ im öffentlichen Diskurs wieder einen wichtigen Stellenwert, wobei er sich stets auf den Ministerpräsidenten Wladimir Putin als das eigentliche Staatsoberhaupt im Tandem bezog. Revisionistische Geschichtsentwürfe und populistische Rhetorik hielten mehr und mehr Einzug ins öffentliche Bewusstsein, vor allem im Hinblick auf den Zweiten Weltkrieg (Großer Vaterländischer Krieg) und Russlands Status als Siegermacht.

    Ferner zielt der Neostalinismus auf die (Re-)Sakralisierung der sowjetischen Erfahrung.3 Seit etwa 2008 tauchen immer mehr Stalin-Ikonen in der russischen Informations- und Kultursphäre auf, die, obwohl von der Russisch-Orthodoxen Kirche nicht anerkannt, auf eine Verstetigung des Stalin-Kults in der Volksfrömmigkeit, der Popkultur und mitunter in esoterischen Kreisen verweisen.

    mehr Bilder – Livejournal – Socializator
    mehr Bilder – Livejournal – Socializator

    Neostalinismus erweist sich somit als ein erstaunlich funktionelles geschichtskulturelles Konstrukt der Herrschaftslegitimation, das Putins autoritären Machtanspruch festigt, antiliberale und sowjetnostalgische Ressentiments in staatstragender Weise kanalisiert und darüber hinaus oft eine geradezu heilsgeschichtliche Geltung beansprucht.


     

    1. Wladimir Kwatschkow gilt als einer der zentralen Akteure der russischen rechtsradikalen Szene. 2013 wurde er wegen Terrorismus und geplantem Staatsstreich zu 13 Jahren Haft verurteilt. ↩︎
    2. Kaminskij, Konstantin (2012): Stalin 2.0. Stalin-Kult in russischen Medien des 21. Jahrhunderts, S. 183, in: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte 16 (1), Eichstätt, S. 165-187 ↩︎
    3. Die Welt: Der heilige Josef Wissarionowitsch ↩︎

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